Kreuzkönig - Astrid Thadewaldt - E-Book

Kreuzkönig E-Book

Astrid Thadewaldt

4,7

Beschreibung

In einem Wald nördlich von Hamburg wird ein auf außergewöhnlich grausame Weise ermordetes Paar gefunden. Die blutige Art der Hinrichtung wirkt auf Hauptkommissar Frithjof Arndt wie eine große Inszenierung. Noch ahnt er nicht, wie nah er mit seiner Vermutung an der Wahrheit liegt …

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Titel

Astrid Thadewald / Carsten Bauer

Kreuzkönig

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2009

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von bobby fisher / photocase.com

ISBN 978-3-8392-3250-7

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Teil Eins

1

Der Wind roch nach Holz, als die beiden Kriminalisten zum Tatort fuhren.

»Sie haben die Leichen im Wald gefunden. Nackt an Holzpfähle gebunden und von mehreren Pfeilen durchbohrt.«

Hauptkommissar Frithjof Arndt sah sein schemenhaftes Spiegelbild in der Autoscheibe. Es sah blass und müde aus. Zweiundvierzig Jahre alt und ich sehe aus, wie ich mich fühle, dachte er. Die dunkelblonden Haare kurz geschnitten. Einige Falten neben den Augen, ein leichter Bartwuchs von einigen Tagen um einen vollen, rosa geschwungenen Mund.

Frithjofs Stimme klang ruhig, als er die kurze Beschreibung kommentierte. »Mit Pfeilen?«

Er forderte seinen Kollegen Lars Hennings auf, Näheres zu erzählen. »Es ist eigentlich schon das, was ich sagte. Der Förster hat heute Morgen die Polizei gerufen und berichtet, er hätte zwei an Holzpfähle gebundene Menschen entdeckt. Schutzbeamte sind hinausgefahren und haben mitgeteilt, dass die beiden Toten von mehreren Pfeilen durchbohrt wurden. Ein- und Austrittswunden lassen auf weitere Pfeile schließen, die durch die Körper geschossen wurden und irgendwo im Wald liegen.«

Rotbraunes Laub lag in den Gräben, die die Fahrbahn säumten. Regen setzte ein. Der Scheibenwischer hatte seinen eigenen Takt, der Regen einen anderen. Lars stellte die Regulierung des Intervalls ein. Er hatte kleine, fast mädchenhafte Finger, die nicht so recht zu seiner Körpergröße passten. Sie überstieg die von Frithjof noch um einige Zentimeter. Er hatte ein breites, zum Anlehnen einladendes Kreuz, das von regelmäßigem Krafttraining herrührte. Seine blauen, fast durchsichtigen Augen mit den langen weißen Wimpern fixierten die Straße, die sich irgendwo im Nebel zu verlieren schien.

»Die Spurensicherung ist schon vor Ort«, fuhr er fort.

Morgennebel hing über den Feldern. Kahle Laubbäume säumten die Straße. Auf der rechten Seite tauchte die Stör auf. Dunkel floss das Wasser träge in die Stadt hinein. Noch immer befand sich auf dem Burggraben des Schlosses Breitenburg eine dünne Eisschicht. Sie bogen ab in Richtung Kronsmoor. Hier gab es fast nur noch Felder und Kreidelöcher. Grau und weiß klafften die Löcher in der Landschaft. Von Tau behangene Spinnennetze hingen in den Büschen. Das ist Tristesse, die einem das Herz schwer werden lässt, ging es Frithjof durch den Kopf. Eine graue Welt, die einen in die Depression treibt, die einem die Kehle zuschnürt, die einem den Atem nimmt und auf den Brustkorb drückt und die Bewegungen schwer macht.

Eine einzige Straßenlaterne warf fahles Licht auf eine alte Eiche. Vor der Nebelwand sahen die Äste wie verwinkelte übergroße und filigrane Adern aus, in denen schwarzes Blut pochte. Schulkinder standen an einer Bushaltestelle, die aus dem Nichts auftauchte. Müde, verschlafene Gesichter sahen zu ihnen her.

Eine Frau mit einem Kaffeebecher in den Händen stand im Morgenmantel in einem Vorgarten und schaute ebenfalls. Sie hatte ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht. Noch hatte der Tag dieses Lächeln nicht zerstört.

Die Straße und die Felder veränderten sich nicht. Nur gelbe Schilder wiesen andere Namen aus. Die Orte endeten meist auf Moor und nach einer Weile wies Frithjof Lars an, rechts abzubiegen. Sie verließen die markierte Straße und der Wagen holperte eine lange Allee entlang, die von alten kahlen Eichen gesäumt war. Dahinter waren wieder nur Felder zu sehen.

»Ich bezeichne das immer als Gerippen-Allee«, flüsterte Frithjof. Am Ende der Allee leuchtete ein Licht. Ein einsames Fenster in der Dunkelheit.

Das erleuchtete Fenster gehörte zu einer alten Gaststätte. Sie sahen zu dem schäbigen Haus hinüber. Nackter Knöterich schlängelte sich an moosig roten Backsteinwänden empor. Eine Holsten-Reklame hing schief an der Fassade. Rüschengardinen in den Fenstern. Ein verblichenes Coca-Cola-Schild stand vor dem Eingang. Die Farbe war durch die Jahre im Freien abgeplatzt und verblichen. Eine Kaugummireklame mit Fahrradständern daran lag auf dem Boden. Die Reklame der Firma gab es schon lange nicht mehr.

Es begann, stärker zu stürmen. Frithjof meinte, er wolle nicht über das Wetter reden, als Lars anfing aufzuzählen, was ihm am norddeutschen Wetter missfiel. »Nur Leute, die sich nichts anderes zu erzählen haben, reden über das Wetter«, stellte er fest.

Lars verstummte, grummelte etwas, was Frithjof nicht verstand.

Zwei Rehe tauchten auf einem Feld auf. Ihre Beine waren durch den dichten Nebel nicht zu erkennen. »Guck mal«, sagte Frithjof leise. Fast andächtig betrachtete er die Tiere, wie sie langsam und vorsichtig mit kleinen Schritten über das gefrorene Feld gingen. Die Rehe reckten ihre Köpfe und dann kam von irgendwoher ein Schuss. Augenblicklich waren die Rehe verschwunden. Hier schien der Tod nicht fremd zu sein. In dieser farblosen Einöde war er zu Hause. Von hier aus machte er sich immer auf.

»Weißt du, wer von der Spurensicherung da ist?«

Lars schüttelte den Kopf.

»Ich hoffe, dass Blanca heute Morgen Dienst hat.«

Beide Kommissare hatten augenblicklich Blanca Falcones Bild vor Augen. Sie war seit einigen Jahren die Leiterin der Pathologie und der Spurensicherung des Kreises. Frithjof und sie waren schnell gute Freunde geworden und konnten ausgezeichnet zusammenarbeiten. Das ging allen Kollegen in Frithjofs Team so. Lars stimmte ihm zu, als er sich wünschte, Blanca anzutreffen.

»Wissen wir, wer die Toten sind?«

»Nein, die Beamten haben keine Kleidungsstücke gefunden. Auch keine Ausweise oder etwas Ähnliches.«

Zwei nackte Menschen. Durchbohrt von Pfeilen. Festgeschnürt an Holzpfählen. Frithjof schloss für einen kurzen Moment die Augen. Versuchte sich ein Bild zu machen.

Im Winter streifte Frithjof zum letzten Mal die Schuhe eines anderen Menschen über. Versuchte, in ihnen zu gehen. Die Schritte zu verstehen. Nachdem der Fall abgeschlossen war, zog Frithjof diese fremden, nicht gewollten Schuhe aus. Nun standen neue Schuhe für ihn parat. Sie würden zuerst nicht passen. Sie würden drücken. Zu groß oder zu klein sein. Sie würden sich nicht schnüren lassen. Würden immer wieder aufgehen. Die Sohlen würden ihn rutschen, stolpern, davon gleiten lassen.

Ich gehe tief in den Wald. Entziehe mich neugierigen Blicken. Zwei Menschen sind nackt. Ich fessle, knote, schnüre sie an Holzpfähle. Ich habe Pfeile dabei. Richte sie auf die Menschen. Die Pfeile durchbohren ihre Körper. Ich lasse die toten Körper zurück. Husche in die Dunkelheit des Waldes.

Träge Wimpel hingen um die Tür eines Bauernhauses. Eine goldene Fünfzig prangte schief in der Mitte des Kranzes.

»Wie kann man hier in der Einöde so lange zusammenleben, ohne sich gegenseitig umzubringen?«, fragte Lars.

»Was soll man hier alleine?«

»Was will man hier überhaupt?«

Vereinzelte Häuser tauchten ab und an auf. Umrisse von Menschen waren zu erkennen. Ein schmutziger Bach schlängelte sich um die Häuser. Ein müder Hund mit gelb schmutzigem Fell gähnte feuchte Atemluft aus.

Dörfer und Felder reihten sich aneinander. Aber eigentlich war es immer nur ein und dieselbe Straße, mit zwei, drei Häusern und noch mehr Weiden und Wiesen, die alle drei Kilometer einen neuen Namen zugewiesen bekamen.

Der Himmel wurde immer dunkler. Äste fielen auf die Fahrbahn und Lars versuchte, ihnen so gut es ging, auszuweichen.

Ein Bahnübergang tauchte auf. Es gab keinen Bahnhof. Keine Chance von hier zu entkommen, dachte Frithjof und sah den Schienen nach.

Lars hielt den Wagen gegen den Sturm. »Hier kommt doch nichts mehr.« Sein Blick war konzentriert. Seine Hände fest um das Lenkrad gelegt. Ein Schaukasten mit amtlichen Bekanntmachungen stand an der Straße. In ihm gab es keine Notiz.

Ein Schlachthof tauchte auf. Die Wände waren grau und die Scheiben blind, nur mit einer schmutzigen, steif herunterhängenden Gardine geschmückt. Hier wohnt der Tod, dachte Frithjof. Hier hängt er seine Opfer an stumpfe rostige Haken, um sie von Zeit zu Zeit einzeln und scheinbar wahllos herunterzunehmen.

Nach einer Weile bog Lars in einen weiteren Feldweg ein. Die ersten Bäume und Sträucher trugen Knospen und Blätter. Der betonierte Weg mündete in eine Spurbahn und nach einer Weile ging er in einen Forstweg über. Schlaglöcher ließen sie auf ihren Sitzen umherwippen. »Eine gottverlassene Gegend«, kommentierte Frithjof ein weiteres Loch, in das Lars den Wagen gelenkt hatte.

»Du machst das mit Absicht, oder?«, fragte Frithjof, als sein Kopf beinahe gegen das Seitenfenster geschlagen wäre.

Lars lächelte müde und meinte: »Sicher«, und dachte an seine Reifen und Stoßdämpfer.

Über dem Nebel thronte ein Hochsitz. Lars schaute zu ihm hinüber. »Ob dort jemand sitzt?«

»Wer sollte das Nichts betrachten wollen?«

Der Weg schien kein Ende zu nehmen. »Wir sind falsch, Lars.« Frithjofs einigermaßen gute Laune schien langsam aber sicher zu schwinden. Lars reagierte nicht auf die Bemerkung. Einige Male noch stellte Frithjof Lars’ Orientierung in Frage, bis sie die ersten Einsatzfahrzeuge vor sich sehen konnten.

Die Wagen standen auf einem kleinen Waldparkplatz. Ein dreckiger, dunkelgrüner Landrover vom Forstamt parkte ebenfalls dort, gleich neben einer Waldkapelle.

Die Kollegen der Spurensicherung gingen in weißen Anzügen um sie herum.

Als sie ausstiegen, grüßten die Männer. Die Kapelle hatte ein Kupferdach. In ihrem kleinen Türmchen hing eine Messingglocke. Auf dem Türmchen befand sich ein Kreuz.

Die Gittertür der Kapelle war nach außen geöffnet. Vier eiserne Rosen rankten um die Gitter. Die Rosenknospen waren rot bemalt. Kerzen leuchteten im Inneren.

»Habt ihr hier etwas gefunden?«, wollte Frithjof wissen.

»Wir sind noch dabei die Spuren zu sammeln«, antwortete der Mann.

»Was sucht ihr in der Kapelle?«

»Wissen wir noch nicht. Aber du kennst ja Blanca. Lieber einen Fingerabdruck mehr, als einen zu wenig.«

Frithjof nickte und sagte, dass er sich umsehen wollte. Der Mann nickte. Frithjof betrat die Kapelle. Sie war nicht groß, vielleicht fünf Meter im Durchmesser. Sieben Meter hoch.

Ein Bild von Maria und Jesus hing an der Wand. Daneben ein Bild des heiligen Ambrosius, »Imker, ein Freund der Natur – in Wald und Flur«. Auf einem kleinen Holzregal lagen eine Bibel, ein Gästebuch und ein Buch von Dr. Martin Luther »Christlicher Wegweiser für jeden Tag«.

Frithjof wandte sich einer Inschrift zu: »Und er sprach zu mir, es ist geschehen. Ich bin das A und O. Der Anfang und das Ende. Ich werde dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers – umsonst.«

Ein Rosenkranz lag neben der Inschrift.

Ich bin das A und O. Der Anfang und das Ende. Zufall dachte Frithjof. Nahe den Toten, dieser heimliche Ort mit dieser Textzeile. Eine Marienstatue sah ihn an. Er schaute weg.

»War die Gittertür verschlossen?«, fragte Frithjof, als er die Kapelle verließ.

»Nein.«

»Wo ist der Fundort?«

Der Mann wies mit der Hand zu einem schmalen Waldweg. »Dem Weg folgen und dann dem Absperrband. Ihr müsst durch das Unterholz. Ziemlich dreckige Angelegenheit bei dem modrigen Boden.«

Es war noch immer nicht hell geworden, als Frithjof und Lars den Weg entlang gingen. Im Wald war es noch dunkler. Von weit her vernahmen sie leise Stimmen. Licht von Scheinwerfern drang schwach durch den Wald, als sie das Absperrband erreichten und durch den Wald stapften. Sie zogen ihre Mäntel enger um sich. Regen perlte auf ihren Gesichtern ab, als sie über Geäst und Baumstämme stiegen. Ihre Schuhe sanken in den Boden ein. Er war schlammig durch den tagelangen Regen. Sie bemühten sich, nicht auszurutschen.

Frithjof beneidete die Kollegen der Spurensicherung nicht. All ihre Utensilien, Instrumente und Gerätschaften hier durch dieses Dickicht schleppen zu müssen.

Hier war kein Weg für ein Fahrzeug. Auch der Täter musste hier entlang gekommen sein. Wie hatte er die Menschen transportiert? Hatte er sie getragen? Gezogen?

Das würden Spuren auf den Körpern zeigen, ob zum Beispiel an den Füßen Haut abgeschürft war. Dann hätte er sie unter den Achseln gepackt und geschleift. Waren Spuren am Kopf müsste er sie an den Fußgelenken gehalten haben.

Äste peitschten ihnen ins Gesicht. Der Wind nahm zu. »Was ist das nur für ein beschissenes Wetter?«, fluchte Lars.

Noch bevor Frithjof etwas entgegnen konnte, sah er Blanca mit einigen Polizisten reden. Seine gute Laune kehrte zurück. Leise sprach er ihren Namen und lächelte.

Um sie herum war dichter Nadelwald. Vereinzelt standen dazwischen kahle Laubbäume.

Sie sahen aus, als würden sie auch im Laufe des Frühlings keine Blätter bekommen. Blanca entdeckte sie und winkte ihnen zu. Sie trug einen weißen Schutzanzug. Ihre schwarzen, kräftigen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. »Moin«, rief sie aus einiger Entfernung. Lars und Frithjof grüßten zurück und passierten das rot-weiße Absperrband, mit dem eine große Fläche in dem Wald markiert war. Beamte nickten ihnen zu. Sie sagten einige kurze erklärende Worte, die die beiden erneut nickend, aber kommentarlos, entgegen nahmen.

»Wenn ihr weiter wollt, müsst ihr Schutzanzüge tragen«, sagte Blanca und lächelte Lars belustigt an. Sie wussten alle Drei wie unvorteilhaft Lars’ Körper, bedingt durch sein Bodybuilding, in den Anzügen der Spurensicherung aussah.

»Hört auf zu grinsen«, presste er hervor.

»Wie sieht es aus«, wollte Frithjof wissen.

Blanca wischte sich Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht und blickte in den Wald. Ihre grünen Augen hatten sich verdunkelt. Sie biss die Kiefer aufeinander und ihre Wangenknochen traten hervor.

»Ich habe schon einiges gesehen«, fing sie an und machte eine Pause, »aber das«, sie hielt sich ihre behandschuhte Hand vor den Mund und schüttelte unmerklich den Kopf. »Eine Frau und ein Mann. Ich schätze sie auf Mitte, vielleicht Ende zwanzig. Beide sind nackt. Hängen etwa einen Meter über dem Boden gefesselt an Holzpfählen. Beiden wurde ein Pfeil durch die linke Brust geschossen, der wahrscheinlich das Herz durchbohrt hat. Die Pfeile sind am Rücken wieder aus den Körpern ausgetreten.« Sie versuchte, stark zu wirken. »Die Körper weisen noch weitere Ein- und Austrittswunden von Pfeilen auf. Wir sind dabei, den Wald nach ihnen abzusuchen.« Blanca senkte den Blick und betrachtete ihre Schuhe, über die weiße Füßlinge gezogen waren. »Ein Pfeil steckt bei der Frau in der Brust, ein weiterer in ihrem Bauch. Die Pfeile sind in ihren Körper geschossen worden, haben sich in das Holz des Pfahles gebohrt und den Körper somit fixiert.«

Lars schnaufte. Sein Blick war ernst. Er kniff die Augen zusammen. »Und der Mann?«

»Hier nur ein Durchschuss. Mitten durch das Herz. Ihm stecken vier Pfeile im Körper. Im Bauch, der Brust, der Kniescheibe und dem linken Auge. Alle Pfeile traten auf der Rückseite des Körpers aus und bohrten sich in das Holz.«

Für einen Moment schwiegen sie und ließen die Worte auf sich wirken. Krähen erhoben sich. Ein schwarzer Schwarm flog über sie hinweg. Ihr Rufen war ohrenbetäubend.

»Waren die beiden schon tot, als man sie festgebunden hat, oder sind sie hier im Wald gestorben?«, fragte Lars.

»Das Blut, das an den Körpern hinuntergelaufen und nun getrocknet ist, zeigt, dass sie noch gelebt haben müssen, als die Pfeile auf sie abgegeben worden sind. Genaueres wird die Leichenöffnung zeigen.«

»Sie wurden hingerichtet«, stellte Frithjof mehr für sich als für die anderen fest.

Ich stehe auf einer Lichtung. Zwei Menschen hängen über mir an Holzpfählen. Ich habe sie gefesselt. Der Wald schluckt alle Hilferufe. Ich ziele und töte die beiden Menschen. Sehe, wie das Blut an ihren nackten Körpern hinunterrinnt.

Frithjof und Lars folgten Blanca durch den Wald. Sie gingen auf einem Trampelpfad, den die Kollegen vor ihnen hinterlassen hatten und den sie nicht verließen. Es roch nach Moos und Holz.

Einmal noch, bevor sie die beiden toten Menschen sahen, blickten sich Frithjof und Lars an. Es war ein angestrengter Blick. Konzentriert. In sich gekehrt. Keine Zeit der Welt hätte ausgereicht, sich den Anblick auszumalen, den sie in wenigen Augenblicken präsentiert bekommen würden. Es sollte das Grauenhafteste sein, das sie je gesehen hatten.

Blanca drückte Tannenzweige zur Seite und sie betraten die Lichtung. Als Frithjof und Lars die Körper erblickten, drehten sie reflexartig ihre Köpfe zur Seite und blieben abrupt stehen.

»Heilige Scheiße«, fluchte Lars, der sich nach vorne beugte und auf seinen Oberschenkeln abstützte. Es würgte ihn. Er schüttelte seinen Kopf. Kniff die Augen zusammen. Ganz fest, als würde er seinen Augen nicht mehr erlauben wollen, noch einmal nach vorne zu sehen.

Frithjof legte ihm eine Hand auf den Rücken. »Alles klar?«

»Nein! Nichts ist klar!« Lars war wütend und richtete sich wieder auf. »Scheiße, Frithjof, was ist das?« Er drehte sich zur Lichtung und sah die in sich zusammengefallenen Körper, die an den Pfählen hingen.

Der Kopf der Frau hing mit dem Kinn auf ihrer Brust. Knapp darunter ragte ein Pfeilende aus ihrem Körper. Fast schien es, als würde der Kopf auf dem Pfeil liegen und ihn halten. Die Arme waren in Bauchhöhe hinter dem Körper verschwunden. Dunkelrote Linien, Bahnen von getrocknetem Blut überzogen ihren Oberkörper. Liefen hinunter zu dem zweiten Pfeil, der aus ihrem Bauch ragte und weiter hinab in ihren Intimbereich.

Bei Eintritt des Todes hatte sich der Körper entleert. Darm- und Mageninhalt hatten sich mit dem Blut vermischt, schlängelten sich um ihre Ober- und Unterschenkel und erreichten die Füße. Ein braunes, blutgetränktes Seil befand sich an den Fußknöcheln.

Der Kopf des Mannes hing nicht auf der Brust. Durch die Wucht eines Pfeils war er nach hinten gedrückt worden. Der Pfeil steckte in seinem linken Auge und hielt den Kopf aufrecht. Die Konturen der unteren Gesichtshälfte waren durch das ausgetretene Blut verfälscht. Blutklumpen hatten sich gebildet. Ein Teil des geplatzten Auges hing aus der Augenhöhle heraus.

Eine Schulter des Mannes schien ausgekugelt zu sein.

In seinem Unterleib steckte ein weiterer Pfeil. Auch sein bleicher Körper war überzogen mit dunkelroten Linien.

Am schlimmsten jedoch waren die Wunden, die die Vögel an den Körpern hinterlassen hatten. Auf den Schultern der Beiden erkannte man längliche Einschnitte, die von Krallen herrührten. Die Vögel hatten in die leblosen Körper eingehackt. Mit schweren, scharfen Schnäbeln hatten sie Fleisch aus der Brust, dem Hals und den Oberarmen gerupft. Im Gesicht hatten sie die Augen zerhackt. In den Augenhöhlen geschabt. Die Lippen aufgebissen und auseinandergezogen.

Die Gesichter waren von ihnen deformiert worden. Jetzt nur noch groteske Masken.

Über die fast drei Meter hohen Pfähle hatte die Spurensicherung große, weiße Planen gehängt. Befestigt an Gerüsten, die errichtet worden waren, damit Blancas Kollegen an alle Stellen der toten Körper kommen konnten.

Ein Mann von der Spurensicherung kam auf sie zu. In seinen Händen hielt er einen Glasbehälter, der mit Erde gefüllt war. »Das stammt vom Erdreich unterhalb der Pfähle«, sagte er und Blanca nickte ihm zu. Er ging an ihnen vorbei den Trampelpfad entlang und verschwand im Dickicht des Waldes. Kurz darauf folgte ein weiterer Kollege, der ebenfalls einen Glasbehälter mit Erde trug. Blanca hielt ihn auf. »Wo habt ihr die neutrale Probe ausgehoben?«

Der Mann wies mit dem Kopf etwa zehn Meter neben die Pfähle. »Gleich dahinten. Zwischen Wald und See. Da kann eigentlich kein Blut eingesickert sein.«

»Gut«, meinte Blanca und ließ ihn gewähren.

»Ein See?« Lars sah sich um.

Blanca deutete an den Pfählen vorbei. »Von hier aus kaum zu sehen. Ich hätte es auch nicht gewusst, wenn der Förster es uns nicht gesagt hätte. Ziemlich umständlich, von hier aus dorthin zu kommen. Dichter Wald, unwegsamer Boden, Schilf.«

Sie wandte sich vom Wald ab und sah hinauf zu dem Gerüst. Männer in weißen Anzügen spachtelten mit Skalpellen Teile der Rinde aus den Pfählen und verstauten diese in Glasröhrchen.

Ein Mann, der auf dem Gerüst kniete, sah zu ihnen hinunter. Die Kapuze des Anzuges ließ allein sein schmales Gesicht mit müden grün-gelblichen Augen zum Vorschein treten. Etwas Hartes war in seinem Blick. Er schien Frithjof und Lars zu mustern.

Weder Frithjof noch Lars hatten ihn vorher schon einmal gesehen.

»Ein neuer Kollege«, stellte Blanca ihn vor. »Herr Frankenstein.«

Frithjof fand es nicht angemessen Witze zu machen. Er sah Blanca streng an. Unverständlich sah sie ihn an. »Was?«

»Das muss jetzt nicht sein, Blanca.«

Blanca hob kurz die Schultern und verstand nicht. »Herr Frankenstein kann nichts für seinen Namen«, erklärte sie lapidar und beugte sich zu ihrem Koffer hinunter, der neben dem Gerüst stand.

Frithjof sah hinauf zu dem Mann. »Sie heißen wirklich so?«

Herr Frankenstein nickte. Sein Blick war noch immer nicht freundlicher.

»Sie sollten mit so einem Namen nicht in der Pathologie arbeiten«, stellte Frithjof nüchtern fest.

»Den Toten ist es egal, wie ich heiße«, sagte er und kam die Sprossen des Gerüstes hinunter. »Schall und Rauch sozusagen.«

Sie reichten sich nicht die Hände. Das hatte nichts mit Unhöflichkeit zu tun, sondern lag an den Handschuhen, die sie trugen. Spurenleger nannte man Kollegen, die unachtsam am Tatort arbeiteten. Sie nickten sich daher nur kurz zu.

»Sie sind neu«, Frithjof versuchte die Konversation aufrecht zu erhalten.

»Auch das ist den Toten egal.«

Blanca sah zwischen den Beiden hin und her. Merkte, dass sich hier eine gewisse Spannung aufbaute und unterbrach sie, in dem sie auf Frithjof zeigte. »Frithjof Arndt«, dann wies sie auf Lars, »Lars Hennings.«

»Angenehm.« Die Stimme war kühl. Herr Frankenstein blickte beide kurz an und sah dann hinauf zu den toten Menschen über ihnen. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Seine Augen wanderten wieder zu Frithjof. »Sie?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Der Kapuzenrand scheuerte an seinem Gesicht. Er deutete nach oben. »Waren es Vögel?«

»Ja. Wie Geier. Wird unschön, wenn wir erst einmal wissen, wer die beiden sind. Die Angehörigen müssen sie identifizieren. Das gibt sicher einen Zusammenbruch. Wette ich mit Ihnen.«

»Ich wette nicht. Das ist nicht mein Stil. Das ist makaber.«

Blanca ging um sie herum und forderte sie auf, mit an die Rückseite der Pfähle zu kommen. »Wir fangen hinten an. Dort, wo die beiden an die Pfähle geknotet sind. Wir versuchen, den Ablauf zu rekonstruieren.« Frithjof unterbrach sie:

»Du weißt, dass Vermutungen hier noch nichts zu suchen haben. Das kommt später. Erst einmal zählen nur die Fakten. Dann wird alles zusammengesetzt.«

Herr Frankenstein mischte sich in das Gespräch ein indem er trocken kommentierte, dass es eher unwahrscheinlich wäre, wenn der Täter die beiden toten Körper, erst nachdem sie mit Pfeilen durchlöchert wurden, dort angebunden hatte. »Das Wörtchen unwahrscheinlich trifft die Sache ganz genau, Herr Frankenstein. Sie können mir noch nicht sagen, welche Fesseln wann zugeschnürt wurden oder doch? Hat der Täter zuerst die Hände angebunden oder die Füße? Oder nur die Hände? Dann geschossen und danach die Füße verschnürt? Zuerst die Frau angebunden, geschossen, dann den Mann angebunden und geschossen oder umgekehrt? Wie hat er die beiden Körper dort hinauf bekommen? Waren sie bewusstlos? Waren es mehrere Täter?«

Frithjof machte eine Pause. Keiner sagte etwas. »Das alles wissen wir noch nicht. Ich möchte nicht, dass wir uns etwas einreden, das unsere Ermittlungen in die Irre laufen lassen und uns wertvolle Zeit stellen könnte. Hier und jetzt zählen nur die Fakten: zwei junge tote Menschen. Pfeile ragen aus ihren Körpern und weitere Ein- und Austrittswunden sind vorhanden. Vögel haben wie Geier auf sie eingehackt.« Frithjof stand nun genau hinter den Pfählen und sah auf die Fuß- und Handgelenke. »Beide Menschen sind an die Pfähle gebunden.« Er sah zu Herrn Frankenstein. »Mehr wissen wir noch nicht. Sie und Frau Falcone berichten uns, was sie finden und unsere Aufgabe ist es dann, diese Ergebnisse zusammenzuführen, wie ein Puzzle. Haben Sie das verstanden?« Die letzten Worte sprach Frithjof lauter aus, als eigentlich beabsichtigt. Er bereute seine Lautstärke jedoch nicht. Herr Frankenstein hatte anscheinend verstanden. »Natürlich, Herr Arndt.«

»Ich heiße Frithjof und das ist Lars«, bot Frithjof Herrn Frankenstein mit ruhiger Stimme das Du an.

»Ich heiße Frank.«

Leere trat in Frithjofs Gesicht. Er starrte den Kollegen an. Frank Frankenstein. »Sag mir, dass du deine Eltern dafür verklagt hast.«

Frank lachte.

Eis gebrochen, dachte Blanca und sah zu Lars hinüber, der ebenso erleichtert schien.

»Was ich euch zeigen wollte.« Blanca wies auf den Holzpfahl, an dem der junge Mann hing. Ihre Hände berührten den Pfahl in Höhe der angebundenen Füße. »Hier gibt es eine größere Einkerbung.« Alle betrachteten eine etwa zwanzig Zentimeter lange und zehn Zentimeter tiefe Einkerbung.

»Habt ihr die schon untersucht?«, fragte Frithjof.

»Ja, wir haben Abschabungen gemacht. Bisher schien sich nichts in ihnen befunden zu haben außer den Spänen, die durch die Arbeit an dem Holz entstanden ist.«

Frithjof sah an dem Pfahl empor. Dann hinüber zu dem anderen. In nicht regelmäßigen Abständen befanden sich weitere Einkerbungen. Alle schienen die gleichen Maße zu haben, wie die Unterste. Wozu waren sie gut? Keines der Seile befand sich in ihnen. Das hätte für ihn einen Sinn gemacht, dass die Kerben verhindern sollten, dass ein Seil an den Hand- oder Fußgelenken herunterrutschte.

»Habt ihr in den anderen Kerben etwas gefunden?«

»Nein.« Frank sah an beiden Pfählen hoch und runter und schüttelte den Kopf. »Nichts. Wir müssen die Laboruntersuchungen abwarten. Vielleicht können wir mit bloßem Auge nicht alles erkennen.« Lars deutete auf die Seile. »Sind das Tampen?«

Blanca bejahte. »Diese Art Tampen verwendet man in der Regel beim Segeln. Das Interessante an ihnen sind die Knoten. Wir haben insgesamt vier. Zweimal Hände und zweimal Füße. Und jeder Einzelne ist auf eine andere Art geknotet worden.«

Sie sahen sich die Knoten an den Füßen des Mannes an und gingen einige Schritte hinüber zu dem Pfahl der Frau. Es waren unterschiedliche Knoten. Frithjof kannte sich damit nicht aus und auch Blanca, Lars und Frank schüttelten die Köpfe. Lars meinte, er könnte einen Doppelknoten von einer normalen Schleife unterscheiden, was aber auch schon alle Fähigkeiten waren, die für diese Situation nützlich wären.

Blanca kommentierte Lars’ Äußerung mit einem italienischem Ausdruck, den nur sie verstand, rollte mit den Augen und bestieg die Stufen des Gerüsts. Die Anderen folgten ihr.

Sie stand nach einigen Augenblicken auf einem kleinen Podest vor dem toten Körper des Mannes.

Soeben waren die Kollegen fertig geworden, die die Holzstücke aus dem Pfahl geschabt hatten.

Lars trat an das Gerüst. Ein Camcorder war gegenüber den toten Körpern angebracht. Er betätigte den Rekordknopf und ein rotes Lämpchen leuchtete auf. An dem Camcorder befand sich ein LCD-Bildschirm, den er zu sich herumdrehte, um zu sehen, dass die Kamera alles erfasste. Nachdem alles eingestellt war, nickte er Blanca zu.

Sie legte ihre linke, behandschuhte Hand auf die Brust des Mannes. Dicht neben die Eintrittswunde über dem Herzen. »Der Pfeil ist mit einer enormen Wucht durch den Körper geschossen worden.«

Sie berührte nacheinander die Schultern, dann das Becken und beugte sich hinunter zu den Füßen. »Hellrote Totenflecke.« Sie drückte auf die Flecken. »Sie verlagern sich nicht, ich kann sie jedoch noch wegdrücken«, stellte sie fest. »Das heißt, der Mann ist weniger als zwanzig Stunden tot.« Blanca nahm leicht den Körper in die Hände und versuchte, die Arme und Beine zu biegen. »Die Totenstarre ist eingetreten. Wenn der Körper von dem Pfahl geschnitten ist, kann ich mehr sagen.« Sie sah zu Frithjof. »Darf ich vermuten?«

Er nickte.

»Nach acht bis zwölf Stunden ist die Totenstarre voll ausgeprägt und beginnt erst nach achtundvierzig Stunden, sich langsam von oben nach unten aufzulösen.«

»Das heißt, wir können einen sehr vagen und großen Zeitabschnitt als Todeszeitpunkt errechnen.«

»Einen sehr vagen. Kälte verzögert den Prozess der Totenstarre.« Wieder kniete die junge Frau nieder und betrachtete die Fußfesseln. »Zwischen den Tampen ist die Haut hervorgetreten. Man erkennt punktförmige Blutungen. Die Haut ist rötlichbraun. Die Blutgefäße werden abgedrückt und es gibt eine vitale Reaktion, die die Haut färbt.«

Aus ihrem Koffer nahm sie ein Skalpell und setzte es unter dem linken Brustkorb an. Nachdem sie die Haut an der Schnittstelle auseinander schob, führte sie ein Thermometer ein, um die Lebertemperatur zu messen. »Die Körpertemperatur sinkt um circa 0,5 Grad in der ersten Stunde nach Eintreten des Todes und um circa 1,5 Grad in den darauf folgenden.«

Blanca betrachtete die Anzeige. »27,9.« Dann rechnete sie. »Sechs bis acht Stunden. Man muss die Außentemperatur mit einbeziehen. Es war kalt heute Nacht.«

Frithjof und Lars nickten. »Fangt ihr jetzt an, den Körper abzukleben?«, wollte Frithjof wissen.

»Ja. Frank wird mir helfen. Wir filmen alles und ihr könnt es euch dann später im Präsidium ansehen.« Sie verschränkte die Arme vor dem Körper. »Oder wollt ihr helfen?«

Lars wedelte verneinend mit den Händen. »Das letzte Mal reichte mir«, sagte er gepresst und dachte an die Morde im Winter. Dachte an die toten Frauen, bei denen sie helfen mussten, durchsichtige Klebestreifen auf die Körper zu legen und abzuziehen, da eine Margendarmgrippe einen Großteil von Blancas Kollegen ans Bett gefesselt hatte.

Auf den Klebestreifen blieben kleinste Partikel hängen, die später im Labor untersucht wurden. Die Untersuchungsergebnisse würden ihnen reichen. Sie sahen sich an und schienen sich blind zu verstehen. Frithjof hoffte, Blanca würde nicht auch noch fragen, ob sie bei der Leichenöffnung dabei sein wollten. Nur ungern dachte er an das erste Opfer im Winter. Damals hatten sie keine einzige Spur, nicht den Hauch eines Ansatzes, dem sie hätten nachgehen können und er bestand darauf, bei der Leichenöffnung zugegen zu sein. Er erhoffte sich, neue Erkenntnisse sofort aufnehmen zu können, um ihnen nachzugehen.

Am Ende fand er sich auf dem kalten Boden des Pathologieflurs wieder. An der Wand sitzend und vor sich hinmurmelnd. Was in ihm vorging, konnte er nicht mehr sagen. Bilder und Worte verschwammen ineinander. Es schien ihm heute, wie damals, dass das alles nicht real gewesen war. Nur wann war es das schon?

Als Frithjof und Lars das Gerüst verließen, tauchte Sebastian, ein weiterer Kollege von Blanca, auf. In der Hand hielt er einen durchsichtigen Plastikzylinder, in dem sich ein gut fünfzig Zentimeter langer Pfeil befand. »Das ist der Zweite, den wir gefunden haben«, sagte er.

Blanca streckte die Hand aus und Sebastian reichte ihr den Plastikzylinder.

Frank betrachtete den Pfeil. »Kein Blut und keine Fleischstücke, wie bei dem anderen. Den ersten haben wir in einem Baum gefunden. Steckte ziemlich tief in der Rinde. Scheint vorbeigeschossen worden zu sein.«

»Wo habt ihr den Pfeil gefunden?«, fragte Blanca.

»Der lag auf dem Boden. Muss an Zweigen und Ästen abgeprallt sein und ist dann heruntergefallen.«

»Wie weit von hier?« Lars sah in den Wald hinein.

»Vier- bis fünfhundert Meter.«

Sie sahen Sebastian mit großen Augen an.

Wenn der Pfeil fast einen halben Kilometer durch den Wald zurücklegen konnte, ohne dass es ihn vorher aus der Bahn geworfen hatte, muss er eine enorme Geschwindigkeit drauf gehabt haben, dachte Frithjof. »Wie schnell muss der gewesen sein?«

»Das kann man nur vermuten, Frithjof«, bemerkte Lars.

»Lass ich zu, weil ich keine Ahnung habe, wie schnell solche Dinger werden können.« Er zeigte auf den Zylinder. »Was wiegt der?«

»Wir haben den ersten gewogen«, berichtete Sebastian, »31, 7 Gramm. Der hier scheint das gleiche Modell zu sein. Der erste war zweiundzwanzig Zoll lang. Also 55, 8 Zentimeter in etwa.«

»Noch einmal zu meiner Frage: Wie schnell wird so ein Pfeil?« Frithjof gab den Zylinder an Sebastian zurück.

Lars zuckte mit den Schultern. »Wir fragen den Förster. Vielleicht weiß der so etwas«, hoffte er und ging den Trampelpfad entlang in Richtung der Einsatzfahrzeuge. Frithjof folgte ihm. Noch einmal sah er zurück zu den Pfählen. Zu den beiden toten Körpern. Was würde noch alles auf sie warten, fragte er sich.

Er hatte Angst vor der Antwort.

2

Nachdem sie ihre Schutzanzüge ausgezogen hatten, fragten sie einen Beamten, der einen Kaffeebecher in den Händen hielt, wo sie einen Kaffee bekommen könnten. Der Beamte zeigte hinter sich. »Mein Kollege hat sicher noch was in seiner Thermoskanne. Kommen Sie.«

Wenig später wärmten sie sich an weißen Plastikbechern die Hände. Heißer Dampf stieg aus den Bechern auf. Frithjof sah sich um. Der letzte Frühnebel löste sich langsam auf. Gespenstisch traten Baumwurzeln und umgestürzte Bäume hervor. Ein Eichhörnchen flitzte einen Baum hinauf. Vögel kreischten. Der Duft des Waldes war frisch und angenehm.

Frithjof wandte sich an einen Schutzbeamten, der in seiner Nähe stand. »Organisieren Sie bitte mit einigen Beamten die Begehung der Umgebung. Vielleicht findet sich etwas. Irgendwo muss hier ein Haus sein. Vielleicht haben die Leute etwas Ungewöhnliches gesehen. Man kann nicht vollkommen unbemerkt die Pfähle hier aufstellen und Menschen anbinden. Irgendjemand muss einfach etwas gesehen haben.«

Ihm fiel der grüne Landrover ein, den sie an der Waldkapelle gesehen hatten, und er erkundigte sich nach dem Förster. Ein Beamter sagte ihm, man hätte den Mann zu den Einsatzfahrzeugen gebracht, es würde ihm nicht gut gehen, nach dem Anblick der beiden toten Menschen.

Lars und Frithjof gingen den Weg zurück zu den Fahrzeugen. Ein Kollege der Spurensicherung kam ihnen entgegen. Eine Hälfte seiner Kleidung war voll nasser Erde. Er musste ausgerutscht sein.

»Egal wie das Wetter hier ist. Es regnet immer«, schimpfte er.

Der Förster war jung und stellte sich mit Magnus Schuldt vor. Noch keine dreißig, schätzte Frithjof. Der Junge zitterte. Sein Gesicht war bleich. Die Wangen waren von der Kälte gerötet. Er sah müde aus, versuchte jedoch, einen wachen Eindruck zu machen.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Lars.

»Es geht einigermaßen, danke.« Er wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht und sah danach an den beiden vorbei in den Wald. »Wie kann ein Mensch so etwas tun?«

»Sie sind der Förster?«, hakte Frithjof nach.

»Ja.«

»Ich habe mir Förster immer anders vorgestellt.«

»Wie denn?«

»Älter.«

Magnus Schuldt lächelte. »Wahrscheinlich ein wenig dicklich, mit einem Zwirbelbart. Und neben dem Förster sitzt der unruhige Dackel.«

Auch Frithjof lächelte und meinte, dass der Förster in seiner Vorstellung einen kleinen, grünen Filzhut trüge.

»Sie sehen zu viel Forsthaus Falkenau.« Magnus Schuldt sah die beiden abwechselnd an. »Mein Vorgänger starb vor einem Jahr und man fragte mich, ob ich die Stelle übernehmen wolle. Ich habe hier meine Ausbildung gemacht und einige Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Ich kenne diesen Wald sehr gut.«

Er blickte wieder auf den Boden. Seine Augen suchten etwas, was nicht gefunden werden konnte, da es nichts zu finden gab. Nervös drehten seine Hände ein imaginäres Seil. Die Fingerkuppen des jungen Försters waren weißlich und hoben sich von dem Rot der Hände ab.

»Wollen Sie eine Decke haben?«, fragte Lars.

»Nein, danke. Das würde jetzt nichts mehr bringen. Ich bin nass. Bei diesem Regen trocknet nichts mehr.«

Lars sah zu dem wolkenverhangenen Himmel hoch. Regentropfen tropften auf sein Gesicht und den Hals hinunter und schienen sich hinter seinem Mantelkragen verstecken zu wollen.

»Wann haben Sie die beiden Personen gefunden?«, erkundigte sich Lars.

»Gegen acht, schätze ich. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.«

»Wieso waren Sie hier?«

»Das Revier ist groß, in regelmäßigen Abständen kontrolliere ich die einzelnen Abschnitte.«

»Wusste jemand, dass Sie heute Morgen diesen Abschnitt kontrollieren würden?«

»Nein. Dafür habe ich keinen Plan. Ich notiere es erst, wenn ich einen Abschnitt inspiziert habe, und sehe dann nach, welcher der nächste ist.«

»Gibt es da eine Reihenfolge?«

»Nein.«

»Warum heute hier?«

»Das kann ich Ihnen gar nicht so genau sagen. Dieser Abschnitt war lange nicht mehr dran, außerdem bat mich der Pfarrer, Kerzen in die Kapelle zu bringen. Die seien alle heruntergebrannt, wie man ihm mitgeteilt hatte.«

»Kümmern Sie sich auch sonst um die Waldkapelle?«

»Nein. Nur solange, bis Pfarrer Fröbel seinen Hexenschuss auskuriert hat.« Magnus Schuldt lächelte schüchtern und fragte, ob er nach Hause gehen könnte. »Wissen Sie, das alles ist mir auf den Magen geschlagen. Mir geht es nicht sonderlich gut.« Verlegen wies er hinter sich in den Wald, wo Frithjof und Lars Erbrochenes erblickten.

Lars sah höflich zur Seite und sagte, sie seien gleich fertig.

»Warum sind Sie gerade heute so weit in den Wald hineingegangen?«

»Ich bin dem Hund gefolgt.«

Frithjof und Lars sahen sich um. Der Förster bemerkte ihre suchenden Blicke. »Er sitzt im Wagen. Ein Pointer. Er heißt Herr Wagner.«

Jetzt sahen sie einen Hundekopf, der interessiert durch die beschlagenen Scheiben des Rovers zu ihnen herüberblickte.

»Ich bin ihm nachgelaufen, er kläffte und hörte nicht auf meine Rufe, was ungewöhnlich ist. Herr Wagner pariert ausgezeichnet. Als ich ihn sah, bellte er die beiden Pfähle an.« Er schluckte, »vielmehr die beiden Menschen.«

»Wie nah sind Sie heran gegangen?«, fragte Frithjof.

»Nur einige Meter. Die Körper tauchten aus dem Nebel auf und ich war erschrocken. Nach einigen Rufen hörte Herr Wagner endlich, er kläffte und kläffte und wollte gar nicht mehr aufhören, wissen Sie? Als hätte er gewusst, wie grausam das alles war, was dort geschehen war.« Er brach ab, fuhr sich mit den Fingern durch die nassen Haare und strich Strähnen aus seinem Gesicht. Die Hände zitterten dabei. »Ich habe versucht, auf den Hund zu sehen und nicht zu den Menschen.« Seine Stimme brach. Einige Worte waren unverständlich und er musste sie wiederholen, bis sie einen Sinn ergaben. »Ich habe das Blut gesehen ... die Pfeile ... die bleiche, die bleiche Haut. Sie war so bleich wie der Nebel ... als würde er von den Körpern ausgehen ... .«

Er stockte. Die Bilder schienen ihn zu verfolgen.

»Haben Sie gleich die Polizei gerufen?«

»Es dauerte eine Weile, bis ich den Hund im Griff hatte. Ich bin ein Stück zurückgegangen und habe über Handy die Polizei gerufen.«

»Sie haben also nichts an den Pfählen, oder an den Menschen verändert«, wollte Lars wissen.

Erschrocken sah Magnus Schuldt zu ihm. »Nein! Ich war nicht dort. Das habe ich Ihnen doch gerade erzählt!« Er würgte und konnte sich nur schwer wieder beruhigen.

»Haben Sie aus der Entfernung die Knoten gesehen, die sich an den Händen und Füßen der Opfer befanden?«

»Nein, wie auch? Es war neblig.« Lautlos flossen Tränen aus seinen Augen und seine Unterlippe begann zu zittern. »Ich habe sie da hängen gesehen und bin ... ich bin gegangen ... mit dem Hund ... es war doch neblig ... ich wollte das nicht sehen ... ich konnte es nicht ertragen!«

Ohne darauf einzugehen, fragte Frithjof ihn, ob er Ahnung von Knoten hatte. Verstört sah Magnus Schuldt auf und sah Frithjof an. »Was meinen Sie damit? Ahnung von Knoten?«

»Man kann Knoten auf verschiedene Arten machen. Wenn wir Ihnen Bilder von einigen Knoten zeigen, können Sie damit etwas anfangen?«

»Sicher. So etwas habe ich in meiner Ausbildung gelernt. Man muss Wild verschnüren, um es fortzuschaffen.«

»Wir würden Ihnen gerne einige Knoten zeigen«, sagte Frithjof.

»Jetzt?« Der Förster blickte hektisch zwischen beiden hin und her. Es schien, als hätte er Angst.

»Nein, das muss nicht sein. Morgen reicht auch.« Lars zuckte mit den Schultern. Für ihn war für diesen Moment alles gesagt, aber er hakte nochmals nach: »Warum könnte sich ein Täter gerade dieses Waldstück ausgesucht haben?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Hätte jemand denken können, dass dieser Abschnitt für eine längere Zeit nicht inspiziert werden könnte?«

»Ich weiß es nicht. Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich keinen festen Plan.«

An Lars’ Blick merkte Frithjof, dass der junge Kollege noch nicht fertig war.

»Auf die beiden Menschen wurden Pfeile abgegeben.« Lars wurde von Magnus Schuldt unterbrochen.

»Ich habe sie gesehen ... sie ragten aus den ... aus den Körpern heraus ... aus dem Nebel ... da war überall Blut ... und der Hund kläffte ... er hörte gar nicht mehr auf. Er hat gewusst, dass etwas Grauenhaftes geschehen war. Da stiegen tote Seelen aus den Körpern!« Fast schien es, als würde er in eine Art Trance fallen. Seine Stimme nahm eine monotone Stimmlage an. »Die Körper waren mit Tau benetzt und die schwarzen Vögel kreisten über uns. Sie haben gerufen.« Lars legte wieder eine Hand auf seinen Rücken. Als würde ein Schalter umgelegt werden, hörte Magnus Schuldt auf zu sprechen.

»Jagen Sie mit Pfeilen?«

»Nein, ich habe Jagdgewehre.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie schnell solche Pfeile werden können, die man zur Jagd benutzt?«

»Es werden wahrscheinlich keine Armbrüste sein, wie man sie sich von Wilhelm Tell vorstellt, sondern große Waffen, große Armaturen, die eine enorme Kraft haben.«

»Eine solche Kraft, durch Körper hindurchzuschießen?«

»Die neuen Armbrüste aus Amerika schießen die Pfeile mit bis zu dreihundert Stundenkilometer von sich.«