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Um das Leben besser auszuhalten, sucht sich der Mensch Parallelwelten, sie sind Alternativen und oft aufregender oder bequemer. Hans Platzgumer macht uns ein sehr gutes Angebot: Er wagt den Streifzug durch die Gegenwart und erzählt in seinem neuen Buch davon, warum es uns auch gut gehen darf. "Heute will ich kurz anhalten und nicht nur John Lennon Grüße ins Jenseits schicken, sondern einen Streifzug durch die Wirklichkeit unternehmen, die sich mir offenbart." So beginnt Hans Platzgumers wunderbar hoffnungsfrohe Betrachtung unserer Zeit. In seinem fünfzigsten Lebensjahr hält der Autor inne und beschreibt das scheinbar Wirkliche, das ihn überall umgibt und stets umgab. Es herrschen Elend, Hunger, unfassbares Leid, nicht hinnehmbare Ungerechtigkeit. Gegen all dies gilt es sich zu positionieren und nichts unversucht zu lassen, um aus der Welt einen besseren Ort zu machen. Dennoch ist die Welt auch wunderschön. Wer sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzt, muss die Schönheit des Augenblicks erkennen können. Sie liefert die Gewissheit: Das Leben ist lebenswert. Hans Platzgumers Exkurs wird zu einer ebenso vergnüglichen wie ernsten Mischung aus Essay und Biografie. Eine Zeitreise durch die Realitätswahrnehmung des Menschen. Es treten auf: John Lennon, Donald Trump, Otto Waalkes, Papst Franziskus, Friedrich Nietzsche, Hatschi Bratschi, eine Indische Kurzschwanzgrille, WALL·E und etliche andere. The sun is up, The sky is blue, It's beautiful, And so are you. John Lennon
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Seitenzahl: 127
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© Kurt Prinz
HANS PLATZGUMER
Geb. 1969 in Innsbruck, wohnhaft in Bregenz und Wien, wo er als Autor und Komponist tätig ist. Schreibt Romane, Essays, Theatermusiken und Hörspiele. In den 90er-Jahren wurde Hans Platzgumer für einen Grammy nominiert. Seit Beginn des neuen Jahrtausends verlagerte er den Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens hin zur literarischen Arbeit. 2016 stand sein Roman Am Rand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Zuletzt erschienen: Drei Sekunden Jetzt (Roman, 2018), Holst Gate (CD/LP, 2018).
0DRAUSSEN SPIELEN
1DAS SCHÖNE IN DER WELT
2VIRTUAL REALITY
3DIE HYPERVENTILIERENDE GESELLSCHAFT
4ZEITREISEN
5SITTING IN SILENCE
6ARBEIT
7DIE ENTWIRKLICHUNG
8DER WIMPERNSCHLAG
ILLUSTRATIONEN VON CHRISTOPH ABBREDERIS:
– JOHN LENNON
– STEFAN SAGMEISTER
– EVA PLATZGUMMER
– DONALD TRUMP
– INDISCHE KURZSCHWANZGRILLE
– GUY DEBORD
– JOHANN WOLFGANG GOETHE
– OTTO WAALKES
– HATSCHI BRATSCHI
– PAPST FRANZISKUS
– MAHARISHI MAHESH YOGI
– WALL·E
– ANDY
– FRIEDRICH NIETZSCHE
– HANS PLATZGUMER
– ARISTOTELES
– ROLAND BARTHES
Dear PrudenceWon’t you come out and play
Dear PrudenceGreet the brand new day
John Lennon, 1968
Come out and play? Ich bin schon draußen! Seit einem halben Jahrhundert spiele ich, besser: ringe ich mit dem, was ich als wirklich anzunehmen habe. Tag für Tag, in jeder Lebensphase aufs Neue bin ich hoffnungslos mit dem Diesseits verstrickt. Heute will ich kurz anhalten und nicht nur John Lennon Grüße ins Jenseits schicken, sondern einen Streifzug durch die Wirklichkeit unternehmen, die sich mir offenbart.
Meine Wahrnehmung dieser Wirklichkeit wird jener anderer Menschen mal mehr, mal weniger ähneln. Jeder hat seine eigenen Orte, Unorte, Zeiten, Unzeiten. Meine sind hin und wieder ganz klein, dann wieder riesengroß, manchmal liegen sie ganz nahe, dann wieder weit entfernt. Wohin auch immer es mich verschlagen hat und verschlägt, es prägt meine ganz persönliche Empfindung des Realen. Meine Wirklichkeitsauffassung ist weder glamouröser noch erbärmlicher als das, was andere erleben. Auch ist die Sachlage, die sich für mich ergibt, weder unwiderlegbar wahr noch frei erfunden. Doch sie ist, ganz einfach, unleugbar, sie ist, ich bin.
Keine Angst: Ich spreche nicht von den großen erkenntnistheoretischen Fragen. Ich werde mich nicht in die seit Jahrtausenden geführten Realismusdebatten begeben. Nicht die Fraglichkeit der Wirklichkeit an sich ist Thema meines Rundblicks, sondern ihre Praxis: die Dinge an sich und Geschehnisse an sich, die sich immerzu in meine Denkstrukturen hineinfressen. Diese Unausweichlichkeit des Lebens. Das direkte, hautnahe Erfahren von Wirklichem, nicht soweit ich es begreifen kann, sondern begreifen muss. Die Annahme einer Realität, die ich, ganz subjektiv, als erkennbar erachte. Sie beeindruckt mich, fordert, überfordert mich, und zugleich reizt sie mich mehr als alles andere. Willkommen in meiner Wirklichkeit!
Oft wird mir die Auseinandersetzung mit diesem scheinbar Wirklichen, das mich überall umgibt, wo ich mich befinde, zu viel. Ich verlange nach Auszeit. Ich versuche, der Common-Sense-Realität zu entwischen. Eine allzu wirklich wirkende Welt ist furchteinflößend. Es ist mühsam und zeitaufwendig, sich in ihr zu bewegen. Parallelwelten bieten Pausen. Sie sind Alternativen, wirken sowohl aufregender wie bequemer. Neben den herkömmlichen Methoden der Realitätsflucht machen es mir die technischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte immer leichter, mich dem zu entziehen, was augenscheinlich um mich herum und mit mir geschieht. Wille und Bedürfnis schwinden, mit dem Unmittelbaren dort draußen in Kontakt zu treten. Dennoch lohnt es sich, davon bin ich überzeugt, sich auf diese erkennbare Wirklichkeit so oft wie möglich einzulassen. Denn in ihr gibt es, neben so manchem Irrsinn, viel Schönes zu entdecken.
Mit der Auffassung, dass wir der echten Umgebung mehr Aufmerksamkeit schenken sollten, bin ich nicht allein und nie allein gewesen. Schon John Lennon sang vor fünfzig Jahren:
The sun is up,
The sky is blue,
It’s beautiful,
And so are you.
Als Teil einer Gruppe angloamerikanischer Künstler hatten sich die Beatles in Guru Maharishis Aschram im nordindischen Rishikesh eingefunden, um sich in transzendentaler Meditation unterrichten zu lassen. Prudence Farrow, die Schwester der Schauspielerin Mia Farrow, war besonders erpicht darauf, die Techniken dieser geistigen Erneuerungsbewegung zu erlernen. Sie litt unter depressiven Verstimmungen und sehnte sich danach, mittels des »yogischen Fliegens« die Wirklichkeit zu verlassen, in der sie feststeckte. Stundenlang kam sie aus ihrem verdunkelten Meditationsraum nicht heraus. John Lennon fand, dass sie übertrieb. Sich selbst wochenlang wegzusperren, um schneller als jeder andere Gott zu finden, erschien ihm als Sackgasse. Also schrieb er den Song »Dear Prudence« für sie und wies Prudence auf die Schönheit nicht der transzendentalen, sondern der wirklichen Welt hin, die sie umgab. Die Sonne schien vom blauen Himmel, ein Lüftchen wehte, Vögel sangen. Prudence sei Teil all dieser Harmonie, textete er. Sie sei ein schönes Menschenkind, schön wie die Welt. Und die Welt war schön. Natürlich herrschte außerhalb des Aschrams, draußen in dieser wirklichen Welt, Krieg, nicht nur in Vietnam. Es herrschte Elend, Hunger, unfassbares Leid, nicht hinnehmbare Ungerechtigkeit. Gegen all dies galt es sich zu positionieren und nichts unversucht zu lassen, um aus der Welt einen besseren Ort zu machen. Niemand wird John Lennon vorwerfen, sich nicht für die Friedensbewegung eingesetzt zu haben. Dennoch: Die Welt war auch wunderschön. Auch das galt es festzustellen. Wer sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzt, muss die Schönheit des Augenblicks erkennen können. Sie liefert die Gewissheit: Das Leben ist lebenswert. Entweder als großes Ganzes oder zumindest im einen oder anderen Ausschnitt erscheint es mir als das Schönste, was ich mir vorstellen kann. Ängste beruhen meist auf dem Blick in die Zukunft. Die augenblickliche Gegenwart aber, zumindest in der Wohlstandsgesellschaft, in der ich lebe, ist sehr oft nicht erdrückend. Ich sitze, während ich diesen Satz schreibe, in einem beheizten Zimmer. Es ist Anfang 2019. Durch das Fenster blicke ich auf die schneebedeckten Dächer des Wiener Häusermeers. So sehr ich mir der menschenverachtenden Politik bewusst bin, die von der rechtskonservativen Regierung in diesem Land betrieben wird, während ich hier sitze; in diesem Moment lässt mich die Welt in Frieden arbeiten. Ich habe weder Hunger noch Durst. Ich muss nicht davon ausgehen, dass im nächsten Moment ein Blitz oder eine Bombe einschlägt. Es geht mir gut, jetzt. Und ich vermute, dass es auch Ihnen gut geht, jetzt, während sie diese Zeilen lesen, daheim, im Zug, im Café, wo immer.
Ich bin von Lennons Jetzt in das Jetzt gerutscht, in dem ich, genau ein halbes Jahrhundert später, diesen Text verfasse. Lennon meinte damals, die Wirklichkeit sei, bei all ihrem Schrecken, dem Menschen zumutbar, mehr noch: schön, beautiful, wenn man sich mit allen Sinnen dem Augenblick hingebe. Zwölf Jahre nach »Dear Prudence« wurde er in New York auf offener Straße erschossen. Er hatte entschieden, sich nach einer Studiosession nicht von einem Taxi direkt bis in den Innenhof seines Wohnhauses bringen zu lassen, wie er es sonst tat, sondern wollte noch ein paar Schritte zu Fuß machen. Es war ein Montag im Dezember, knapp elf Uhr abends, eine kalte, schöne Winternacht. Ein schöner Augenblick, der letzte in Lennons Leben. Er hatte an die Schönheit der Dinge geglaubt, sich unermüdlich für Gerechtigkeit und die Verbesserung der Lebensbedingungen eingesetzt. Er hatte eine, wenn auch träumerische, Vision von einer besseren Welt. Imagine, sang er, stellt sie euch vor, die Welt ohne Krieg, Hass, Gewalt, Gier, ohne Religionen, Unterdrückung, Ausbeutung. Dann traf ihn die Wirklichkeit in Form einer Kugel aus dem Revolver seines Attentäters.
Ich, ein Gymnasiast in Innsbruck, höre die Nachricht nach dem Aufstehen im Morgenjournal im Radio und breche weinend zusammen. Ich bin mir nicht bewusst darüber gewesen, wie wichtig mir John Lennon war – bis zu jenem Tag, an dem er ermordet wurde. Ich hatte ihn als alten Hippie abgehakt. Seine Zeit war vorüber gewesen. Die Hippies waren Bhagwan-Jünger in orangen Kleidern geworden, sie trugen eine Kette mit Holzkugeln und einem Bild ihres Gurus um den Hals, mehr hatten sie nicht erreicht. Die Welt war nach wie vor ein Ort des Grauens. Nichts hatte sich verbessert, die Ausgrenzung und Ungerechtigkeit in der Welt hatte zu-, nicht abgenommen. In unseren Augen zumindest. Wir waren Punks, eine radikalere, kompromisslosere Jugendbewegung, eine, die die Welt nicht mit Blumen in den Haaren, sondern mit der Brechstange verändern wollte. Wir verschwendeten keine Träumereien mehr an eine bessere Zukunft, sondern verneinten sie grundsätzlich wie alles andere auch. No Future. Die Generation X hörte auf, an Versprechungen zu glauben und beschwor stattdessen die Apokalypse herauf. Es war ein lustvolles Spiel mit dem Untergang – anders als heute, da jeder den Untergang zu fürchten gelernt hat, weil er angesichts der komplexen Probleme der Menschheit inzwischen so furchtbar real erscheint. In den 1980er Jahren war es einfacher: Wir hassten das Gestern und glaubten nicht an das Morgen. Somit blieb nichts anderes übrig, als das Hier und Jetzt auszuleben, und zwar so üppig, so schnell, so laut wie irgendwie möglich. Jeder Augenblick wollte genutzt werden. Wir hätten Prudence denselben Tipp gegeben: Komm heraus, versteck dich nicht, spiel mit uns. Es ist ein brandneuer Tag, fackeln wir die Welt ab, wie sie bis heute bestanden hat.
Meine Freunde und ich schworen uns, nicht älter als 21 zu werden. Manche hielten den Schwur. Ich vergaß ihn im Rausch der Ereignisse.
Heute bin ich in meinem fünfzigsten Lebensjahr. Im Grunde ist die Welt nicht besser und nicht schlechter geworden. Sie hat sich verändert, aber weder ist sie klar in die eine noch in die andere Richtung gekippt. Die Menschheit befindet sich weiterhin auf ihrer Gratwanderung. Die Wirklichkeit dort draußen ist unzumutbar wie eh und je und gleichzeitig nach wie vor schön. Schönheit aber ist mehr als bloß Sonne und blauer Himmel. Und ihr Gegenteil ist mehr als Regenwetter.
Im buddhistischen Denken ist das Gegenteil von schön nicht hässlich, sondern böse. Im deutschen Sprachgebrauch haben wir jedoch das Hässliche mehr oder weniger von dieser Emotion des Hasses abkoppelt und verstehen es im ästhetischen, oberflächlichen Sinn. Tiroler wie ich, Dialektmenschen, machen es sich ein wenig leichter: Sie verwenden das Wort »hässlich« nie. Es existiert im Tiroler Wortschatz nicht. Ein Tiroler sagt »schiach«. »Schiach« ist vielschichtiger als »unschön«. Es spannt sich von »grauenhaft«, »entsetzlich« über »heftig« bis hin zu »völlig daneben«, und gleichzeitig schwingt automatisch Mitleid mit. Ein Verzeihen, Bedauern. Mit »schiach« macht der Tiroler alles Unschöne entschuldbar. Rein sprachlich gibt er ihm die Chance der Wiedergutmachung.
Mein Freund Stefan, ein Grafikdesigner, der sich in den letzten Jahren verstärkt mit der Bedeutung des Schönen befasst hat, meint wiederum, das Gegenteil von Schönheit sei nicht Hässlich-, sondern »Wurschtigkeit«. Menschen, Künstler, Architekten, die lieblos ihre Arbeit verrichten, richten Unfug an. Stefan ist ein äußerst analytisch funktionierender Mensch. Er wertet Listen und Statistiken aus. Über empirische Studien kommt er zu dem Ergebnis, dass Menschen weltweit runde Formen und blaue Farben als schön, attraktiv empfinden. Die Sonne, der Himmel. Das ist genau, wie John Lennon für Prudence die Schönheit der Welt beschrieb: Open up your eyes, see the sunny skies. Look around, round, round!
Pro Tag wird in Österreich eine Bodenfläche in der Größe von etwa 15 Fußballfeldern versiegelt. Über 5000 Fußballfelder jährlich für hauptsächlich neue Verkehrsflächen, Bauflächen, Betriebsflächen. In absehbarer Zeit wird dieses kleine Land sich vollständig zubetoniert und zuasphaltiert haben. Auch das übersehe ich nicht, wenn ich um mich blicke. Wo ist das schöne Runde, schöne Blaue? Vielerorts ist unser Planet mit eckigen, braunen Undingen vollgestellt. Wenigstens nicht überall.
Stefan beschränkt seine Schönheits-Forschungen auf von Menschen Gemachtes. Lennon dagegen singt von der Schönheit der Natur. Prudence soll nicht zurück in die Welt kommen, weil dort ein imposantes Bauwerk, eine beeindruckende Brücke oder ein Museum voll zeitloser Kunstwerke auf sie wartet. Der Himmel, die Wolken, Gänseblümchen, Vögel, die Sonne, das Menschenkind, allein das rechtfertigt den Wiedereintritt in die Wirklichkeit. Diese Position ist einfacher, allgemeingültiger zu vertreten. Wer traut sich, die umfassende Schönheit der Natur zu leugnen, vom Gänseblümchen auf der Wiese bis hin zur Andromedagalaxie, die Milliarden Sterne beinhaltet?
Der Schönheitsbegriff des Menschen trägt das Konservative in sich. Als schön erkennen wir Vertrautes an. Es darf höchstens mit Neuem kombiniert sein. Etwas als schön zu empfinden, heißt, sich daran gewöhnt zu haben.
Seit unserer Kindheit ist ein blauer Himmel schön. Ein botanischer Garten ist schön. Der Taj Mahal. Das Opernhaus von Sidney. Die Sonnenblumen Van Goghs, die Seerosen Monets. Botticellis Geburt der Venus. Bocellis Time to say goodbye. Monica Bellucci ist schön. Die Kreationen Versaces, die Stimme Adriano Celentanos. Warum fallen mir nur italienische Schönheiten ein? Weil Italien schön ist. Auch George Clooney ist schön. Und Pale Blue Eyes oder Beethovens Neunte. Oder wie 20 000 Fans in Edinburgh Sunshine on Leith singen. All das und vieles mehr ist schön, und so manches andere können wir uns schönreden oder schöntrinken. Die Schönheit aber, die von der Natur immerzu geschaffen wird, ist über alle Diskurse erhaben. Sie steht außerhalb unserer Bewertungskriterien. Sie kann niemals Kitsch sein. Sie ist ewig und erschreckend vergänglich zugleich.
Die Blätter des Herbstwalds leuchten in unglaublichen Farben, dann fallen sie tot zu Boden. Ich kann nur staunen und versuchen, ihr Leuchten nicht zu übersehen. Ich freue mich darauf, das Schauspiel im kommenden Jahr wieder zu erleben. Doch es wiederholt sich nicht einfach so.
2014 war das heißeste Jahr, seit es globale Temperaturaufzeichnungen gibt. Dann wurde es von 2015 überholt. 2015 wiederum wurde von 2016 und 2017 geschlagen. 2018 war das wärmste je in Österreich gemessene Jahr. Sein Sommer der trockenste, den wir je erlebt haben. Als ich im Herbst in die Wälder ging, trugen die meisten Blätter ein mattes, rostiges, schiaches Braun. Sie waren bereits im August vertrocknet. Auch Wasserläufe, aus denen ich bei früheren Wanderungen getrunken hatte, waren ausgetrocknete Flussbetten geworden.
Als John Lennon »Dear Prudence« komponierte, war der Aralsee noch viertgrößter See der Welt, flächenmäßig annähernd so groß wie Österreich. Dann wurden aus seinen Zuflüssen Unmengen von Wasser für die künstliche Bewässerung von Baumwollplantagen entnommen. Bereits Ende des Jahrhunderts war der Wasserspiegel des Sees um ein Drittel gesunken, sein Salzgehalt hatte sich vervierfacht, seine Fläche war auf fast die Hälfte geschrumpft. Der See zerfiel in zwei voneinander abgetrennte Teile, den »großen« und »kleinen« Aralsee. Und die Verlandung schritt weiter voran, schneller, als es Wissenschaftler erwartet hätten. 2016 war das östliche Becken des Sees erstmals restlos ausgetrocknet. Heute ist nur noch ein Zehntel der einstigen Wasserfläche vorhanden. Das Gewässer ist praktisch von der Landkarte verschwunden, ehemalige Hafenstädte liegen über hundert Kilometer vom Ufer entfernt. Nur ein etwa 30 Kilometer schmaler, nördlicher Wasserstreifen könnte durch einen aufwendigen, ständig sanierungsbedürftigen künstlichen Damm gerettet werden. Was vor wenigen Jahrzehnten ein gigantischer, fischreicher See war, ist heute eine von Sand-, Staubund Salzstürmen heimgesuchte, durch Rückstände hochgiftiger Pestizide und Unkrautvernichtungsmittel kontaminierte Wüste.
Bei einem Symposium behauptete eine Schriftstellerkollegin kürzlich, wenn sie in den Spiegel sehe, sehe sie die Natur vor sich. Klappe sie ihren Laptop auf, berühre sie ein Stück Natur. Ihre Auslegung von Natur war somit: Alles, was wir sind, kennen und kennen können. Alles Bekannte und alles Unbekannte. Der Begriff erübrige sich folglich, wir könnten ihn genauso gut aus unserem Vokabular streichen. Natur sei einfach alles und nichts.