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Julian Ogert verdient sein Geld in Münzen. Als Straßenmusiker schlägt er sich in Los Angeles durch, spielt Gitarre auf dem Ocean Front und lebt am Eingang des berüchtigten Yucca Corridor, einem der gefährlichsten Viertel der kalifornischen Metropole. Als Sechzehnjähriger hat er seine Heimat Österreich überstürzt verlassen und ist seitdem immer weiter nach Westen geflohen, über die Schweiz und Paris nach New York und quer durch die Vereinigten Staaten. Das Leben im Korridor ist alles, was ihm geblieben ist; er ist ein Gewinner, weil er nichts zu verlieren hat. Doch 1994 erschüttert das Northridge-Erdbeben Los Angeles und die fragile Welt, in der Julian sich eingerichtet hat. Wer kann, verlässt die von Nachbeben bedrohte Stadt. Die illegalen Einwanderer bleiben - so wie Julian. Korridorwelt ist teils Roadmovie, teils Musikroman. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, dessen Jugend explodiert und der auf dieser Schockwelle bis ans andere Ende der Welt getragen wird, wo er beschließt, sich nicht seinem Schicksal zu ergeben.
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Seitenzahl: 323
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Hans Platzgumer
Roman
Ain’t no hangman gonna put a rope around me.– Jimi Hendrix, Woodstock, 1969
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
04:28.
Solche Kleinigkeiten bleiben einem im Gedächtnis.
Die Ziffern leuchten im Halbdunkel meines Zimmers in der Yucca Street, in dem ich mich bei Eleanor eingemietet habe. Die Nacht liegt noch im Stillen, als ich die Augen auf meinen Digitalwecker richte.
Monday, 1–17-94, 04:28.
Zu jener Zeit schlief ich selten ein, bevor die Dämmerung einsetzte. Erst mit dem beginnenden Tag fand ich die nötige Ruhe und blieb dann bis in die Mittagsstunden im Bett. Nachts las ich, spielte Gitarre oder hörte Musik. Doch in dieser Nacht war ich müder als sonst. Schon kurz nach zwei legte ich mich hin.
Vielleicht war es das Klacken der Wasserleitungen, die tief hinab in den Boden unter der Stadt reichten, das mich weckte. Es heißt, dass ein leises metallisches Klopfen in den Leitungsrohren jedem kalifornischen Erdbeben vorausgeht, aber selbst für den, der es wahrnimmt, kommt die Warnung zu spät. Bis du ahnst, was es bedeutet, wird dein Haus bereits geschüttelt und ist das Klacken zu einem Grollen geworden, einem Donnern, das dir den Boden unter den Füßen zerreißt.
So wird es auch bei mir gewesen sein. Wahrscheinlich bemerkte ich um 4 Uhr 28 das Schlagen der Wasserleitungen im Boden unter mir. Doch als ich wenige Minuten später aus meinem Bett geschüttelt wurde, war ich keineswegs darauf vorbereitet. Im Gegenteil. Ich war wieder eingeschlafen.
Erst um 4 Uhr 30 setzte das Beben ein. Das kann man heute in allen Aufzeichnungen über das Northridge-Erdbeben nachlesen. Sein Epizentrum lag ungefähr zwanzig Kilometer nordwestlich im San Fernando Valley. Als ich nach einem kurzen Blick auf den Wecker weiterschlief, konnte ich nicht ahnen, dass kurz darauf Los Angeles wackeln würde. Ich wäre erst mittags aufgewacht, wenn Eleanor bereits arbeiten gegangen war und ich die Wohnung für mich allein hatte. Ich war 24 Jahre alt und verdiente mein Geld in Münzen. Als Straßenmusiker im Licht der untergehenden Sonne auf den Promenaden Santa Monicas. Vormittags lag ich im Bett.
An diesem Januartag aber würden kurz nach halb fünf alle panisch aus den Türen rennen und lange nicht mehr wagen, in ihre Wohnungen zurückzukehren.
Eleanor eine von ihnen. Im Nachthemd ist sie in mein Zimmer gestürzt.
Wie unter eine Lupe rutscht dieses Bild in meiner Erinnerung. Als wäre es nicht vergangen und geschähe im Jetzt.
Eleanor packt mich an der Hand und zerrt mich aus dem hin und her schwankenden Raum.
– Quick! Get up!, brüllt sie.
Ich kann nicht denken. Ich schlafe noch. Träume dieses Erdbeben. Rutsche auf einem Holzschlitten ins Tal. Versuche die Kurven zu schaffen.
– Julian! Get up!
Um mich herum Lärm. Subbässe aus der sich öffnenden Erde. Darüber das Knarren von Holz, das Heulen von gebogenem Metall, das Klirren von Glas.
Mein Schlitten rast auf einen Felsspalt zu. Hinein in die Dunkelheit, die mich aufnehmen will. Die mir keine Angst macht. Die mich weiterführen will, irgendwohin, hinein, weiter in das tiefe Schwarz, das ich erforschen will.
– Julian!
Ich fliege. Die Spalte jetzt eine Höhle. Die Felsen dehnen, alles streckt sich. Unter mir kein Boden. Dafür aufsteigende warme Luftmassen, die meinen Flug bremsen. Sie tragen mich durch die Finsternis, die jetzt alles verschluckt. Nur seitlich von mir ein zartes violettes Leuchten des Gummigesteins.
– Julian! Get up!
Ich trenne mich von meinem Schlitten und segle durch das Höhlenlabyrinth.
Dann trenne ich mich auch von meinem Körper. Eine Fledermaus bin ich. Wie die Seele aus einem Menschen, der das Leben aufgegeben hat, bin ich aus mir selbst herausgeflogen. Doch mein Flug wird immer öfter unterbrochen. Kurz angehalten. Ein Stocken zerreißt die geschmeidigen Bewegungen, mit denen ich weitersegeln will. Immer lauter werden um mich herum die Geräusche einer zerbrechenden Welt. Ein Rucken. Ein Demontieren. Bald kommt das Schreien von Menschen und Hupen von Autoalarmanlagen dazu. Und das Zwitschern und Flattern der zu früh geweckten Vögel.
– An earthquake, Julian! Wake up!
Eleanors Mund direkt vor meinem Gesicht. Ich sehe den Belag auf ihrer Zunge. Alles dröhnt. Weißbraune Schichten auf ihrer Zunge. Wie Pilzkulturen. Ich nehme ihren Mundgeruch nicht wahr. Wohl aber den Gestank von Zement und Gummi.
Wie ein Traumwandler folge ich Eleanor. Lasse die Dinge mit mir geschehen. Lasse mich von ihr hinausziehen. Splitternackt. Hinaus aus dem Zimmer. Durch die Küche. Durch den Flur. Ein Stockwerk hinunter wie durch eine Geisterbahn. So schnell wie möglich hinaus auf die Straße, wo bereits andere stehen. In der kühlen kalifornischen Nacht.
Das Erste, was ich wirklich registriere, das Erste, was mich wirklich stört, ist, dass ich mich nackt in aller Öffentlichkeit befinde.
Auch wenn es dunkel ist, dunkler als sonst in LA-Nächten, so schäme ich mich, hier wie ein Kleinkind an der Hand einer älteren Frau herumzustehen. Schließlich hat Eleanor kürzlich ihren 42. Geburtstag gefeiert. 42! Nicht ohne Grund steht in Japan diese Zahl als Sinnbild für den Tod. Eleanor ist damit für mich endgültig in den Kreis der Älteren eingetreten, jener Menschen, die entweder aus ihrem Leben schon etwas gemacht haben müssen oder es eben nie zu etwas bringen werden. Sie gehört Zweiterem an. Und mit den bunten, ärmellosen Blusen und weiten Stoffhosen, die sie normalerweise trägt, kleidet sie sich auch dementsprechend. Als lege sie es darauf an, besser früher als später von Männern nicht mehr beachtet zu werden. Zuerst hat mich das nicht sonderlich gestört, aber mittlerweile ist mir ihr Aussehen peinlich.
Im Moment trägt sie ein geblümtes Nachthemd. Und hält mich an der Hand. Ihr mag es nicht bewusst sein, mir aber wird es immer klarer. Nackt stehe ich mitten in Hollywood, händchenhaltend mit meiner Vermieterin, die ihr ergrautes Haar immer nachlässiger färbt. Ein Glück, dass die Straßenbeleuchtung nicht funktioniert, weil der Strom bereits ausgefallen ist und ohnehin gerade alles zusammenkracht, denke ich.
Nur wenige Ständig-auf-alles-gut-Vorbereitete fuchteln mit Taschenlampen herum. Wahrscheinlich wollen sie nicht primär meinen Penis begutachten, aber trotzdem schenken sie ihm mehr Aufmerksamkeit, als mir lieb ist. Julian Ogerts Penis um halb fünf in der Früh. Instinktiv bedecke ich ihn mit der rechten Hand.
Ich habe diesen wiederkehrenden Traum, in dem ich mich plötzlich nackt in der Öffentlichkeit befinde. Aus irgendwelchen Gründen habe ich vergessen, mich anzuziehen und bin ohne Kleider unter die Leute gegangen. Immer fällt es mir erst auf, wenn es bereits zu spät ist. Wenn die Blicke schon auf mich gerichtet sind. Manchmal trage ich ein T-Shirt oder eine Jacke, die ich hinunterziehen kann. Meistens aber stehe ich schutzlos auf der Straße, in der U-Bahn, im Coffeeshop, wo auch immer, eine lächerliche nackte Gestalt, die vor Scham im Erdboden versinken will, möglichst schnell aus dem Blickfeld der anderen verschwinden, die sie grinsend anstarren. Spätestens an dieser Stelle wache ich für gewöhnlich auf und bin froh, dass es nur einer jener Träume ist, die so oft meine Nächte zerreißen und mich den Tagesanbruch herbeisehnen lassen.
Diesmal aber ist es anders. Ich erwache aus keinem Traum. So sehr ich mich schäme und fortwünsche; ich kann nicht erwachen, das Grauen nicht wegschieben. Ich bin bereits wach, und was mit mir geschieht, ist die Wirklichkeit. Die Nacht noch nicht vergangen, schon heulen die Sirenen zum Weckruf in den Katastrophentag.
Immer mehr Menschen, denen die Angst ins Gesicht geschrieben ist, sammeln sich rings um mich. Sie achten nicht auf mich. Sie reden, weinen, schreien herum. Manche haben ein Kofferradio in der Hand, an dem sie aufgeregt drehen. Ich höre sie kaum. Ich stehe da wie ausgespuckt aus dem Tiefschlaf – noch immer an Eleanors Hand – und höre, wie die Erde unter uns abermals zu dröhnen beginnt. Der dumpfe Lärm quillt aus dem Inneren der Erde herauf. Schwerfällig und rasend zugleich. Wie ein Zug, der unausweichlich auf uns zuschießt, begleitet vom Klacken der Metallrohre. Ich spüre die Kraft. Kein Mensch hat dieser Gewalt etwas entgegenzusetzen. Wir alle, die wir in diesem Moment auf der Yucca Street stehen, spüren das und ergeben uns. Der Boden unter uns vibriert und macht mich vergessen, dass ich nackt bin. Nur wenige Sekunden werden wir geschüttelt, dann verschnaufen die Straßen, die Gebäude wieder, ächzen, nachdem sie gestreckt und gepresst worden sind wie der gesamte Raum, die gesamte Zeit, die wie sie ihr Maß verloren haben. Die wenigen Sekunden dieses Erdstoßes sind keine Sekunden, keine Zeiteinheit, sondern einfach ein neues Beben, das so lange anhält, bis der Zug der Zerstörung durch uns hindurchgefahren ist. Wir spüren die Willkür, die Ohnmacht. Sonst nichts. Wir warten auf die nächste Maßlosigkeit.
Manche der auf die Straße geflüchteten Anwohner sind zu Boden gegangen und richten sich schluchzend wieder auf. Eleanor schlägt ihre Hände vors Gesicht und lässt mich los.
Endlich begreife ich, was sich abspielt.
Ich erblicke eine Frau, die verkrampft ein rot-weißes Küchentuch in der Hand hält. Wortlos lässt sie es mich nehmen. Sie ist in einem Schockzustand und würde sich wohl alles, was sie besitzt, in diesem Moment von mir nehmen lassen. Ich aber will nichts anderes als ihr Baumwolltuch, das ich mir knapp um die Hüfte binden kann.
– Thank you, sage ich. Ich glaube nicht, dass sie es zur Kenntnis nimmt.
Nun bin ich bekleidet. Bedeckt zumindest.
Der Asphalt würgt einen weiteren, kurzen Erdstoß hervor. Unser Straßenblock keucht. Aus der Entfernung höre ich eine Explosion. Um uns herum die Kakophonie der Sirenen und Alarmanlagen, die in der verdunkelten Stadt verrückt spielen. Stromleitungen zucken, Sprinkleranlagen schalten sich an, Fensterscheiben zerbrechen. Ich rieche verbrannten Gummi. Atme Rauch und Staub ein. Ich meine, Verwesungsdämpfe aus den inneren Erdschichten zu schmecken. Kurz flackert vor meinen Augen das Bild von Eleanors belegter Zunge auf.
Kurz leuchtet die 04:28 im schwarzen Himmel über mir. Die Menschen blicken nach oben, voller Angst, Glassplitter, Mauerwerk oder Rohre könnten auf sie stürzen, jetzt, wo die dünne Fassade der Attrappenstadt zerbricht. Hollywood ist nie für die Ewigkeit errichtet worden. Jetzt hoffen wir, dass die leichten, schnell hingestellten Schachtelhäuser rund um den Hollywood Boulevard wenigstens elastisch genug sind, um die Spreizungen mitzumachen, die ihr Untergrund ihnen aufzwingt. Eleanor verweigert den Blick nach oben und starrt auf den Boden, wohl in der Befürchtung, dass er aufreißen und sie verschlucken könnte.
Das Vordach des Eckhauses vorne an der Cherokee Avenue hat Feuer gefangen und ist an einer Seite eingebrochen. Die Bewohner sind auf die Straße geflüchtet und überlegen, ob sie es zurück ins Haus wagen sollen, um ihren Besitz herauszuholen. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm brüllt den Mann an, der sich an einem Feuerlöscher zu schaffen macht. Ich habe ihn schon öfter gesehen. Ein Muskelpaket im Tank-Top. Offensichtlich ein Mitglied bei LA Fitness weiter vorne am Hollywood Boulevard. Jetzt verschwindet er in der Eingangstür seines gebeutelten Hauses, die Arme schützend über seinem Kopf verschränkt.
Was holt man in so einem Moment aus seiner Wohnung? Alles, was man fassen kann? Oder wählt man gezielt aus, folgt einer Prioritätenliste?
Ich denke an meine Gitarre, die praktisch das Einzige ist, was ich besitze. Ein paar Kleidungsstücke noch. Ein bisschen Bargeld. Und der Brief meines Vaters.
Sobald sich die Situation beruhigt, will ich die Westerngitarre aus der Wohnung holen. Unser dreistöckiges Apartment-Building macht einen guten Eindruck. Bald werde ich hineingehen, mich anziehen und meine paar Habseligkeiten retten. Außer ihnen habe ich nichts zu verlieren. Seit acht Jahren schon. Ich ziehe durch die Welt und hinterlasse keine Spuren. Ich habe gelernt, dass man nichts verlieren kann, wenn man nichts sammelt, keine Dinge, keine Bindungen. Keine falschen Hoffnungen.
Wenn ich zurückdenke, erstaunt es mich, wie wenig Angst mir diese Erdstöße tatsächlich einjagten. Als wäre ich unverwundbar gewesen. Das Northridge-Beben war zwar nicht The Big One, das große Beben, das Los Angeles seit Langem schon erwartete, aber immerhin war es das stärkste bis heute in einer nordamerikanischen Stadt gemessene Beben. Dennoch ließ ich mich davon nicht sonderlich beeindrucken.
In dieser Phase meiner Flucht konnte mich nichts aus der stoischen Ruhe bringen, in die ich mich hatte fallen lassen. Eine Ruhe, die freilich nicht echt war. Ein Frieden, der kein Frieden war, sondern vielmehr der Wunschtraum, dass alles überstanden sein und jetzt so bleiben würde, wie es war. So dünn, seicht, so herrlich flach. Wenn der Boden dieser neuen Welt, auf dem ich mich eingerichtet hatte, nun unter mir aufriss, akzeptierte ich darin keine Bedrohung meines persönlichen Zustands. Ich verweigerte, stellte mich taub, ließ alles an mir vorbeiziehen. Mein Absturz in Kalifornien kam erst mit den Nachwirkungen des Bebens. Im eigentlichen Moment der Katastrophe war es, als ginge sie mich nichts an. Und sollte alles untergehen, konnte mir das ebenso recht sein. Ich hatte ja nichts zu verlieren.
Acht Jahre zuvor hatte ich gesehen, dass alles, worauf ich mich verlassen hatte, nur Lügen waren, nur Schein. Trugbilder. Das war eine andere Welt gewesen, eine vermeintlich weniger oberflächliche. Eine, die ich mittlerweile hinter mir gelassen hatte. In meinem 16. Lebensjahr hatte ich verloren, woraus meine kleine Welt bis dahin zusammengesetzt war. Ich hatte die Klinke der Wohnzimmertür in meiner elterlichen Wohnung in Linz, Österreich gedrückt. Genau so, wie ich das etliche Schuljahre lang schon gemacht hatte, wenn ich mittags nach Hause kam. Ich drückte die Klinke und öffnete die Tür. Und einen Augenblick später war alles anders und würde nie mehr so sein, wie es gewesen war. In diesem Moment wusste ich, dass ich keine Vergangenheit mehr haben würde, keine Geschichte, keine Erinnerungen, keinen Besitz. Keine Familie. An diesem Tag begann ich ein neues Leben. Mein eigenes. Ein Korridorleben entlang einer Reihe von Türen, die ich geschlossen hielt, weil ich nicht mehr sehen wollte, was sich dahinter verbarg. Ich lebte für den Tag. Ohne Verbindungen zu einem Davor oder Danach. Versuchte allein zu bleiben in meinem Korridor. Und zu vergessen. Ein Erdbeben konnte mir nichts anhaben.
Und doch stehe ich jetzt mittendrin, wenn ich zurückdenke. Als würde ich es erst jetzt erleben. Jetzt zulassen. Nachholen. Stehe jetzt auf der Yucca Street mit diesem Baumwolltuch um die Hüften.
– It’s a big one, seufzt ein Mann neben mir. The Big One, the Big One.
Doch er täuscht sich. Es folgt kein weiteres Beben. Ein, zwei kurze Rucke. Ein entferntes Donnern, weit weg, vielleicht oben im Valley. Es führt zu keiner Bewegung mehr an unserem Block. Nach ein paar Stößen hat sich die Erde beruhigt und werden die Stadtbewohner in einen Frieden entlassen, dem sie nicht trauen wollen. Ihre Todesangst weicht einem zeitlosen Warten, schmerzvoller als der Moment des eigentlichen Bebens: das ohnmächtige Warten auf einen nächsten Erdstoß, auf Nachbeben, weitere Beben, die Fortsetzung des Spuks.
Zögerlich findet Eleanor ihre Sprache wieder.
– That was it?, fragt sie unsicher.
Ist es das schon gewesen, oder steht uns Schlimmeres noch bevor? Sicherlich steht Schlimmeres bevor, drücken ihre kleinen ängstlichen Augen aus.
Nicht schon wieder, denke ich
Wie ich bloß so ruhig bleiben könne, fragt sie mich, wenn unsere Welt doch gerade zerbreche.
– Everything’s falling apart, sagt sie.
– Everything’s gonna be alright, sage ich.
Ich weiß, dass es unmöglich ist, sie mit diesem Satz zu beruhigen. Aber immerhin habe ich es einmal versucht. Danach gehe ich nicht mehr auf sie ein.
– We might all gonna die!
Eleanor, pathetisch wie immer.
So what?, denke ich.
Unter diesen Umständen abzukratzen, wäre nicht das Schlechteste. Auch ich bin von der Naturgewalt eingeschüchtert, die binnen weniger Sekunden unseren Moloch erfasst hat. Auch ich habe Angst. Doch gleichzeitig genieße ich das Adrenalin, das mir ins Blut schießt, seitdem ich erwacht bin, genieße, wie die Karten neu gemischt werden, genieße, wie wir alle etwas Großem ausgeliefert sind. Eleanor kann Aufruhr nicht genießen. Sie bricht in Tränen aus, sobald der direkte Schock des Bebens nachlässt. Untätig kauert sie auf dem Gehsteig, verzweifelt. Unfähig zu handeln, hysterisch.
Ich lasse sie dort zurück, zusammen mit ein paar anderen Jammerlappen aus der Nachbarschaft, und mache mich im langsam einsetzenden Morgengrauen vorsichtig daran, unser Haus wieder zu betreten.
Jemanden wie Eleanor zu beruhigen, war unmöglich. Die Ungewissheit zerrte an ihr. Auch an ganz normalen Tagen tat sie das. Eleanor war ganz und gar von Zweifeln durchsetzt. Ihr Leben eine einzige Sorge. Nichts und niemandem traute sie. Das tat auch ich damals nicht – tue es auch heute nicht –, aber ich verstand, seit ich in Amerika angekommen war, das Misstrauen nicht als Last, sondern, im Gegenteil, als Befreiung. Niemand traute in Amerika niemandem. Das war das Geheimnis des American Way Of Life. Jeder hier war auf sich gestellt und meiner Auffassung nach somit frei. Ungebunden, flexibel, weil er sich nicht aufhalten musste mit Abmachungen, die das Leben verkomplizierten. Auf diese Weise waren die USA zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten geworden. Deshalb fühlte ich mich wohl in diesem Land. Ich liebte die Kurzlebigkeit einer Individuengesellschaft, in der es keinen Verrat gab, weil der Verrat grundsätzlich als Option eingerechnet war. Er war dann kein Verrat mehr, sondern Teil der Abmachung, lediglich eine weitere unbegrenzte Möglichkeit. Das war das Amerika, das ich gefunden haben wollte, mir erhalten, nicht nehmen lassen wollte. Weder von einem Erdbeben noch von Zweifel, die in mir hochstiegen. Leer genug konnten mir die USA gar nicht sein in diesem Abschnitt meiner Flucht.
Eleanor war zwar durch und durch Amerikanerin, dennoch verstand sie das Land nicht, wie ich es empfand. Sie stammte aus Portland, Oregon, und war vor Jahrzehnten in die City Of Angels gekommen. Im Grunde sah sie sich jedoch als Engländerin, weil die Wurzeln ihrer Familie dort lagen. Ihre Großmutter war noch in Birmingham, England, zur Welt gekommen. Eleanor selbst war einmal dort gewesen. Oft genug hatte sie mir das mitgeteilt. Als Beweis sollte es wohl gelten, dafür, dass sie wie ich Europäerin war. Die meisten ihrer Untermieter waren Europäer gewesen. Expats wie ich. Gerne hatte Eleanor das betont. Expats wie wir, hätte sie am liebsten gesagt. Im Gegensatz zu mir hielt sie an ihren Vorfahren, ihrer Sippe fest. Ich versuchte, mich von meiner Herkunft möglichst vollständig zu distanzieren. Versuchte, sie so weit wie möglich von mir wegzudrängen. Zu vergessen, wo ich herkam. Nur der österreichische Akzent blieb wie ein Fluch an mir kleben und brachte mich immer wieder in Erklärungsnöte.
You don’t sound American. Where do you actually come from? Wie ich diese Fragen hasste. Ich selbst hatte mich bereits des Öfteren als Engländer ausgegeben. Oder als Däne, was mir unauffälliger vorkam. Alles, nur kein Österreicher. Alles, nur nicht das, in das ich hineingeboren worden war.
In dieser Verweigerung trafen wir uns, Eleanor und ich. Ich wollte als Amerikaner durchgehen, obwohl ich keiner war. Sie sah sich als Engländerin, obwohl sie Amerikanerin war. Zusätzlich verwirrte sie sich, indem sie einerseits die Fragen und Antworten ihres Lebens ständig simplifizierte und sich andererseits mit dieser Vereinfachung nicht zufrieden gab. Ständig machte sie sich Gedanken über Dinge, die sie nicht ändern konnte, ja gar nicht ändern wollte. Andauernd sorgte sich Eleanor um das, was kommen mochte. Ich hingegen hatte mit solcher Zeitverschwendung abgeschlossen. Ich dachte nicht an die Zukunft. Hoffte nicht. Vertraute nicht. Das erleichterte mir das Leben. Tatsächlich war es meine einzige Chance. Ich musste ignorieren, woher ich kam, und wegschieben, wohin mein Weg führte, wollte ich meine Freiheit behalten.
Seit meiner Ankunft in den USA war mir das leichter gefallen. Hier schien dieses Ausblenden gewisser Realitäten normal zu sein. Jeder tat es. Nur Eleanor schaffte es nicht. Nicht mehr vielleicht. Ihr Leben stützte sich auf eine zurechtgebastelte Vergangenheit, war fragil wie ein Kartenhaus, das ständig zusammenzustürzen drohte. Folglich sah Eleanor ihre Zukunft stets als Bedrohung vor sich. Die Zukunft war in ihren Augen jene Zeit, in der Dinge sich zum Schlechten wenden würden. Das bringe das Alter mit sich, sagte sie und meinte, derartige Plattitüden würden weise klingen. Sie schwadronierte von Lebensjahren, in denen sich schlechte Erfahrungen anhäuften wie Dreck in Abwasserkanälen.
Was sollte ich sagen? Was hatte mir mein kurzes Leben angetan, bevor es mich an diesem Montagmorgen auf den rissigen Asphalt der Yucca Street spuckte!
Ich hatte kein Mitleid mit Eleanor. Im Gegenteil. Ich war genervt von ihrer Jammerei. Ich ertrug sie, weil sie mir das Zimmer günstig vermietete. Weil ich bei ihr so billig wohnen konnte wie sonst nirgends in LA. Weil sie mich bekochte, wann immer ich es gestattete. Und weil sie mich in Ruhe ließ, sobald ich meine Zimmertür schloss.
Außer an einem Morgen wie diesem freilich, als ganz LA wackelte, unser Haus einzustürzen drohte und sie mich retten wollte in ihrer mütterlichen Fürsorge. Ohne mich zu fragen, ob ich überhaupt gerettet werden wollte.
Ich ließ sie also hinter mir stehen und machte mich auf den Weg in unser nach außen hin unversehrt gebliebenes Apartment-Building. Im ersten Stock lag unsere Wohnung. Behutsam schlich ich die dunkle Treppe hoch.
Die Wohnungstür stand offen. Schon vom Flur aus konnte ich das Chaos erkennen, welches das Beben in der Küche und im Wohnzimmer angerichtet hatte. Immer noch barfuß musste ich vorsichtig über Scherben steigen, die verstreut am Boden lagen. Zerbrochene Teller, Gläser, Tassen, die aus den Regalen gestürzt waren. Auch der Fernseher war zu Boden gefallen, aber er schien unversehrt geblieben zu sein.
Ich atmete den aufgewirbelten Staub ein. Die Glastür zum Balkon war am unteren Eck zersplittert. Eine Weile blieb ich im Wohnzimmer stehen und begutachtete die Schäden. Dann tappte ich vorsichtig zu meinem Zimmer. Dort gab es nicht viel, das hätte umstürzen können. Ich besaß keine Regale oder Schränke. Meine wenigen Besitztümer lagen praktisch unverändert an ihren Plätzen, ausgebreitet auf den Pappschachteln am Teppichboden, aus denen ich lebte, und auf dem kleinen Klapptisch, der mir als Schreibtisch diente. Durch die noch zugezogenen Vorhänge drangen mattes Licht und der stumme Lärm einer Stadt unter Schock. Außen war Krieg, so wirkte es, doch in meinem Zimmer herrschte Frieden. Meine Gitarre, die an der Wand gelehnt hatte, war umgefallen, aber unbeschädigt.
Erleichtert setzte ich mich auf mein Bett und verschnaufte. Ich hätte heute Morgen genauso gut in diesem Bett liegen bleiben können, dachte ich, mir die Schmach, nackt auf die Straße zu rennen, ersparen.
In meinem Zimmer fühlte ich mich sicher. Hier würde ich bleiben, mich anziehen, alles griffbereit haben, das ich im Falle einer neuerlichen Flucht mitnehmen müsste. Mit meiner Gitarre in der Hand und meinem gepackten Rucksack auf der Bettkante sitzen bleiben und warten, abwarten, was als Nächstes geschehen würde.
Alles, was ich besitze, passt in diesen Rucksack und meine Gitarrentasche. Seit ich noch vor meinem 16. Geburtstag Linz verlassen habe und nie mehr dorthin zurückgekehrt bin, achte ich darauf, dass ich nicht mehr Besitz anhäufe, als ich tragen kann. Auch heute, elf Jahre später, in der Einsamkeit der Atacamawüste hier im Norden Chiles ist es so. Nur Rucksack und Gitarre stehen neben mir in meinem Wohncontainer. Draußen schmilzt die Welt, die kaum eine irdische ist. Trocken wie der Mond. Leer und leblos wie er ist sie. Nur heißer. Viel heißer. Hier sitze ich und schreibe auf, wie alles weniger wurde.
Bis 1985 hatten sich in meinem Kinderzimmer Dinge angehäuft.
Ein Sammelsurium war entstanden wie bei jedem heranwachsenden Menschen, der vom aufkommenden Überfluss des mitteleuropäischen Wohlstands eingelullt wurde. Spiele wie Stratego oder Monopoly (beide unvollständig), Matchbox-Autos, ein elektronisches Schiffeversenken (defekt), Big-Jim-Figuren (teils mit abgerissenen Armen), Autoquartette oder sogar ein Videospiel (Pong) füllten das Zimmer, in dem die ersten anderthalb Jahrzehnte meines Lebens an mir vorbeizogen. Ich ließ die Zeit verstreichen. Die Tage vergingen, ohne dass es mir auffiel, ohne Sorgen, ohne Träumereien. Auch Österreich war eine Wüste. Dorthin aber hatte ich mich nicht freiwillig begeben. Ich hatte keine Wahl. Hineingesetzt war ich in eine scheinbar heile Welt, die mich vom Leben ablenkte. Ein Einzelkind, daran gewöhnt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ich sah Fernsehserien, Quiz-Sendungen oder las Asterix, Clever&Smart oder Sturmtruppenhefte, die mir mein Vater wöchentlich schenkte, wenn er mein Taschengeld auszahlte. Irgendwann übte ich wenigstens Gitarre. Mehr verlangte ich nicht. Ich dachte nicht über mein Dasein nach.
Mein Vater war Rechtsanwalt, und wir lebten in einer großzügigen Altbauwohnung mitten in der Stadt. Mein Vater war ein Riese. Er wirkte so hoch wie die Räume dieser Wohnung, unerreichbar wie ihre Zimmerdecken, unantastbar. Stand man vor ihm, fühlte es sich an, als läge man ihm zu Füßen. Ich kann nicht erinnern, dass er mich jemals hochgehoben, in die Arme genommen hätte. Er machte es mir unmöglich, ihn zu hinterfragen, unmöglich, ihn zu lieben. Niemand durfte je eine Schwäche in ihm erkennen, niemand die stille Autorität in Frage stellen, mit der er seine Umwelt auf Abstand hielt.
Der Parkettboden knarrte unter unseren Füßen. Die Doppelglasfenster blieben immer geschlossen und die Gardinen zugezogen, so dass sich ein modriger Geruch in der Wohnung hielt, den ich beim Heimkehren von unseren regelmäßigen Sommerurlauben im Seengebiet als heimatlichen Duft erkannte.
Nur wenige großblättrige Pflanzen in Porzellantöpfchen fanden im Dauerschatten unserer holzvertäfelten Räume ausreichend Licht, um zu überleben. Meine Mutter stellte ihnen manchen Gartenzwerg zur Unterstützung bereit. Gegossen wurden sie aus dem langen Schnabel einer dünnen Blechgießkanne, die aus praktischen Gründen direkt zwischen den Pflanzentöpfen positioniert war. Meine Mutter war eine durch und durch logistisch motivierte Frau. Jeder Handgriff, der eingespart werden konnte, war ihr ein persönlicher Erfolg. Alles, was keinen direkt erkennbaren Nutzen hatte, wurde vermieden. Das tägliche Leben bestand für sie aus notwendigen Zielen, die es ohne Umwege oder Schnörkel zu erreichen galt. Derart effizient schaufelte sie sich jeden Tag einige Stunden frei, die sie liegend im verdunkelten Schlafzimmer oder auf dem Kanapee verbrachte. Es hieß dann, sie sei müde, erschöpft oder habe Migräne, und ich durfte sie nicht stören. Ich schob mir mein Essen – gewöhnlich ein in Tupperware gesammeltes Potpourri aus Resten der Vortage – in den Mikrowellenherd (ihr am meisten geschätztes Küchengerät) und ließ sie in Frieden. Wir sprachen wenig miteinander, aber das machte mir nichts aus. Ich war nicht sonderlich an ihr interessiert und sie zu wenig belastbar, um sich mit mir abzugeben. Vater war selten zu Hause – es vergingen Tage, da sah ich ihn überhaupt nicht –, also war der zwischenmenschliche Kontakt in unserer dreiköpfigen Familie auf ein Minimum reduziert. Getrennt voneinander fanden wir alle unsere Beschäftigungen und gaben uns damit ab, mehr neben- als miteinander zu leben.
Ob das immer schon so war, weiß ich nicht. An meine frühe Kindheit habe ich kaum Erinnerungen. Unspektakulär ist sie vergangen. Langweilige Momente in der Kirche, im Turnverein oder Hallenbad. Einsilbige Sonntagsspaziergänge am Pöstlingberg. Die Grottenbahn dort, die sich durch die Zwergengruppen schleppte. Meine Mutter stumm neben mir. Mein Vater still vor dem Eingang wartend. Was mir an Aufregung in den ersten knapp 16 Lebensjahren entging, holte ich in meinem folgenden Jahrzehnt nach.
Vielleicht wäre mir aufgefallen, dass mit meinen Eltern etwas nicht stimmte, hätten wir eine engere Beziehung gehabt. Vielleicht hätte ich erkennen können, was bevorstand, hätte ich genauer hingesehen. Hätte mein Vater solche Annäherung zugelassen. Vielleicht gab es Anzeichen, die auf den Freitod meiner Eltern hindeuteten. Doch ich bemerkte sie nicht. Es erschien mir normal, wie wir miteinander umgingen.
Ich hatte wenig Vergleich.
Meine Großeltern väterlicherseits waren in Wien verstorben, als mein Vater selbst noch ein Kind war, Rudolf Ogert, ein Einzelkind wie ich. Das war lange, bevor ich geboren wurde. Über die Umstände ihres Todes wurde nie gesprochen. Erst später fand ich heraus, was im März 1938 in ihrer Wiener Wohnung vorgefallen war. Mein Vater war damals zwölf Jahre alt gewesen.
Mein oberösterreichischer Familienzweig mütterlicherseits hatte sich in den folgenden Jahrzehnten aufgelöst. Der Vater meiner Mutter setzte sich nach dem Krieg ins Ausland ab und tauchte nie mehr auf. Meine Mutter, die ihn als Teenager das letzte Mal gesehen hatte, glaubte, dass er sich in Brasilien ein neues Leben aufgebaut hatte. Dort gäbe es Dörfer, sagte sie, mitten im Land, da spreche man alte österreichische Dialekte.
Ich muss an Orte wie Blumenau denken, drüben jenseits der Anden, im fast schon deutschsprachigen südlichen Zipfel Brasiliens. Eine Gegend, die ich immer meiden werde. Auch wenn mein Großvater heute hundert Jahre alt sein müsste, um dort noch zu leben. Er war ein Nazi. Im Krieg ein europäischer Nazi und nachher ein südamerikanischer Nazi. Jemand, den man aus seinem Leben streichen kann.
Ich weiß nicht, ob meine Mutter ihm jemals nachgetrauert hat.
Seine nie von ihm geschiedene Ehefrau, meine verbliebene Großmutter, verbrachte noch knapp drei Jahrzehnte ohne ihn. In den frühen 70er Jahren, noch bevor ich in die Volksschule kam, erlag sie aber dem Krebs, der sie schon seit Jahren malträtiert hatte. Vielleicht war diese Krankheit der Grund, warum sie so feindselig und abweisend geworden war. Gegen Ende grüßte sie uns nicht einmal mehr, wenn wir sie besuchen kamen. Vielleicht war sie immer schon ein bösartiger Mensch gewesen. Ich weiß es nicht. In meiner Erinnerung behielt ich sie als eine verhärmte, störrische Alte, die mich zwang, versalzene Suppen auszulöffeln und stinkende Müllkübel auszuwaschen.
Nach ihrem Abgang war unsere Linzer Familie auf drei Personen geschrumpft. Nur in Wien lebte noch eine Verwandte, Tante Irmgard, die zwei Jahre jüngere Schwester meiner Mutter, mit ihrem Mann Ludwig – Onkel Ludwig, wenn man so will. Sie fristeten ein kinderloses Dasein, von dem ich so gut wie nichts mitbekam. Erst im Sommer 1985 wurden unsere Leben verschmolzen, gezwungenermaßen. Drei Jahre lang konnte Tante Irmgard sich dann doch noch als Mutter fühlen, als meine Pflegemutter, und ihrem ausgetrockneten Leben einen Sinn einhauchen. Und auch wenn ich sie seither nie mehr wieder gesehen habe, so ist diese blonde, hagere Frau immerhin die einzige Person aus meiner alten Scherbenwelt, mit der ich über sporadische Postkarten noch ein wenig Kontakt halte. Auch aus Chile habe ich ihr vor wenigen Wochen bereits Grüße geschickt. Nichts Genaues freilich. Schließlich soll sie über meinen Standort und Werdegang nicht näher Bescheid wissen. Ich fühle mich meinen Pflegeeltern gegenüber in keiner Weise verpflichtet, denn was ich bei meiner Flucht mitnahm, tat ihnen sicherlich nicht weh. Trotzdem denke ich, dass es Irmgard freut, hin und wieder ein Lebenszeichen von mir zu erhalten und im Glauben gelassen zu werden, dass es mir gut geht, mir, ihrem kleinen armen Julian.
Irgendwann setzte sich die Überzeugung durch, dass das Erdbeben überstanden war. Die Menschen kehrten in ihre Häuser zurück, aber draußen blieb ganz Los Angeles in Alarmbereitschaft. Zwischen immer wieder aufwallendem Sirenengeheul der Einsatzfahrzeuge herrschte eine angespannte Stille. Es war, als ob die Stadt flüsterte, unaufhörlich flüsterte. Als ob zehn Millionen Angelenos sich beraten mussten und darauf bedacht waren, dies möglichst leise zu tun, um nicht die bösen Mächte erneut zu wecken, die sie aus dem Bett gerüttelt hatten.
Die City of Angels war eingeschüchtert. Die Skyline von Downtown LA thronte schwarz über dem flachen Häusermeer, das sich endlos um sie herum in alle Richtungen ausbreitete. Normalerweise waren diese Wolkenkratzer glitzernde Kristalle, majestätisch über die bis zum Horizont reichenden Vorstadtsiedlungen erhoben. Doch jetzt war auch in der Innenstadt der Strom ausgefallen, und die Hochhäuser hatten all ihre Pracht verloren. Wie Schattenskelette standen sie da, schwarze Löcher, finsterer noch als die sie umgebende Nacht. Ihr Anblick bot keinen Ausdruck der Macht, sondern war im Gegenteil ein Mahnmal, ein Zeichen der Zerbrechlichkeit der menschlichen Zivilisation. Um sie herum eine löchrige, dunkle Welt, ein riesiges zerrissenes Straßengitter. Stadtviertel, deren Stromversorgung noch funktionierte, setzten sich von unbeleuchteten, wie aus dem Stadtplan ausradierten Gebieten ab. Vereinzelte Brandherde dazwischen und flüchtige Lichter von Fahrzeugen und Hubschraubern, die über der Stadt kreisten und mit Suchscheinwerfern ihre offenliegenden Gedärme durchleuchteten.
In der Dunkelheit der frühen Morgenstunden hatte ich all dem gedämpften Aufruhr zugehört. Hatte die Vorhänge aufgezogen, war am Fenster gestanden und hatte versucht zu sehen, was vor sich ging. Setzte mich an die Bettkante, die Gitarre griffbereit, den Rucksack gepackt, fertig angezogen, selbst die Schuhe gebunden. Bereit zum Aufbruch. Nicht einmal die Tür meines Zimmers war geschlossen. Nach einer Weile hatte ich mich zurückgelegt und musste eingeschlafen sein.
Jetzt war es hell geworden, und Eleanor stand im blendenden Tageslicht vor mir.
– How can you sleep, in the middle of this?, fragte sie mich.
– Warum nicht?
Ich wollte meine Ruhe haben. Jetzt nicht schon wieder von ihr aus dem Bett gerissen werden (auch wenn ich diesmal wenigstens angezogen war).
– Es gibt nichts Besseres, was ich jetzt tun könnte, sagte ich und zog mir das Kissen über den Kopf.
Erbarmungslos sandte die Sonne ihre Strahlen durch den immerblauen kalifornischen Himmel. Auch an diesem 17. Januar 1994 war es nicht anders. Jeden Tag strahlendes Wetter. Früher hätte ich mir nicht vorstellen können, mich jemals nach grauen Wolken und Regen zu sehnen. Den sonnendurchfluteten Golden State hatte ich mir paradiesisch vorgestellt. Gerade als Straßenmusiker war ich auf konstant gutes Wetter angewiesen gewesen. Die Vorstellung, im immerwährenden Sommer musizieren zu können, war einer der Hauptgründe gewesen, warum ich nach Kalifornien gekommen war. Über New York war der Winter hereingebrochen, und ich hatte die eisige Kälte sattgehabt. Ich war aus der verbrauchten Luft der New Yorker Subway Stations – dem einzigen Ort in der frierenden Stadt, wo ich im Winter spielen konnte – geflüchtet und wollte stattdessen die salzige Luft einatmen, die der Pazifik in die Straßen Santa Monicas weht. Doch nach ein paar Jahren in Hollywood ging mir die Eintönigkeit des ewigen Sonnenscheins zunehmend auf die Nerven – ähnlich wie Eleanors Panik. Fassungslos stand sie vor mir. Ich ignorierte sie beide, diese Frau in meinem Zimmer und die Morgensonne, die ihr ins Gesicht schien.
Zumindest versuchte ich es.
Doch auch ich konnte an diesem Vormittag nicht wirklich schlafen. Eleanor hatte recht. Inmitten all dieses Trubels war es unmöglich, im Bett zu bleiben.
Mittags raffte ich mich endgültig auf. Eleanor saß am Tisch vor einer Tasse lauwarmem Kaffee, den Kopf in die Hände gestützt. Sie starrte durch die zersplitterte Glastür auf den Balkon, als ob es dort etwas zu sehen gäbe außer grauem, schmutzigem Spritzbeton und zwei weißen Klappstühlen aus Plastik. Sie hatte die Wohnung aufgeräumt. Keine Scherben, nichts lag mehr auf dem Boden. Das Durcheinander war nur mehr in ihrem Kopf. Der Fernseher lief und zeigte Bilder unserer zerstörten Stadt. Reporter, die vor eingestürzten Freeways und zusammengebrochenen Einfamilienhäusern aufgeregt ins Mikrofon sprachen.
– Das Epizentrum liegt nördlich von uns, oben im San Fernando Valley, sagte Eleanor. Schau dir das an. Die ganze Autobahn ist auseinandergerissen. Die Autos, sie standen plötzlich in der Luft!
Ich schaltete den Wasserkocher an und machte mir eine Tasse Instant Coffee. Zum Glück hatten wir Strom. Alles schien zu funktionieren. Alles wirkte nahezu normal. Nur dass Eleanor um diese Zeit zu Hause war und ich die Wohnung nicht für mich allein hatte, irritierte mich.
– Ich gehe heute nicht arbeiten, sagte sie. Ich habe Joyce eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen. Das Telefon geht. Du kannst ruhig telefonieren, wenn du willst.
Joyce hatte ich ein paar Mal in dem Buchladen getroffen, in dem Eleanor arbeitete. Hoffentlich kommt sie uns nicht besuchen, dachte ich. In ihrem Laden verkaufte sie Bücher über Energiefelder, Tarotkarten, Engel oder Ufos. Sie hatte sicherlich eine ausschweifende kosmische Erklärung für dieses Erdbeben parat. Wahrscheinlich wusste sie sogar, wie es nun weiterging.
Abseits der spärlichen Familienbande hatte ich in Linz regelmäßigen Kontakt mit dem Trainer der Bodenriege meines Turnvereins, einem auf Jugendlichkeit bedachten Kerl, der Joe genannt werden wollte, und meinem Gitarrenlehrer am Konservatorium, das ich jeden Donnerstag besuchte. Herr Friedberger hatte sich wohl seinen eigenen Namen zu Herzen genommen und war ein sanftmütiger Christ, der mit seiner Gattin und vier Kindern in einem Einfamilienhaus auf dem Land lebte. Dorthin lud er mich zu Beginn seiner Mission Julian Ogert manchmal ein und wir übten abseits des Konservatoriumunterrichts verschiedene Gitarrenbegleitungen für Jugendmessen. Mit großer Geduld arrangierte er mit mir Stücke wie Kum Ba Yah (»Someone’s crying, Lord, someone’s singing, Lord, someone’s praying, Lord«) oder eine deutschsprachige Adaption von Bob Dylans Blowing In The Wind (»Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Herr, die Antwort weiß ganz allein der Herr«). Seine Kinder betätigten sich an Xylofon, Melodica, Blockflöte und Triangel und sangen mit ihren Stimmlein den Chor. Spätestens ab der Oberstufe wurden mir auch die schulischen Werke, die Bach-Etüden oder mittelalterlichen Gitarrenstücke, die er mir nahelegte, unerträglich. Ich begann sie zu hassen wie die obligatorischen Vorspielabende am Ende jedes Semesters, an denen ich vor Elternpublikum mit zittrigen Fingern und ebenso leidenschaftslos wie meine Mitschüler das Gelernte vorführte. Irgendwann hatte ich genügend Grundkenntnisse auf dem Griffbrett erworben, dass ich mir den Rest selbst beibringen konnte. Ich brach das Konservatorium ab und schwänzte fortan ebenfalls den Turnverein, so lange, bis auch dieser aus dem Gedächtnis unserer Familie verschwunden war.
Einzig die Schule blieb ein notwendiges Übel, das ich erdulden musste. Glücklicherweise fiel mir das nicht allzu schwer. Manche Sachen, die wir im Gymnasium lernten, machten mir sogar Spaß und einige Fächer empfand ich durchaus als interessanten Zeitvertreib – eine Tatsache, die mir bald den Ruf als Streber einbrachte. Das störte mich nicht weiter, denn ich galt in meiner Klasse ohnehin als schrulliger Kauz, mit dem nicht viel anzufangen war. Ich war ähnlich mager und blass wie heute und redete nicht viel. Nicht einmal mit meinem Spitznamen Skelett konnte man mich provozieren. Die meisten meiner Mitschüler waren harmlose, verzogene Muttersöhnchen, deren Freundschaft ich nicht suchte. In meinen Augen waren sie zu Fleisch und Blut gewordenes Mittelmaß, mit dem ich mich nicht abzugeben hatte. Trotzdem entwickelten sich einige Bekanntschaften, so dass ich mich nicht wirklich als Einzelgänger oder gar Außenseiter fühlen musste.
Da war dieses Mädchen namens Iris, das Batik-Kleider und Palästinensertuch trug, Bidis rauchte und ebenfalls Gitarre spielte. Sie zeigte mir, dass ich den E-Dur-Griff ganz simpel auf dem ganzen Griffbrett hin- und herschieben und dabei neue offene Akkorde erzeugen konnte. Eine Technik, die bequemer war als der Kampf mit dem gepressten Zeigefinger der Barré-Griffe. Doch ihr säuerlicher Körpergeruch, der selbst von den indischen Attars, die sie benutzte, nicht überdeckt werden konnte, wurde mir bald unerträglich. Auch wenn sie mir grundsätzlich sympathisch war, vermied ich weiteren Kontakt mit ihr. Irgendwann war sie nach den Sommerferien nicht mehr in meiner Klasse. Ein Umstand, den ich erst Wochen später überhaupt bemerkte und dem ich nicht weiter nachtrauerte.
Ähnlich erging es mir mit einem anderen Klassenkameraden, der ein paar Semester lang eine Rolle in meinem Schülerleben spielte. Richard war deutlich älter als ich, weil er bereits zwei Klassen wiederholt hatte. Dementsprechend stellte er sich als allwissender Demagoge dar, von dem wir alle etwas lernen konnten. Er inszenierte sich als dunkle, mysthische Gestalt, Freud-Kenner (Sigmund Freuds Konterfei zierte den damaligen 50-Schilling-Schein) und Stones-Fan (Exile on Main Street war seine Bibel), immer mit einem Joint in Reichweite (außer wenn man einen wollte). »In media crus femina, fortuna mas accubo« (oder so ähnlich) war sein Lieblingsspruch. Von ihm erfunden und wohl auch frei von ihm ins Lateinische übertragen sollte es »Zwischen den Schenkeln der Frau liegt das Glück des Mannes« bedeuten. Mit derlei Intellektualismen wusste er uns Normalsterbliche durchaus zu beeindrucken, aber seine stärkste Waffe war seine meist sturmfreie Bude voller Videokassetten mit Horrorfilmen wie Texas Chainsaw Massacre oder Die Nacht der lebenden Toten. Nachdem er mir Die Gesichter des Todes