Krieg und Frieden - Leo Tolstoi - E-Book

Krieg und Frieden E-Book

Leo Tolstoi

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Beschreibung

Zwischen 1863 und 1869 schuf Leo Tolstoi dieses Werk, das in seiner erzählerischen Breite auf bis dahin unerreicht kunstfertige Weise einen Historien-, Familien- und Bildungsroman vereinte. Hintergrund ist der Krieg zwischen Russland und Frankreich. Der mit über 200 Figuren überreich bevölkerte Roman schildert die Schicksale dreier Familien über mehrere Generationen hinweg. Tolstoi spring kunstvoll zwischen familiären, privaten Szenen und der Schilderung von Schlachten und kriegerischen Manövergesprächen hin und her und bietet so ein einen einmaligen Einblick in die russisch-aristokratische Seelenlage der damaligen Zeit. Das Buch ist psychologischer Spiegel und kulturphilosophisches Brennglas in einem. Der geschickte Aufbau des Buches und die sprachlich bis ins Letzte ausgefeilte Intensität ließen Tolstois Werk schnell zu einem Klassiker von Weltrang werden. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 3009

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Leo Tolstoi

Krieg und Frieden

Leo Tolstoi

Krieg und Frieden

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Hermann Röhl EV: Insel-Verlag, Leipzig, 1921 4. Auflage, ISBN 978-3-954181-71-1

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Au­tor und Werk

Ers­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

Zwei­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

Drit­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

Vier­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

Fünf­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

Sechs­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

Sie­ben­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

Ach­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

Ne­un­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

Zehn­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

XXXIV

XXXV

XXXVI

XXXVII

XXXVIII

XXXIX

Elf­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

XXXIV

Zwölf­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

Drei­zehn­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

Vier­zehn­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

Fünf­zehn­ter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

Epi­log – I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

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Autor und Werk

Leo Ni­ko­la­je­witsch Tol­stoi wird am 9. Sep­tem­ber 1828 in Jas­na­ja Pol­ja­na in eine rus­si­sche Adels­fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­ren. Weil er früh sei­ne El­tern ver­liert, wird er von ei­ner Tan­te er­zo­gen. Zwi­schen 1844 und 1847 be­sucht er die Uni­ver­si­tät von Ka­san, doch das Stu­di­um der Ori­en­ta­lis­tik und Rechts­wis­sen­schaft bricht er ohne Ex­amen ab. Auch den ur­sprüng­li­chen Plan, in den di­plo­ma­ti­schen Dienst ein­zu­tre­ten, ver­wirft er.

Von den Ide­en Rous­se­aus be­flü­gelt, ver­sucht er das Sys­tem der Leib­ei­gen­schaft auf sei­nen Gü­tern ab­zu­schaf­fen, was ihm je­doch nicht ge­lingt. Nach Jah­ren des Nicht­stuns und an­ge­sichts an­ge­häuf­ter Spiel­schul­den mel­det er sich 1851 frei­wil­lig zum Mi­li­tär­dienst. Er nimmt an den Kämp­fen im Kau­ka­sus und am Krim­krieg teil. Ab 1856 geht er auf zwei grö­ße­re Eu­ro­parei­sen.

Nach sei­ner Hoch­zeit mit der erst 18-jäh­ri­gen So­fia An­dre­jew­na Bers, mit der er 13 Kin­der ha­ben wird, lässt er sich 1862 an sei­nem Ge­burts­ort nie­der und ver­zeich­net ers­te klei­ne schrift­stel­le­ri­sche Er­fol­ge.

Ab 1869 er­lei­det Tol­stoi eine tie­fe Sinn­kri­se, nicht zu­letzt, weil ihm die Wi­der­sprü­che zwi­schen sei­nem ei­ge­nen Le­ben im Wohl­stand und sei­nen po­li­ti­schen Über­zeu­gun­gen un­auf­lös­bar er­schei­nen. Er liest Scho­pen­hau­er, was sei­ne pes­si­mis­ti­sche Gr­und­ein­stel­lung noch wei­ter ver­tieft.

Sei­ne Ar­beit wird zu­neh­mend von ethi­schen und re­li­gi­ösen The­men be­stimmt. Un­ter die­sen Vor­zei­chen ent­ste­hen auch sei­ne großen Ro­ma­ne Krieg und Frie­den (1868/69) und Anna Ka­re­ni­na (1875–1877).

1901 lehnt er den No­bel­preis für Li­te­ra­tur ab, weil ihm in­zwi­schen jede Art von Or­ga­ni­sa­ti­on – so­gar so­zia­le und kul­tu­rel­le – su­spekt ist; auch die Ex­kom­mu­ni­ka­ti­on1 aus der rus­sisch-or­tho­do­xen Kir­che (er wei­gert sich u.a., die Drei­ei­nig­keit Got­tes an­zu­er­ken­nen) im sel­ben Jahr nimmt er ge­las­sen hin. Im No­vem­ber 1910 ver­sucht er sei­ner zu­neh­mend zer­rüt­te­ten Ehe durch eine heim­li­che Flucht zu ent­kom­men und will künf­tig be­sitz­los und ein­sam le­ben. Auf der Bahn­sta­ti­on von Asta­po­wo stirbt er noch im glei­chen Mo­nat, am 20. No­vem­ber 1910, an ei­ner Lun­gen­ent­zün­dung.

Drei be­rühm­te Ehe­bre­che­rin­nen kennt die eu­ro­päi­sche Li­te­ra­tur: die deut­sche Effi Briest, die fran­zö­si­sche Ma­da­me Bo­va­ry und die rus­si­sche Anna Ka­re­ni­na. Der Ro­man »Anna Ka­re­ni­na« von Leo N. Tol­stoi wur­de 1875-1877 zur­zeit des rus­si­schen Rea­lis­mus ver­öf­fent­licht. In drei mit­ein­an­der ver­wo­be­nen Hand­lungs­strän­gen wirft Tol­stoi mo­ra­li­sche Fra­gen zur Ehe, zum Ehe­bruch und zur Ge­sell­schafts­ord­nung auf. Die Ti­tel­fi­gur Anna Ka­re­ni­na flüch­tet aus ei­ner freud­lo­sen Ehe mit dem Staats­be­am­ten Ale­xej Ka­re­nin in eine lei­den­schaft­li­che Lie­bes­be­zie­hung zu dem Gra­fen Wrons­kij, die in eine Ka­ta­stro­phe führt.

In sei­nem groß­ar­ti­gen und de­tail­rei­chen Werk dringt Tol­stoi tief in die Psy­che sei­ner Cha­rak­tere ein, ohne zu ver­ur­tei­len oder sie ih­rer Wür­de zu be­rau­ben. So­wohl die Haupt­fi­gu­ren als auch die Ne­ben­fi­gu­ren er­schei­nen als Su­chen­de nach Ant­wor­ten auf die großen Fra­gen des Le­bens. Un­ter Tol­stois Ro­ma­nen gilt Anna Ka­re­ni­na als künst­le­risch voll­kom­mens­ter.

Die Ant­wor­ten, die der Au­tor uns durch den Ver­lauf der Hand­lung gibt, ha­ben nichts End­gül­ti­ges. Sie sind aus sei­ner Zeit her­aus zu ver­ste­hen, doch bleibt es den Le­sern un­be­nom­men, zu an­de­ren Ant­wor­ten zu ge­lan­gen.

»Alle glück­li­chen Fa­mi­li­en sind ein­an­der ähn­lich; aber jede un­glück­li­che Fa­mi­lie ist auf ihre be­son­de­re Art un­glück­lich.« Die­ser ers­te Satz des Ro­mans wird auch als »Anna-Ka­re­ni­na-Prin­zip« be­zeich­net, und hat eben­so wie an­de­re Tei­le des In­halts mehr als 130 Jah­re nach sei­nem Er­schei­nen nicht an Gül­tig­keit ver­lo­ren. »Anna Ka­re­ni­na« gilt mit Recht als ein Klas­si­ker der Welt­li­te­ra­tur.

Ex­kom­mu­ni­ka­ti­on ist der zeit­lich be­grenz­te oder auch per­ma­nen­te Aus­schluss aus ei­ner re­li­gi­ösen Ge­mein­schaft oder von be­stimm­ten Ak­ti­vi­tä­ten in ei­ner re­li­gi­ösen Ge­mein­schaft.  <<<

Erster Teil

I

Nun, se­hen Sie wohl, Fürst: Ge­nua und Luc­ca sind wei­ter nichts mehr als Apa­na­gen der Fa­mi­lie Bo­na­par­te. Nein, das er­klä­re ich Ih­nen auf das be­stimm­tes­te: wenn Sie mir nicht sa­gen, dass der Krieg eine Not­wen­dig­keit ist, wenn Sie sich noch län­ger er­lau­ben, all die Schänd­lich­kei­ten und Ge­walt­ta­ten die­ses An­ti­christs in Schutz zu neh­men (wirk­lich, ich glau­be, dass er der An­ti­christ ist), so ken­ne ich Sie nicht mehr, so sind Sie nicht mehr mein Freund, nicht mehr, wie Sie sich aus­drücken, mein treu­er Skla­ve. – Jetzt aber gu­ten Tag, gu­ten Tag! Ich sehe, dass ich Sie ein­schüch­te­re; set­zen Sie sich und er­zäh­len Sie!«

So sprach im Juni 1805 Fräu­lein Anna Paw­low­na Sche­rer, die hoch­an­ge­se­he­ne Hof­da­me und Ver­trau­te der Kai­se­rin­mut­ter Ma­ria Feo­do­row­na, in­dem sie den durch Rang und Ein­fluss her­vor­ra­gen­den Fürs­ten Wa­si­li be­grüß­te, der sich als ers­ter zu ih­rer Soi­ree ein­stell­te. Anna Paw­low­na hus­te­te seit ei­ni­gen Ta­gen; sie hat­te, wie sie sag­te, die Grip­pe (»Grip­pe« war da­mals ein neu­es Wort, des­sen sich nur ei­ni­ge we­ni­ge fei­ne Leu­te be­dien­ten). Die Ein­la­dungs­schrei­ben, die sie am Vor­mit­tag durch einen La­kai­en in ro­ter Li­vree ver­sandt hat­te, hat­ten alle ohne Ab­wei­chun­gen fol­gen­der­ma­ßen ge­lau­tet:

»Wenn Sie, Graf (oder Fürst), nichts Bes­se­res vor­ha­ben und die Aus­sicht, den Abend bei ei­ner ar­men Pa­ti­en­tin zu ver­brin­gen, Sie nicht zu sehr er­schreckt, so wer­de ich mich sehr freu­en, Sie heu­te zwi­schen sie­ben und neun Uhr bei mir zu se­hen. Anna Sche­rer.«

»Mein Gott, was für eine hit­zi­ge At­ta­cke!« ant­wor­te­te der so­eben ein­ge­tre­te­ne Fürst, ohne über einen der­ar­ti­gen Empfang im Ge­rings­ten in Auf­re­gung zu ge­ra­ten, mit ei­nem hei­te­ren Aus­druck auf sei­nem fla­chen Ge­sicht.

Er trug die ge­stick­te Ho­f­uni­form, Schnal­len­schu­he, St­rümp­fe und meh­re­re Or­den und sprach je­nes aus­er­le­se­ne Fran­zö­sisch, wel­ches un­se­re Groß­vä­ter nicht nur re­de­ten, son­dern in dem sie auch dach­ten, und zwar mit dem ru­hi­gen, gön­ner­haf­ten Ton, wie er ei­nem hoch­ge­stell­ten, im Ver­kehr mit der bes­ten Ge­sell­schaft und in der Hofluft alt­ge­wor­de­nen Mann ei­gen ist. Er trat zu Anna Paw­low­na her­an, küss­te ihr die Hand, wo­bei er ihr den An­blick sei­ner par­fü­mier­ten, schim­mern­den Glat­ze dar­bot, und setz­te sich dann in al­ler See­len­ru­he auf einen Lehn­ses­sel.

»Vor al­len Din­gen, lie­be Freun­din, sa­gen Sie mir, wie es mit Ih­rer Ge­sund­heit steht, und be­ru­hi­gen Sie Ihren Freund«, sag­te er, ohne sei­ne Stim­me zu ver­än­dern, und in ei­nem Ton, bei dem man durch alle Höf­lich­keit und An­teil­nah­me doch sei­ne in­ne­re Gleich­gül­tig­keit und so­gar ein we­nig Spott hin­durch­hör­te.

»Wie kann ich kör­per­lich ge­sund sein, wenn ich see­lisch lei­de? Wer, der über­haupt Ge­fühl in der Brust hat, kann denn in un­se­rer Zeit sei­ne see­li­sche Ruhe be­wah­ren?« sag­te Anna Paw­low­na. »Ich hof­fe, Sie blei­ben den gan­zen Abend bei mir?«

»Und die Fete beim eng­li­schen Ge­sand­ten? Heu­te ist Mitt­woch; ich muss mich dort zei­gen«, er­wi­der­te der Fürst. »Mei­ne Toch­ter wird her­kom­men und mich dort­hin be­glei­ten.«

»Ich glaub­te, die heu­ti­ge Fete sei ab­ge­sagt wor­den. Ich muss ge­ste­hen, alle die­se Fe­ten und Feu­er­wer­ke wer­den ei­nem all­mäh­lich un­er­träg­lich.«

»Wenn der Ge­sand­te ge­ahnt hät­te, dass dies Ihr Wunsch sei, so hät­te er ge­wiss die Fete ab­sa­gen las­sen«, ant­wor­te­te der Fürst; er re­de­te eben ge­wohn­heits­mä­ßig, wie ein auf­ge­zo­ge­nes Uhr­werk, et­was hin, wo­von er selbst nicht er­war­te­te, dass es je­mand glau­ben wer­de.

»Span­nen Sie mich nicht auf die Fol­ter. Wel­cher Be­schluss ist denn nun in­fol­ge von No­wo­sil­zews De­pe­sche ge­fasst wor­den? Sie wis­sen ja doch al­les.«

»Wie soll ich Ih­nen dar­auf ant­wor­ten?« er­wi­der­te der Fürst in küh­lem, ge­lang­weil­tem Ton. »Sie wol­len wis­sen, wie man die Sach­la­ge auf­fasst? Man ist der An­sicht, dass Bo­na­par­te sei­ne Schif­fe hin­ter sich ver­brannt hat, und es hat den An­schein, dass wir uns an­schi­cken, mit den uns­ri­gen das glei­che zu tun.«

Fürst Wa­si­li sprach im­mer in trä­gem, läs­si­gem Ton, etwa wie ein Schau­spie­ler eine schon oft von ihm ge­spiel­te Rol­le spricht. Da­ge­gen sprüh­te Anna Paw­low­na Sche­rer trotz ih­rer vier­zig Jah­re von Leb­haf­tig­keit und Lei­den­schaft­lich­keit.

Die Rol­le der En­thu­sias­tin war ein we­sent­li­ches Stück ih­rer ge­sell­schaft­li­chen Stel­lung ge­wor­den, und manch­mal gab sie sich, auch wenn ihr ei­gent­lich nicht da­nach zu­mu­te war, den­noch als En­thu­sias­tin, nur um die Er­war­tung der Leu­te, die sie kann­ten, nicht zu täu­schen. Das lei­se Lä­cheln, das be­stän­dig auf Anna Paw­low­nas Ge­sicht spiel­te, ob­wohl es ei­gent­lich zu ih­ren ver­leb­ten Zü­gen nicht pass­te, die­ses Lä­cheln be­sag­te, ähn­lich wie bei ver­zo­ge­nen Kin­dern, dass sie sich ih­rer lie­bens­wür­di­gen Schwä­che dau­ernd be­wusst sei, aber nicht be­ab­sich­ti­ge, nicht im­stan­de sei und nicht für nö­tig hal­te, sich von ihr frei­zu­ma­chen.

Als das Ge­spräch über die po­li­ti­sche Lage ei­ni­ge Zeit ge­dau­ert hat­te, wur­de Anna Paw­low­na hit­zig.

»Ach, re­den Sie mir nicht von Ös­ter­reich! Mag sein, dass ich nichts da­von ver­ste­he, aber Ös­ter­reich hat den Krieg nie ge­wollt und will ihn auch jetzt nicht. Ös­ter­reich ver­rät uns. Russ­land muss al­lein der Ret­ter Eu­ro­pas wer­den. Un­ser Wohl­tä­ter auf dem Thron kennt sei­nen ho­hen Be­ruf und wird die­sem Be­ruf treu blei­ben. Das ist das ein­zi­ge, wor­auf ich mich ver­las­se. Un­serm gu­ten, herr­li­chen Kai­ser ist die größ­te Auf­ga­be in der Welt zu­ge­fal­len, und er ist so reich an treff­li­chen Ei­gen­schaf­ten und Tu­gen­den, dass Gott ihn nicht ver­las­sen wird. Un­ser Kai­ser wird sei­nen ho­hen Be­ruf er­fül­len, die Hy­dra der Re­vo­lu­ti­on zu er­wür­gen, die jetzt in der Ge­stalt die­ses Mör­ders und Bö­se­wichts noch ent­setz­li­cher er­scheint als vor­her. Wir al­lein müs­sen das Blut des Ge­rech­ten süh­nen. Auf wen könn­ten wir denn auch rech­nen, fra­ge ich Sie? Eng­land mit sei­nem Krä­mer­geist hat kein Ver­ständ­nis für die gan­ze See­len­grö­ße Kai­ser Alex­an­ders, und kann ein sol­ches Ver­ständ­nis nicht ha­ben. Es hat sich ge­wei­gert, Mal­ta zu räu­men. Es will erst noch se­hen und fin­det in al­lem, was wir tun, einen Hin­ter­ge­dan­ken. Was ha­ben die Eng­län­der auf No­wo­sil­zews An­fra­ge geant­wor­tet? Nichts. Sie ha­ben kein Ver­ständ­nis ge­habt, kön­nen kein Ver­ständ­nis ha­ben für die Selbst­ver­leug­nung un­se­res Kai­sers, der nichts für sich selbst will und in al­lem nur auf das Wohl der gan­zen Welt be­dacht ist. Und was ha­ben sie ver­spro­chen? Nichts. Und was sie ver­spro­chen ha­ben, selbst das wer­den sie nicht zur Aus­füh­rung brin­gen! Preu­ßen hat be­reits er­klärt, Bo­na­par­te sei un­über­wind­lich und ganz Eu­ro­pa ver­mö­ge nichts ge­gen ihn. Und ich glau­be die­sen bei­den, Har­den­berg und Haug­witz, kein Wort, das sie sa­gen. Die­se viel­ge­rühm­te Neu­tra­li­tät Preu­ßens ist wei­ter nichts als eine Fal­le. Ich glau­be nur an Gott und an die hohe Be­stim­mung un­se­res ge­lieb­ten Kai­sers. Er wird Eu­ro­pa ret­ten!« Sie hielt plötz­lich inne mit ei­nem spöt­ti­schen Lä­cheln über die Hit­ze, in die sie hin­ein­ge­ra­ten war.

»Ich glau­be«, er­wi­der­te der Fürst gleich­falls lä­chelnd, »hät­te man Sie an Stel­le un­se­res lie­ben Wint­zin­ge­ro­de hin­ge­schickt, Sie hät­ten die Zu­stim­mung des Kö­nigs von Preu­ßen im Sturm er­run­gen. Sie be­sit­zen eine er­staun­li­che Be­red­sam­keit. Darf ich Sie um eine Tas­se Tee bit­ten?«

»So­gleich. Apro­pos«, füg­te sie, nach­dem sie sich wie­der be­ru­higt hat­te, hin­zu, »es wer­den heu­te zwei sehr in­ter­essan­te Per­sön­lich­kei­ten bei mir sein: der Vi­com­te Mor­te­mart (er ist durch die Ro­hans mit den Mont­mo­ren­cys ver­wandt; die Mor­te­marts sind eine der bes­ten Fa­mi­li­en Frank­reichs; das ist ei­ner der wirk­lich ach­tungs­wer­ten Emi­gran­ten, ei­ner von der ech­ten Art) und dann der Abbé Mo­rio. Ken­nen Sie die­sen tie­fen Geist? Er ist vom Kai­ser emp­fan­gen wor­den; Sie wis­sen wohl?«

»Ah! das wird mich au­ßer­or­dent­lich freu­en«, ant­wor­te­te der Fürst. »Sa­gen Sie«, füg­te er, als ob ihm so­eben et­was ein­fie­le, in be­son­ders läs­si­gem Ton hin­zu, ob­gleich das, wo­nach er fra­gen woll­te, der Haupt­zweck sei­nes Be­su­ches war, »ist es rich­tig, dass die Kai­se­rin­mut­ter die Er­nen­nung des Baron Fun­ke zum ers­ten Se­kre­tär in Wien wünscht? Die­ser Baron ist doch al­lem An­schein nach ein wert­lo­ses Sub­jekt.« Fürst Wa­si­li heg­te den Wunsch, dass sein ei­ge­ner Sohn die­se Stel­le er­hal­ten möge, wel­che an­de­re Leu­te auf dem Weg über die Kai­se­rin­mut­ter Ma­ria Feo­do­row­na dem Baron zu ver­schaf­fen such­ten.

Anna Paw­low­na schloss die Au­gen bei­na­he voll­stän­dig, um zu ver­ste­hen zu ge­ben, dass we­der sie noch sonst je­mand sich ein Ur­teil über das er­lau­ben dür­fe, was der Kai­se­rin­mut­ter be­lie­be oder ge­nehm sei.

»Baron Fun­ke ist der Kai­se­rin­mut­ter durch ihre Schwes­ter emp­foh­len wor­den«, be­gnüg­te sie sich in me­lan­cho­li­schem, tro­ckenem Ton zu er­wi­dern. In dem Au­gen­blick, wo Anna Paw­low­na von der Kai­se­rin­mut­ter sprach, nahm ihr Ge­sicht auf ein­mal den Aus­druck ei­ner tie­fen, in­ni­gen Er­ge­ben­heit und Ver­eh­rung, ge­paart mit ei­ner Art von Trau­rig­keit, an, ein Aus­druck, der bei ihr je­des Mal zum Vor­schein kam, wenn sie im Ge­spräch ih­rer ho­hen Gön­ne­rin Er­wäh­nung tat. Sie äu­ßer­te dann noch, Ihre Ma­je­stät habe ge­ruht, dem Baron Fun­ke großes Wohl­wol­len zu be­zei­gen, und wie­der zog da­bei ein Schat­ten wie von Trau­rig­keit über ih­ren Blick.

Der Fürst mach­te ein Ge­sicht, als ob ihm die Sa­che gleich­gül­tig sei, und schwieg. Anna Paw­low­na hat­te mit der ihr ei­ge­nen hö­fi­schen und weib­li­chen Ge­wandt­heit und schnel­len Er­kennt­nis des­sen, was takt­ge­mäß war, dem Fürs­ten et­was da­für aus­wi­schen wol­len, dass er sich er­dreis­tet hat­te, über eine von der Kai­se­rin­mut­ter pro­te­gier­te Per­sön­lich­keit so ab­fäl­lig zu ur­tei­len; nun aber woll­te sie ihn doch auch wie­der trös­ten.

»Um auf Ihre Fa­mi­lie zu kom­men«, sag­te sie, »wis­sen Sie wohl, dass Ihre Toch­ter, seit sie Ge­sell­schaf­ten be­sucht, das Ent­zücken der ge­sam­ten hö­he­ren Krei­se bil­det? Man fin­det sie schön wie den Tag.«

Der Fürst ver­neig­te sich zum Zei­chen der Ver­eh­rung und Dank­bar­keit.

»Ich den­ke oft«, fuhr Anna Paw­low­na nach ei­nem kur­z­en Still­schwei­gen fort (sie rück­te da­bei dem Fürs­ten nä­her und lä­chel­te ihm freund­lich zu, als woll­te sie da­mit an­deu­ten, dass die Un­ter­hal­tung über Po­li­tik und An­ge­le­gen­hei­ten der Ge­sell­schaft nun be­en­digt sei und jetzt ein ver­trau­li­che­res Ge­spräch be­gin­ne), »ich den­ke oft, wie un­ge­recht manch­mal das Glück im Le­ben ver­teilt ist. Wa­rum hat Ih­nen nur das Schick­sal zwei so präch­ti­ge Kin­der ge­ge­ben (Ana­tol, Ihren jün­ge­ren Sohn, schlie­ße ich da­bei aus; ich mag ihn nicht«, schal­te­te sie in ei­nem Ton ein, als dul­de sie kei­nen Wi­der­spruch, und zog da­bei die Au­gen­brau­en in die Höhe), »so ent­zücken­de Kin­der? Wahr­haf­tig, Sie wis­sen de­ren Wert we­ni­ger zu schät­zen als alle an­de­ren Leu­te, und da­her ver­die­nen Sie nicht, sol­che Kin­der zu ha­ben.«

Ihr Ge­sicht war wie­der von dem ihr ei­ge­nen en­thu­sias­ti­schen Lä­cheln ver­klärt.

»Was ist da zu ma­chen? La­va­ter wür­de sa­gen, dass mir der Kopf­hö­cker der el­ter­li­chen Lie­be fehlt«, er­wi­der­te der Fürst.

»Scher­zen Sie nicht dar­über. Ich woll­te ernst­haft mit Ih­nen re­den. Wis­sen Sie, ich bin mit Ihrem jün­ge­ren Sohn nicht zu­frie­den. Un­ter uns ge­sagt« (hier nahm ihr Ge­sicht wie­der einen trü­ben Aus­druck an), »es wur­de bei Ih­rer Ma­je­stät von ihm ge­spro­chen, und Sie wur­den be­dau­ert.«

Der Fürst ant­wor­te­te nicht; sie aber blick­te ihn schwei­gend und be­deut­sam an und war­te­te auf eine Ant­wort. Der Fürst run­zel­te die Stirn.

»Was soll ich denn da­bei ma­chen?« sag­te er end­lich. »Sie wis­sen, ich habe für die Er­zie­hung mei­ner Söh­ne al­les ge­tan, was ein Va­ter nur tun kann, und doch ha­ben Sie sich bei­de übel ent­wi­ckelt. Ip­po­lit ist we­nigs­tens nur ein ru­hi­ger Narr, aber Ana­tol ein un­ru­hi­ger. Das ist der ein­zi­ge Un­ter­schied«, sag­te er und lä­chel­te da­bei ge­küns­tel­ter und leb­haf­ter als ge­wöhn­lich, wo­bei mit be­son­de­rer Schär­fe in den um sei­nen Mund lie­gen­den Fal­ten ein über­ra­schend ro­her, un­an­ge­neh­mer Zug her­vor­trat.

»Wa­rum wer­den sol­chen Män­nern, wie Sie, Kin­der ge­bo­ren? Wenn Sie nicht Va­ter wä­ren, hät­te ich gar nichts an Ih­nen zu ta­deln«, sag­te Anna Paw­low­na, nach­denk­lich auf­bli­ckend.

»Ich bin Ihr treu­er Skla­ve, und Ih­nen al­lein kann ich es ge­ste­hen: mei­ne Kin­der sind die Fes­seln mei­nes Da­seins. Das ist eben mein Kreuz. So fas­se ich es auf. Was soll ich da tun?« Er schwieg und drück­te durch eine Ge­bär­de sei­ne Er­ge­bung in die­ses grau­sa­me Schick­sal aus. Anna Paw­low­na über­leg­te.

»Ha­ben Sie nie dar­an ge­dacht, Ihrem Ana­tol, die­sem ver­lo­re­nen Sohn, eine Frau zu ge­ben?« sag­te sie dann. »Es heißt im­mer, alte Jung­fern hät­ten eine Ma­nie für das Ehe­stif­ten. Ich ver­spü­re die­se Schwä­che noch nicht an mir; aber ich habe da ein jun­ges Mäd­chen, das sich bei ih­rem Va­ter sehr un­glück­lich fühlt, eine Ver­wand­te von uns, eine Toch­ter des Fürs­ten Bol­kon­ski.«

Fürst Wa­si­li ant­wor­te­te nicht, gab je­doch mit je­ner schnel­len Auf­fas­sungs­ga­be, wie sie Leu­ten von Welt ei­gen ist, durch eine Kopf­be­we­gung zu ver­ste­hen, dass er die­se Mit­tei­lun­gen zum Ge­gen­stand sei­nes Nach­den­kens ma­che.

»Wis­sen Sie wohl, dass mich die­ser Ana­tol jähr­lich vier­zig­tau­send Ru­bel kos­tet?« sag­te er dann, an­schei­nend nicht im­stan­de, von sei­nem trü­ben Ge­dan­ken­gang los­zu­kom­men. Dann schwieg er wie­der eine Wei­le.

»Was soll dar­aus wer­den, wenn es noch fünf Jah­re so wei­ter­geht? Das ist der Se­gen da­von, wenn man Va­ter ist. Ist sie reich, Ihre jun­ge Prin­zes­sin?«

»Der Va­ter ist sehr reich und gei­zig. Er lebt auf dem Land. Wis­sen Sie, es ist der be­kann­te Fürst Bol­kon­ski, der noch un­ter dem hoch­se­li­gen Kai­ser den Ab­schied er­hielt; er hat­te den Spitz­na­men ›der Kö­nig von Preu­ßen‹. Er ist ein sehr klu­ger Mensch, hat aber sei­ne Son­der­bar­kei­ten und ist schwer zu be­han­deln. Das arme Kind ist kreuz­un­glück­lich. Sie hat noch einen Bru­der, der bei Ku­tu­sow Ad­ju­tant ist; er hat vor ei­ni­ger Zeit Lisa Mey­nen ge­hei­ra­tet. Er wird heu­te bei mir sein.«

»Hö­ren Sie, lie­be An­net­te«, sag­te der Fürst, in­dem er plötz­lich die Hand der Hof­da­me er­griff und in et­was wun­der­li­cher Wei­se nach un­ten zog. »Ar­ran­gie­ren Sie mir die­se Sa­che, und ich wer­de für alle Zeit Ihr treues­ter Skla­ve sein (›S­kla­fe‹, wie mein Dorf­schul­ze im­mer in sei­nen Be­rich­ten an mich schreibt, mit ei­nem f). Sie ist von gu­ter Fa­mi­lie und reich. Das ist al­les, was ich brau­che.«

Und mit je­nen un­ge­zwun­ge­nen, fa­mi­li­ären, gra­zi­ösen Be­we­gun­gen, die ihn aus­zeich­ne­ten, er­griff er die Hand des Fräu­leins, küss­te sie und schwenk­te dann die­se Hand hin und her, wäh­rend er sich in den Ses­sel zu­rück­sin­ken ließ und zur Sei­te blick­te.

»War­ten Sie ein­mal«, sag­te Anna Paw­low­na über­le­gend. »Ja, ich will gleich heu­te mit Lisa, der Frau des jun­gen Bol­kon­ski, re­den. Vi­el­leicht lässt sich die Sa­che ar­ran­gie­ren. Ich wer­de bei Ih­rer Fa­mi­lie an­fan­gen, das üb­li­che Ge­wer­be der al­ten Jung­fern zu er­ler­nen.«

II

Anna Paw­low­nas Sa­lon be­gann sich all­mäh­lich zu fül­len. Die höchs­te No­bles­se Pe­ters­burgs fand sich ein, Men­schen, die an Le­bensal­ter und Cha­rak­ter höchst ver­schie­den wa­ren, aber doch et­was Gleich­ar­ti­ges hat­ten durch die ge­sell­schaft­li­che Sphä­re, in der sie alle leb­ten. Da kam die Toch­ter des Fürs­ten Wa­si­li, die schö­ne He­le­ne, die ih­ren Va­ter ab­ho­len woll­te, um mit ihm zu­sam­men zu der Fete des Ge­sand­ten zu fah­ren; sie war in Ball­toi­let­te und trug als Abi­tu­ri­en­tin des Fräu­lein­stif­tes eine Bro­sche mit dem Na­mens­zug der Kai­se­rin. Dann kam die als »die rei­zends­te Frau Pe­ters­burgs« be­kann­te, jun­ge, klei­ne Fürs­tin Bol­kons­ka­ja, die sich im letz­ten Win­ter ver­hei­ra­tet hat­te und, weil sie sich in an­de­ren Um­stän­den be­fand, grö­ße­re Fest­lich­kei­ten nicht mehr be­such­te, wäh­rend sie an klei­nen Abend­ge­sell­schaf­ten noch teil­nahm. Es er­schi­en Fürst Ip­po­lit, der Sohn des Fürs­ten Wa­si­li, zu­sam­men mit dem Vi­com­te Mor­te­mart, den er vor­stell­te; auch der Abbé Mo­rio fand sich ein, und vie­le an­de­re.

»Ha­ben Sie mei­ne lie­be Tan­te noch nicht ge­se­hen, oder sind Sie viel­leicht noch gar nicht mit ihr be­kannt?« frag­te Anna Paw­low­na die ein­tref­fen­den Gäs­te und führ­te sie sehr fei­er­lich zu ei­ner klei­nen al­ten Dame mit ei­nem Kopf­putz von hoch­ra­gen­den Band­schlei­fen, wel­che, so­bald die Gäs­te be­gon­nen hat­ten sich ein­zu­fin­den, aus dem an­sto­ßen­den Zim­mer zum Vor­schein ge­kom­men war. Anna Paw­low­na nann­te die Na­men der ein­zel­nen Gäs­te, in­dem sie lang­sam ihre Au­gen von dem be­tref­fen­den Gast zu der Tan­te hin­über­wan­dern ließ, und trat dar­auf ein we­nig zu­rück. Alle Gäs­te mach­ten die Be­grü­ßungs­ze­re­mo­nie mit die­ser lie­ben Tan­te durch, die nie­man­dem be­kannt war, nie­man­den in­ter­es­sier­te und mit nie­man­dem ir­gend­wel­che Be­zie­hun­gen hat­te. Anna Paw­low­na be­auf­sich­tig­te mit weh­mü­tig fei­er­li­cher Teil­nah­me die­se Be­grü­ßun­gen, wo­bei sie ein bei­fäl­li­ges Still­schwei­gen be­ob­ach­te­te. Die Tan­te sprach mit je­dem Gast in den­sel­ben Aus­drücken von sei­nem Be­fin­den, von ih­rem ei­ge­nen Be­fin­den und von dem Be­fin­den Ih­rer Ma­je­stät, wel­ches heu­te, Gott sei Dank, bes­ser sei. Alle Gäs­te, die die Tan­te be­grüßt hat­ten, tra­ten dann mit ei­nem Ge­fühl der Er­leich­te­rung, wie nach Er­fül­lung ei­ner schwe­ren Pf­licht, höf­lich­keits­hal­ber je­doch, ohne ir­gend­wel­che Eile mer­ken zu las­sen, von der al­ten Dame wie­der fort, um nun­mehr den gan­zen Abend über auch nicht ein ein­zi­ges Mal mehr zu ihr her­an­zu­kom­men.

Die jun­ge Fürs­tin Bol­kons­ka­ja hat­te sich in ei­nem sam­te­nen, gold­ge­stick­ten Beu­tel­chen eine Hand­ar­beit mit­ge­bracht. Ihre hüb­sche Ober­lip­pe mit dem lei­sen Schat­ten ei­nes schwärz­li­chen Schnurr­bärt­chens war et­was zu kurz für die Zäh­ne; aber umso rei­zen­der sah es aus, wenn sie sich öff­ne­te, und noch mehr, wenn sie sich manch­mal aus­streck­te und zur Un­ter­lip­pe hin­ab­senk­te. Wie das im­mer bei her­vor­ra­gend rei­zen­den Frau­en der Fall ist, er­schi­en ihr Man­gel, die Kür­ze der Lip­pe und der halb­ge­öff­ne­te Mund, als eine be­son­de­re, nur ihr ei­ge­ne Schön­heit. Es war für alle ein herz­li­ches Ver­gnü­gen, die­se hüb­sche, von Ge­sund­heit und Le­bens­lust er­füll­te Frau an­zu­se­hen, die bald Mut­ter wer­den soll­te und ih­ren Zu­stand so leicht er­trug. Die al­ten Her­ren und die bla­sier­ten, fins­ter­bli­cken­den jun­gen Leu­te hat­ten die Emp­fin­dung, als wür­den sie selbst ihr ähn­lich, wenn sie ein Weil­chen in ih­rer Nähe ge­weilt und sich mit ihr un­ter­hal­ten hat­ten. Wer mit ihr sprach und bei je­dem Wort, das er sag­te, ihr strah­len­des Lä­cheln und die glän­zend wei­ßen Zäh­ne sah, die fort­wäh­rend sicht­bar wur­den, der konn­te glau­ben, dass er heu­te ganz be­son­ders lie­bens­wür­dig sei. Und das glaub­te auch ein je­der.

Die klei­ne Fürs­tin ging in schau­keln­dem Gang, mit klei­nen, schnel­len Schrit­ten, den Ar­beits­beu­tel in der Hand, um den Tisch her­um, setz­te sich auf das Sofa, nicht weit von dem sil­ber­nen Sa­mo­war, und leg­te ver­gnügt ihr Kleid in Ord­nung, als ob al­les, was sie nur tun moch­te, eine Er­hei­te­rung für sie selbst und für ihre ge­sam­te Um­ge­bung sei.

»Ich habe mir eine Hand­ar­beit mit­ge­bracht«, sag­te sie, sich an alle zu­gleich wen­dend, wäh­rend sie ih­ren Ri­di­kül aus­ein­an­der­zog.

»Aber hö­ren Sie mal, An­net­te«, wand­te sie sich an die Wir­tin, »sol­che häss­li­chen Strei­che dür­fen Sie mir nicht spie­len. Sie ha­ben mir ge­schrie­ben, es wäre bei Ih­nen nur eine ganz klei­ne Abend­ge­sell­schaft. Und nun se­hen Sie, in was für ei­nem Auf­zug ich her­ge­kom­men bin.«

Sie brei­te­te die Arme aus­ein­an­der, um ihr ele­gan­tes grau­es, mit Spit­zen be­setz­tes Kleid zu zei­gen, um wel­ches sich ein we­nig un­ter­halb der Brust an Stel­le ei­nes Gür­tels ein brei­tes Band schlang.

»Sei­en Sie un­be­sorgt, Lisa, Sie sind doch im­mer die Net­tes­te von al­len«, ant­wor­te­te Anna Paw­low­na.

»Sie wis­sen, dass mein Mann mich ver­las­sen wird«, fuhr sie, zu ei­nem Ge­ne­ral ge­wen­det, in dem­sel­ben Ton fort. »Er will sich tot­schie­ßen las­sen. Sa­gen Sie mir, wozu nur die­ser ab­scheu­li­che Krieg?« sag­te sie zu dem Fürs­ten Wa­si­li und wand­te sich dann, ohne des­sen Ant­wort ab­zu­war­ten, zu sei­ner Toch­ter, der schö­nen He­le­ne.

»Was ist die­se klei­ne Fürs­tin für ein al­ler­liebs­tes We­sen!« sag­te Fürst Wa­si­li lei­se zu Anna Paw­low­na.

Bald nach der klei­nen Fürs­tin trat ein plump­ge­bau­ter, di­cker jun­ger Mann ein, mit kurz­ge­scho­re­nem Kopf, ei­ner Bril­le, hel­len Bein­klei­dern nach der da­ma­li­gen Mode, ho­hem Ja­bot und brau­nem Frack. Er war ein un­ehe­li­cher Sohn des Gra­fen Be­suchow, der einst un­ter der Kai­se­rin Ka­tha­ri­na ei­ner der höchs­ten Wür­den­trä­ger ge­we­sen war und jetzt in Mos­kau im Ster­ben lag. Die­ser di­cke jun­ge Mann war noch nie im Staats­dienst tä­tig ge­we­sen, war so­eben erst aus dem Aus­land, wo er er­zo­gen wor­den war, zu­rück­ge­kehrt und be­fand sich heu­te zum ers­ten Mal in Ge­sell­schaft. Anna Paw­low­na be­grüß­te ihn mit der­je­ni­gen Art von Ver­beu­gung, mit wel­cher die auf der hier­ar­chi­schen Stu­fen­lei­ter am nied­rigs­ten ste­hen­den Be­su­cher ih­res Sa­lons sich zu be­gnü­gen hat­ten. Aber trotz die­ses nied­rigs­ten Gra­des von Be­grü­ßung präg­te sich beim An­blick des ein­tre­ten­den Pier­re auf Anna Paw­low­nas Ge­sicht eine Un­ru­he und Furcht aus, wie man sie etwa beim An­blick ei­nes über­großen Ge­gen­stan­des emp­fin­det, der nicht an sei­nem rich­ti­gen Platz ist. Ob­wohl aber Pier­re tat­säch­lich et­was grö­ßer war als die an­de­ren im Zim­mer be­find­li­chen Män­ner, so konn­te doch die­se Furcht nur durch den klu­gen und zu­gleich schüch­ter­nen, be­ob­ach­ten­den und un­ge­küns­tel­ten Blick sei­ner Au­gen ver­an­lasst sein, durch den er sich von al­len an­de­ren in die­sem Sa­lon An­we­sen­den un­ter­schied.

»Sehr lie­bens­wür­dig von Ih­nen, Mon­sieur Pier­re, dass Sie eine arme Pa­ti­en­tin be­su­chen«, sag­te Anna Paw­low­na zu ihm, in­dem sie mit der Tan­te, zu der sie ihn hin­führ­te, einen ängst­li­chen Blick wech­sel­te. Pier­re mur­mel­te et­was Un­ver­ständ­li­ches und fuhr fort, et­was mit den Au­gen zu su­chen. Mit fro­hem, ver­gnüg­tem Lä­cheln ver­beug­te er sich vor der klei­nen Fürs­tin wie vor ei­ner gu­ten Be­kann­ten und trat dann zu der Tan­te hin. Anna Paw­low­nas Furcht er­wies sich als nicht un­be­grün­det, da Pier­re, ohne die Äu­ße­run­gen der Tan­te über das Be­fin­den Ih­rer Ma­je­stät zu Ende zu hö­ren, von ihr wie­der zu­rück­trat. Er­schro­cken hielt ihn Anna Paw­low­na mit den Wor­ten auf: »Sie ken­nen den Abbé Mo­rio wohl noch nicht? Er ist ein sehr in­ter­essan­ter Mann …«

»Ja, ich habe von sei­nem Plan ge­hört, einen ewi­gen Frie­den her­zu­stel­len, und das ist ja auch sehr in­ter­essant, aber al­ler­dings schwer­lich aus­führ­bar.«

»Mei­nen Sie?« er­wi­der­te Anna Paw­low­na, um nur über­haupt et­was zu sa­gen und sich dann wie­der ih­ren Auf­ga­ben als Wir­tin zu­zu­wen­den; aber Pier­re be­ging nun die an­de­re Un­höf­lich­keit. Vor­her war er von ei­ner Dame weg­ge­gan­gen, ohne das, was sie zu ihm sag­te, bis zu Ende an­zu­hö­ren, und jetzt hielt er eine Dame, die von ihm fort­ge­hen woll­te, durch sein Ge­spräch zu­rück. Den Kopf her­ab­bie­gend, die di­cken Bei­ne breit aus­ein­an­der­stel­lend, be­gann er der Hof­da­me zu be­wei­sen, warum er den Plan des Abbé für eine Schi­mä­re hal­te.

»Wir wol­len das nach­her wei­ter be­spre­chen«, sag­te Anna Paw­low­na lä­chelnd.

Da­mit ver­ließ sie den jun­gen Mann, der so gar kei­ne Le­bens­art hat­te, und nahm ihre Tä­tig­keit als Wir­tin wie­der auf. Sie hör­te auf­merk­sam zu und ließ ihre Au­gen über­all um­her­schwei­fen, be­reit, an demje­ni­gen Punkt Hil­fe zu brin­gen, wo etwa das Ge­spräch er­mat­te­te. Wie der Herr ei­ner Spin­ne­rei, nach­dem er den Ar­bei­tern ihre Plä­ne an­ge­wie­sen hat, in sei­ner gan­zen Fa­brik um­her­geht, und, so­bald er merkt, dass eine Spin­del still­steht oder einen un­ge­wöhn­li­chen, krei­schen­den, über­lau­ten Ton von sich gibt, ei­lig hin­zu­tritt und sie an­hält oder in rich­ti­gen Gang bringt: so wan­der­te auch Anna Paw­low­na in ih­rem Sa­lon hin und her, trat hin­zu, wo eine Grup­pe schwieg oder zu laut re­de­te, und stell­te durch ein Wort, das sie hin­zu­gab, oder durch eine Ver­än­de­rung der Plät­ze wie­der einen gleich­mä­ßi­gen, an­stän­di­gen Gang der Ge­sprä­che her. Aber mit­ten in die­ser ge­schäf­ti­gen Tä­tig­keit konn­te man ihr im­mer eine be­son­de­re Be­fürch­tung in be­treff Pier­res an­mer­ken. Be­sorgt be­ob­ach­te­te sie ihn, als er her­an­trat, um zu hö­ren, was in der um Mor­te­mart her­um­ste­hen­den Grup­pe ge­re­det wur­de, und dann zu ei­ner an­de­ren Grup­pe hin­ging, wo der Abbé das Wort führ­te. Für Pier­re, der im Aus­land er­zo­gen wor­den war, war die­se Soi­ree bei Anna Paw­low­na die ers­te, die er in Russ­land mit­mach­te. Er wuss­te, dass hier die Ver­tre­ter der In­tel­li­genz von ganz Pe­ters­burg ver­sam­melt wa­ren, und sei­ne Au­gen lie­fen, wie die Au­gen ei­nes Kin­des im Spiel­zeu­gla­den, bald hier­hin, bald dort­hin. Im­mer fürch­te­te er, es möch­te ihm ir­gend­ein klu­ges Ge­spräch ent­ge­hen, das er mit­an­hö­ren kön­ne. Wenn er die selbst­be­wuss­ten, vor­neh­men Ge­sich­ter der hier Ver­sam­mel­ten be­trach­te­te, er­war­te­te er im­mer et­was be­son­ders Klu­ges zu hö­ren. End­lich trat er zu Mo­rio. Das Ge­spräch in­ter­es­sier­te ihn, er blieb ste­hen und war­te­te auf eine Ge­le­gen­heit, sei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken aus­zu­spre­chen, wie das jun­ge Leu­te so gern tun.

III

Die Un­ter­hal­tung auf Anna Paw­low­nas Soi­ree war in vol­lem Gang. Die Spin­deln schnurr­ten auf al­len Sei­ten gleich­mä­ßig und un­aus­ge­setzt. Ab­ge­se­hen von der Tan­te, ne­ben wel­cher nur eine be­jahr­te Dame mit ver­gräm­tem, ma­ge­rem Ge­sicht saß, die sich in die­ser glän­zen­den Ge­sell­schaft et­was son­der­bar aus­nahm, hat­te sich die gan­ze Ge­sell­schaft in drei Grup­pen ge­teilt. In der einen, wel­che vor­wie­gend aus Her­ren be­stand, bil­de­te der Abbé den Mit­tel­punkt; in der zwei­ten, wo na­ment­lich die Ju­gend ver­tre­ten war, do­mi­nier­ten die schö­ne Prin­zes­sin He­le­ne, die Toch­ter des Fürs­ten Wa­si­li, und die hüb­sche, rot­wan­gi­ge, aber für ihr ju­gend­li­ches Al­ter et­was zu vol­le, klei­ne Fürs­tin Bol­kons­ka­ja. In der drit­ten Grup­pe wa­ren Mor­te­mart und Anna Paw­low­na das be­le­ben­de Ele­ment.

Der Vi­com­te war ein nett aus­se­hen­der jun­ger Mann mit wei­chen Ge­sichts­zü­gen und an­ge­neh­men Um­gangs­for­men, der sich of­fen­bar für et­was Be­deu­ten­des hielt, aber in­fol­ge sei­ner Wohl­er­zo­gen­heit der Ge­sell­schaft, in der er sich be­fand, be­schei­den an­heim­stell­te, sei­ne Per­sön­lich­keit zu ge­nie­ßen, so­weit es ihr be­lie­be. Anna Paw­low­na be­trach­te­te ihn au­gen­schein­lich als eine Art von Ex­tra­ge­richt, das sie ih­ren Gäs­ten an­bot. Wie ein ge­schick­ter Maître d’hôtel das­sel­be Stück Rind­fleisch, das nie­mand es­sen möch­te, der es in der schmut­zi­gen Kü­che sähe, als et­was ganz au­ßer­ge­wöhn­lich Schö­nes prä­sen­tiert, so ser­vier­te bei der heu­ti­gen Abend­ge­sell­schaft Anna Paw­low­na ih­ren Gäs­ten zu­erst den Vi­com­te und dann den Abbé als et­was ganz be­son­ders Fei­nes. In der Grup­pe um Mor­te­mart dreh­te sich das Ge­spräch so­gleich um die Er­mor­dung des Her­zogs von Eng­hi­en. Der Vi­com­te be­merk­te, der Her­zog von Eng­hi­en habe sei­nen Tod sei­ner ei­ge­nen Groß­mut zu ver­dan­ken und der In­grimm Bo­na­par­tes ge­gen ihn habe sei­ne be­son­de­ren Grün­de ge­habt.

»Ach, bit­te, er­zäh­len Sie uns die­ses, Vi­com­te!« sag­te Anna Paw­low­na er­freut; sie hat­te da­bei das Ge­fühl, dass der Aus­druck: »Er­zäh­len Sie uns die­ses, Vi­com­te!« wie eine Re­mi­nis­zenz an Lud­wig XV. klang.

Der Vi­com­te ver­beug­te sich zum Zei­chen des Ge­hor­sams und lä­chel­te höf­lich. Anna Paw­low­na wirk­te dar­auf hin, dass sich ein Kreis um den Vi­com­te bil­de­te, und for­der­te alle auf, sei­ne Er­zäh­lung an­zu­hö­ren.

»Der Vi­com­te ist mit dem Her­zog per­sön­lich be­kannt ge­we­sen«, flüs­ter­te Anna Paw­low­na dem einen zu. »Der Vi­com­te be­sitzt ein be­wun­derns­wür­di­ges Ta­lent zum Er­zäh­len«, sag­te sie zu ei­nem an­de­ren. »Wie man doch so­fort einen Mann aus der gu­ten Ge­sell­schaft er­kennt!« äu­ßer­te sie zu ei­nem Drit­ten, und so wur­de der Vi­com­te in der bes­ten und für ihn vor­teil­haf­tes­ten Be­leuch­tung der Ge­sell­schaft prä­sen­tiert wie ein mit al­ler­lei Ge­mü­se gar­nier­tes Roast­beef auf ei­ner hei­ßen Schüs­sel.

Der Vi­com­te woll­te nun sei­ne Er­zäh­lung be­gin­nen und lä­chel­te fein.

»Kom­men Sie doch hier­her zu uns, lie­be He­le­ne«, sag­te Anna Paw­low­na zu der schö­nen Prin­zes­sin, wel­che et­was ent­fernt saß und den Mit­tel­punkt ei­ner an­de­ren Grup­pe bil­de­te.

Die Prin­zes­sin He­le­ne lä­chel­te; sie er­hob sich mit eben­dem­sel­ben un­ver­än­der­li­chen Lä­cheln des voll­kom­men schö­nen Wei­bes, mit wel­chem sie in den Sa­lon ein­ge­tre­ten war. Mit ih­rem wei­ßen Ball­kleid, das mit Efeu und Moos gar­niert war, lei­se ra­schelnd und von dem wei­ßen Schim­mer ih­rer Schul­tern und dem Glanz ih­res Haa­res und ih­rer Bril­lan­ten um­leuch­tet, ging sie zwi­schen den aus­ein­an­der­tre­ten­den Her­ren hin­durch. Sie blick­te da­bei kei­nen ein­zel­nen an, lä­chel­te aber al­len zu und schi­en in lie­bens­wür­di­ger Wei­se ei­nem je­den das Recht zu­zu­er­ken­nen, die Schön­heit ih­rer Ge­stalt, der vol­len Schul­tern, des nach da­ma­li­ger Mode sehr tief ent­blö­ßten Bu­sens und Rückens zu be­wun­dern; es war, als ob sie in ih­rer Per­son den vol­len Glanz ei­nes Bal­les in die­sen Sa­lon hin­ein­ge­tra­gen hät­te. So schritt sie ge­ra­de­wegs zu Anna Paw­low­na hin. He­le­ne war so schön, dass an ihr auch nicht die lei­ses­te Spur von Ko­ket­te­rie wahr­zu­neh­men war; ja im Ge­gen­teil, sie schi­en sich viel­mehr ge­wis­ser­ma­ßen ih­rer un­be­streit­ba­ren und all­zu stark und sieg­reich wir­ken­den Schön­heit zu schä­men. Es war, als ob sie den Ein­druck ih­rer Schön­heit ab­zu­schwä­chen wünsch­te, es aber nicht ver­möch­te.

»Welch ein schö­nes Weib!« sag­te je­der, der sie sah. Gleich­sam über­rascht von et­was Un­ge­wöhn­li­chem, zuck­te der Vi­com­te zu­sam­men und schlug die Au­gen nie­der, als sie sich ihm ge­gen­über nie­der­ließ und auch ihn mit eben­dem­sel­ben un­ver­än­der­li­chen Lä­cheln an­strahl­te.

»Ich fürch­te wirk­lich, dass ei­ner sol­chen Zu­hö­rer­schaft ge­gen­über mich mei­ne Fä­hig­keit im Stich lässt«, sag­te er und neig­te lä­chelnd den Kopf.

Die Prin­zes­sin leg­te ih­ren ent­blö­ßten vol­len Arm auf ein Tisch­chen und fand es nicht nö­tig, et­was zu er­wi­dern. Sie war­te­te lä­chelnd. Wäh­rend der gan­zen Er­zäh­lung saß sie auf­recht da und blick­te ab und zu bald auf ih­ren vol­len, run­den Arm, der von dem Druck auf den Tisch sei­ne Form ver­än­der­te, bald auf den noch schö­ne­ren Bu­sen, an dem sie den Bril­lant­schmuck zu­recht­schob; ei­ni­ge Male ord­ne­te sie die Fal­ten ih­res Klei­des, und so­oft die Er­zäh­lung ein­drucks­voll wur­de, schau­te sie zu Anna Paw­low­na hin­über und nahm so­fort den­sel­ben Aus­druck an, den das Ge­sicht des Hoffräu­leins auf­wies, um gleich dar­auf wie­der zu ih­rem ru­hi­gen, strah­len­den Lä­cheln über­zu­ge­hen. Nach He­le­ne kam auch die klei­ne Fürs­tin vom Tee­tisch her­über.

»War­ten Sie noch einen Au­gen­blick, ich möch­te mei­ne Hand­ar­beit vor­neh­men«, sag­te sie. »Nun? Wo ha­ben Sie denn Ihre Ge­dan­ken?« wand­te sie sich an den Fürs­ten Ip­po­lit. »Brin­gen Sie mir mei­nen Ri­di­kül.«

So führ­te die Fürs­tin, lä­chelnd und zu al­len re­dend, auf ein­mal einen Auf­ent­halt her­bei und ord­ne­te, als sie nun zum Sit­zen ge­kom­men war, ver­gnügt ih­ren An­zug.

»Jetzt habe ich al­les nach Wunsch«, sag­te sie, bat, mit der Er­zäh­lung zu be­gin­nen, und griff nach ih­rer Ar­beit. Fürst Ip­po­lit hat­te ihr ih­ren Ri­di­kül ge­holt, war hin­ter sie ge­tre­ten, hat­te sich einen Ses­sel dicht ne­ben sie ge­rückt und sich zu ihr ge­setzt.

Der »char­man­te« Ip­po­lit über­rasch­te einen je­den durch die auf­fäl­li­ge Ähn­lich­keit mit sei­ner schö­nen Schwes­ter und noch mehr da­durch, dass er trotz die­ser Ähn­lich­keit in ho­hem Grad häss­lich war. Die Ge­sichts­zü­ge wa­ren bei ihm die glei­chen wie bei sei­ner Schwes­ter; aber bei die­ser glänz­te das gan­ze Ge­sicht von ei­nem le­bens­fro­hen, glück­li­chen, ju­gend­li­chen, un­ver­än­der­li­chen Lä­cheln, und die au­ßer­or­dent­li­che, wahr­haft an­ti­ke Schön­heit des Kör­pers stei­ger­te die­se Wir­kung noch; bei dem Bru­der da­ge­gen war das­sel­be Ge­sicht von ei­nem trü­ben Stumpf­sinn wie von ei­nem Ne­bel um­schlei­ert und zeig­te un­ver­än­der­lich einen Aus­druck selbst­ge­fäl­li­ger Ver­dros­sen­heit, dazu kam ein dürf­ti­ger, schwäch­li­cher Kör­per. Au­gen, Nase und Mund, al­les war gleich­sam zu ei­ner ein­zi­gen ver­schwom­me­nen, mür­ri­schen Gri­mas­se zu­sam­men­ge­drückt, und sei­ne Hän­de und Füße nah­men stets eine ab­son­der­li­che Hal­tung ein.

»Es wird doch kei­ne Ge­s­pens­ter­ge­schich­te sein?« sag­te er, wäh­rend er sich ne­ben die Fürs­tin setz­te und ei­lig sei­ne Lor­gnet­te vor die Au­gen hielt, als ob er ohne die­ses In­stru­ment nicht re­den könn­te.

»Ganz und gar nicht«, er­wi­der­te er­staunt der Er­zäh­ler mit ei­nem Ach­sel­zu­cken.

»Ich fra­ge näm­lich des­we­gen, weil ich Ge­s­pens­ter­ge­schich­ten nicht lei­den mag«, sag­te Fürst Ip­po­lit in ei­nem Ton, aus dem man mer­ken konn­te, dass er erst nach­träg­lich, nach­dem er jene Wor­te ge­spro­chen hat­te, sich über ih­ren Sinn klar­ge­wor­den war.

Aber in­fol­ge der Selbst­ge­fäl­lig­keit, mit wel­cher er sprach, kam es nie­man­dem recht zum Be­wusst­sein, ob das, was er ge­sagt hat­te, et­was sehr Klu­ges oder et­was sehr Dum­mes war. Er trug einen dun­kel­grü­nen Frack, Bein­klei­der, de­ren Far­be er selbst als »Len­de ei­ner er­schreck­ten Nym­phe« be­zeich­ne­te, so­wie St­rümp­fe und Schnal­len­schu­he.

Der Vi­com­te er­zähl­te in al­ler­liebs­ter Wei­se eine da­mals kur­sie­ren­de An­ek­do­te: Der Her­zog von Eng­hi­en sei heim­lich nach Pa­ris ge­reist, um dort ein Ren­dez­vous mit der Schau­spie­le­rin Ge­or­ges zu ha­ben, und sei dort mit Bo­na­par­te zu­sam­men­ge­trof­fen, der sich gleich­falls der Gunst der be­rühm­ten Schau­spie­le­rin er­freut habe. Bei die­ser Be­geg­nung mit dem Her­zog habe Na­po­le­on einen Ohn­machts­an­fall ge­habt, ein bei ihm nicht sel­ten auf­tre­ten­des Lei­den, und sich auf die­se Art in der Ge­walt des Her­zogs be­fun­den. Der Her­zog habe die­sen güns­ti­gen Um­stand nicht be­nutzt; Bo­na­par­te aber habe sich spä­ter für die­se Groß­mut durch die Er­mor­dung des Her­zogs ge­rächt.

Die Er­zäh­lung war sehr hübsch und in­ter­essant; be­son­ders bei der Stel­le, wo die bei­den Ri­va­len ein­an­der plötz­lich er­kann­ten, schie­nen auch die Da­men in Auf­re­gung zu sein.

»Rei­zend!« sag­te Anna Paw­low­na und blick­te da­bei die klei­ne Fürs­tin fra­gend an.

»Rei­zend!« flüs­ter­te die klei­ne Fürs­tin und steck­te ihre Na­del in ihre Hand­ar­beit hin­ein, wie um da­mit an­zu­deu­ten, dass ihr leb­haf­tes In­ter­es­se für die rei­zen­de Er­zäh­lung sie dar­an hin­de­re wei­ter­zu­ar­bei­ten.

Der Vi­com­te wuss­te die­ses still­schwei­gen­de Lob zu schät­zen, lä­chel­te dank­bar und sprach dann wei­ter. Aber in die­sem Au­gen­blick be­merk­te Anna Paw­low­na, die die gan­ze Zeit über ab und zu einen Blick nach dem ihr so un­an­ge­neh­men jun­gen Men­schen hin­ge­wor­fen hat­te, dass er zu laut und hit­zig mit dem Abbé sprach, und eil­te, um Hil­fe zu brin­gen, nach dem ge­fähr­de­ten Punkt. Pier­re hat­te es wirk­lich zu­stan­de ge­bracht, mit dem Abbé ein Ge­spräch über das po­li­ti­sche Gleich­ge­wicht an­zu­knüp­fen, und der Abbé, des­sen In­ter­es­se der jun­ge Mann durch sei­nen treu­her­zi­gen Ei­fer er­regt zu ha­ben schi­en, ent­wi­ckel­te ihm sei­ne Lieb­lings­idee. Bei­de be­nah­men sich beim Re­den und Hö­ren gar zu leb­haft und un­ge­zwun­gen, und eben dies hat­te nicht Anna Paw­low­nas Bei­fall.

»Das Mit­tel dazu ist das eu­ro­päi­sche Gleich­ge­wicht und das Völ­ker­recht«, sag­te der Abbé. »Es braucht nur ein mäch­ti­ges Reich, zum Bei­spiel das als bar­ba­risch ver­schrie­ne Russ­land, in un­ei­gen­nüt­zi­ger Wei­se an die Spit­ze ei­nes Staa­ten­bun­des zu tre­ten, der sich das Gleich­ge­wicht Eu­ro­pas zum Ziel ge­setzt hat, und die­ses Reich wird der Ret­ter der Welt sein.«

»Aber wie wol­len Sie denn ein sol­ches Gleich­ge­wicht zu­stan­de brin­gen?« be­gann Pier­re; je­doch in die­sem Au­gen­blick trat Anna Paw­low­na her­an, und mit ei­nem stren­gen Blick auf Pier­re frag­te sie den Ita­lie­ner, wie ihm das hie­si­ge Kli­ma be­kom­me. Das Ge­sicht des Ita­li­e­ners ver­än­der­te sich mit ei­nem Schlag und nahm den ge­ra­de­zu be­lei­di­gend heuch­le­ri­schen, süß­li­chen Aus­druck an, der ihm an­schei­nend im Ge­spräch mit Frau­en zur Ge­wohn­heit ge­wor­den war.

»Ich bin von dem glän­zen­den Ver­stand und der ho­hen Bil­dung der Ge­sell­schaft, in die ich das Glück ge­habt habe, auf­ge­nom­men zu wer­den, na­ment­lich auch der weib­li­chen Ge­sell­schaft, der­ma­ßen be­zau­bert, dass ich noch kei­ne Zeit ge­habt habe, an das Kli­ma zu den­ken«, er­wi­der­te er. Anna Paw­low­na ließ je­doch den Abbé und Pier­re nicht mehr los, son­dern nahm sie zwecks be­que­me­rer Beauf­sich­ti­gung mit in den all­ge­mei­nen Kreis.

IV

In die­sem Au­gen­blick trat eine neue Per­son in den Sa­lon. Die­se neue Per­son war der jun­ge Fürst An­drei Bol­kon­ski, der Gat­te der klei­nen Fürs­tin. Fürst Bol­kon­ski war ein sehr hüb­scher jun­ger Mann, von klei­ner Sta­tur, mit kan­ti­gem ma­ge­rem Ge­sicht. Al­les an sei­ner Fi­gur, von dem mü­den, ge­lang­weil­ten Blick bis zu dem ru­hi­gen, ge­mes­se­nen Gang, bil­de­te den ent­schie­dens­ten Ge­gen­satz zu sei­ner klei­nen, leb­haf­ten Frau. Er schi­en alle im Sa­lon An­we­sen­den nicht nur zu ken­nen, son­dern ih­rer auch so über­drüs­sig zu sein, dass es ihm höchst wi­der­wär­tig war, sie auch nur zu se­hen und re­den zu hö­ren. Un­ter al­len Ge­sich­tern aber, die ihn so lang­weil­ten, war ihm das Ge­sicht sei­ner hüb­schen Frau an­schei­nend am meis­ten zu­wi­der. Mit ei­ner Gri­mas­se, die sein hüb­sches Ge­sicht ent­stell­te, wand­te er sich von ihr ab. Er küss­te der Wir­tin die Hand und mus­ter­te mit halb zu­ge­knif­fe­nen Au­gen die gan­ze Ge­sell­schaft.

»Sie ma­chen sich fer­tig, um in den Krieg zu zie­hen, Fürst?« frag­te Anna Paw­low­na.

»Ge­ne­ral Ku­tu­sow hat mich zu sei­nem Ad­ju­tan­ten be­stimmt«, ant­wor­te­te Bol­kon­ski; er leg­te, als ob er Fran­zo­se wäre, den Ton auf die letz­te Sil­be »sow«.

»Und Lisa, Ihre Frau?«

»Sie geht aufs Land.«

»Aber ma­chen Sie sich denn gar kein Ge­wis­sen dar­aus, uns Ih­rer rei­zen­den Gat­tin zu be­rau­ben?«

»An­drei«, sag­te sei­ne Frau, in­dem sie zu ih­rem Mann in dem­sel­ben ko­ket­ten Ton sprach, des­sen sie sich auch Frem­den ge­gen­über be­dien­te, »was für eine rei­zen­de Ge­schich­te uns da eben der Vi­com­te von Ma­de­moi­sel­le Ge­or­ges und Bo­na­par­te er­zählt hat!«

Fürst An­drei drück­te die Au­gen zu und wand­te sich ab. Pier­re, der, seit Fürst An­drei in den Sa­lon ge­tre­ten war, ihn un­ver­wandt mit fro­hen, freund­li­chen Bli­cken an­ge­se­hen hat­te, trat zu ihm her­an und er­griff ihn an der Hand. Fürst An­drei ver­zog, ohne sich um­zu­se­hen, sein Ge­sicht zu ei­ner Gri­mas­se, wel­che sei­nen Är­ger dar­über zum Aus­druck brach­te, dass da je­mand sei­ne Hand be­rühr­te; aber so­bald er Pier­res lä­cheln­des Ge­sicht er­blick­te, brei­te­te sich über sein ei­ge­nes Ge­sicht ein gut­mü­ti­ges, freund­li­ches Lä­cheln, wie man es ihm gar nicht zu­ge­traut hät­te.

»Nun sieh mal an! Auch du in der vor­neh­men Welt?« sag­te er zu Pier­re.

»Ich wuss­te, dass Sie hier sein wür­den«, ant­wor­te­te Pier­re. »Ich wer­de zum Abendes­sen zu Ih­nen kom­men«, füg­te er lei­se hin­zu, um den Vi­com­te nicht zu stö­ren, der in sei­nen Er­zäh­lun­gen fort­fuhr. »Ist es ge­stat­tet?«

»Nein, es ist nicht ge­stat­tet«, ant­wor­te­te Fürst An drei la­chend und gab je­nem durch einen Hän­de­druck zu ver­ste­hen, dass er da­nach doch nicht erst zu fra­gen brau­che. Er woll­te noch et­was sa­gen; aber in die­sem Au­gen­blick er­hob sich Fürst Wa­si­li nebst sei­ner Toch­ter, und die Her­ren stan­den auf, um ih­nen Platz zu ma­chen.

»Ent­schul­di­gen Sie mich, mein lie­ber Vi­com­te«, sag­te Fürst Wa­si­li zu dem Fran­zo­sen, den er gleich­zei­tig freund­lich am Är­mel auf den Stuhl nie­der­zog, da­mit er nicht auf­stän­de. »Die­ses un­se­li­ge Fest bei dem Ge­sand­ten be­raubt mich ei­nes großen Ver­gnü­gens und schafft Ih­nen eine un­an­ge­neh­me Un­ter­bre­chung. – Es ist mir äu­ßerst schmerz­lich, Ihre ent­zücken­de Soi­ree ver­las­sen zu müs­sen«, sag­te er dann zu Anna Paw­low­na.

Sei­ne Toch­ter, Prin­zes­sin He­le­ne, ging, den Rock ih­res Klei­des ein we­nig zu­sam­men­raf­fend, zwi­schen den Stüh­len hin­durch, und das Lä­cheln er­strahl­te noch hel­ler auf ih­rem schö­nen Ge­sicht. Mit ganz ent­zück­ten Au­gen, ja bei­na­he er­schro­cken, sah Pier­re das schö­ne Mäd­chen an, als es an ihm vor­bei­ging.

»Sehr schön«, sag­te Fürst An­drei.

»Ja, sehr schön«, ant­wor­te­te Pier­re.

Als Fürst Wa­si­li an Pier­re vor­bei­kam, er­griff er des­sen Hand und wand­te sich an Anna Paw­low­na:

»Ma­chen Sie mir die­sen Bä­ren zu ei­nem ge­bil­de­ten Men­schen«, sag­te er. »Da wohnt er nun schon einen Mo­nat lang bei mir, und heu­te sehe ich ihn zum ers­ten Mal in Ge­sell­schaft. Nichts ist ei­nem jun­gen Mann so nö­tig als der Um­gang mit klu­gen Frau­en.«

Anna Paw­low­na lä­chel­te und ver­sprach, sich mit Pier­re alle Mühe ge­ben zu wol­len, der, wie sie wuss­te, vä­ter­li­cher­seits mit dem Fürs­ten Wa­si­li ver­wandt war. Die be­jahr­te Dame, wel­che bis­her bei der Tan­te ge­ses­sen hat­te, stand ei­lig auf und hol­te den Fürs­ten Wa­si­li im Vor­zim­mer ein. Der bis­her er­heu­chel­te Schein ei­nes In­ter­es­ses an den Vor­gän­gen im Sa­lon war voll­stän­dig von ih­rem Ge­sicht ver­schwun­den. Die­ses gute, ver­gräm­te Ge­sicht drück­te jetzt nur Un­ru­he und Angst aus.

»Nun, was kön­nen Sie mir we­gen mei­nes Bo­ris sa­gen, Fürst?« frag­te sie, so­bald sie ihn im Vor­zim­mer ein­ge­holt hat­te. (Sie sprach den Na­men Bo­ris mit ei­nem be­son­de­ren Ak­zent auf dem o.) »Ich kann nicht län­ger in Pe­ters­burg blei­ben. Sa­gen Sie mir, wel­chen Be­scheid darf ich mei­nem ar­men Jun­gen brin­gen?«

Ob­gleich Fürst Wa­si­li die ält­li­che Dame sicht­lich nur un­gern und bei­na­he un­höf­lich an­hör­te und so­gar sei­ne Un­ge­duld nicht ver­barg, blick­te sie ihn mit freund­li­chem, rüh­ren­dem Lä­cheln an und fass­te ihn bei der Hand, da­mit er nicht fort­ge­he.

»Sie brau­chen ja nur dem Kai­ser ein Wort zu sa­gen, und mein Sohn wird ohne wei­te­res zur Gar­de ver­setzt«, bat sie.

»Sei­en Sie über­zeugt, Fürs­tin, dass ich al­les tun wer­de, was ich kann«, er­wi­der­te Fürst Wa­si­li. »Aber es ist für mich nicht so leicht, dem Kai­ser eine sol­che Bit­te vor­zu­le­gen. Ich wür­de Ih­nen ra­ten, sich durch Ver­mitt­lung des Fürs­ten Go­li­zyn an Rumjan­zew zu wen­den; das wäre das klügs­te.«

Die ält­li­che Dame war eine Fürs­tin Dru­bez­ka­ja und ge­hör­te so­mit zu ei­ner der bes­ten Fa­mi­li­en Russ­lands; aber sie war arm, hat­te sich schon lan­ge von dem Ver­kehr mit der vor­neh­men Welt zu­rück­ge­zo­gen und so ihre frü­he­ren Kon­ne­xio­nen ver­lo­ren. Jetzt war sie nach Pe­ters­burg ge­kom­men, um für ih­ren ein­zi­gen Sohn die Ver­set­zung zur Gar­de zu er­wir­ken. Le­dig­lich um den Fürs­ten Wa­si­li zu tref­fen, hat­te sie sich der Hof­da­me Anna Paw­low­na auf­ge­drängt und war zu ih­rer Soi­ree ge­kom­men; le­dig­lich zu die­sem Zweck hat­te sie die Er­zäh­lung des Vi­com­tes mit­an­ge­hört. Über die Wor­te des Fürs­ten er­schrak sie hef­tig, und auf ih­rem ehe­mals schö­nen Ge­sicht präg­te sich das Ge­fühl schmerz­li­cher Krän­kung aus; aber das dau­er­te nur einen Au­gen­blick. Sie lä­chel­te wie­der und fass­te die Hand des Fürs­ten Wa­si­li mit fes­te­rem Griff.

»Hö­ren Sie mich an, Fürst«, sag­te sie. »Ich habe Sie nie um et­was ge­be­ten und wer­de Sie nie wie­der um et­was bit­ten; ich habe Sie nie an die Freund­schaft er­in­nert, die zwi­schen mei­nem Va­ter und Ih­nen be­stand. Aber jetzt be­schwö­re ich Sie bei Gott, tun Sie dies für mei­nen Sohn, und ich wer­de Sie für un­sern Wohl­tä­ter hal­ten«, füg­te sie has­tig hin­zu. »Nein, wer­den Sie nicht zor­nig, son­dern ver­spre­chen Sie es mir. Go­li­zyn habe ich schon ge­be­ten; aber er hat es mir ab­ge­schla­gen. Sei­en Sie der gute, lie­be Mensch, der Sie frü­her wa­ren«, sag­te sie mit ei­nem Ver­such zu lä­cheln, ob­gleich ihr die Trä­nen in den Au­gen stan­den.

»Papa, wir wer­den zu spät kom­men«, sag­te die Prin­zes­sin He­le­ne, die an der Tür war­te­te, und wand­te ih­ren schö­nen Kopf auf den an­ti­ken Schul­tern zu­rück.

Aber der Ein­fluss ist in den vor­neh­men Krei­sen ein Ka­pi­tal, mit dem man haus­häl­te­risch um­ge­hen muss, da­mit es ei­nem nicht un­ter den Hän­den ver­schwin­det. Fürst Wa­si­li wuss­te das, und da er sich ein für al­le­mal ge­sagt hat­te, dass, wenn er für alle die­je­ni­gen bit­ten woll­te, die ihn bä­ten, es ihm bald un­mög­lich sein wür­de, für sich selbst zu bit­ten, so mach­te er von sei­nem Ein­fluss nur sel­ten Ge­brauch. In der An­ge­le­gen­heit der Fürs­tin Dru­bez­ka­ja fühl­te er je­doch nach die­sem ih­rem er­neu­ten Ap­pell et­was wie Ge­wis­sens­bis­se. Woran sie ihn er­in­nert hat­te, das war die Wahr­heit: dass ihm die ers­ten Schrit­te auf sei­ner dienst­li­chen Lauf­bahn leicht ge­wor­den wa­ren, hat­te er al­ler­dings ih­rem Va­ter zu ver­dan­ken ge­habt. Au­ßer­dem er­sah er aus ih­rem gan­zen Be­neh­men, dass sie eine von den Frau­en und spe­zi­ell von den Müt­tern war, die, wenn sie sich ein­mal et­was in den Kopf ge­setzt ha­ben, nicht ab­las­sen, ehe man ih­nen nicht ih­ren Wunsch er­füllt, und im ent­ge­gen­ge­setz­ten Fall es fer­tig brin­gen, ei­nem täg­lich, ja stünd­lich zu­zu­set­zen und ei­nem so­gar är­ger­li­che Sze­nen zu be­rei­ten. Die­se letz­te­re Er­wä­gung ließ ihn doch schwan­kend wer­den.

»Lie­be Anna Michai­low­na«, sag­te er in dem Ton, in wel­chem er fast im­mer sprach, ei­ner Mi­schung von Ver­trau­lich­keit und Miss­mut, »es ist mir bei­na­he un­mög­lich, das zu tun, was Sie wün­schen; aber um Ih­nen zu zei­gen, wie hoch ich Sie schät­ze und wie sehr ich das Ge­dächt­nis Ihres se­li­gen Va­ters in Ehren hal­te, wer­de ich das Un­mög­li­che tun: Ihr Sohn soll zur Gar­de ver­setzt wer­den; hier mei­ne Hand dar­auf! Sind Sie nun zu­frie­den?«

»Liebs­ter Freund, Sie sind un­ser Wohl­tä­ter! Ich habe auch nichts an­de­res von Ih­nen er­war­tet; ich wuss­te ja doch, was Sie für ein gu­tes Herz ha­ben.«

Er woll­te nun weg­ge­hen:

»War­ten Sie, nur noch ganz we­ni­ge Wor­te! Wenn er dann aber zur Gar­de ver­setzt ist …« Sie stock­te. »Sie sind ja mit Michail Ila­rio­no­witsch Ku­tu­sow gut be­kannt … emp­feh­len Sie ihm doch Bo­ris zum Ad­ju­tan­ten. Dann wür­de ich be­ru­higt sein, und dann wür­de …«

Fürst Wa­si­li lä­chel­te.

»Nein, das ver­spre­che ich nicht. Sie ha­ben kei­ne Ah­nung, wie Ku­tu­sow von al­len Sei­ten be­stürmt wird, seit er zum Ober­kom­man­die­ren­den er­nannt ist. Er hat selbst zu mir ge­sagt, alle Mos­kau­er Da­men hät­ten sich ver­ab­re­det, ihm ihre sämt­li­chen Söh­ne zu Ad­ju­tan­ten zu ge­ben.«

»Nein, ver­spre­chen Sie es mir doch! Ich las­se Sie nicht los, mein teu­rer Wohl­tä­ter!«

»Papa«, sag­te die schö­ne He­le­ne noch ein­mal in dem­sel­ben Ton, »wir wer­den zu spät kom­men.«

»Nun, also auf Wie­der­se­hen, le­ben Sie wohl. Sie se­hen, ich muss fort.«

»Also mor­gen wer­den Sie mit dem Kai­ser dar­über re­den?«

»Ganz be­stimmt; aber mit Ku­tu­sow zu re­den, das ver­spre­che ich nicht.«

»Aber nein, nein, ver­spre­chen Sie es mir, Wa­si­li!« rief Anna Michai­low­na ihm mit dem Lä­cheln ei­ner jun­gen Ko­ket­te nach, das ihr einst­mals wohl einen ei­ge­nen Reiz ver­lie­hen ha­ben moch­te, jetzt aber zu ih­rem aus­ge­mer­gel­ten Ge­sicht schlech­ter­dings nicht pass­te. Sie hat­te of­fen­bar ihre Jah­re ganz ver­ges­sen und brach­te ge­wohn­heits­mä­ßig all die alt­her­ge­brach­ten weib­li­chen Hilfs­mit­tel zur An­wen­dung. Aber so­wie Fürst Wa­si­li hin­aus­ge­gan­gen war, nahm ihr Ge­sicht wie­der den­sel­ben kal­ten, ver­stell­ten Aus­druck an, den es vor­her ge­tra­gen hat­te. Sie kehr­te zu der Grup­pe zu­rück, in wel­cher der Vi­com­te zu er­zäh­len fort­fuhr, und gab sich wie­der den An­schein, als höre sie zu, wäh­rend sie doch nur auf die Zeit des Auf­bruchs war­te­te, da ihre An­ge­le­gen­heit nun er­le­digt war.

V

Aber wie fin­den Sie die­se gan­ze letz­te Krö­nungs­ko­mö­die in Mai­land?« frag­te Anna Paw­low­na. »Und nun ist eine neue Ko­mö­die ge­folgt: die Be­völ­ke­rung von Ge­nua und Luc­ca trägt Herrn Bo­na­par­te ihre Wün­sche vor. Und Herr Bo­na­par­te sitzt auf dem Thron und er­füllt die Wün­sche der Völ­ker! Oh, das ist ein ent­zücken­des Schau­spiel! Nein, man könn­te den Ver­stand dar­über ver­lie­ren. Man möch­te glau­ben, dass die gan­ze Welt den Kopf ver­lo­ren hat.«

Fürst An­drei blick­te der Spre­chen­den ge­ra­de ins Ge­sicht und lä­chel­te.

»Gott gibt mir die­se Kro­ne; wehe dem, der sie an­tas­tet!« sag­te er (die Wor­te, wel­che Bo­na­par­te beim Auf­set­zen der Kro­ne ge­spro­chen hat­te). »Es heißt, er soll einen schö­nen An­blick dar­ge­bo­ten ha­ben, als er die­se Wor­te sprach«, füg­te er hin­zu und wie­der­hol­te die­se Wor­te noch ein­mal auf ita­lie­nisch: »Dio mi la dona, guai a chi la toc­ca!«

»Ich hof­fe«, fuhr Anna Paw­low­na fort, »dass dies end­lich der Trop­fen ist, der das Ge­fäß zum Über­lau­fen bringt. Die Sou­ve­rä­ne kön­nen die­sen Men­schen, der al­les Be­ste­hen­de be­droht, nicht län­ger dul­den.«

»Die Sou­ve­rä­ne! Ich rede nicht von Russ­land«, sag­te der Vi­com­te in ar­ti­gem, aber hoff­nungs­lo­sem Ton. »Die Sou­ve­rä­ne! Aber was ha­ben sie für Lud­wig XVI., für die Kö­ni­gin und für Ma­da­me Eli­sa­beth ge­tan? Nichts!« fuhr er, leb­haf­ter wer­dend, fort. »Und glau­ben Sie mir, sie wer­den ihre Stra­fe da­für er­lei­den, dass sie die Sa­che der Bour­bo­nen im Stich ge­las­sen ha­ben. Die Sou­ve­rä­ne! Sie schi­cken Ge­sand­te hin, um den Thron­räu­ber zu be­glück­wün­schen!«

Mit ei­nem Seuf­zer der Ge­ring­schät­zung än­der­te er sei­ne Hal­tung. Fürst Ip­po­lit, der den Vi­com­te lan­ge durch sei­ne Lor­gnet­te be­trach­tet hat­te, dreh­te sich plötz­lich bei die­sen Wor­ten mit dem gan­zen Kör­per zu der klei­nen Fürs­tin um, er­bat sich von ihr eine Na­del und be­gann, in­dem er mit der Na­del auf dem Tisch zeich­ne­te, ihr das Wap­pen der Con­dés dar­zu­stel­len. Er er­läu­ter­te ihr die­ses Wap­pen mit so wich­ti­ger Mie­ne, als ob die Fürs­tin ihn dar­um ge­be­ten hät­te.

»Ein Schild mit schma­len, ro­ten und blau­en ge­zähn­ten Strei­fen, das ist das Haus Con­dé«, sag­te er. Die Fürs­tin hör­te lä­chelnd zu.

»Wenn Bo­na­par­te noch ein Jahr auf dem fran­zö­si­schen Thron bleibt«, fuhr der Vi­com­te in sei­ner be­gon­ne­nen Dar­le­gung mit der Mie­ne ei­nes Men­schen fort, der auf an­de­re nicht hört, son­dern bei ei­nem Ge­gen­stand, der ihm bes­ser be­kannt ist als al­len üb­ri­gen, nur sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken­gang im Auge hat, »so wird ein nie wie­der­gutz­u­ma­chen­des Un­heil an­ge­rich­tet sein. Durch Int­ri­gen, Ge­walt­ta­ten, Ver­ban­nun­gen und Hin­rich­tun­gen wird die Ge­sell­schaft, ich mei­ne die gute fran­zö­si­sche Ge­sell­schaft, für im­mer ver­nich­tet sein, und dann …«

Er zuck­te die Ach­seln und brei­te­te die Arme aus­ein­an­der. Pier­re setz­te ge­ra­de an, um et­was zu sa­gen, da ihn das Ge­spräch in­ter­es­sier­te; aber Anna Paw­low­na, die ihn über­wach­te, ließ ihn nicht zu Wort kom­men.

»Kai­ser Alex­an­der«, sag­te sie in dem weh­mü­ti­gen Ton, des­sen sie sich stets be­dien­te, wenn sie von der kai­ser­li­chen Fa­mi­lie sprach, »hat er­klärt, dass er es den Fran­zo­sen selbst an­heim­stel­le, sich die Form ih­rer Re­gie­rung zu wäh­len. Und ich mei­ne, es kann gar nicht zwei­fel­haft sein, dass die gan­ze Na­ti­on sich von dem Usur­pa­tor be­frei­en und sich ih­rem le­gi­ti­men Kö­nig in die Arme wer­fen wird.« Anna Paw­low­na be­ab­sich­tig­te, mit die­sen Wor­ten dem Emi­gran­ten und Roya­lis­ten eine Lie­bens­wür­dig­keit zu er­wei­sen.

»Das dürf­te denn doch zwei­fel­haft sein«, be­merk­te Fürst An­drei. »Der Herr Vi­com­te hat durch­aus recht mit sei­ner An­schau­ung, dass die Sa­che sich schon zu weit ent­wi­ckelt hat. Ich glau­be, es wird schwer sein, zu den al­ten Zu­stän­den zu­rück­zu­keh­ren.«

»So viel ich ge­hört habe«, misch­te sich Pier­re, sei­nen Ver­such er­neu­ernd, mit leb­haf­tem Er­rö­ten in das Ge­spräch, »ist fast der gan­ze Adel be­reits auf Bo­na­par­tes Sei­te ge­tre­ten.«

»Das sa­gen die Bo­na­par­tis­ten«, ent­geg­ne­te der Vi­com­te, ohne Pier­re an­zu­se­hen. »Es ist jetzt schwer, über die An­sich­ten der bes­se­ren Krei­se Frank­reichs ins kla­re zu kom­men.«

»Bo­na­par­te selbst hat das ge­sagt«, warf Fürst An­drei lä­chelnd ein. (Es war deut­lich, dass ihm der Vi­com­te nicht ge­fiel, und dass sei­ne Be­mer­kung, ob­wohl er den Vi­com­te da­bei nicht an­blick­te, ge­gen die­sen ge­rich­tet war.)

»›Ich habe ih­nen den Weg des Ruh­mes ge­zeig­t‹«, fuhr er nach kur­z­em Still­schwei­gen, wie­der Wor­te Na­po­le­ons zi­tie­rend, fort, »›a­ber sie ha­ben ihn nicht ge­hen wol­len; ich habe ih­nen mei­ne Vor­zim­mer ge­öff­net, und sie sind in Scha­ren her­bei­ge­eilt …‹ Ich weiß nicht, bis zu wel­chem Gra­de er ein recht hat­te, so zu spre­chen.«

»Gar kein recht hat­te er dazu«, ent­geg­ne­te der Vi­com­te. »Nach der Er­mor­dung des Her­zogs ha­ben selbst sei­ne ge­treues­ten An­hän­ger auf­ge­hört, einen Hel­den in ihm zu se­hen. Und wenn er wirk­lich für man­che Leu­te ein Held war«, fuhr der Vi­com­te, zu Anna Paw­low­na ge­wen­det, fort, »so kann man doch sa­gen: nach der Er­mor­dung des Her­zogs gibt es im Him­mel einen Mär­ty­rer mehr und auf Er­den einen Hel­den we­ni­ger.«

Anna Paw­low­na und man­che ih­rer Gäs­te hat­ten noch nicht Zeit ge­fun­den, ihre Be­wun­de­rung für die­se Wor­te des Vi­com­tes durch ein Lä­cheln zu be­zei­gen, da stürz­te sich schon Pier­re von Neu­em in das Ge­spräch, und ob­gleich Anna Paw­low­na ahn­te, dass er et­was Un­pas­sen­des vor­brin­gen wer­de, war sie doch nicht mehr im­stan­de, ihn zu­rück­zu­hal­ten.

»Die Hin­rich­tung des Her­zogs von Eng­hi­en«, sag­te Pier­re, »war eine po­li­ti­sche Not­wen­dig­keit, und ich be­trach­te es ge­ra­de­zu als ein Zei­chen von See­len­grö­ße, dass Na­po­le­on sich nicht ge­scheut hat, die Verant­wor­tung für die­se Tat ganz al­lein auf sich zu neh­men.«

»Mein Gott!« flüs­ter­te Anna Paw­low­na ganz ent­setzt.

»Sie bil­li­gen einen Mord …? Wie, Mon­sieur Pier­re, Sie se­hen in ei­nem Mord ein Zei­chen von See­len­grö­ße?« sag­te die klei­ne Fürs­tin, in­dem sie ihre Hand­ar­beit lä­chelnd nä­her an ihre Brust hielt.

»Ah! Ah!« rie­fen ver­schie­de­ne Stim­men.

»Vor­züg­lich!« sag­te Fürst Ip­po­lit auf eng­lisch und schlug sich ein paar­mal mit der fla­chen Hand aufs Knie. Der Vi­com­te zuck­te nur mit den Ach­seln.

Pier­re blick­te tri­um­phie­rend über sei­ne Bril­le weg die Zu­hö­rer an.

»Ich spre­che so«, fuhr er küh­nen Mu­tes fort, »weil die Bour­bo­nen vor der Re­vo­lu­ti­on da­von­ge­lau­fen sind und das Volk der An­ar­chie preis­ge­ge­ben ha­ben; Na­po­le­on war der ein­zi­ge, der es ver­stand, die Re­vo­lu­ti­on rich­tig zu be­ur­tei­len und sie zu be­sie­gen, und des­halb durf­te er, wo es sich um das all­ge­mei­ne Wohl han­del­te, nicht vor dem Le­ben ei­nes ein­zel­nen halt­ma­chen.«

»Mö­gen Sie nicht an den Tisch dort drü­ben mit her­über­kom­men?« sag­te Anna Paw­low­na. Aber Pier­re fuhr, ohne ihr zu ant­wor­ten, in sei­ner Mei­nungs­äu­ße­rung fort.

»Nein«, sag­te er, im­mer leb­haf­ter wer­dend, »Na­po­le­on ist ein großer Geist, weil er sich über die Re­vo­lu­ti­on ge­stellt und ihre Aus­wüch­se ver­tilgt hat, wäh­rend er al­les Gute, das sie ge­bracht hat­te, bei­be­hielt: die Gleich­heit al­ler Bür­ger und die Frei­heit des Wor­tes und der Pres­se; nur durch die­ses Ver­fah­ren hat er die Macht er­langt.«

»Ja, wenn er die Macht, nach­dem er sie er­langt hat­te, nicht zum Mord miss­braucht, son­dern in die Hän­de des le­gi­ti­men Kö­nigs ge­legt hät­te«, ent­geg­ne­te der Vi­com­te, »dann wür­de ich ihn einen großen Mann nen­nen.«

»Das hät­te er gar nicht tun kön­nen. Das Volk hat­te ihm die Macht nur zu dem Zweck ge­ge­ben, da­mit er es von den Bour­bo­nen be­frei­en möch­te, und weil es in ihm einen großen Mann sah. Die Re­vo­lu­ti­on ist eine große Tat ge­we­sen«, fuhr Mon­sieur Pier­re fort und be­kun­de­te durch die un­nö­ti­ge Hin­zu­fü­gung die­ser ver­we­ge­nen, her­aus­for­dern­den The­se sei­ne große Ju­gend­lich­keit und sei­nen Ei­fer, al­les mög­lichst schnell her­aus­zu­re­den.

»Re­vo­lu­ti­on und Kö­nigs­mord eine große Tat …! Wenn je­mand so re­det … Aber wol­len Sie nicht an den Tisch dort drü­ben mit her­über­kom­men?« wie­der­hol­te Anna Paw­low­na ihre Auf­for­de­rung.

»Rous­se­aus Ge­sell­schafts­ver­trag«, sag­te der Vi­com­te mit sanf­tem Lä­cheln.

»Ich spre­che nicht vom Kö­nigs­mord; ich spre­che von den Ide­en.«

»Ja­wohl, von den Ide­en des Rau­bes, des Mor­des und des Kö­nigs­mor­des«, un­ter­brach ihn wie­der eine iro­ni­sche Stim­me.

»Das wa­ren ta­delns­wer­te Aus­schrei­tun­gen, ver­steht sich. Aber nicht dar­in liegt die ei­gent­li­che Be­deu­tung der Re­vo­lu­ti­on; son­dern ihre Be­deu­tung liegt in der Aner­ken­nung der Men­schen­rech­te, in der Ab­le­gung von Vor­ur­tei­len, in der Gleich­stel­lung al­ler Bür­ger. Und alle die­se Ide­en hat Na­po­le­on in ih­rer gan­zen Kraft bei­be­hal­ten.«

»Frei­heit und Gleich­heit«, ent­geg­ne­te der Vi­com­te ge­ring­schät­zig, als ob er sich end­lich ent­schlos­sen hät­te, die­sem jun­gen Men­schen ernst­haft die gan­ze Tor­heit sei­nes Ge­re­des zu be­wei­sen, »das sind hoch­tö­nen­de Wor­te, die schon längst in Ver­ruf ge­kom­men sind. Wer soll­te nicht Frei­heit und Gleich­heit lie­ben? Schon un­ser Hei­land hat Frei­heit und Gleich­heit ge­pre­digt. Sind denn etwa die Men­schen nach der Re­vo­lu­ti­on glück­li­cher ge­wor­den? Im Ge­gen­teil. Wir wünsch­ten die Frei­heit; aber Bo­na­par­te hat sie ver­nich­tet.«

Fürst An­drei sah lä­chelnd bald Pier­re, bald den Vi­com­te, bald die Wir­tin an. Bei Pier­res ex­zen­tri­schen Re­den hat­te Anna Paw­low­na im ers­ten Au­gen­blick trotz ih­rer ge­sell­schaft­li­chen Rou­ti­ne einen ge­wal­ti­gen Schreck be­kom­men; aber als sie sah, dass bei den von Pier­re aus­ge­sto­ße­nen got­tes­läs­ter­li­chen Re­den der Vi­com­te nicht au­ßer sich ge­riet, und als sie fer­ner sah, dass ein Ver­tu­schen die­ser Re­den nicht mehr mög­lich war, da nahm sie ih­ren Mut zu­sam­men, er­griff die Par­tei des Vi­com­tes und mach­te einen An­griff auf den dreis­ten Red­ner.

»Aber mein lie­ber Mon­sieur Pier­re«, sag­te Anna Paw­low­na, »wie kön­nen Sie nur je­mand für einen großen Mann er­klä­ren, der den Her­zog – oder sa­gen wir über­haupt schlecht­weg einen Men­schen – ohne or­dent­li­ches Ge­richt schuld­los hat hin­rich­ten las­sen?«

»Ich möch­te fra­gen«, sag­te der Vi­com­te, »wie man den acht­zehn­ten Bru­maire auf­fas­sen soll. War das etwa kein Be­trug? Das war eine Gau­ne­rei, die mit der Hand­lungs­wei­se ei­nes großen Man­nes ganz und gar kei­ne Ähn­lich­keit hat.«

»Und die Ge­fan­ge­nen in Afri­ka, die er er­mor­den ließ?« füg­te die klei­ne Fürs­tin hin­zu. »Das ist doch ent­setz­lich!« Sie zuck­te mit den Schul­tern.

»Er ist ein Em­por­kömm­ling; da kann man nun sa­gen, was man will«, be­merk­te Fürst Ip­po­lit.

Mon­sieur Pier­re wuss­te nicht, wem er ant­wor­ten soll­te, sah rings­um­her alle an und lä­chel­te. Sein Lä­cheln war von an­de­rer Art als bei an­de­ren Men­schen; es war nicht eine Ver­schmel­zung von Ernst und Hei­ter­keit, son­dern, so­bald sich bei ihm ein Lä­cheln ein­stell­te, ver­schwand so­fort, im glei­chen Au­gen­blick, das erns­te und so­gar et­was mür­ri­sche Ge­sicht voll­stän­dig, und es er­schi­en ein an­de­res, kind­li­ches, gut­mü­ti­ges, so­gar et­was ein­fäl­ti­ges Ge­sicht, das ge­wis­ser­ma­ßen um Ver­zei­hung bat.

Dem Vi­com­te, der ihn zum ers­ten Mal sah, wur­de klar, dass die­ser Ja­ko­bi­ner durch­aus nicht so fürch­ter­lich war wie sei­ne Re­den. Alle schwie­gen.

»Wie soll er es denn an­fan­gen, al­len auf ein­mal zu ant­wor­ten?« sag­te dann Fürst An­drei. »Üb­ri­gens muss man, wo es sich um Ta­ten ei­nes Staats­man­nes han­delt, un­ter­schei­den, was er als Mensch und was er als Heer­füh­rer oder Kai­ser ge­tan hat. Das scheint mir not­wen­dig.«

»Ja, ja, selbst­ver­ständ­lich!« rief Pier­re schnell, er­freut über die Hil­fe, die ihm plötz­lich kam.

»Es lässt sich nicht leug­nen«, fuhr Fürst An­drei fort, »dass Na­po­le­on als Mensch sich bei man­chen An­läs­sen groß ge­zeigt hat: auf der Brücke von Ar­co­le, in den La­za­ret­ten von Jaf­fa, wo er den Pest­kran­ken die Hand gab; aber frei­lich … an­de­re sei­ner Ta­ten sind schwer zu recht­fer­ti­gen.«

Fürst An­drei, der of­fen­bar be­ab­sich­tigt hat­te, den un­an­ge­neh­men Ein­druck von Pier­res un­ge­schick­ten Re­den zu mil­dern, stand auf, um weg­zu­fah­ren, und gab sei­ner Frau ein Zei­chen.

Plötz­lich sprang Fürst Ip­po­lit auf, hielt durch Zei­chen mit den Ar­men alle zu­rück und bat sie, sich noch ein­mal hin­zu­set­zen; dann be­gann er:

»Ach, heu­te habe ich eine rei­zen­de Ge­schich­te aus Mos­kau er­zäh­len hö­ren; die muss ich Ih­nen zum Bes­ten ge­ben. Ver­zei­hen Sie, Vi­com­te, dass ich sie auf rus­sisch er­zäh­le; sie wür­de sonst den rich­ti­gen Ge­schmack ver­lie­ren.« Und nun fing Fürst Ip­po­lit an, rus­sisch zu re­den, mit ei­ner Auss­pra­che und Gram­ma­tik, wel­che an die von Fran­zo­sen er­in­ner­te, die sich etwa ein Jahr lang in Russ­land auf­ge­hal­ten ha­ben. Alle wa­ren da­ge­blie­ben; so eif­rig und drin­gend hat­te Fürst Ip­po­lit um Auf­merk­sam­keit für sei­ne Ge­schich­te ge­be­ten.

»In Mos­kau lebt eine Dame. Und sie ist sehr gei­zig. Sie muss­te zwei La­kai­en für ihre Kut­sche ha­ben. Und sehr groß ge­wach­se­ne. Das war ihr Ge­schmack. Und sie hat­te ein Dienst­mäd­chen, die noch grö­ßer war. Da sag­te sie …«

Hier dach­te Fürst Ip­po­lit nach; au­gen­schein­lich über­leg­te er mit An­stren­gung, wie die Ge­schich­te wei­ter­ging.

»Sie sag­te … ja, sie sag­te: ›Mäd­chen, zieh Li­vree an und fahr mit mich aus, hin­ten auf das Wa­gen, Be­su­che ma­chen.‹«

Hier prus­te­te Fürst Ip­po­lit los und lach­te weit frü­her als sei­ne Zu­hö­rer, was einen für den Er­zäh­ler un­vor­teil­haf­ten Ein­druck mach­te. Vie­le lä­chel­ten je­doch, dar­un­ter die ält­li­che Dame und Anna Paw­low­na.

»Die Dame fuhr. Auf ein­mal wur­de ein star­ke Wind. Das Mäd­chen ver­lor den Hut, und die lan­ge Haa­re wur­den los …«

Hier konn­te er sich nicht mehr hal­ten, be­gann stoß­wei­se zu la­chen und sag­te zwi­schen die­sen Lach­an­fäl­len nur noch:

»Und alle Leu­te merk­ten …«