Kriminalgeschichten - Matthias McDonnell Bodkin - E-Book

Kriminalgeschichten E-Book

Matthias McDonnell Bodkin

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Beschreibung

Spannende und originelle Kriminalgeschichten um verschwundene Giftmorde, Börsenspekulationen und alte Adelsfamilien. Alle mit dem Detektiv Paul Beck, dem "Irischen Sherlock Holmes". Null Papier Verlag

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Matthias McDonnell Bodkin

Kriminalgeschichten

Matthias McDonnell Bodkin

Kriminalgeschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Margarete Jacobi 1. Auflage, ISBN 978-3-962810-35-1

null-papier.de/471

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Gift­mi­scher.

Ein Wett­lauf.

Ver­brieft und ver­sie­gelt.

Ge­löst und ge­bun­den

Ein Münz­ver­bre­chen.

Staats­ge­heim­nis­se.

Zwei Kö­ni­ge.

Dan­ke

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Giftmischer.

Das Ur­teil der Lei­chen­schau lau­te­te: »Lä­ti­tia Woo­driff ist an Mor­phi­um­ver­gif­tung ge­stor­ben. Es liegt uns kein ge­nü­gen­der Be­weis vor, wie sie das Gift ge­nom­men oder wer es ihr bei­ge­bracht hat. Wir kön­nen da­her nur den durch den Ver­lust sei­ner Toch­ter so schwer be­trof­fe­nen Va­ter, Herrn Woo­driff, uns­rer auf­rich­ti­gen Teil­nah­me ver­si­chern.«

Die Lei­chen­schau war au­ßer­stan­de ge­we­sen, das ge­heim­nis­vol­le Rät­sel zu er­grün­den. Nach­dem die Leu­te ih­ren Wahr­spruch ab­ge­ge­ben hat­ten, ver­lie­ßen sie mit ge­räusch­lo­sem Tritt und erns­ter Mie­ne das Trau­er­haus. John Woo­driff aber schlich lei­se, als fürch­te er, sein to­tes Kind zu we­cken, in das Zim­mer zu­rück, wo die schö­ne Lei­che lag. Mit ängst­li­cher Scheu be­rühr­te er das kal­te, wei­ße Händ­chen auf dem Deck­bett und sah in das ru­hi­ge Ant­litz, des­sen blei­che Lip­pen noch im Tode lä­chel­ten. Die hol­de Toch­ter, der Lieb­ling und die Freu­de sei­nes Her­zens, schi­en ihm auf ein­mal in so un­er­mess­li­che Fer­ne ent­rückt, dass selbst sei­ne Ge­dan­ken ihr nicht fol­gen konn­ten. Es war nicht mehr sein Kind, mit dem ihn die in­nigs­te Lie­be ver­bun­den hat­te, das kalt und leb­los vor ihm lag. Ein rei­ner, hei­li­ger En­gel schweb­te durchs Zim­mer. Sei­ne warm­her­zi­ge, mun­te­re und zärt­li­che Let­ty hat­te er auf im­mer ver­lo­ren.

Voll lei­den­schaft­li­chen Schmer­zes beug­te er sich über sie und drück­te ihr einen Kuss auf die star­ren Lip­pen. Bei der eis­kal­ten Berüh­rung ging es ihm wie ein Stich durchs Herz und er fühl­te die gan­ze Qual des Ver­lus­tes von neu­em, ob­gleich sei­ne Toch­ter schon vor zwei Ta­gen ge­stor­ben war. Sein Ge­sicht in den Kis­sen ver­gra­bend, auf de­nen die Tote ruh­te, brach er in ein er­schüt­tern­des Schluch­zen aus.

Da ging lei­se die Tür auf und der Kopf ei­nes jun­gen Mäd­chens mit ab­ge­härm­ten, blei­chen Zü­gen und ro­ten Rän­dern um die Au­gen, zeig­te sich in der Öff­nung. »Va­ter,« rief eine sanf­te Stim­me voll Zärt­lich­keit. Mil­ly Woo­driff trat an das Bett, ne­ben dem ihr Va­ter von Gram über­wäl­tigt knie­te, schlang ihre Arme um sei­nen Hals und ver­such­te ihm Trost­wor­te ins Ohr zu flüs­tern, wie­wohl ihr selbst das Herz fast vor Kum­mer brach.

»Va­ter, lie­ber Va­ter, wei­ne doch nicht so,« sag­te sie. »Let­ty könn­te ja im Him­mel nicht se­lig sein, sähe sie dei­nen Schmerz; sie war ja im­mer so fröh­lich, so gut und lie­be­voll. Es ist hart und schwer zu er­tra­gen, das weiß Gott. Aber wir bei­de sind uns doch noch ge­blie­ben; wir kön­nen für­ein­an­der le­ben und uns lieb ha­ben, bis wir einst un­ser ver­lo­re­nes Herz­blatt wie­der­se­hen.«

Der tief ge­beug­te Mann gab wie ein mü­des Kind ih­rem zärt­li­chen Drän­gen nach und ließ sich von ihr aus dem Zim­mer füh­ren. »Gott sei Dank, Mil­ly, dass ich dich noch habe!« flüs­ter­te er, wäh­rend sie Hand in Hand ne­ben­ein­an­der in dem stil­len Wohn­zim­mer sa­ßen, wo selbst das Son­nen­licht jetzt nur Trau­er zu ver­brei­ten schi­en. Da krall­te ihm eine plötz­li­che Furcht die Brust zu­sam­men und er drück­te ihre Hand so fest, dass es ihr weh tat. »Gro­ßer Gott,« rief er, wie wahn­sin­nig vor Angst, »muss ich sie auch noch her­ge­ben?«

Lan­ge saß er schwei­gend da, ohne einen Blick von ihr zu wen­den, und strei­chel­te ihr brau­nes, sei­den­wei­ches Haar, End­lich raff­te er sich mit An­stren­gung auf wie je­mand, der einen be­son­dern Zweck im Auge hat. »Ist nie­mand mit der Bahn an­ge­kom­men, Mil­ly?« frag­te er.

»Der Zug kann kaum hier sein, Va­ter,« er­wi­der­te sie, mit dem Blick die Stand­uhr auf dem Ka­min­sims strei­fend, »und von der Stadt ist’s noch eine gute hal­be Stun­de bis zu uns. Er­war­test du einen Gast?«

»Ich habe vor­ges­tern nach Lon­don te­le­gra­fiert an einen Ge­heim­po­li­zis­ten na­mens Paul Beck. Wir wa­ren zu­sam­men auf der Schu­le und da­mals sehr be­freun­det; doch ha­ben wir uns seit­dem nicht wie­der­ge­se­hen. Er gilt für den scharf­sin­nigs­ten Mann in sei­nem Be­ruf und ich hoff­te, er wer­de noch recht­zei­tig zur Lei­chen­schau ein­tref­fen. Wenn ir­gend je­mand ent­de­cken kann, wie uns­re arme Let­ty ums Le­ben ge­kom­men ist, so wird er es her­aus­brin­gen.«

»Was kann es aber nüt­zen, Va­ter, wenn wir uns jetzt noch da­mit ängs­ti­gen und quä­len? Die Wun­de wird nur im­mer von neu­em blu­ten und un­ser Herz­blatt bringt es uns doch nicht zu­rück.«

»Ich gäbe gleich mei­ne rech­te Hand dar­um, Mil­ly,« er­wi­der­te er mit ei­ner Lei­den­schaft, die sie er­schreck­te, »wenn ich wüss­te, wie die arme Let­ty den Tod ge­fun­den hat.«

Es ent­stand eine Pau­se. Dann frag­te Woo­driff plötz­lich: »Wo ist Anna?«

»Auf ih­rem Zim­mer, Va­ter; sie ist ganz fas­sungs­los und hat seit­her we­der ge­ges­sen, noch ge­schla­fen. Anna ist in man­cher Be­zie­hung noch wie ein klei­nes Kind, und sie hat Let­ty so lieb ge­habt.«

»Geh zu ihr, mein Herz, ihr könnt ein­an­der am bes­ten trös­ten. Es lässt mir kei­ne Ruhe, bis ich weiß, ob Beck an­ge­kom­men ist; da will ich ihm lie­ber eine Stre­cke weit ent­ge­gen­ge­hen.«

Woo­driffs Haus war ein ho­hes Back­stein­ge­bäu­de, das, an ei­nem be­wal­de­ten Ab­hang ge­le­gen, nach dem Mee­re hin­aus­schau­te. Etwa drei Mei­len land­ein­wärts lag die große, blü­hen­de Stadt De­ring­ham, wo Woo­driff sich als Ma­schi­nen­bau­er sein Ver­mö­gen er­wor­ben hat­te, das ihn in den Stand setz­te, sich Haus und Park zu kau­fen und hier am See­ge­sta­de, für das er schon seit sei­ner Kna­ben­zeit schwärm­te, ein be­hag­li­ches Le­ben zu füh­ren. Auf der Land­stra­ße ein­her­schrei­tend, hat­te er schon den hal­b­en Weg nach der Stadt zu­rück­ge­legt, als eine Drosch­ke rasch an ihm vor­über­fuhr. Ein schläf­rig aus­se­hen­der Mann, der Woo­driff wie ein Hand­lungs­rei­sen­der vor­kam, saß dar­in be­quem zu­rück­ge­lehnt. Etwa zwan­zig Schritt wei­ter hielt die Drosch­ke plötz­lich still; ihr trä­ger In­sas­se sprang wie ein Schul­kna­be her­aus und kam sporn­streichs zu­rück­ge­lau­fen.

»Kennst du mich nicht mehr, John?« rief er, Woo­driff herz­lich die Hand ent­ge­gen stre­ckend, »Ich habe dich auf den ers­ten Blick er­kannt.«

Der An­ge­re­de­te starr­te ihn einen Au­gen­blick ganz ver­wirrt an; bald ging ihm aber ein Licht auf. »Was, du bist doch nicht etwa der klei­ne Paul Beck?« rief er.

»Ich bin so ge­wiss Paul Beck, als du John Woo­driff bist. Vor man­cher Tracht Prü­gel hast du mich in der Schu­le be­wahrt, wo ich un­ter den klei­nen Bu­ben war, wäh­rend du zu den großen ge­hör­test. Es tut mir herz­lich leid, John, dass wir uns aus so trau­ri­gem An­lass zum ers­ten Male wie­der­se­hen.«

»Du hast also mei­ne De­pe­sche er­hal­ten?«

»Und dei­nen Brief; bei­des zu glei­cher Zeit. Ich war ge­ra­de ver­reist, als das Te­le­gramm ein­lief, sonst wür­de ich zur Lei­chen­schau ge­kom­men sein. Was ist denn das Er­geb­nis?«

»Fahr­läs­si­ge Mor­phi­um­ver­gif­tung.«

Beck sah ihm for­schend ins Ge­sicht. »Ist das auch dei­ne Mei­nung?«

»Ich weiß wirk­lich nicht, was ich den­ken soll.«

»Du bist ja furcht­bar an­ge­grif­fen und schüt­telst dich wie im Fie­ber. Nicht der Kum­mer al­lein be­herrscht dich, son­dern eine quä­len­de Angst. Ich will die Drosch­ke fort­schi­cken; im Ge­hen re­det sich’s am bes­ten. Zwi­schen vier Wän­den ist man nie so si­cher, un­be­lauscht zu sein.«

Eine Wei­le gin­gen die bei­den Män­ner schwei­gend ne­ben­ein­an­der her, bis links ein Pfad ab­bog, der ge­ra­des­wegs nach dem Strand hin­un­ter­führ­te. Ohne ein Wort zu sa­gen, ver­lie­ßen sie die Land­stra­ße. Woo­driff hielt den Blick zu Bo­den ge­senkt, der Aus­druck sei­nes Ge­sichts war be­sorgt und kum­mer­voll; von Zeit zu Zeit schau­te ihn Beck an und müh­te sich, sei­ne Ge­dan­ken zu er­ra­ten. Jetzt stan­den sie an ei­ner Stel­le, wo sich der plat­te Strand in brei­ter Flä­che vor ih­nen aus­dehn­te. Bis an den Ho­ri­zont lag das Meer zu ih­ren Fü­ßen; die kla­ren Wel­len bra­chen sich kräu­selnd und schäu­mend auf dem Sand und hin­ter ih­nen stie­gen die schwar­zen Klip­pen steil in die Höhe.

»Was pei­nigt dich so?« frag­te Beck plötz­lich, wäh­rend sie dicht am Ufer­rand hin­schrit­ten.

»Die Furcht.«

»Furcht – wo­vor?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich schwe­be in To­des­angst, dass mei­ne Toch­ter Mil­ly, jetzt mein ein­zi­ges Kind, mir auch noch ent­ris­sen wer­den könn­te. Let­ty war nicht die ers­te, die an Gift ge­stor­ben ist. Mir graut bei dem Ge­dan­ken, sie könn­te viel­leicht nicht die letz­te sein.« Er beb­te an al­len Glie­dern.

Beck er­griff sei­nen Arm. »John,« sag­te er mit fes­ter Stim­me, »wenn ich dir hel­fen kann, so wür­de ich es schon um der al­ten Zei­ten wil­len tun. Du siehst die Din­ge wohl schwär­zer, als sie wirk­lich sind. Bit­te, sage mir of­fen her­aus, was du fürch­test und was du weißt.«

»Es ist eine lan­ge Ge­schich­te, Paul.«

Den al­ten Schul­ge­fähr­ten kam es ganz na­tür­lich vor, sich beim Tauf­na­men zu nen­nen und den­sel­ben Ton ge­gen­ein­an­der an­zu­schla­gen, wie vor fünf­und­zwan­zig Jah­ren. »Ich habe kei­ne Eile. Er­zäh­le mir’s nur auf dei­ne Wei­se, aber be­hal­te nichts für dich.«

»Vor ei­nem Jahr starb mei­ne äl­tes­te Toch­ter Bar­ba­ra plötz­lich in Süd­deutsch­land, wo sie in Pen­si­on war. Das Te­le­gramm ging ver­lo­ren und man hat­te sie schon be­gra­ben, als ich an­kam. Der Arzt mein­te, sie sei ei­nem Herz­lei­den er­le­gen. Da­mals glaub­te ich ihm; es lag kein Grund vor, dar­an zu zwei­feln. Aber jetzt bin ich über­zeugt, dass sie auch mit Mor­phi­um ver­gif­tet wor­den ist, wie mei­ne arme Let­ty. Der Ver­lauf war der ganz glei­che. Noch am Mor­gen fühl­te sich Bar­ba­ra völ­lig ge­sund und früh­stück­te mit den an­dern Mäd­chen. Dann ging sie in ihr Zim­mer, um Brie­fe aus Eng­land zu le­sen, die sie er­hal­ten hat­te. Eine Stun­de spä­ter fand man sie mit ge­schlos­se­nen Au­gen im Lehn­stuhl zu­rück­ge­sun­ken. Man glaub­te zu­erst sie schla­fe, aber sie war tot.«

»Und dei­ne Toch­ter Let­ty starb auf ähn­li­che Wei­se?«

»Genau so. Ihre Zwil­lings­schwes­ter Mil­ly war mit Anna Coo­lin, ih­rer Cou­si­ne, die bei uns auf Be­such ist, zu ei­ner Ge­sell­schaft von jun­gen Leu­ten am an­dern Ende der Stadt ge­la­den, wo sie über Nacht blei­ben woll­ten. Let­ty aber hat­te die Ein­la­dung aus­ge­schla­gen, um mich nicht al­lein zu las­sen. Wir früh­stück­ten mit­ein­an­der und sie war wie im­mer lus­tig und gu­ter Din­ge, dann gin­gen wir zu­sam­men aus. Wo der Pfad zum See­strand ab­zweigt, trenn­ten wir uns. Let­ty er­war­te­te einen Brief von ei­ner frü­he­ren Schul­ge­fähr­tin und schlug den Weg nach der Stadt ein, um dem Brief­trä­ger zu be­geg­nen. Ich ging zum Meer hin­un­ter mit der Ab­sicht, ein paar Ma­kre­len zu fan­gen. An der Bie­gung der Stra­ße warf mir Let­ty noch eine Kuss­hand zu. Ich soll­te sie nicht mehr le­ben­dig wie­der­se­hen.

Als ich nach ei­ni­gen Stun­den heim­kehr­te, fand ich das gan­ze Haus in Schmerz und Un­ru­he. Die bei­den Mäd­chen wa­ren eben nach Hau­se ge­kom­men und hat­ten Let­ty quer über das Bett hin­ge­streckt ge­fun­den, als sei sie plötz­lich um­ge­fal­len – sie war tot. Die Lei­chen­schau er­kann­te auf Mor­phi­um­ver­gif­tung. Sie müs­se bei­na­he zehn Gran rei­nes Mor­phi­um zu sich ge­nom­men ha­ben, er­klär­te der Dok­tor; das sei ge­nug, um bin­nen drei­ßig Mi­nu­ten den Tod her­bei­zu­füh­ren.«

»Hat­ten dei­ne Töch­ter viel­leicht ein Lie­bes­ver­hält­nis?«

»Ich habe nie von et­was Der­ar­ti­gem ge­hört. Sie sind noch sehr jung, kaum der Schu­le ent­wach­sen. Let­ty hat­te ihr acht­zehn­tes Jahr noch nicht vollen­det. Dass sie und Mil­ly Zwil­lings­schwes­tern sind, sag­te ich dir ja schon. Bar­ba­ra war ge­nau eben­so alt, als sie vor ei­nem Jahr in Deutsch­land ver­gif­tet wur­de.«

»Es wa­ren mun­te­re, le­bens­lus­ti­ge Mäd­chen, sagst du?«

»So ver­gnügt wie die Vö­gel in den Zwei­gen. Den Ge­dan­ken an Selbst­mord lass nur ganz bei­sei­te.«

»Wenn Selbst­mord und Zu­fall aus­ge­schlos­sen sind, so käme ein Mord in Fra­ge. Was für Leu­te wa­ren im Hau­se, als dei­ne Toch­ter Let­ty ver­gif­tet wur­de?«

»Nur lang­jäh­ri­ge treue Die­ner der Fa­mi­lie. Eben­so gut könn­te man mich selbst ver­däch­ti­gen. Es läge ja auch gar kein denk­ba­rer Be­weg­grund vor und alle hat­ten sie lieb.«

Die Art, wie er das Wort »Be­weg­grund« aus­sprach, mach­te Beck stut­zig; er blieb plötz­lich auf dem ein­sa­men Strand ste­hen, wand­te sich um und sah Woo­driff voll ins Ge­sicht. »Du ver­birgst et­was vor mir, John. Ist dir ein Be­weg­grund für das Ver­bre­chen be­kannt?«

»Ich weiß von kei­nem!«

»Aber du hast eine Ver­mu­tung. Sei of­fen ge­gen mich, wenn ich dir hel­fen soll,«

»Der Ge­dan­ke ist so un­ge­heu­er­lich, dass ich ihn kaum zu fas­sen mag. Über­dies ist es ja un­mög­lich.«

»Das zu be­ur­tei­len, musst du mir über­las­sen. Erst wenn man die Un­mög­lich­keit aus dem Weg ge­räumt hat, kommt man zu dem, was mög­lich ist,«

»Um dir al­les zu er­klä­ren, muss ich et­was weit aus­ho­len: Wir Woo­driffs wa­ren fünf Ge­schwis­ter, vier Brü­der und eine Schwes­ter. Ro­bert, der äl­tes­te, wur­de Arzt und ließ sich in Li­ver­pool nie­der. Sein ein­zi­ger Sohn, Co­le­man Woo­driff, er­wähl­te den­sel­ben Be­ruf und erb­te bei sei­nes Va­ters Tod die nicht sehr ein­träg­li­che Pra­xis. Mein zwei­ter Bru­der Pe­ter lebt seit drei­ßig Jah­ren in Chi­ca­go, wo es ihm gut geht. Er ist un­ver­hei­ra­tet und ver­spricht je­des Jahr, uns zu be­su­chen. Mit dem, was ich dir er­zäh­len will, hat er nichts zu schaf­fen. Der drit­te Bru­der bin ich und Dick war der jüngs­te.

Dick hass­te Ro­bert von Grund sei­ner See­le, aber er und ich wa­ren die bes­ten Freun­de, bis es das Un­glück woll­te, dass wir bei­de das­sel­be Mäd­chen lieb­ten. Wir kämpf­ten red­lich zu­sam­men, wie Brü­der, um ihre Lie­be und ich ge­wann den Preis. Mei­ne arme Ali­ce! Sie war die bes­te Frau, die je einen Mann be­glückt hat, aber sie starb nach der Ge­burt der Zwil­lin­ge. Um ih­ret­wil­len wa­ren mir die bei­den Klei­nen dop­pelt ans Herz ge­wach­sen. Dick konn­te sei­ne Ent­täu­schung nicht über­win­den. Es kam zu kei­nem Zer­würf­nis zwi­schen uns, dazu war er ein viel zu recht­schaf­fe­nes Ge­müt; aber er gab sein gu­tes Makler­ge­schäft in Li­ver­pool auf und ging nach Aus­tra­li­en, wo er vor drei Jah­ren ge­stor­ben ist. Er hat­te sich auf die ge­wag­tes­ten Spe­ku­la­tio­nen mit Grund­stücken und Bau­plät­zen ein­ge­las­sen, aber al­les ge­lang ihm. Du kennst ja das Sprich­wort: ›Un­glück in der Lie­be, Glück im Spiel.‹ So wur­de er ein rei­cher Mann.

Wir blie­ben in re­gem Ver­kehr bis zu­letzt. Alle vier Wo­chen gab er mir Nach­richt, Die Mäd­chen lieb­te er sehr; mehr im An­den­ken an Ali­ce, glau­be ich, als um mei­net­wil­len. All­jähr­lich schick­te er ih­nen schö­ne Ge­schen­ke und bei sei­nem Tod hin­ter­ließ er ih­nen sein ge­sam­tes Ver­mö­gen, das sich fast auf eine Vier­tel­mil­li­on Pfund Ster­ling be­läuft.«

»Al­len drei zu glei­chen Tei­len?«

»Ja, oder falls eine ster­ben soll­te, den Über­le­ben­den, nach­dem sie ihr acht­zehn­tes Jahr er­reicht hät­ten.«

Beck pfiff lei­se vor sich hin. »Wie aber, wenn kei­ne acht­zehn Jah­re alt wür­de?« frag­te er nach ei­ner Pau­se.

»Dar­über ent­hält das Te­sta­ment kei­ne Be­stim­mun­gen. Mei­nem Bru­der Dick ist wohl eine sol­che Mög­lich­keit nicht in den Sinn ge­kom­men. Aber ich habe einen Rechts­ge­lehr­ten dar­über be­fragt und den Be­scheid er­hal­ten, dass, falls mei­ne drei Töch­ter ster­ben, be­vor sie das acht­zehn­te Jahr er­reicht ha­ben, das Te­sta­ment mei­nes Bru­ders kei­nen Wert mehr hat und das gan­ze Ver­mö­gen, das in Häu­sern und Län­de­rei­en be­steht, dem Dok­tor Co­le­man Woo­driff zu­fällt, der der ge­setz­li­che Erbe des Ver­stor­be­nen ist.«

»Da ha­ben wir ja einen kla­ren Be­weg­grund, der auch stark ge­nug sein dürf­te,« sag­te Beck.

»Aber der Ge­dan­ke ist un­sin­nig,« ver­si­cher­te Woo­driff mit Be­stimmt­heit. »Selbst wenn man an­neh­men woll­te, dass der Sohn mei­nes Bru­ders ein sol­cher Teu­fel wäre, was ich für un­mög­lich hal­te, so kann er doch nichts da­mit zu tun ha­ben. Er war in Li­ver­pool, als Bar­ba­ra ver­gif­tet wur­de. Er ist auch jetzt dort, wäh­rend Let­ty hier an Gift ge­stor­ben ist.«

»Was für ein Mensch ist denn die­ser Co­le­man Woo­driff über­haupt?«

»Ein ganz bra­ver und klu­ger Mann, wie ich höre, ob­gleich er nie auf einen grü­nen Zweig ge­kom­men ist. Das we­ni­ge, was ich von ihm ge­se­hen habe, hat mir nicht miss­fal­len. Mei­ne ver­wit­we­te Schwes­ter – sei­ne Tan­te – Frau Coo­lin, die in Li­ver­pool wohnt und ihn kennt, liebt ihn sehr. Ihre ein­zi­ge Toch­ter Anna ist bei uns zu Be­such.«

»Was hält denn Anna von Dok­tor Co­le­man?«

»Sie mag ihn nicht lei­den, das steht fest. Aber jun­ge Mäd­chen sind oft un­ver­nünf­tig. Anna ist ein schüch­ter­nes, stil­les klei­nes Ding, zwei Jah­re äl­ter als Mil­ly, doch wür­de man sie für viel jün­ger hal­ten; sie ist un­er­fah­ren wie ein Kind und kennt die Welt noch we­nig. Trotz ih­rer Ab­nei­gung ge­gen Dok­tor Co­le­man, weiß sie doch nur Gu­tes von ihm zu be­rich­ten, Glau­be mir, Paul, du tust am bes­ten, ihn ganz aus dem Spiel zu las­sen, wenn du der Sa­che wirk­lich auf den Grund kom­men willst.«

Wie­der schwie­gen sie eine ge­rau­me Wei­le. »Hat denn dei­ne Toch­ter Let­ty den Brief er­hal­ten, wel­chen sie er­war­te­te?« frag­te Beck end­lich.

»Ich weiß es nicht. Das Feu­er in ih­rem Zim­mer war aus­ge­gan­gen, aber in der Asche fand sich et­was ver­brann­tes Pa­pier.«

»Und nir­gends wur­de eine Spur von Gift ent­deckt?«

»Nicht die ge­rings­te. Nach Aus­sa­ge der Die­ner­schaft hat sie bei ih­rer Rück­kehr nichts ge­ges­sen. Ich habe ihre Tür gleich ab­ge­schlos­sen in der Hoff­nung, dass du kom­men wür­dest.«

Es kos­te­te den un­glück­li­chen Va­ter of­fen­bar die größ­te An­stren­gung, auf Becks Fra­gen kla­ren, ru­hi­gen Be­scheid zu ge­ben, wäh­rend Schmerz und Furcht ihn zu über­wäl­ti­gen droh­ten. Schwei­gend und mit völ­lig aus­drucks­lo­sem Ge­sicht schritt Beck wei­ter, ohne den fle­hen­den, Hil­fe su­chen­den Blick sei­nes Ge­fähr­ten zu be­ach­ten. End­lich er­trug es Woo­driff nicht län­ger. »Um Got­tes wil­len, Mensch, so sprich doch ein Wort!« rief er.

»Ich weiß nichts, was zu sa­gen der Mühe lohn­te,« gab Beck kurz zur Ant­wort.

»Glaubst du, dass ein Bu­ben­stück ver­übt wor­den ist und dass Mil­ly Ge­fahr droht?«

»Ich fürch­te es.«

Mit der Selbst­be­herr­schung des ar­men Va­ters war es aus. »Hilf mir, Paul,« fleh­te er ver­zwei­felt, »ret­te mir die ge­lieb­te Toch­ter, mein ein­zi­ges Kind! Gott er­bar­me sich mei­ner! Nicht wahr, du wirst mir bei­ste­hen um uns­rer al­ten Freund­schaft wil­len?«

In­ni­ges Mit­ge­fühl leuch­te­te aus Becks Zü­gen auf, die wie ver­wan­delt er­schie­nen. »Nimm dich zu­sam­men, John,« sag­te er, dem Schul­ka­me­ra­den herz­lich die Hand drückend. »Du wirst dei­ne gan­ze Kraft brau­chen, be­vor die Sa­che zum Aus­trag kommt. Wie alt ist dei­ne Toch­ter Mil­ly jetzt?«

»In ei­nem Mo­nat wird sie acht­zehn Jah­re.«

»Das kürzt un­ser Ge­schäft ab. Könn­te nicht dein äl­te­rer Bru­der aus Chi­ca­go – Pe­ter heißt er ja wohl? – dir auf der Stel­le sei­nen Be­such ma­chen?«

Woo­driff starr­te ihn an, als hät­te er plötz­lich den Ver­stand ver­lo­ren.

»Ich mei­ne, kann ich dei­nen äl­tes­ten Bru­der vor­stel­len und etwa einen Mo­nat lang bei dir im Hau­se woh­nen, ohne Ver­dacht zu er­re­gen?«

»Ganz ge­wiss. Nie­mand kennt ihn hier und alle sind da­von un­ter­rich­tet, dass ich ihn längst er­war­te.«

»Also, das ist ab­ge­macht. Über­mor­gen wird dein Bru­der Pe­ter ganz über­ra­schend aus Chi­ca­go ein­tref­fen. Aber mer­ke wohl, au­ßer uns bei­den soll nie­mand um das Ge­heim­nis wis­sen. Kei­ne See­le darf ein Wort da­von er­fah­ren.«

»Auch Mil­ly und Anna nicht?«

»Un­ter kei­ner Be­din­gung. Sie müs­sen mich alle für Pe­ter Woo­driff hal­ten. Heu­te möch­te ich aber noch einen Blick in das Zim­mer wer­fen, wo dei­ne Toch­ter ge­stor­ben ist, ehe ich nach der Stadt zu­rück­keh­re.«

»Wenn du als Pe­ter kom­men willst, soll­test du dich lie­ber vor­her gar nicht hier zei­gen,« warf Woo­driff klüg­lich ein.

»Weiß ir­gend je­mand, dass du den Ge­heim­po­li­zis­ten Beck hier­her be­ru­fen hast?«

»Nur mei­ne Toch­ter Mil­ly.«

»So wird es doch gut sein, wenn ich er­schei­ne; es scha­det auch gar nichts, dass ich so­wohl mit Paul Becks, als mit Pe­ter Woo­driffs Au­gen Um­schau hal­te. Ich glau­be schwer­lich, dass eine der jun­gen Da­men oder sonst je­mand mich bei mei­nem nächs­ten Be­such er­ken­nen wird. Wie sieht denn üb­ri­gens dein Bru­der Pe­ter aus?«

»Man sagt, dass er mir glei­che; nur ist er grö­ßer.«

Im Hau­se zeig­te sich Mil­ly Woo­driff sehr schüch­tern und ängst­lich in Ge­gen­wart des De­tek­tivs aus Lon­don. Die sonst so stil­le Anna Coo­lin sorg­te da­ge­gen freund­lich für ihn, leis­te­te ihm bei der Mahl­zeit Ge­sell­schaft und führ­te ihn nach dem Zim­mer, wo noch die Lei­che ih­rer Cou­si­ne lag.

»Kann ich Ih­nen viel­leicht ir­gend­wie be­hilf­lich sein, Herr Beck?« frag­te sie und schau­te ihn mit ih­ren un­schulds­vol­len blau­en Au­gen weh­mü­tig an. »Ich habe die arme Let­ty sehr lieb ge­habt.«

»Da­von bin ich über­zeugt, mein Kind,« ver­setz­te er in sanf­tem Ton. »Aber ich tue mei­ne Ar­beit am liebs­ten al­lein.«

Beck ver­schloss die Tür von in­nen und mach­te sich so­gleich ans Werk. Nichts ent­ging sei­nen ra­schen Bli­cken, sei­nen flin­ken Hän­den. Zu­letzt feg­te er noch den Staub vom Fuß­bo­den in einen Win­kel und un­ter­such­te ihn ge­nau; dann ließ er die Asche im Ka­min durch sei­ne Fin­ger lau­fen. Er fand dar­in ein blau­es Glas­kü­gel­chen, das an ei­nem Ende zu ei­ner lan­gen Na­del ge­schmol­zen war, und ein halb­ver­brann­tes Stück­chen von ei­ner wei­ßen Papp­schach­tel. Im Keh­richt ent­deck­te er einen klei­nen ge­wun­de­nen Gold­ring von ge­rin­gem Wert, ein schma­les End­chen wei­ßes aus­ge­zack­tes Band, ein Ge­wirr von hell­far­bi­gen Sei­den­fä­den nebst vie­len Steck­na­deln und Haar­na­deln, Die­se Schät­ze zeig­te er John Woo­driff in der hoh­len Hand, be­vor er Ab­schied nahm.

»Es soll­te mich wun­dern, wenn ich nicht hier ein paar Buch­sta­ben des Rät­sel­worts hät­te; nur muss es mir ge­lin­gen, sie aus dem Plun­der her­aus­zu­le­sen,« sag­te er.

Zwei Tage spä­ter ließ sich ein großer, stark­kno­chi­ger Mann, der, nach An­zug, Ge­stalt und Spra­che zu ur­tei­len, nur ein Yan­kee sein konn­te, bei Herrn John Woo­driff mel­den. Im ers­ten Au­gen­blick war Woo­driff ganz ver­blüfft. Als der Frem­de ihn je­doch in sei­ner nä­seln­den Spra­che also an­re­de­te: »Wahr­haf­tig, John, du kennst dei­nen ei­ge­nen Bru­der Pe­ter nicht mehr. Und ich bin doch um die hal­be Erde ’rum ge­fah­ren, weil ich dich mal wie­der zu Ge­sicht be­kom­men woll­te,« da fass­te er ihn bei der Hand und hieß Beck mit großer Herz­lich­keit will­kom­men.

Die­ser hat­te sich für sei­ne Rol­le wun­der­bar her­aus­staf­fiert. Pe­ter Woo­driff aus Chi­ca­go war ein hoch­ge­wach­se­ner Mann, fast drei Zoll grö­ßer als Herr Beck, dem er nicht im ge­rings­ten glich. Um die Au­gen und den Mund hat­te er eine star­ke Fa­mi­li­en­ähn­lich­keit mit John Woo­driff, die je­der­mann so­gleich auf­fiel; man er­kann­te beim ers­ten Blick, dass sie Brü­der wa­ren. Als die bei­den Mäd­chen ge­ru­fen wur­den, um den On­kel Pe­ter zu be­grü­ßen, ka­men sie schnell mit ihm auf ver­trau­ten Fuß. Er war so klug und da­bei so lieb und gut. Als er von ih­rem Kum­mer hör­te, zeig­te er sich tief be­trübt und bahn­te sich da­mit den Weg zu al­ler Her­zen.

Von Tag zu Tag wuchs ihre Lie­be zu dem On­kel, der ge­gen bei­de Nich­ten die Güte sel­ber war, doch schi­en Anna Coo­lin sein Lieb­ling zu sein. Auf der frü­her so lus­ti­gen, le­bens­fro­hen Mil­ly Woo­driff las­te­te der Ver­lust ih­rer Zwil­lings­schwes­ter noch zent­ner­schwer. Wenn sie auch von Zeit zu Zeit auf Au­gen­bli­cke ih­ren Gram ver­gaß und ihre feu­ri­gen dun­keln Au­gen wie­der wie frü­her auf­leuch­te­ten, wenn sie einen der ko­mi­schen Spä­ße des On­kels mit hei­te­rem Scherz­wort er­wi­der­te oder ein lus­ti­ges Lied­chen zu träl­lern be­gann, so ver­stumm­te doch der fröh­li­che Laut gleich wie­der, und der Glanz ver­schwand aus ih­ren Au­gen, weil die Erin­ne­rung an ih­ren nie en­den­den Kum­mer von neu­em er­wach­te. Anna war eine viel ru­hi­ge­re Na­tur. Selbst der Schmerz konn­te sie nicht aus ih­rem stil­len Gleich­mut brin­gen. Sie bil­de­ten einen merk­wür­di­gen Ge­gen­satz, der große, der­be, welt­klu­ge Mann und das harm­lo­se, klei­ne, un­schul­di­ge Mäd­chen, aber je­den­falls fühl­ten sie sich sehr zu ein­an­der hin­ge­zo­gen.