Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Kostja Kiefholz, 43, resümiert sein Leben: gelungen oder nicht? Das 'junge Talent' des DDR-Bildungssystems bekam Brücken gebaut, er ging nicht drüber. Misstraute den Eltern, misstraut den (inzwischen kapitalistischen) Arbeitgebern. Naiv-zuversichtlich war er mal gestartet. Als Selbständiger und Sinnsucher konnte er's nicht lassen, das 'Schöne, Wahre, Gute' zu ersehnen. Im Chaos des Neuen findet er sich nur schwer zurecht. Als Musiklehrer, Werbetexter, Wissenschaftler verdient er den Lebensunterhalt. Kaum etwas scheint geblieben vom euphorischen Beginn. Tugenden und Werte der Kinderzeit sind längst verramscht. Doch taugt sein Anspruch noch? Träumend, augenwischend, gescheitert – ist nun überholt und ganz vergeblich, was vormals noch wichtig und richtig war? Was zählt im Jahr 22 nach der Wende? Dem Lebenskünstler wider Willen bei seinen Strampelkämpfen zuzusehen, macht Vergnügen, berührt, entsetzt. Es scheint, als müsse Kostja Schiffbruch erleiden, um zu haltbarer Identität zu finden. Er stößt sich an Liebschaften, Kindererziehung, konkurrenzgetriebenen Arbeitsverhältnissen, schlingert zwischen Selbstoptimierung und Selbstsabotage. Das hat, außer dass es als persönliches Desaster schwer zu ertragen ist, auch eine soziale Dimension: Was kann, darf, will Intelligenz? Was bleibt übrig, wenn einer seine Sohnes-, Mitarbeiter-, Bürgerpflichten ebenso abstreift wie Rollenerwartungen an den Liebesfähigen, Verantwortungsbewussten? Das Kippen aus der Jugend ins Älterwerden ist mit "Wendeverlierer in Midlife-Crisis" unzutreffend etikettiert: Hier versucht einer, sich nicht in Einsamkeit zu verlieren. Was die bitterböse Abrechnung des Berufsversagers so komisch macht, ist, wie ernsthaft und systematisch Kiefholz auf Fehlersuche geht. Man muss nicht zwischen 40 und 50 sein: Wer Vorbilder noch nie leiden konnte, findet in diesem Antihelden ein Prachtexemplar. Sein Anrennen gegen die Übermacht der Zwänge macht jede Menge Lust auf Leben. Mehr davon, weiter so!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 74
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Mathilde Schrumpf
Kostja Kiefholz
Copyright: © 2020 Mathilde Schrumpf
www.epubli.de
1
Kostja liebte den Schlaf und das Erwachen, er liebte den Übergang von Orange zu Milchkaffee, und er liebte es, leise für sich zu singen. Er liebte verspätete Schneeflocken im März, die letzten für lange Zeit, er liebte das Steigen der Sonne, und wie die Wolken über den Himmel liefen. Kostja Kiefholz hatte Musik, Papier und Tinte, ausreichend zu essen und den unendlichen Fluss der Gedanken auf dem ruhigen Fluss der Zeit.
Er bewegte sich hölzern, in ständiger Sorge, lichterloh zu brennen. Kiefholz war aus dem weichen Holz seiner Heimat geschnitzt. Schnell schießt es auf und steht gedrängt als Massenware in der Landschaft – Material, aus dem früher Puppen und Spielzeuge waren. Strahlt Ruhe aus, lebt und altert, lässt sich ein auf kleinste Veränderung der Umgebung. Dehnt, streckt und verzieht sich, arbeitet, gibt nach oder bricht, ächzt, klopft und knackt. Sammelt Harz, zählt die Jahre, redlich, stumm, in guten wie in schlechten Zeiten.
Kostja nahm an, dass seine kleine, ehrenwerte Person das Zentrum der Welt sei, dass unsere verrückte Welt mit all ihren Überflüssigkeiten und Absurditäten sich nur um ihn drehe. Diese Annahme gab Kiefholz´ Weltauffassung Struktur und Richtung, formierte jene Einheiten, die Geist und Körper verarbeiteten. Kostja sah sich von der Welt dazu aufgefordert, eine zusammenhängende, in sich schlüssige Erklärung seines So-Seins abzugeben. Hätte jemand ihn beobachtet, hätte er bemerkt, dass er ihm ein bisschen leid tat, überflüssige Empfindung, vielleicht. Versuche der unangemessenen Art, sein Verhältnis zur Umgebung ein für alle Mal zu klären, müssen in unserer chaotischen Welt scheitern. Wer Kiefholz über Jahre begleitet hatte, konnte sich eigentlich nur wundern, wie er in all der Zeit seine Unterschiedenheit von der übrigen Welt zu bewahren suchte, als Abgeschiedenheit und Sonderbarkeit, als habe er durch vertieftes Studium des ihn umgebenden Fremden, Befremdlichen die Beschaffenheit der eigenen Existenz deutlicher herausarbeiten können. Er musste Teil der Welt sein. Doch Kostjas Empfinden von seiner Person, als fremd in der Welt, und das Erkennen seiner Person, als untrennbar in der Welt, gingen nicht zusammen. Sein Wollen und sein Wissen passten einfach nicht zueinander.
Wollen und Wissen, gleich stark, einander zuwiderlaufend, trieben Kiefholz zu fortgesetzter Aktivität. Weder sein Wille noch sein Verstand, obwohl von Zeit zu Zeit triumphierend aufblitzend, trugen je einmal dauerhaft den Sieg über den Gegenspieler davon.
Wo hatte Kostjas Gefühl, er und die Welt seien unvereinbar, seinen Ausgang genommen? „Du bist nicht die anderen“, hatte seine Mutter ihn oft zurechtgewiesen – immer dann, wenn er sie bat, ihre Verhaltensmaßstäbe doch bitte einmal an den Maßstäben zu überprüfen, mit denen andere Eltern das Verhalten ihrer Kinder bewerteten. Ihre Abwehr (sie wollte sich nicht mit anderen vergleichen lassen) projizierte sie in jenem Satz auf den Sohn. Wie ein Dorn saß er fest in ihm, er bekam ihn nicht heraus. Kostja wusste, ebenso „er“ wie „die anderen“ waren Konstrukte, gemacht für ihre Zwecke, ihre verquere Argumentation. Doch obwohl er das wusste, konnte er nicht ermessen, wo ein vergleichender Blick angezeigt war (darauf, wie andere Menschen ihre Angelegenheiten regelten), und wo er sich über Vergleiche hinwegsetzen konnte. ‚Dahin hat es sogenannte bürgerliche Freiheit gebracht‘, dachte Kiefholz. ‚Jede und jeder entschied allein, was für sie oder ihn gut und richtig war. Eine übergeordnete Instanz, die aussprach und überwachte, was Recht und Unrecht war, gab es nicht. Kiefholz konnte es nicht lassen. Unvollendetes, Widersprüchliches, Absurdes ließ ihn nicht los. Er schlug sich so lange damit herum, bis er an Stelle einer Lösung, die es nicht gab, eine Scheinlösung errichtet hatte. Kiefholz vergaß zuweilen, dass er die unhaltbaren Zustände dieser Welt nicht durch Grübelei in haltbarere umwandelte. Ihm schien Nachdenken das Allheilmittel. Kostja wollte die Welt verbessert sehen, wie man gemeinsam eine Sinfonie einübt. So aber funktionierte das nicht: Die meisten seiner Mitmenschen stürzten sich ohne Bedenken in ihr Tun, getrieben von dunkel empfundenen Wünschen, kaum ausgereiftem Reden, trügerischen Vorbildern und unverarbeiteten Erfahrungen, die sich zu keinem besseren Wissen formten. „Einfach machen“ war die Devise der Zeit, und Kiefholz hielt sie in mehrfacher Weise für verfehlt.
Je mehr er glaubte, sich absondern zu müssen und je mehr er sich selbst als Sonderling erlebte, desto mehr sah er sich einem Sumpf einverleibt, dem er nicht entkam, so sehr er auch strampelte und sich an den Haaren riss. In seiner Umgebung, zum Verschlingen bereit, bewahrte er sich stets gerade so. Er widerstand und ging mit erfrischter Kraft unverdrossen aufs Neue los auf Menschen und Zustände. Durch einen Grand Canyon fühlte er sich von der Welt getrennt und glaubte, er würde schon noch zur Welt kommen. Abgetrennt zu sein von dem, was nicht Kiefholz war, blieb eine Illusion, nach der sich die Sehnsucht verstärkte, je offenbarer sie als Illusion erkennbar wurde. Konnte er sich befreien aus dem Zwang? Konnte er die alte Wahrnehmung verabschieden? Ihm fehlte ein alternatives „Welt-und-ich“-Erklärungsmodell, und solange es ihm fehlte, hing er dem alten dummen Mutter-Zwiespalt an.
− Du bist ja ganz vernarrt, dich selbst zu ergründen. ´Erkenne dich selbst´ – so war das nicht gemeint.
− Wie war es sonst gemeint?
2
Andere mögen die Wege nachzeichnen, auf denen die Idee einer allseitig gebildeten Persönlichkeit, kundig in vielen Fächern, ´poly technae´, im Programm ostdeutscher Volksbildung der siebziger und achtziger Jahre Fuß gefasst hatte. „Polytechnische Oberschule“ stand über Kostjas Schuleingang. Viele hundert Mal ging Kostja unter den Buchstaben hindurch. Da er vom ersten Tag an lesen konnte, wie sollten da Ideen nicht in seinen Kopf hineinwandern? Irgendwas blieb ja immer hängen.
Kostja vermochte kaum, die vielen Veränderungen zusammenzubringen, die das Musikmachen in ihm, an ihm vollzogen hatte. Ebenso, wie er Musik hatte die Musik ihn gemacht. Musik war da und war nicht da. Ihre flüchtige Anwesenheit, im nächsten Moment wie nie da gewesen, veränderte die Welt. Und doch war Musik nicht vorhanden, wenn niemand sie hörte. Kostja Kiefholz hatte viele Jahre Musik gemacht, und was war davon übrig geblieben?
Trotz des unguten Auseinanderkommens mit den Eltern hatte er eine behütete Kindheit gehabt. So sah er es rückblickend: Viele Jahre später wurde Kiefholz klar, dass es um ihn her Hässlichkeit, Lüge und Bosheit nie in einem Ausmaß gegeben hatte, das ihn verderben konnte. Ungestört vollzog sich hier etwas und bewirkte, dass Kostja an das Gute, Wahre, Schöne glauben konnte und – seltsam genug – es auch für lebbar hielt. An einer schön gerade gewachsenen, jedes Frühjahr neu grünenden Dornröschenhecke arbeiteten sich die Mächte des Bösen ab. Unbekümmert von den Hässlichkeiten des Irdischen, die sich außerhalb des ihn umgebenden Schutzes abspielten, schlief der Junge den Schlaf des Gerechten, während sich Herz, Verstand und Moral bildeten.
„Das Gute siegt immer“, verkündete er als Sechsjähriger, und Oma Marta hatte, ein Zucken im Gesicht, dem Enkel widersprochen: „Nein, mein Lieber, immer siegt es nicht.“
Die Eltern ließen sich scheiden und gaben ihn auf Schulen in der Hauptstadt, von denen es hieß, sie seien gut: Russisch am Vormittag, Musik am Nachmittag. Dass seine Eltern ihm einen russischen Namen gegeben hatten – vorauseilender Gehorsam, fürsorgliches Kalkül, um ihrem Sprössling die beste Ausbildung zu sichern, die zu bekommen war?
Kostja gewöhnte sich daran, seinen Tag einzuteilen, morgens sein Arbeitspensum vorzunehmen und abends zu resümieren, ob er es geschafft habe. Von seinen Lehrern bekam Kostja eine gute Portion Selbstbewusstsein mit auf den Weg, zudem die Fähigkeit, sich zurechtzufinden und anzuleiten in dem, was er sich aneignen wollte.
Wie gut tat ihm das, von Lehrern, die es gut mit ihm meinten, gelobt, gemocht, gesehen zu werden! Kiefholz brannte sich besonders ihr Lob ins Bewusstsein, das Lob als „pädagogisches Mittel“. Hatten nicht bei jedem Arbeitseinsatz in der Schule die vorbeikommenden Lehrer Kostja und seine Klassenkameraden gelobt, ihren Kinderfleiß, kindliche Sorgfalt und Ausdauer in der Ausführung?
Seine Kindheit war nicht eben reich an lobenden Worten gewesen, bevor er mit Leichtigkeit ein guter Schüler wurde. Wer ihm nur mit ein bisschen Freundlichkeit begegnete, der gewann einen Platz in seinem Herzen. Mochten die Ambitionen ihrer Erzieher, ihn zu begünstigen, vorzuziehen vor anderen, auch zwielichtiger Natur gewesen sein – nach strengen Kriterien ausgewählt und nach strengen Richtlinien ausgebildet, brachten die Pädagogen in Kostjas Schulzeit viel Wissen und Erfahrung mit, um Heranwachsende zu begeistern und anzuleiten: bis die Zöglinge dazu übergingen, sich selbst zu begeistern und zu orientieren.
In einer Umgebung, die nach jungen Talenten verlangte, galt Kostja als junges Talent. Zu hochfliegenden Hoffnungen ihrer Lehrer Anlass gebend, wurden sie gefördert: nie er allein, immer in einer kleinen Gruppe Gleichaltriger, ebenso Talentierter. Stipendien, beste Instrumente, inspirierende Orte – Kopf und Hände hielt man ihnen frei zur Kunstausübung.