Krammers Turntable - Ray Mohra - E-Book

Krammers Turntable E-Book

Ray Mohra

0,0

Beschreibung

Herbst 1984: Nur wenige Stunden nach seinem achtzehnten Geburtstag findet Andi Krammer seinen Vater tot in dessen Wohnung. War es Mord? Für den Jugendlichen beginnt eine Odyssee, die ihn sowohl zurück in die eigene Kindheit als auch in die rätselhafte Vergangenheit seines Vaters führt. Ohne es zu ahnen gerät er dabei selbst in Gefahr. Doch Andi bekommt Hilfe von ganz unerwarteter Seite.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 292

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Jan und Philipp

Ein Wort vorab

Diese Geschichte und die darin beschriebenen Personen sind größtenteils frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen sind entweder zufällig und wurden mit den betreffenden Menschen abgesprochen. Bei den vorkommenden Städtenamen ist es so: Manche Orte gibt es wirklich, manche nicht. Bei einigen Beschreibungen war ich so frei, auch schon mal von der Realität abzuweichen.

Auf die Verwendung von Gendersprache oder entsprechenden Zeichen wie Sternchen oder Doppelpunkte habe ich bewusst verzichtet, weil mir ein gut lesbarer und verständlicher Text wichtiger war als übertriebene politische Korrektheit.

Da es sich bei der Geschichte im Wesentlichen um einen Krimi handelt, kommen an manchen Stellen Beschreibungen von Gewalt vor. Wer so etwas nicht lesen mag, nimmt lieber ein anderes Buch zur Hand. Mir persönlich liegt die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt sehr am Herzen und ich finde es wichtig, hinzuschauen, wenn sie passiert.

Von diesem Roman gibt es auch einen zweiten Teil. Er heißt Krammers Faktum. Wer gerne wissen möchte, wie es weitergeht, ist herzlich eingeladen, die spannende Fortsetzung zu lesen. Dieser Roman funktioniert aber auch unabhängig von seinem Nachfolger für sich allein – und umgekehrt.

Und weil wir uns in dieser teils sehr persönlichen Geschichte schon ein bisschen näherkommen werden, sagen wir einfach du zueinander, ok?

Und jetzt wünsch ich dir viel Spaß beim Lesen!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Danke

Prolog

»Scheiße!«

Andreas Krammer schaute auf die Uhr des Bahnsteigs zwei in Bröhlheim. Sie zeigte 1 Uhr und 7 Minuten und die Nacht lag wie eine schwere Bettdecke über der Stadt im Rheinland. Er war mutterseelenallein dort, und – als ginge es darum, seine Situation noch ein wenig trostloser erscheinen zu lassen, als sie ohnehin schon war – es hatte angefangen zu regnen. Ein leichter, aber unangenehmer Nieselregen hatte sich dieser kühlen Oktobernacht hinzugesellt. Auf dem Bahnsteig war er zwar vor Nässe geschützt, aber der Wind zog ihm immer wieder gemein durch seine viel zu dünne Jacke. Seit etwas mehr als einer Stunde war er nun volljährig. Diesen Moment hatte er sich anders vorgestellt.

»Scheiße!«

Er trat gegen einen Stein, der klackernd im Gleisbett landete. Noch einmal ging er zum Fahrplan, um ganz sicherzugehen, dass er sich nicht verlesen hatte. Nein, er hatte sich nicht verlesen. Die Tabelle zeigte ihm unmissverständlich an, dass der nächste Zug nach Köln erst in der Früh um 05:26 Uhr hier abfahren würde. Er dachte nach. Sollte er wirklich viereinhalb Stunden auf den beschissenen Zug warten? Oh Mann!

Ursprünglich hatte Andi doch nur vorgehabt, seinen Freund Jochen in Oberkassel zu besuchen, dort zu übernachten und am nächsten Morgen wieder nach Hause zu fahren. Er hatte sich vor der Abreise bei seiner Mutter einen Erdbeerkuchen zur Feier seines großen Tages gewünscht, und am Wochenende sollte dann eine große Party stattfinden. Entgegen seinem ursprünglichen Plan hatte er sich am Bonner Hauptbahnhof aber spontan zu einem kleinen Abstecher nach Bröhlheim zu seinem Vater entschieden. Andi schürzte seine Lippen, als er darüber nachdachte, denn beinah erwartungsgemäß eskalierte ihre Zusammenkunft wieder einmal zu einem Streit, und nach diesem furchtbaren Abend hasste er sich selbst für diese bescheuerte Idee.

Klonk!

Sein Blick ging wieder hinauf zur Bahnsteiguhr. Er hatte nie verstanden, warum der Sekundenzeiger immer einen kurzen Moment bei der zwölf stehen blieb, bis der Minutenzeiger auf die nächste Minute sprang. Das kam ihm so vor, als wenn er sagen wollte: »Muss ich denn immer auf dich warten, du Lahmarsch? Jetzt beeil dich doch mal!«

Zum regelmäßigen Klonk der Bahnhofsuhr gesellte sich das Brummen einer flackernden Neonröhre, die wohl schon bald für immer verstummen bzw. verglimmen würde.

Kapitel 1

Nach dem Streit mit seinem Vater war Andi mitten in der Nacht zum Bahnhof gelaufen. Er wollte nur noch weg von hier. Heim zu seiner Mutter und Christiane, seiner Schwester.

Einen Rucksack mit einer Jogginghose, ein paar Unterhosen und T-Shirts sowie einen Karton, im dem sich ein alter Plattenspieler befand – das war alles, was er bei sich hatte.

Er hatte sich schon wochenlang darauf gefreut, Jochen wiederzusehen. Es gab eine Menge zu erzählen und sie hatten viel gelacht. Irgendwann hatte es sich ergeben, dass Jochen Andi seinen alten Dual-Plattenspieler für dreißig Mark anbot. Es war genauer gesagt sogar ein Plattenwechsler, worüber Andi besonders froh war. Bei diesem Gerät konnte man bis zu zehn Schallplatten auf einen metallenen Stift stapeln, die dann einzeln hinunterfielen und der Reihe nach abgespielt wurden. Dieser spezielle Stab war jedoch anfangs nicht auffindbar, was richtig blöd war, denn er war praktisch nicht nachbestellbar. Nach einer längeren Suche hatten sie das exklusive Teil schließlich doch noch gefunden. Andi war glücklich, sein Leben war gerettet!

Er war wie geplant über Nacht bei Jochen geblieben. Das Frühstück war ausgiebig und am Mittag hatte es Bockwürstchen mit Kartoffelpüree gegeben. Alles war so normal und ungezwungen bei Jochens Familie.

Familie. Ein fremdes, aber doch wohliges Gefühl war für ihn mit diesem Wort verbunden.

Den Karton hatte er bestimmt zum hundertsten Mal von der einen zur anderen Seite gewechselt, denn er drückte unangenehm gegen seine Rippen. Er war zwar nicht schwer, aber ziemlich kantig und unpraktisch zu transportieren. Trotzdem war er froh, dass er das Ding dabeihatte. Der Plattenspieler war sein einziger Trost in dieser Nacht.

Besonders gut kannte sich Andi in Bröhlheim nicht aus, obwohl er in dieser Kleinstadt geboren war. Immerhin wusste er noch, wo der Bahnhof lag.

Nachdem sein Vater ihn dort am Vortag abgeholt hatte, waren sie zunächst zu dessen kleiner Wohnung gegangen. Andi war seit der Trennung noch nie dort gewesen und deswegen gespannt zu sehen, wie das Zuhause seines Vaters wohl aussieht. Aber der erste Eindruck war bereits enttäuschend, denn das Gebäude machte schon von außen einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck.

Andis Vater kramte seinen Schlüsselbund hervor und schloss die Haustür auf, die unangenehm laut über die Bodenfliesen im Hausflur kratzte. Es roch scharf nach Putzmittel. Oben auf der Treppe im ersten Stock unterhielten sich zwei ältere Frauen, was durchs ganze Haus schallte. Die Wohnungstür seines Vaters war an einigen Stellen provisorisch mit Klebeband geflickt. Der Wohnungsschlüssel drehte sich im Schloss und die geöffnete Tür gab den Blick frei in einen kleinen Vorraum, in dem eine kurze Küchenzeile eingebaut war.

Sein Vater ging voraus ins Wohnzimmer, während Andi unwillkürlich die Nase rümpfte. Kalter Zigarettenrauch hing hier praktisch in allen Sachen und Möbeln für immer fest. Nach der Trennung seiner Eltern vor etwa sieben Jahren hatte seine Mutter das Rauchen aufgegeben. Offenbar hatte sein Vater hingegen seinen Rauchkonsum verdoppelt. Mindestens. Es stank ekelhaft, und außerdem war es hier schmutzig. Sein Vater hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ein bisschen aufzuräumen.

Möglicherweise bemerkte er, dass Andi die Nase verzog; jedenfalls kippte er eilig das Wohnzimmerfenster auf, hinter dem sich ein schmaler, mit allerlei Gerümpel beladener Balkon befand.

Durch das schmutzige Fenster konnte Andi eine verwilderte Gartenparzelle erkennen. Auf dem Tisch im Wohnzimmer standen zwei leere Bierflaschen und eine halbvolle und ein schmutziges Trinkglas. Ein randvoller Aschenbecher sowie Alufolien mehrerer Zigarettenschachteln gesellten sich harmonisch zu diesem Stillleben.

Die ganze Einrichtung wirkte wie aus einem schlechten Second-handshop oder auf einem Flohmarkt zusammengekauft. Die dunkelbraune Schrankwand mit glattem Eichenfurnier und die Couch erkannte Andi aus der alten Wohnung in Oberkassel wieder. In dieser Wohnung waren diese Möbelstücke jedoch gnadenlos überdimensioniert. Die unifarbenen Couchkissen schienen hingegen neu zu sein. Sie sahen aus wie einsame Accessoires aus einem Schöner Wohnen Prospekt.

Andi schaute seinen Vater an, der gerade dabei war, irgendwas zu erzählen. Er war ihm so merkwürdig fremd geworden. Ok, sein Äußeres war – solange er sich erinnern konnte – noch nie besonders attraktiv gewesen, und wenn er jetzt so darüber nachdachte, hatte er auch nie verstanden, wie sich seine Mutter überhaupt damals in ihn verlieben konnte.

Verlieben? So ein großes Wort! Wahrscheinlich ist sie nach einer unromantischen Bettgeschichte ungewollt schwanger geworden, und es gab keinen anderen Ausweg als zum Traualtar. Doch sein Vater wirkte in diesem Moment nicht nur fremd, sondern regelrecht alt! Andi gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.

»Möchtest du was trinken?«

Andis Blick ging erschrocken zu den drei Bierflaschen auf dem Tisch, er war aber dann einigermaßen beruhigt, als sein Vater eine Flasche Fanta hochhielt.

»Nö, passt, danke!«

»Wie geht’s deiner Mutter?«

Da war es wieder, dieses altbekannte und flaue Gefühl! Was sollte jetzt diese Frage, verdammt? Es interessiert ihn doch einen Scheiß, wie es Mama geht!

»Gut.«

»Ah.«

Die Redepause nutzte Andi, um sich weiter in der Wohnung umzuschauen und nachzudenken.

Was wollte er hier eigentlich? Seit der Trennung seiner Eltern, die viel mehr einer Flucht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gleichkam, hatte er in wiederkehrenden Abständen eine Art Heimweh, das mit nichts erklärbar war. Sein Vater war schon seit Jahren alkoholabhängig und neigte zusätzlich dazu, abwechselnd seine Mutter, ihn oder seine Schwester zu verhauen. Solche Gewaltausbrüche kamen damals so regelmäßig vor, dass sie schon zu ihrem Leben dazugehörten. Seine Mutter hatte nie den Mut aufgebracht, sich zu wehren und erduldete die Prügel und Demütigungen still. Zu allem Überfluss half sie auch noch dabei, das Ganze zu vertuschen. Nach außen waren sie eine glückliche Familie, weswegen die meisten Nachbarn und Bekannten in ihr die Schuldige ausgemacht hatten, die in deren Augen den armen Ehemann grundlos und unerwartet im Stich gelassen hatte.

Und trotzdem hatte Andi vor allem schöne Erinnerungen an früher, und das war vielleicht das Unerklärlichste von allem. Sie wohnten damals in Oberkassel, auf der gegenüberliegenden Rheinseite von Bonn. Ein geräumiger Reihenhaus-Altbau in der Adrianstraße mit einer Gartenparzelle nach hinten raus. Eine Wiese mit einem seitlichen Weg, genug Auslauf für Dina.

»Bist du eigentlich noch in Köln bei der Druckerei?«

Andi stellte diese Frage im Grunde nur, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Sein Vater hatte nach der Bundeswehrzeit bei der Druckerei Gessler in Köln eine Lehre als Schriftsetzer gemacht. Nach ein paar Gesellenjahren war er dann in die Abteilung Korrektur gewechselt. Sechs Korrektoren prüften damals alle Manuskripte vor der Drucklegung. Die Texte wurden dabei nicht nur hinsichtlich der Rechtschreibung, sondern auch formal und stilistisch verbessert.

»Nein, ich habe letzten Monat gekündigt«, log sein Vater. »Die wollten mich einfach nicht gehen lassen, aber ich habe schon was viel Besseres gefunden. Im Januar fange ich bei der Bundesdruckerei an.«

Andi kannte seinen Vater zu gut, um das zu glauben. Er konfrontierte ihn testweise mit seinem Halbwissen.

»In der Bundesdruckerei? Da werden doch die ganzen Geldscheine gedruckt, oder?«

»Richtig. Und Personalausweise zum Beispiel auch.«

Oh Mann, das ist ja wieder mal typisch, dachte Andi.

Wer die Lebensumstände seines Vaters kannte, dem musste sofort klar sein, dass eine Anstellung bei der Bundesdruckerei sehr unwahrscheinlich war. Woher kam dieser Hang zur permanenten Selbstüberschätzung? Sein Vater musste in jeder Situation entweder strahlender Held oder unschuldiges Opfer sein.

Andi nickte nur und tat beeindruckt. Er hatte keine Lust auf einen Streit. Am liebsten wollte er gleich wieder nach Hause.

»Hast du Lust, mit ins Laternchen zu kommen? Mein Freund Eddy kommt auch, es wird bestimmt lustig. Und um zwölf können wir ja dann auf deinen Geburtstag anstoßen.«

Er hat an meinen Geburtstag gedacht! Andi war über diese Tatsache nicht nur überrascht, sondern regelrecht verdutzt. Normalerweise brauchte sein Vater immer jemanden, der ihn an solche Ereignisse erinnerte. Aber diesmal hatte er offenbar von allein daran gedacht. Das war neu.

Eddy. Andi kramte angestrengt in seinen Erinnerungen. Seine Mutter hatte ihm die Geschichte schon mal erzählt, wie war das noch? Eddy, das war doch der Typ, mit dem sein Vater damals den Autounfall hatte, kurz vor seiner Geburt. Der Wagen war von der Straße abgekommen und hatte sich auf einem Acker mehrfach überschlagen. Seine Mutter glaubte sich zu erinnern, dass Eddy unverletzt geblieben war, aber seinen Vater hatte es ziemlich bös erwischt. Ironischerweise war er auch noch ins selbe Krankenhaus eingeliefert worden, in welchem seine Mutter fast zeitgleich ihren Sohn zur Welt gebracht hatte.

Als sie das Wochenbett zum ersten Mal verlassen durfte, wickelte sie den kleinen Andi in eine warme Decke, nahm ihn auf den Arm und fuhr mit dem Aufzug zu Station vier, auf der sein Vater lag.

Der Zimmernachbar seines Vaters war ein älterer Mann, dessen Raucherbein amputiert worden war. Als seine Mutter mit dem Baby das Krankenzimmer betrat, schaute nur ein Teil von Andis Köpfchen mit den Haaren aus der Decke, weshalb der Alte »Es dat e Dier?«1 rief.

War das vielleicht der Grund, warum ihn sein Vater seit damals immer wieder »blöder Hund« nannte?

»Ok, meinetwegen«, erwiderte Andi und sie gingen ins Laternchen.

1 Hochdeutsch: »Ist das ein Tier?«

Kapitel 2

Um ins Laternchen zu gelangen, musste man nicht nur die massive Außentür aufziehen, sondern auch einen dicken, braunen und im Halbrund aufgehängten Vorhang zur Seite schieben, der wohl verhindern sollte, dass frische Luft von draußen hineinkam.

Wer als Fremder zum ersten Mal das Laternchen betrat, hatte sich auf eine gewaltige Überdosis 1. FC Köln gefasst zu machen. Die Kneipe war voll mit Devotionalien des Vereins. Mannschaftsfotos von den Anfangszeiten der frühen 50er Jahre bis zur aktuellen Saison 1984 hingen beinahe überall. Über dem Tresen waren mehrere Vereinswimpel befestigt und ein Geißbock mit einer Decke auf dem Rücken, auf der Hennes stand, war der Blickfang im Thekenbereich.

Die Luft hier drinnen hatte schon etwas Körperliches; es roch nach Zigaretten und Bier, und der Lärmpegel der Kneipengäste wurde nur durch die Rock-Ola Musikbox übertroffen, die ihre rund siebzig Schlagertitel in unermüdlicher Rotation rauf- und runterspielte. Nicht nur musikalisch schien im Laternchen die Zeit vor vielen Jahren stehen geblieben zu sein.

»Oooh oh, Motorbiene«, tremolierte Benny Quick gerade, als sie das Laternchen betraten. Sie sahen sich suchend um.

»Irgendwo muss er sein, guck mal mit!«

Ich weiß doch überhaupt nicht, wie dieser Eddy aussieht, nach wem soll ich also bitte schön suchen, dachte Andi und schüttelte den Kopf.

Eddy hatte die beiden bereits entdeckt und winkte sie fröhlich zu sich herüber.

»…dann fahr’n wir noch mit der Geisterbahn und du schreist laut so wie der letzte Zahn…«

Die beiden Männerfreunde drückten sich zur Begrüßung und patschten sich gegenseitig auf den Rücken.

»Hey Eddy, das ist Andi, mein Sohn.«

Andi konnte sich nicht erinnern, dass er von seinem Vater jemals so nett vorgestellt worden war.

»Freut mich, Andi. Ich heiße Eddy«, sagte Eddy und reichte ihm die Hand.

So viel Höflichkeit hatte Andi von diesem Eddy gar nicht erwartet. Er ließ sich auf den angebotenen Handschlag ein und lächelte unverbindlich. Sie setzten sich. Ein Köbes2 erschien prompt und nahm die Bestellung auf.

»Zwei Kölsch, zwei Korn3 und ein …?«, sein Vater hob die Augenbrauen und schaute zu Andi.

»Eine Cola bitte!«, sagte Andi schnell. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er ab sofort von keinem der hier Anwesenden mehr als vollwertiger Mensch betrachtet wurde. Aber was sollte er machen? Er verabscheute Bier schon, solange er denken konnte. Der Kellner nickte kurz, lud ein paar leere Kölschgläser aufs Tablett und verschwand.

Sein Vater und Eddy saßen ihm gegenüber und fingen ohne große Einleitung an, über Belangloses zu reden. Erst schimpften sie über das Wetter, dann kam von Eddy ein bisschen Halbgares über Fußball, schließlich wieder Wetter.

»Wie geht’s eigentlich Hildegard?«, kam es irgendwann aus der Richtung seines Vaters, und Eddy zuckte kurz mit einer Wange.

»Ach … Hilde … ja, gut«, gab dieser schmallippig zurück und ergänzte mit einer alten kölschen Weisheit: »Et bliev nix, wie et wor.«4

Der Kellner stellte die bestellten Getränke auf den Tisch.

»Theo, wir fahr‘n nach Lodz!«, schmetterte Vicky Leandros nun zum Intro ihres Hits von 1974. Andi stand zwar eher auf ELO, aber er fand dieses Lied schon als Kind ganz ok. Leider hatte seine Mutter seinem Vater gegenüber nie einen solchen Kommandoton zustande gebracht. Stattdessen war sie froh, wenn er auf der Arbeit war oder sich sonst wo herumtrieb. Es war ihr wahrscheinlich egal. Hauptsache, er war nicht zu Hause.

Am Stammtisch in der Ecke lachten ein paar Kartenspieler laut auf, nachdem einer von ihnen seine Karten auf die Tischplatte geschmettert hatte.

Und da war es wieder, Andis ganz persönliches Déjà-vu: dieses Gefühl der Ohnmacht, gefangen zu sein an einem Tisch in irgendeiner stinkenden Kneipe und warten zu müssen, bis sein Vater endlich genug Bier intus hatte. Schon hundertmal hatte er sich in der gleichen Situation befunden, entweder zu zweit mit seinem Vater oder zu viert mit seiner Mutter und Christiane. Nach dem Vorschlag seines Vaters, ins Laternchen zu gehen, hatte er schon geahnt, worauf dieser Abend hinauslaufen würde, und er ärgerte sich wieder einmal über seinen ungebrochenen Optimismus, dass es vielleicht auch mal anders sein könnte. Inzwischen waren sie schon über zwei Stunden hier und der Lärmpegel stieg mit dem Alkoholpegel der Anwesenden.

»Ich muss mal«, sagte Andi und suchte das Schild mit der Aufschrift Toilette.

»Da hinten durch«, rief Eddy und zeigte ihm die Richtung an.

Andi wühlte sich vorbei an den eng beieinanderstehenden Kneipengästen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass keine einzige Frau anwesend war. Er musste eine Wendeltreppe hinunter und durch einen schmalen gekachelten Flur gehen, um zur Toilette zu gelangen. Hier unten kämpften Urin und WC-Stein offenbar um die Vorherrschaft in der Disziplin Gestank. Andi sah den WC-Stein knapp im Vorteil und stellte sich an die Pinkelrinne. Leider war das Laternchen seinerzeit noch nicht mit modernen Urinalen samt Trennwänden ausgestattet. Es gab dort nur eine lange Rinne mit einem seitlichen Abfluss.

Andi empfand es immer als unangenehm, gegen eine Wand zu pinkeln. Überhaupt fiel es ihm schwer, wenn jemand neben ihm stand. Aber er schien hier unten allein zu sein und es würde schon keiner kommen, hoffte er. Er musste sich nur ein bisschen ranhalten. Eilig öffnete er den Reißverschluss seiner Hose, friemelte seinen Penis heraus und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Der Kneipenlärm, der von hier unten nur dumpf und leise zu hören war, wurde plötzlich laut.

Mist! Die Tür flog auf, ein älterer Mann mit massiver Statur kam herein und baute sich neben ihm auf. Er riss den kompletten Frontbereich seiner hellbraunen Cordhose weit auf und fing augenblicklich an, im Vollstrahl zu pinkeln. Andis Blase war so voll, dass sie wehtat, aber er konnte sich einfach nicht entspannen. Er überlegte, ob er sich vielleicht besser in eine der abschließbaren Kabinen verziehen sollte, aber das wäre ihm peinlich gewesen.

Vielleicht geht’s ja mit Drücken. Aua, nein, das machte alles nur noch schlimmer! Gut, dann also warten, bis der Mann neben ihm fertig war. Das dauerte allerdings erstaunlich lang. Das Plätschern seines Pinkelrinnen-Nachbarn wollte einfach kein Ende nehmen. Hinzu kam ein lautes Schnaufgeräusch beim Einatmen und ein kehliges Rasseln beim Ausatmen. Immer wenn es scheinbar vorbei war, ging es nach einer kurzen Pause wieder von vorne los.

Andi war einerseits beeindruckt über die riesige Menge an Flüssigkeit, die in diese Männerblase passte, wartete aber gleichzeitig sehnsüchtig darauf, dass diese Quälerei endlich ein Ende fand und er allein und in Ruhe sein Geschäft machen konnte. Er kniff die Augen zusammen. Alles tat weh. Seine Blase drohte zu platzen, es konnte nur noch eine Frage von Sekunden sein. In diesem Augenblick erschallte das große Finale, was manche Leute vielleicht scherzhaft mit der Überschrift »Die Trompeten von Jericho« betiteln würden. Für Andi war es nichts Geringeres als der Furz des Jahrhunderts. Ein lautes, schier endloses Tröten wie von einer nassen Mehrklangfanfare stieß aus der Hose des Alten, um sich in der Kachelwelt des Toilettenbereiches regelrecht festzubeißen und lange nachzuhallen. Den Schlusspunkt markierte ein zufriedenes Stöhnen seines Erschaffers.

Der Mann schüttelte sich und zog den Reißverschluss seiner Hose nach oben. Ein warmer, fauliger Gestank zog Andi unerbittlich in die Nase und ihm wurde auf der Stelle schwindelig. Wankend blickte er auf die gelb geflieste Wand vor sich, als er spürte, dass sein Nachbar ihn ins Visier genommen hatte. Andi fühlte förmlich die Verachtung, die aus nächster Nähe auf ihn einstrahlte. Sein Pinkelrinnen-Nachbar betrachtete ihn wie eine missgebildete Kreatur aus einer fremden Galaxie. Quälend lange Sekunden hatte Andi nun dessen ungeteilte Aufmerksamkeit. Er wagte es nicht, sich auch nur einen Millimeter zu rühren. Da bewegte der Alte seine Lippen:

»Ich hasse dich. Ich werde dich zerquetschen, du Wurm!«

»Wie bitte?«

»Ich hab dich gefragt, ob du schon den ganzen Abend hier stehst, Jüngelchen?«

Andi lief rot an und er versuchte, eine sinnvolle Antwort zustande zu bringen. Aber was sollte er auf diese Frage schon antworten, außer »Nein, ich, äh…«?

In diesem Moment ertönte das ohrenbetäubende Rauschen einer Druckspülung und ein drahtiger Mittvierziger in Trainingsjacke kam aus seiner Kabine. Wusch! Andis volle Blase entleerte sich auf einmal und sein Urin spritzte in alle Richtungen. Nicht nur über seine Hände, sondern unglücklicherweise auch über seine hellblaue Jeans. Je mehr Andi versuchte, den Strahl unter Kontrolle zu bringen, desto schlimmer wurde es. Der Alte schüttelte den Kopf und lachte.

»Et kütt, wie et kütt5«, spottete er und verließ den Toilettenraum, ohne sich die Hände zu waschen.

Als Andi wieder zum Tisch von Eddy und seinem Vater kam, versuchte er, den durchnässten Teil seiner Hose irgendwie zu verdecken. Aus der Jukebox dröhnte der Marsch Alte Kameraden vom Musikkorps der Bundeswehr. Der Abend im Laternchen steuerte offenbar seinem Höhepunkt entgegen.

»Da bist du ja wieder, wir wollten gerade eine Suchmeldung aufgeben«, juxte Eddy und grinste breit.

Dieser Eddy war schon ein komischer Vogel. Die halb aufgekrempelten Ärmel seiner Lederjacke gaben den Blick auf eine scheinbar teure Armbanduhr frei. Dazu trug er eine Goldkette am Hals und einen permanenten Gönnerblick im Gesicht. Dabei war dieser schmierige Typ noch nicht einmal unsympathisch. Zumindest schien er bemüht, einen guten Eindruck zu machen.

Es war kurz nach 23:00 Uhr, als sein Vater einen glasigen Blick hatte. Er versuchte, Eddys Ausführungen zu folgen, warum es für den FC letztes Jahr in der Bundesliga so gut und im DFB-Pokal so beschissen gelaufen war. Was ihm offenbar große Mühe bereitete, denn seine Augen fielen immer wieder zeitlupenartig zu. Dann riss er sie wieder auf und wackelte dabei ungelenk mit dem Kopf.

Keine Frage, sein Vater befand sich wieder in diesem Zustand, für den Andi nichts anderes als Abscheu empfinden konnte. Matthias Krammer fixierte seinen Sohn mit einem unsteten, aber ernsten Blick.

»Deine Mutter ist ein Mm-m-Miststück!«

Eddy legte seine Hand auf den Rücken seines Freundes, als wenn er ihn trösten wollte.

»Ja, ein Miststück!«

»Bitte hör auf, Papa!«

»Matthias, ich glaub, du hast genug…«

»Ein dämliches Mist– «

»Papa, bitte!«

»–stück!«

Es hatte keinen Sinn. Andi wollte am liebsten auf der Stelle wieder nach Hause fahren. Aber seine Sachen und der Plattenspieler waren bei seinem Vater in der Wohnung, verdammt! Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht, hier hinzukommen? War etwa nur im Ansatz daran zu denken, dass sein Vater sich irgendwann ändern würde? Natürlich nicht!

»Matthias, ich denk mal, es reicht für heute. Wir bringen dich nach Hause, ok?«

Eddy beglich generös die Zeche, wobei Andi einen Moment lang über die vielen Geldscheine in dessen Brieftasche staunte. Sie nahmen Andis Vater in die Mitte und schafften ihn mühsam nach Hause. Der Weg zog sich ewig lang; immer wieder mussten sie Andis Vater daran hindern, auf die Straße zu laufen oder Leute zu beschimpfen. Nachdem Eddy seinen betrunkenen Freund auf dessen Wohnzimmercouch abgeladen hatte, verabschiedete er sich von Andi mit einem Augenzwinkern.

»Pass gut auf deinen alten Herrn auf! Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«

Eddy streckte Andi wie bei der Begrüßung die Hand entgegen, doch diesmal schlug Andi nicht ein. Stattdessen begleitete er ihn zur Wohnungstür und nickte zum Abschied nur mit dem Kopf.

Im Wohnzimmer saß sein Vater nun wie ein Häufchen Elend auf der Couch. Irgendwie hatte er es geschafft, seine Schuhe und die Hose auszuziehen. Andi brauchte einen Moment, um diesen Anblick zu verdauen. Hellblaues Hemd mit nassgeschwitzten Achseln, weiße Feinripp-Unterhose und braun gemusterte Socken, so saß sein Vater ihm nun gegenüber und wippte mit dem Oberkörper leicht vor und zurück.

»Tschuldigung, tut mir leid, Andi. Daswolltichnich.«

»Ich will nicht, dass du so über Mama redest.«

»Hassja recht. Aber ich reg mich halt immer auf, wenn ich an die dumme Kuh denk.«

»Papa!«

»Ja issoch wahr! Die blöde Dreckschlampe, die blöde!«

Es reichte. Andi schnappte sich den Rucksack und den Karton und wandte sich zur Zimmertür. Da spürte er, wie die Hand seines Vaters ihn am Arm griff. Er schüttelte sich heftig und stieß dabei gegen eine Kommode.

»Aua! Scheiße, lass mich!«

Panisch machte er einen Satz nach vorne, wobei sein Vater am Sessel hängen blieb und auf den Boden krachte. Andi brachte es nicht fertig, sich umzudrehen; der erwartbare Anblick erschien ihm einfach zu würdelos. Er rannte durch den kleinen Flur an der Mini- Kochzeile vorbei zur Wohnungstür, als er seinen Vater irgendwas Unverständliches rufen hörte. Der Wohnungsschlüssel steckte von innen im Schloss. Andi betete, dass er selbst die Tür nicht versehentlich zugesperrt hatte, als er Eddy hinausbegleitet hatte, denn dann hätte sein Vater vielleicht doch noch eine Chance gehabt, ihn zu packen. Er riss an der Tür und sie flog nach innen auf. Gottseidank! Jetzt durch den Hausflur und nichts wie weg!

Zwanzig Minuten später saß er also hier an diesem verflixten Bahnsteig mitten in der Nacht bei diesem Scheißwetter und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Er schlug seinen Jackenkragen hoch, verschränkte die Arme und schloss die Augen.

2Köbes kommt von Jakob. So werden alle Kellner im Rheinland genannt.

3 Zum Kölsch immer ein Korn! Das klassische Herrengedeck im Rheinland.

4 Kölsches Grundgesetz § 5

5 Kölsches Grundgesetz § 2

Kapitel 3

Matthias Krammer lag auf dem Boden seines Wohnzimmers und war unfähig, sich zu bewegen. Sein Versuch, ans Telefon zu gelangen, endete damit, dass der Apparat vom Sideboard herunterfiel. Bei seinem Sturz musste er sich am Bein verletzt und den Unterarm oder das Handgelenk gebrochen haben. Jedenfalls vermutete er das aufgrund der stechenden Schmerzen. Seit sein Sohn so überstürzt die Wohnung verlassen hatte, waren etwa zwanzig, vielleicht auch dreißig Minuten vergangen. Er schaute zum Fenster. Draußen konnte er im Schein einer Straßenlaterne erkennen, dass es regnete.

Wieder und wieder versuchte er, sich auf den Sessel zu hieven, doch das gelang ihm nicht. Irgendwann gab er dieses Unternehmen erschöpft und voller Schmerzen auf. Um Hilfe rufen wollte er aber auf keinen Fall, um sich die drohende Schmach bei seinen Nachbarn zu ersparen. So blieb er bäuchlings auf dem Boden liegen und versuchte schnaufend, wenigstens wieder zu Atem zu kommen. Er hörte Schritte im Hausflur, dann im Vorraum. Die Wohnungstür wurde geschlossen.

»Andi?«

Keine Antwort.

»Bist du das, Andi?«

Es blieb still. Matthias Krammer versuchte vergeblich, seinen Kopf in Richtung Flur zu heben. Wieder Schritte, diesmal betrat jemand das Wohnzimmer.

»Was soll der Scheiß, Andi? Hilf mir bitte mal!«

Die Wohnzimmertür wurde leise geschlossen und die Schrittgeräusche gingen nun ganz nah langsam an ihm vorbei. Eine Schublade wurde aufgezogen und kurz danach wieder geschlossen.

»Was is hier los? Das is ja wohl … Andi!«

Jetzt wurden an der Schrankwand mehrere Schranktüren geöffnet und wieder geschlossen. Matthias Krammer fand, dass sein Sohn sich merkwürdig verhielt. War er etwa immer noch sauer auf ihn?

»Hey, Andi, es tut mir leid, dass ich so über deine Mutter geschimpft hab! Kommt nicht wieder vor, ok?«

Das Klappern der Schranktüren wurde fortgesetzt. Krammer war sich langsam nicht mehr so sicher, ob der Besucher wirklich sein Sohn war. Aber wer zum Teufel konnte das sonst sein? Er schien etwas zu suchen. Seine Gedanken rasten wild. War das ein Mann oder eine Frau? Aufgrund der Trittgeräusche legte er sich auf eine männliche Person fest. Jemand, den er kannte oder ein Fremder? Matthias Krammer konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass einer von seinen Bekannten ihm einen solchen Schrecken einjagen würde. Außerdem war sein Bekanntenkreis in den letzten Jahren auf rund zwei Personen zusammengeschrumpft: Seinen Kumpel Eddy und seinen Freund Bernd.

»Eddy?«

Keine Antwort.

»Bernd?«

Jetzt wurde eine der hinteren Schranktüren zugeklappt.

»Oh, verdammt, wer ist das?« fragte Krammer nun kläglich in die Stille hinein. Der Unbekannte war jetzt hinter ihm bei der Couch. Mehrere Kissen wurden angehoben und sorgfältig wieder zurückgelegt. Krammers Gedankenkarussell drehte sich schneller und schneller. Was war das für eine groteske Situation, in der er sich befand?

Er beschloss, laut um Hilfe zu rufen, und holte tief Luft. In diesem Moment wurde sein Kopf von hinten an den Haaren grob angehoben und eines der Sofakissen unter sein Gesicht geschoben. Der Fremde kniete sich auf seinen Rücken. Bevor Krammer realisierte, wie ihm geschah, wurde sein Gesicht mit brutaler Kraft ins Kissen gedrückt. Er versuchte reflexhaft zu atmen, bekam aber keine Luft. Sein Schrei verlor sich im Futter des Kissens. Augenblicklich wurde ihm klar, dass er gerade jede Menge wertvolle Luft ausgeatmet hatte, aber nicht imstande war, wieder einzuatmen. Seine schmerzenden Arme und Beine wurden von seinem Angreifer gnadenlos fixiert, sodass er sich außerstande sah, sich aus der Umklammerung zu befreien.

Todesangst und nacktes Entsetzen übermannten ihn. Krammers Herz pumpte wild und seine Gedanken rasten, aber er konnte nichts ausrichten. Minutenlang versuchte er, sich zu wehren. Irgendwann hatte er keine Kraft mehr. Er fühlte sich unendlich müde und erschöpft und gab schließlich auf.

»Ich krieg keine Luft! Ich krieg keine Luft!«, das war sein einziger Gedanke, den er im Kopf mantrahaft wiederholte.

Doch auf einmal schien sich die Zeit schlagartig auszudehnen. Es gab nur noch ihn und die Dunkelheit, sonst nichts.

War es das jetzt, fragte er sich. Ist es vorbei?

Krammer glitt hinüber in einen traumähnlichen Zustand, in dem alles schwebte. Zuerst sah er nur sich selbst, dann erweiterte sich sein Spektrum explosionsartig und er sah schließlich ALLES. Und dann begriff er.

Was für ein verschwendetes Leben!

Das Letzte, was er dachte, war … ANDI!

Kapitel 4

Andi Krammer öffnete die Augen und rieb sich das Gesicht. Er fragte sich, wie lange er wohl hier auf diesem Bahnsteig geschlafen hatte. Wahrscheinlich eine ganze Zeit, denn er war völlig durchgefroren. In Gedanken ging er seine Optionen durch.

Zurück zur Wohnung seines Vaters gehen? Niemals! Eher beiß ich in einen dieser Stahlträger, dachte er.

Gab es hier vielleicht eine Bahnhofsmission, wo er nach einer Tasse Tee fragen könnte? Manchmal gibt es dort auch Übernachtungsmöglichkeiten. Zumindest könnte er sich ein bisschen aufwärmen. Nein, eine solche Einrichtung wäre ihm bestimmt bei der Ankunft schon aufgefallen.

Per Anhalter nach Köln zum Bahnhof fahren? Von dort käme er bestimmt besser weg. Nein, zu gefährlich. So mancher Autofahrer, der Anhalter mitnimmt, hat Spaß daran, sie zu zerstückeln. Er schüttelte den Kopf.

Ein Anruf von einer Telefonzelle nach zu Hause wäre auch blöd, denn seine Mutter hätte ihm aus der Entfernung auch nicht helfen können. Außerdem würde sie sich nur unnötig Sorgen machen. Also auch gestrichen.

Ein Taxi rufen? Er öffnete sein Portemonnaie und überschlug seine Finanzen. 37 Mark und ein paar Groschen. Das reicht nie und nimmer. Ok, Taxi fällt also auch flach.

Sein Blick ging nach oben. Ein allerletztes Mal brummte und flackerte die Neonröhre über ihm auf, dann blieb sie dunkel.

Was Papa jetzt wohl macht? Hoffentlich hat er sich bei diesem Sturz nicht ernsthaft verletzt. Höchstwahrscheinlich macht er sich gerade Sorgen um mich und es tut ihm alles furchtbar leid. Oder nicht? Na ja, ich könnte ihn ja wenigstens anrufen und sagen, dass alles ok ist. Das mit dem spontanen Besuch war ja auch eine bescheuerte Idee! Bestimmt hat es Papa total überfordert, dass ich so kurzfristig hier reingeschneit bin, und deswegen ist der ganze Abend so aus dem Ruder gelaufen. Eigentlich bin ich selbst an allem schuld. Ja, ist doch so!

Er schnallte seinen Rucksack auf den Rücken, packte sich den Karton mit dem Plattenspieler unter den Arm und ging durch die Unterführung Richtung Ausgang. Hier war es dunkel und es stank nach Pisse, niemand war zu sehen. Ein bisschen mulmig war ihm schon zumute, so allein. Als Kind war er schon oft hier lang gegangen, aber da waren Mama, Papa und Christiane auch dabei. Und manchmal auch Dina.

Andi lächelte. Dina war so etwas wie ein fünftes Familienmitglied. Als sein Vater damals mit dem kleinen Bernhardinerwelpen nach Hause gekommen war, waren alle sofort verliebt in das Tier. Es gab so viele schöne und lustige Geschichten mit ihr. Aber vor allem war sie eine Freundin und aufmerksame Zuhörerin. Wie oft hatte er sich nachts zu ihr gesetzt und ihr alles erzählt, was ihn bedrückte. Er glaubte – nein, er wusste, dass sie ihn verstand.

Vor etwa einem Jahr hatte sein Vater sie von einem Tierarzt einschläfern lassen. Er sagte, sie hätte Rheuma gehabt, aber das glaubte er ihm nicht. Ein Leben ohne Dina – er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt.

»Ey, du!«

Andi schreckte auf und blieb abrupt stehen. Etwa zehn Meter vor ihm stand jemand am Ausgang der Unterführung. Sein Gesicht konnte er im Gegenlicht nicht erkennen.

»Was ist los? Redest du nicht mit jedem, hä?«

Oh Mann, was soll das denn jetzt wieder, fragte sich Andi.

»Du hast doch bestimmt ‘n paar Mark für ’n Bier, oder?«

Der Typ kam näher. Andi schaute sich hektisch um, aber hinter ihm war alles dunkel. Eine Flucht nach hinten machte auch keinen Sinn, denn das war eine Sackgasse. Der Fremde torkelte leicht. Jetzt konnte Andi sein Gesicht erkennen. Es sah irgendwie verschoben aus. Mund, Nase und Augen – die Gesichtskomponenten schienen wahllos zusammengestellt und passten irgendwie nicht zusammen.

Ok, er ist betrunken. Vielleicht bin ich dadurch ein bisschen schneller. Ich muss nur versuchen, an ihm vorbeizukommen, ohne dass er mich festhalten kann.

Jetzt waren nur noch etwa zwei Meter zwischen ihnen.

»Ey Junge, wie sieht‘s aus? Hasse fünf Mark für mich?«

Jetzt! Andi nahm all seinen Mut zusammen, sprang ein paar flinke Sätze um den Betrunkenen herum und rannte dann, so schnell er konnte, zum Ausgang auf die Straße. Ein Auto fuhr dort gerade vorbei, und er fühlte sich allein deswegen schon erleichtert. Trotzdem rannte er weiter in Richtung Hauptstraße, wo er auf Passanten hoffte. Dort angekommen lief er langsamer und er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er war zwar immer noch niemandem begegnet, aber wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Außerdem war diese Straße gut beleuchtet.

Langsam entspannte er sich wieder und ging nun mit einem mittleren Tempo in Richtung… ja, wo geh ich eigentlich hin