Kräutermärchen - Folke Tegetthoff - E-Book + Hörbuch

Kräutermärchen Hörbuch

Folke Tegetthoff

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Beschreibung

Märchen als Seelenbild des Menschen eröffnen andere Dimensionen unseres Lebens. Folke Tegetthoff schenkt uns Märchen: Mit feiner Feder und einem verschmitzten Lächeln läßt er verloren geglaubtes Wissen um die geheimen Kräfte der Kräuter lebendig werden. So entsteht eine Märchensammlung, die uns gleichzeitig eine reiche Quelle für körperliches und geistiges Wohlbefinden sein kann.

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Zeit:1 Std. 0 min

Sprecher:Folke Tegetthoff
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Titel

Kräutermärchen

Folke Tegetthoff

KOSMOS

Impressum

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Umschlagsabbildung: © Gramisci Geffert

© 2024, nymphenburger in der

Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG

Pfizerstraße 5–7, 70184 Stuttgart

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-96860-559-3

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Hauptteil

Angelika

Die Angelika

Der Baldrian

Der Baldrian

Basilikum

Das Basilikum

Brennessel

Die Brennnessel

Dill

Der Dill

Estragon

Der Estragon

Fenchel

Der Fenchel

Holunder

Der Holunder

Kapuzinerkresse

Die Kapuzinerkresse

Lavendel

Der Lavendel

Löwenzahn

Der Löwenzahn

Melisse

Die Melisse

Pfefferminze

Die Pfefferminze

Rosmarin

Der Rosmarin

Schafgarbe

Die Schafgarbe

Tausendguldenkraut

Wermut

Der Wermut

ANGELIKA

© Sander

Auf ihrem Weg zum Meer oder in die nächste Stadt machten die Reisenden einen weiten Bogen um das Dorf.

»In warmen Sommernächten soll es blitzen und donnern und sollen Kobolde und Dunkelmännchen wie Raketen in den Himmel schießen!« Das erzählten die, die zu nahe an die Häuser herangekommen waren.

Und sie hatten recht: Es ging in diesem Dorf wirklich ungeheuerlich zu! Die Bauern hatten volle Kornkammern – klar, wenn der Teufel persönlich den Pflug führt. Und Ställe, voll mit Schweinen und Kühen, groß wie kleine Elefanten – klar, wenn Kobolde ihr Süpplein kochen. Der Reichtum aber hatte seine Geschwister mitgebracht: Der Wein floß aus den Fässern wie anderswo das Wasser. Lange bevor die Sonne Feierabend machte, saßen die Bauern an ihren Tischen, stopften sich Würste und Schinken in die Gierhälse, erzählten sich unartige Geschichten und grölten und rülpsten.

Das war den dunklen Wesen nur recht – wenn die Nacht ihren Sternenvorhang über das Tal warf, kamen sie aus ihren Höhlen und Erdlöchern hervor und begannen ihre düstere Arbeit.

Sie ärgerten das Vieh, bis es laut brüllte, aber der Wein hatte den Bauern die Ohren verstöpselt. Sie brieten sich jede Nacht einen Ochsen, aber wer viel hat, zählt nicht, ob was fehlt.

Manchmal holten sie sogar ein unschuldiges Kind aus seinem Bett und verzauberten es durch einen Kuß in ihresgleichen, aber wer darf sich über Schlimmes aufregen, wenn er selbst so handelt? »War wohl krank«, sagten sie und bemerkten gar nicht, wie die Teufel ein Kind nach dem anderen aus den Häusern holten.

Eines Tages rief der König seine Untertanen auf bekanntzugeben, wie viele Kinder ein jedes Dorf hatte.

Die Väter riefen: »Alle Kinder mal herkommen«, und die Mütter liefen aufgeregt durchs Haus. Aber kein Kind war zu sehen.

»Wo sind denn unsere Kinder?« – das klang schon etwas besorgter. Und als sie sich am Dorfplatz trafen, war ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben: Es gab kein Kind mehr im Dorf – die Teufel hatten sie alle geholt! Und es war ihnen vor lauter Wein und Würsten nicht einmal aufgefallen.

Mit einem Mal herrschte völlige Stille im Dorf, ja man meinte, nicht einmal mehr die Herzen würden schlagen. Plötzlich war ein leises Husten zu hören, aber durch die Lautlosigkeit klang es wie Donner in den Ohren der schlechten Menschen. Sie folgten dem laut und fanden im letzten Winkel eines Hauses ein kleines Mädchen. Schwach und armselig lag es auf einem Haufen Stroh. Es war so schwach gewesen, daß die Teufel gemeint hatten, daß es sich nicht auszahlte, ein solches Kind mit in ihre Welt zu nehmen.

Von diesem Augenblick an kümmerte sich das ganze Dorf um Angelika – es war ja das letzte Kind, das ihnen geblieben war. Aber trotz aller Liebe und Mittelchen wollte und wollte sich der Husten und der Zustand der Kleinen nicht bessern. Man schickte nach den besten Ärzten, aber keiner wollte das Dorf betreten – mit den Teufeln und Kobolden wollte niemand zu tun haben.

Das Jahr lud schon den Herbst zu Besuch, als ein Bettelmann im Dorf auftauchte.

»Du hast uns gerade noch gefehlt«, riefen die Leute. »Bettelmänner schicken sie uns, wir brauchen einen Arzt.« Und sie jagten den armen Mann davon.

In dieser Nacht sah es so aus, als würde es die letzte im Erdenleben der kleinen Angelika werden.

Als sich die Leute verzweifelt in ihre Häuser zurückgezogen hatten, da trat plötzlich ein Engel an Angelikas Bett. Er strahlte und leuchtete so stark, daß das Mädchen seine Augen aufschlug.

»Du bist das letzte Stückchen Gute in diesem Dorf«, sagte der Engel, »aus dir müssen die Leute trinken wie aus einem Brunnen, damit sie wieder Farbe in ihr Herz bekommen.

Höre: Eine gute Hand muß hinausgehen, zum Bach, und eine hohe Pflanze suchen. Die soll sie gleich nach Vollmond schneiden, die Wurzel ausgraben und trocknen. Davon mußt du einen Tee trinken. Und dann soll die gute Hand die Blätter und Blüten zu einem Büschel binden und in alle Ställe hängen. Aber denk daran: Nur ein guter Mensch kann die Zauberkraft des Krautes bewahren.«

Das Licht wurde immer schwächer, bis der Engel ganz verschwunden war.

Das Mädchen rief, so laut es konnte, nach den Leuten, und als sie um ihr Bett standen, da erzählte sie ihnen von dem Traum: von einem Engel, der erschienen war, und von einer geheimnisvollen Pflanze, die nur ein guter Mensch pflücken kann. »Ich gehe!« riefen alle gleichzeitig.

»Denkt daran, eine schlechte Hand läßt das Kraut sofort welken, und dann muß ich sterben.« Nun standen alle mit gesenkten Köpfen da – die Worte des Mädchens waren wie ein riesiger Spiegel, der allen ihre Schlechtigkeit zeigte.

»Der Bettelmann!« schrie plötzlich einer auf.

»Der Bettelmann kann es doch versuchen. Er hatte so was Gutes in seinen Augen!« Schnell liefen sie in den Wald, wo sie ihn gestern hingejagt hatten, und fanden ihn schlafend unter einem Baum.

Der Bettelmann schien gar nicht überrascht über die seltsame Bitte, die die Dorfbewohner flehentlich vorbrachten.

»O ja, diese Pflanze kenne ich«, sagte er. Er ging durch das Gestrüpp bis zum Bach, bog einige Äste zur Seite und zeigte auf eine hohe Pflanze mit einem lustigen Blütenball am Stielende.

»Heute war der volle Mond am Himmel, morgen Nacht werde ich die Wurzel ausgraben.« Und so geschah es auch. Angelika bekam ihren Tee und wurde rasch gesund. In allen Ställen des Dorfes hingen Büschel des Krautes, und bald ließ sich kein Teufel und kein Kobold mehr im Dorf blicken.

Viele Jahre später, als längst wieder das Gute in das Dorf eingekehrt war, Kinder durch die Gassen liefen und die Bauern erst mit den letzten Sonnenstrahlen von ihren Feldern kamen, erzählte das Mädchen von damals, das inzwischen eine junge Frau geworden war, die Geschichte vom Engel und dem Kraut und nannte es immer nur »Engelkraut«.

Für die Leute des Dorfes aber blieb die Pflanze bis heute »die Angelika«.

Die Angelika

nennt man auch Engelwurz oder Heiligengeistwurz (als hätten die Engel oder der Heilige Geist persönlich dieses himmlische Gewächs auf die Erde gebracht!). Eine andere Geschichte berichtet, daß die Angelika von einem der Erzengel die Kraft erhalten hat, böse Geister und Dämonen fernzuhalten.

Angelika wächst an Flußufern und auf feuchten Wiesen, am liebsten im Halbschatten.

Verwendet werden die jungen Blätter und Blüten (im Frühling), die Früchte und Samen (im August) und vor allem die Wurzel (im Oktober).

Ihr Geschmack ist süßlich. Zerreibt man das Kraut zwischen den Fingern, riecht es würzig.

Die Angelika wirkt appetitanregend, nervenberuhigend und heilend bei Beschwerden der Atemwege (deshalb nennt man sie auch manchmal »Brustwurz«).

© Sander

Noch was: Wußtest du, daß der Mond in allen lebendigen Wesen das Wasser anzieht? Seine Wirkung ist um so stärker; je mehr reflektiertes Sonnenlicht er auf die Erde wirft: Bei Vollmond schleppen die Mondfeen das Wasser in Kübeln, bei Neumond schlürfen sie den Rest mit dem Strohhalm.

DER BALDRIAN

© Sander

Als der Hirtensimmerl am fünften Tag des abnehmenden Mondes am Euter seiner Kuh Malli zupfte, blieb der Melkeimer leer: Kein Tröpfchen Milch ließ sich blicken!

»Arme Malli«, sagte der gute Bauer, »wirst doch nicht Würmer haben?«

Als auch am nächsten Tag die Kinder ohne ihren Kakao zu Bett gehen mußten und die Bäuerin den dritten Tag keinen Schmarrn kochen konnte, wurde der Hirtensimmerl unruhig und schickte nach dem Tierdoktor. Der untersuchte die Malli ganz genau, schaute ins Ohr und unter den Schwanz, aber nichts Krankes war zu erkennen.

»Muh«, brummte die Malli und kaute fröhlich vor sich hin.

Zu Neumond, gerade wo man gut und tief schläft, wurde der Hirtensimmerl gegen zwölf Uhr wach und hörte lautes Getrampel aus dem Kuhstall.

»Die Malli, um Gottes Willen«, schrie er auf und rannte im Nachthemd, mit Zipfelhaube und Pantoffeln aus dem Haus.

Gut, daß der Bauer so dick angezogen war, er verbrachte die ganze Nacht im Freien. Die Malli hopste im Stall auf und ab, als würde sie tanzen, drehte sich im Kreis und wieherte dabei wie ein Pferd. Als man den Hirtensimmerl am nächsten Morgen im Nachthemd mit Zipfelhaube und Pantoffeln auf dem letzten Ast der Kastanie beim Bach sitzend fand, zitterte er am ganzen Leib und brachte kein Wort über seine Lippen. Und die Malli stand in ihrem Stall und kaute fröhlich vor sich hin.

Am siebten Tag des zunehmenden Mondes durfte der Hirtensimmerl zum erstenmal wieder das Bett verlassen. »Vorsicht«, hatte der Menschendoktor gesagt. »Keine Aufregungen mehr! Er ist nicht nur nervös, sondern hysterisch.«

Am achten Tag des zunehmenden Mondes, als der Hirtensimmerl, in warme Decken gehüllt, die beruhigende Pfeife im Mund, auf der Veranda saß und fühlte, wie sein Blut wieder langsam die Wangen rot färbte, tauchte plötzlich und ohne jede Vorwarnung die Kuh Malli hinter dem Dach des Stalles auf, flog in etwa siebenundzwanzig Meter Höhe eine Runde über den Hof, steuerte dann mit dem quastigen Schwanz sehr geschickt zurück in ihre Heimat und verschwand, nach einer sehr eleganten Landung, wieder im Stall.

Zu Vollmond war der Hirtensimmerl zum erstenmal wieder ansprechbar. Bis dahin hatte er immer nur »fliegen« gemurmelt, hatte die rechte Hand wie ein Segelflugzeug kreisen lassen und dabei irr gelacht.

»Noch so ein Anfall«, sagte der Menschendoktor, »und der Hirtensimmerl muß in die Anstalt.« Die Bauersfamilie war verzweifelt: der Vater krank, keine Milch mehr und die Arbeit seit Wochen nicht mehr getan.

Aber in dieser Vollmondnacht sollte es noch wilder kommen: Der Alois, der kleine Hirtensimmerlsohn, kann nicht einschlafen, kann nie bei Vollmond einschlafen. Und so liegt er mit großen, offenen Augen da und schaut, wie die Schatten langsam über die Wände wandern.

Plötzlich wird es ein bissl hell im Raum, dann immer heller, bis der Alois erkennt, woher das Licht kommt. Ein einzelner Mondstrahl, gerade wie ein Stecken, steht vor seinem Bett und macht ihm ein Zeichen, wie »komm mit«.

Der Alois ist ganz weg, wie verzaubert ist er, und wandert hinter dem Strahl her. Jetzt steht der Alois vor dem Stallfenster und sieht mit einemmal, wie’s ganz hell ist im Stall und sieht die Malli. Aber die schaut nicht mehr wie eine Kuh aus, sondern wie ein Elefant aus dem Schulbuch. Einen Rüssel hat sie, und die Hörner wachsen jetzt unten beim Maul heraus.

Heilige Maria, denkt der Alois, der Papa! Und denkt daran, wie es sein wird, den Vater einmal im Monat in der Anstalt zu besuchen.

Ist das schon Schreck genug, zuckt er jetzt noch mehr zusammen. In einem Winkel, unterm Dach, sitzt was, was aussieht wie eine Hexe. Nicht wie eine gute, ein Kräuterweibl, nein, wie eine böse, und wie sie lacht und dabei Galle spuckt, und aus den Ohren dampft’s ein bissl.

Jetzt weiß der Alois auch, warum der Vater im Bett liegt und zittert. Die Hexe treibt mit der Malli ein böses Spiel!

Da ist’s dem kleinen Alois, als ob ihm der Mondstrahl auf die Schulter klopft. Er dreht sich um und sieht, daß der Strahlenstecken ganz lang geworden ist, was heißt ganz lang, wie eine leuchtende Leiter steht er vor dem kleinen Alois, vom Hof bis zum Mond, und der kleine Alois Hirtensimmerl weiß nicht, ob er wach ist oder träumt, aber er klettert den Mondstrahlstecken hinauf und hinauf, und bald sieht er den Hof nicht mehr, und bald ist die Erdkugel hinter ihm nur mehr so groß wie sein Fußball, und dann steht er auf dem Mond. Genau dort, wo er den Mond betritt, ist ein Riß, und aus dem Riß wächst eine Pflanze. Ja, eine Pflanze auf dem Mond!

Der Alois traut sich nicht, das Kraut anzufassen, es riecht so komisch, die weißen Blüten sehen wie kleine Fallschirme aus. Ganz allein steht es auf dem großen Mond, weit und breit nix als Nix. Da sieht er, wie das Kraut sich bewegt, aber er spürt keinen Wind. Und er hört eine feine Stimme, aber niemand ist da.

Bis er ganz genau hinschaut und auf der weißen Blütenhaube ein winziges Wesen erkennt. Und er, der weiß, wieviel zwei mal zwei ist und daß Bregenz die Hauptstadt von Vorarlberg ist, der weiß plötzlich, daß das eine Mondfee ist, die da vor ihm sitzt. Und weiß, daß Mondfeen auf langen Strahlenstecken Wasser von der Erde holen, weil es auf dem Mond doch keines gibt.

»Die Pflanze ist für dich«, hört er die Mondfee sagen, »nimm sie, und vergiß die Wurzel nicht!«

Der Alois zieht das Kraut samt der Wurzel aus dem Mond, noch immer ganz verzaubert, dreht sich um und steigt den Mondstrahl wieder hinunter in Richtung auf den großen, blauen Ball, der unter ihm liegt.

»Warte«, ruft die Stimme noch einmal, »das Kraut häng zur Malli in den Stall, und die Wurzel koch für deinen Vater.«

»Ja, gut«, nickt der Alois, der mit einemmal alles weiß, »ja, ja, Mondfee, und danke!«