Eine Detektivin - Matthias McDonnell Bodkin - E-Book

Eine Detektivin E-Book

Matthias McDonnell Bodkin

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Beschreibung

Matthias McDonnell Bodkin (1850 - 1933) war ein irischer Nationalist, Politiker, Journalist und Schriftsteller. Neben seiner politischen Tätigkeit widmete er sich in nicht unbedeutendem Maße auch dem Schreiben von Kriminalgeschichten, Romanen, Dramen und politischen Kampfschriften. Bodkin zählt zu den populärsten Kriminalautoren des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Seine bekanntesten Geschichten kreisen um den privaten Ermittler Paul Beck. Diese Detektivfigur wird vielfach als der "irische Sherlock Holmes" bezeichnet. Bodkin ist es, der mit der hier vorgestellten Dora Myrl die erste weibliche Ermittlerin der Kriminalgeschichte präsentierte. Null Papier Verlag

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Matthias McDonnell Bodkin

Eine Detektivin

Matthias McDonnell Bodkin

Eine Detektivin

(Dora Myrl, the Lady Detective)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Margarete Jacobi EV: Engelhorn, Stuttgart, 1913 2. Auflage, ISBN 978-3-954183-24-1

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Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Der falsche und der wah­re Erbe

Die ver­steck­te Vio­li­ne

Der Krück­stock

Die Si­byl­le

Wer ge­winnt?

Ein Sei­den­knäu­el

Auf der Lo­ko­mo­ti­ve

Des Groß­on­kels Ver­mächt­nis

War es eine Fäl­schung?

Ein Ver­steck­spiel

Ge­wo­gen und zu leicht er­fun­den

Künst­li­che Flü­gel

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Kri­mis bei Null Pa­pier

Der Frau­en­mör­der

Eine De­tek­ti­vin

Hem­mungs­los

Der Mann, der zu viel wuss­te

Noch mehr De­tek­tiv­ge­schich­ten

Sher­lock Hol­mes – Samm­lung

Eine Kri­mi­nal­ge­schich­te & Das graue Haus in der Rue Ri­che­lieu

Der Dop­pel­mord in der Rue Morgue

In­di­sche Kri­mi­na­ler­zäh­lun­gen

Kri­mi­nal­ge­schich­ten

und wei­te­re …

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Das Buch

Matt­hi­as McDon­nell Bod­kin (1850 - 1933) war ein iri­scher Na­tio­na­list, Po­li­ti­ker, Jour­na­list und Schrift­stel­ler.

Ne­ben sei­ner po­li­ti­schen Tä­tig­keit wid­me­te er sich in nicht un­be­deu­ten­dem Maße auch dem Schrei­ben von Kri­mi­nal­ge­schich­ten, Ro­ma­nen, Dra­men und po­li­ti­schen Kampf­schrif­ten.

Bod­kin zählt zu den po­pu­lärs­ten Kri­mi­nal­au­to­ren des frü­hen zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts. Sei­ne be­kann­tes­ten Ge­schich­ten krei­sen um den pri­va­ten Er­mitt­ler Paul Beck. Die­se De­tek­tiv­fi­gur wird viel­fach als der »iri­sche Sher­lock Hol­mes« be­zeich­net.

Bod­kin ist es, der mit der hier vor­ge­stell­ten Dora Myrl die ers­te weib­li­che Er­mitt­le­rin prä­sen­tier­te.

Der falsche und der wahre Erbe

»Un­mög­lich!« dach­te Ro­de­rich Ayl­mer, der Be­sit­zer von Duns­com­be, wäh­rend er durch das Er­ker­fens­ter auf den brei­ten Kies­weg hin­aus­blick­te: »die­ser klei­ne Back­fisch soll ein glän­zen­des Uni­ver­si­täts­ex­amen ge­macht ha­ben und Dok­tor der Me­di­zin sein -- das ist ja rein lä­cher­lich!«

Da kam mit ra­schem, flot­tem Schwung ein Fahr­rad da­her­ges­aust; ein zier­li­ches, klei­nes Fräu­lein sprang ab und stieg leicht­fü­ßig die stei­ner­nen Stu­fen her­auf.

Sie trug auch wahr­lich nicht den Stem­pel ei­nes ge­lehr­ten Frau­en­zim­mers, die­se an­mu­ti­ge, be­weg­li­che Ge­stalt, die jetzt auf der obers­ten Stu­fe im hel­len Son­nen­schein stand. Nach ih­rer freund­li­chen und ver­gnüg­ten Mie­ne zu ur­tei­len, hät­te man sie viel eher für ein lus­ti­ges Schul­mäd­chen hal­ten kön­nen, das sich auf ei­nem heiß­er­sehn­ten Fe­ri­en­aus­flug er­götzt. Ein keckes Hüt­chen mit feu­er­ro­tem Fe­der­busch saß auf den di­cken glän­zen­den Flech­ten des krau­sen brau­nen Haa­res, und der kur­ze Rock ih­res eng­an­lie­gen­den Klei­des, den der lei­se Wind be­weg­te, ließ ihre zier­li­chen Füß­chen se­hen, die in hell­brau­nen Rad­fahr­schu­hen steck­ten.

Jetzt schritt sie un­ter den do­ri­schen Säu­len durch die Vor­hal­le und drück­te auf die elek­tri­sche Klin­gel. »Kann ich Herrn Ayl­mer spre­chen?« frag­te sie den Die­ner, der die Türe weit öff­ne­te, und reich­te ihm ihre Vi­si­ten­kar­te. »Fräu­lein Dora Myrl« stand dar­auf.

Ro­de­rich Ayl­mer kam ihr sel­ber ent­ge­gen. Er stieg die Trep­pe hin­un­ter, durch­schritt die küh­le, mit schwar­zen und wei­ßen Mar­mor­plat­ten be­leg­te Hal­le und sag­te, ihr die Hand rei­chend: »Sei­en Sie mir bes­tens will­kom­men!« Das Fräu­lein warf nur einen durch­drin­gen­den Blick auf sein ehr­li­ches, hüb­sches Ge­sicht, dann leg­te sie ihr Händ­chen mit fes­tem, herz­li­chem Druck in sei­ne bie­de­re Rech­te.

»Wie ich Ih­nen schon ge­schrie­ben habe, Fräu­lein Myrl«, be­gann er ohne wei­te­res, so­bald sie zu­sam­men im Wohn­zim­mer sa­ßen, »ist mei­ne Frau sehr krank und förm­lich zum Schat­ten ab­ge­ma­gert: doch ver­mag kein Arzt ihr Übel zu er­ken­nen. Als un­ser ein­zi­ger Sohn vor zwölf Jah­ren ge­bo­ren wur­de, be­kam sie ein schlim­mes Fie­ber, von dem sie sich nie wie­der ganz er­holt hat. Sie ist im­mer ge­dul­dig, ja nur all­zu sanft, wie mir dünkt: in Zorn ge­rät sie nie, aber es kommt auch kein Lä­cheln auf ihre Lip­pen. Ob­gleich sie un­sern Sohn von gan­zem Her­zen liebt, scheint sie doch am trau­rigs­ten zu sein, wenn er bei ihr ist. Ihre Schwer­mut nimmt mit je­dem Tage zu und wir füh­ren ein trüb­se­li­ges Le­ben. Des­halb schla­ge ich es Ih­nen hoch an, daß Sie ge­kom­men sind: ich wür­de Ih­nen un­end­lich dank­bar sein, wenn Sie mei­ne arme Frau et­was her­aus­rei­ßen und er­hei­tern könn­ten. Ent­schul­di­gen Sie mich einen Au­gen­blick; ich will ihr sa­gen, daß Sie hier sind, es wird ihr Freu­de ma­chen.«

Als je­doch die hüb­sche Frau mit dem blei­chen, ab­ge­zehr­ten Ge­sicht, auf den Arm ih­res Gat­ten ge­stützt, lang­sam ins Zim­mer trat, er­kann­te Dora Myrl auf den ers­ten Blick, daß die Her­rin des Hau­ses über ihre An­kunft nicht er­freut war, son­dern sich vor ihr fürch­te­te, wie­wohl sie ihre ge­hei­me Angst un­ter ei­ner lie­bens­wür­di­gen Be­grü­ßung zu ver­ber­gen such­te.

»Ich will ihr Ver­trau­en ge­win­nen und se­hen, ob ich ihr nicht hel­fen kann«, dach­te die scharf­sin­ni­ge Dora in ih­rem prak­ti­schen Sinn, wäh­rend sie das tief­trau­ri­ge Ge­sicht voll Mit­leid be­trach­te­te.

Die nächs­ten zwei Wo­chen ver­gin­gen in Duns­com­be-Haus wie im Flu­ge. Ayl­mer fühl­te sich neu be­lebt durch die Ge­sell­schaft der mun­te­ren jun­gen Dame, die ihn er­mu­tig­te, sich im Ten­nis- und Cro­quet­spiel auf dem glat­ten, grü­nen Ra­sen tüch­tig an­zu­stren­gen und ihm Abends am Bil­lard beim Schein der elek­tri­schen Lam­pen man­che Par­tie ab­ge­wann.

Auch der sanf­ten Her­rin des Hau­ses, die so trau­ri­ge Au­gen hat­te, war sie eine lie­be Ge­fähr­tin. Selbst wenn sie ganz stumm bei ein­an­der sa­ßen, hat­te ihr teil­nahm­voll­es We­sen et­was un­ge­mein Trost­rei­ches für dies schwer­ge­prüf­te Herz. Stets war sie fröh­lich und hilf­reich, aber ob­gleich ihre lan­gen Ge­sprä­che mit Frau Ayl­mer oft in herz­li­cher Zärt­lich­keit en­de­ten und Dora mehr als ein­mal fühl­te, daß sie dem ver­bor­ge­nen Kum­mer schon ganz nahe ge­kom­men wa­ren, so hat­ten sie ihn doch bis jetzt noch nicht be­rührt.

An ei­nem war­men Nach­mit­tag sa­ßen sie bei­de in Ali­ce Ayl­mers Bou­doir, das auf den schat­ti­gen Gar­ten hin­aus­ging, wo der küh­le Spring­brun­nen plät­scher­te. Dora las und Frau Ayl­mer hielt eine Sti­cke­rei in der Hand, mit der sie sich stumm be­schäf­tig­te, aber trotz­dem leis­te­ten sie ein­an­der trau­li­che Ge­sell­schaft. Wäh­rend Dora mit den Bli­cken die Zei­len ih­res Bu­ches über­flog und den Haup­tin­halt der Ge­schich­te auf­faß­te, wa­ren ihre un­ru­hi­gen Ge­dan­ken fort­wäh­rend mit dem Ge­heim­nis be­schäf­tigt, das sie in dem stil­len Zim­mer wie einen Druck zu spü­ren mein­te.

Ver­trau­en er­zeugt Ver­trau­en, über­leg­te sie, ich will da­mit an­fan­gen, ihr et­was von mir zu er­zäh­len. »Möch­ten Sie wohl wis­sen, Ali­ce, wie es mir im Le­ben er­gan­gen ist, ehe ich zu Ih­nen kam?« frag­te sie ohne be­son­de­re Ein­lei­tung.

»Nur wenn Sie gern da­von spre­chen, lie­be Dora. Mir ge­nügt es voll­kom­men, Sie als mei­ne Freun­din hier zu ha­ben.«

»Aber Freun­din­nen soll­ten nichts vor­ein­an­der ver­ber­gen«, sag­te sie, und in ih­ren kla­ren grau­en Au­gen leuch­te­te es hell auf. »Doch habe ich im Grun­de we­nig mit­zu­tei­len, wenn ich’s recht be­den­ke. Mein Va­ter war ein ehr­wür­di­ger Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor in Cam­bridge. Er hei­ra­te­te spät und mei­ne Mut­ter« -- hier beb­te ihre Stim­me und ihre Au­gen füll­ten sich mit Trä­nen -- »habe ich nie ge­kannt. Sie starb, als sie mir das Le­ben gab. Mei­nem Va­ter tat es zu­erst leid, daß ich kein Kna­be war, spä­ter in­des söhn­te er sich ganz da­mit aus und er setz­te sei­nen größ­ten Ehr­geiz dar­ein, daß ich zu­gleich eine fein­ge­bil­de­te Dame und eine Ge­lehr­te wer­den soll­te. Die Ärz­te sag­ten, er habe dem Tode noch drei Mo­na­te län­ger wi­der­stan­den, als sie es für mög­lich ge­hal­ten hät­ten, um zu er­le­ben, daß ich mein Ex­amen in Cam­bridge mit Aus­zeich­nung ab­sol­vier­te. Dann starb er be­frie­digt und ließ mich im Al­ter von acht­zehn Jah­ren mit zwei­hun­dert Pfund und mei­ner Wür­de als Bak­ka­lau­reus al­lein in der Welt zu­rück. Das müh­se­li­ge Le­ben ei­ner Schul­leh­re­rin reiz­te mich nicht; so ver­wand­te ich denn mein ge­rin­ges Ver­mö­gen dar­auf, mir den Dok­tor­ti­tel zu er­wer­ben. Al­lein die Pa­ti­en­ten blie­ben aus und auf sie war­ten konn­te ich we­der, noch moch­te ich es. So bin ich denn im Lau­fe des letz­ten Jah­res Te­le­gra­phis­tin, Te­le­pho­nis­tin und Zei­tungs­schrei­be­rin ge­we­sen. Letz­te­res ge­fiel mir am bes­ten, doch habe ich mei­nen ei­gent­li­chen Be­ruf noch nicht ent­deckt. Ich bin ein klei­ner un­ru­hi­ger Geist, des­sen rast­lo­se Wiß­be­gier­de schwer zu be­frie­di­gen ist. Als ich in der Zei­tung die An­zei­ge Ihres Gat­ten las, der eine leb­haf­te Ge­sell­schaf­te­rin such­te, wur­de mei­ne Neu­gier wach, ich gab mei­ne Stel­lung auf und kam hier­her.«

»Hof­fent­lich ha­ben Sie es nicht be­reut!«

»Durchaus nicht, nur möch­te ich --«

Ein lau­tes Klop­fen an der Türe un­ter­brach ihre Wor­te.

»Frau Ca­ruth ist un­ten«, mel­de­te die ein­tre­ten­de Die­ne­rin.

»Laß sie her­auf­kom­men.«

Aber ehe das Mäd­chen noch die Bot­schaft aus­rich­ten konn­te, dräng­te sich Frau Ca­ruth selbst mit Un­ge­stüm an ihr vor­über ins Zim­mer.

Sie war eine vier­schrö­ti­ge Ge­stalt mit blit­zen­den Au­gen un­ter scharf ge­zeich­ne­ten Brau­en; Mund und Kinn ver­rie­ten Ent­schlos­sen­heit, ihr Ge­sicht war aus­drucks­voll, selbst hübsch zu nen­nen, doch mach­te sie den Ein­druck ei­ner Frau, die mehr Furcht als Ver­trau­en ein­flö­ßt. So kam es we­nigs­tens der scharf­sich­ti­gen Dora Myrl vor, als sie von Frau Ca­ruth zu Ali­ce Ayl­mer hin­blick­te, die bei der zu­dring­li­chen neu­en Er­schei­nung bald rot bald blaß wur­de und zit­ter­te wie Es­pen­laub.

Dora sah sie die Far­be wech­seln, sie sah das Be­ben ih­rer Glie­der und gleich dem ge­üb­ten Arzt, der den Pa­ti­en­ten mit dem Stetho­skop un­ter­sucht, bis er den ge­hei­men Sitz der Krank­heit er­forscht hat, mur­mel­te sie lei­se vor sich hin: »Hier steckt die Wur­zel des Übels.«

Wäh­rend­dem mus­ter­te Frau Ca­ruth Dora mit un­ver­schäm­ten Bli­cken, in de­nen die deut­li­che Fra­ge lag: »Was hast du hier zu su­chen?«

Si­cher­lich hät­te sich Dora dies fre­che An­star­ren nicht ge­fal­len las­sen, aber aus Frau Ayl­mers Au­gen sprach ein so be­red­tes Fle­hen, daß sie ihr nicht wi­der­stre­ben konn­te.

»Wenn es Ih­nen recht ist, Ali­ce, möch­te ich ein paar Brie­fe schrei­ben«, sag­te sie und ver­ließ eilends das Zim­mer. Sie hör­te, wie die Türe hin­ter ihr hef­tig zu­ge­schla­gen und der Schlüs­sel her­um­ge­dreht wur­de.

Wohl eine Stun­de saß Dora war­tend im Ne­ben­zim­mer und ver­nahm von Zeit zu Zeit die her­ri­schen Lau­te ei­ner zor­ni­gen Stim­me und un­ter­drück­tes Wei­nen.

End­lich er­schi­en Frau Ca­ruth mit tri­um­phie­ren­der Mie­ne auf der Schwel­le und ent­fern­te sich, ohne Dora auch nur ei­nes Blickes zu wür­di­gen. Drin­nen aber lag Frau Ayl­mer auf dein Sofa aus­ge­streckt! sie ver­barg ihr Ge­sicht in den Samt­kis­sen und schluchz­te so lei­den­schaft­lich, daß ihr gan­zer Kör­per beb­te.

Es lag in Dora My­rls Ei­gen­art -- viel­leicht war es ein Feh­ler ih­rer Na­tur --, daß ihr trotz des war­men Mit­ge­fühls, das ihr die lei­den­de Freun­din ein­flö­ßte, doch der Ge­dan­ke durch den Kopf schoß: »Jetzt ist der güns­ti­ge Au­gen­blick ge­kom­men, um das Ge­heim­nis zu er­fah­ren.«

Sie nahm ne­ben dem Sofa Platz und um­faß­te Ali­ces matt her­ab­hän­gen­de Rech­te mit bei­den Hän­den. »Nun sa­gen Sie mir al­les, was Ih­nen das Herz be­drückt«, bat sie.

Sie sprach freund­lich wie zu ei­nem Kin­de, aber doch in so be­stimm­tem Ton, als kön­ne von Wi­der­spruch nicht die Rede sein, und Frau Ayl­mer, die durch Kum­mer und Furcht ge­schwächt war, füg­te sich wie ein Kind ih­rem Wil­len.

»Es war zur Zeit als mein Kna­be ge­bo­ren wur­de«, be­gann sie.

»Ihr Sohn, der mor­gen in die Fe­ri­en nach Hau­se kommt?«

»Ja -- nein -- o mein Gott, Dora, ha­ben Sie Ge­duld mit mir, ich will Ih­nen al­les be­ken­nen. Aber un­ter­bre­chen Sie mich nicht, sonst ver­läßt mich die Kraft. -- Seit drei Jah­ren war ich mit Ro­de­rich ver­hei­ra­tet und un­end­lich glück­lich, aber doch wuß­te ich nur zu gut, wie sehr mein Gat­te sich einen Er­ben wünsch­te. Als der Kna­be end­lich zur Welt kam, war die Freu­de groß, aber lei­der nur von kur­z­er Dau­er. Ich fühl­te mich ent­setz­lich schwach und mein ar­mer Säug­ling war sehr zart und hin­fäl­lig. Sei­ne Händ­chen tas­te­ten nach der Mut­ter­brust, aber ver­ge­bens öff­ne­te er die Lip­pen, um Nah­rung zu su­chen. Ich hat­te kei­ne Milch für mei­nen Erst­ge­bo­re­nen -- o Dora -- Sie wis­sen nicht, wie schwer das ist! Frau Ca­ruth war bei mir in Dienst ge­we­sen und hat­te dann den Grob­schmied des Dor­fes ge­hei­ra­tet -- einen Trun­ken­bold, wie ich spä­ter er­fuhr. Am sel­ben Tage, wie ich, hat­te sie einen Kna­ben zur Welt ge­bracht und kam nun als Amme zu mei­nem Archi­bald. Es brach mir fast das Herz, als ich das win­zi­ge, blas­se Ge­schöpf­chen, das bei mir im­mer so kläg­lich wim­mer­te, in fried­li­chem Be­ha­gen an ih­rer Brust lie­gen sah. Doch wur­den wir täg­lich schwä­cher, der Kna­be und ich; mir nahm wohl nur die Angst um das Kind alle Kraft. Ei­nes Abends war ich fest ein­ge­schla­fen, und als ich er­wach­te, hör­te ich in dem dunklen Zim­mer mei­nen Mann und den Dok­tor im Flüs­ter­ton mit­ein­an­der re­den.

›Für sie fürch­te ich kei­ne Ge­fahr‹, sag­te der Dok­tor mit sol­chem Nach­druck, daß es mich kalt über­lief, denn ich er­riet, was nun fol­gen wür­de.

›Und der Kna­be?‹ er­kun­dig­te sich mein Mann lei­se. Wie oft hat­te ich mich ge­sehnt die Fra­ge zu stel­len!

›Sind Sie stark ge­nug, um die Wahr­heit zu hö­ren?‹

›Ja; al­les ist leich­ter zu er­tra­gen als die­se be­stän­di­ge Furcht.‹

›Dann las­sen Sie Furcht und Hoff­nung fah­ren‹, ant­wor­te­te der Dok­tor fei­er­lich. ›Der Kna­be kann nicht am Le­ben blei­ben.‹

›Wie grau­sam ist die­ser Auss­pruch!‹

›Sie woll­ten die Wahr­heit hö­ren.‹

Ein lei­ses ver­zwei­fel­tes Stöh­nen ent­rang sich der Brust mei­nes ar­men Man­nes. Mir blu­te­te das Herz bei sei­nem Gram und ich hät­te laut auf­schrei­en mö­gen: da hör­te ich, wie ihm der Dok­tor zu­flüs­ter­te: ›Neh­men Sie sich zu­sam­men, da­mit Sie die Kran­ke nicht we­cken.‹ Sie wuß­ten wohl bei­de nicht, daß Frau Ca­ruth im Zim­mer war. So­bald sich die Tür hin­ter ih­nen ge­schlos­sen hat­te, mach­te sie Licht, trat an mein Bett und sah mir ru­hig ins Ant­litz.

›Sie ha­ben ge­hört, was der Dok­tor sag­te, Ma­da­me; als Sie den Atem an­hiel­ten, wuß­te ich, daß Sie wach wä­ren.‹

›O Mar­tha, es wird mei­nen Mann um­brin­gen‹, stieß ich ver­zwei­felt her­aus, ›er kann es nicht über­le­ben!‹

›Möch­ten Sie ihm den Schmerz er­spa­ren?‹

›Um je­den Preis. Selbst mei­ne See­le gebe ich da­für hin -- doch es ist un­mög­lich.‹

›Ich weiß einen Aus­weg. Wir müs­sen die Kna­ben ver­tau­schen.‹

›Nun und nim­mer­mehr!‹ rief ich.

›Erst hö­ren Sie mei­nen Plan‹, sag­te sie ge­bie­te­risch. ›Mein Sohn ist ein präch­ti­ger Kna­be und mehr wert als hun­dert sol­cher Jam­mer­we­sen wie Ihr Kind; Sie wer­den bei dem Tausch nur ge­win­nen. Ich kann Ihren Kna­ben näh­ren und viel­leicht am Le­ben er­hal­ten. In die­sem Fal­le wür­den wir den Tausch wie­der rück­gän­gig ma­chen. Stirbt er -- schau­dern Sie nicht so -- Sie müs­sen dar­auf ge­faßt sein -- stirbt er, so braucht es ihr Gat­te nie zu er­fah­ren und er be­hält im­mer noch einen schö­nen, kräf­ti­gen Er­ben.‹

Ich war so schwach und sie so stark; viel­leicht dient mir das ei­ni­ger­ma­ßen zur Ent­schul­di­gung. Mei­nem Gat­ten zu­lie­be wil­lig­te ich ein, mich von dem Kna­ben zu tren­nen: ich gab Frau Ca­ruth Geld und Ju­we­len und ließ sie schwö­ren, daß sie mein Kind gut be­han­deln wür­de.

›Ich will es lie­ben, als ob es mein ei­ge­nes wä­re‹, ver­si­cher­te sie mir un­zäh­li­ge Male.

Hier­auf muß ich wohl in einen Fie­ber­zu­stand ver­fal­len sein; ich wein­te und stöhn­te den gan­zen Tag, daß mein Sohn ster­ben wür­de. Bis­her hat­te mich eine freund­li­che Wär­te­rin ge­pflegt; sie hieß Kit­ty Sul­li­van, war eine Ir­län­de­rin und ka­tho­li­scher Re­li­gi­on. Sie ver­such­te auf jede Wei­se, mich zu trös­ten, und knie­te zu­letzt an der Wie­ge hin, um voll In­brunst für mein Kind zu be­ten: ›Ge­grü­ßet seist du, Ma­ria! Hei­li­ge Jung­frau!‹ hör­te ich sie wie­der und wie­der sa­gen, bis ich end­lich in einen un­ru­hi­gen Schlum­mer sank; doch selbst im Schlaf wur­de ich von Furcht ge­pei­nigt.

Die gute Kit­ty ver­ließ mich an je­nem Abend, und bis die neue Wär­te­rin kam, soll­te Frau Ca­ruth mei­ne Pfle­ge über­neh­men. Zur Nacht­zeit be­trat sie das düs­te­re Kran­ken­zim­mer, zog ein Bün­del un­ter ih­rem Man­tel her­vor und mach­te sich an der Wie­ge zu schaf­fen. Ich schloß die Au­gen, um nicht zu se­hen, wie sie die Klei­der der bei­den Kin­der ver­tausch­te. Wie ein fins­te­rer Schat­ten glitt sie zur Türe hin­aus und ich hör­te ein Kind schrei­en. Das schnitt mir ins Herz gleich ei­nem Mes­ser: mein Kna­be fleh­te mich an, ihn zu ret­ten; aber alle Le­bens­kraft war von mir ge­wi­chen, ich fühl­te mich ster­bens­matt und fürch­te­te mich doch ent­setz­lich vor dem Tode.

Als ich wie­der zu kla­rem Be­wußt­sein er­wach­te, schi­en der hel­le Tag ins Zim­mer. Ich ahn­te nicht, daß in­zwi­schen ein Mo­nat ver­gan­gen war. Der Arzt sprach mit mei­nem Man­ne, des­sen Blick auf mir ruh­te.

›Ih­re Frau ist jetzt au­ßer Ge­fahr‹, sag­te er. ›An ih­rer Er­hal­tung habe ich üb­ri­gens nie ge­zwei­felt; aber, daß der Kna­be lebt, ist ein wah­res Wun­der.‹ Man brach­te ihn mir ans Bett, er war frisch und ro­sig und ich schwelg­te in sei­nem An­blick.

Stel­len Sie sich vor, Dora, daß ich Frau Ca­ruth und ih­ren ver­ruch­ten Plan gänz­lich ver­ges­sen hat­te und mir ein­bil­de­te, es sei mein ei­ge­nes Kind. Wel­che Tor­heit, an den untrüg­li­chen In­stinkt der Mut­ter zu glau­ben! Ich lieb­te den Sohn je­ner ab­scheu­li­chen Frau mit al­len Fa­sern mei­nes Her­zens. Als mir die Erin­ne­rung lang­sam zu­rück­kehr­te, brach­te mich der Ge­dan­ke fast um den Ver­stand, aber an mei­ner Lie­be än­der­te das nichts.

Man sag­te mir, Frau Ca­ruth sei spur­los ver­schwun­den. Nach zwei Jah­ren kehr­te sie je­doch ins Dorf zu­rück und brach­te einen klei­nen Kna­ben mit -- mei­nen und Ro­de­richs Sohn, den wah­ren Er­ben von Duns­com­be, den ich sei­ner Rech­te be­raubt hat­te.

Seit­dem füh­le ich mich un­aus­sprech­lich elend in dem Be­wußt­sein, was ich für eine un­na­tür­li­che Mut­ter bin. Aber ich konn­te und kann den Kna­ben, den ich lie­be, nicht für mei­nen Sohn hin­ge­ben, der mei­nem Her­zen fremd ist.

Frau Ca­ruth war das wohl zu­frie­den. Ich gab ihr von Zeit zu Zeit Geld, und wei­ter ver­lang­te sie nichts. Aber der Kna­be, mein ar­mer un­glück­li­cher Sohn, ist auf böse Wege ge­ra­ten. Heu­te kam sie, um mir zu sa­gen, man habe ihn auf ei­nem Dieb­stahl er­tappt und fest­ge­nom­men. Ich müs­se da­für sor­gen, daß sein Va­ter ihn aus dem Ge­fäng­nis be­frei­te, sonst wür­de sie al­les ver­ra­ten.

O, ich bin das elen­des­te We­sen un­ter der Son­ne. Hel­fen Sie mir, Dora! Was fan­ge ich nun an?«

»Sie müs­sen die Wahr­heit ge­ste­hen.«

»Das kann ich nicht. Wie soll­te ich es wa­gen! Es bräch­te Ro­de­rich um, wenn er er­füh­re, daß sein Sohn ein Dieb ist. Ich weiß wohl, wie grau­sam und sünd­haft es ist, daß ich mein ei­ge­nes Kind has­se und ei­nem an­dern an sei­ner Statt mei­ne Lie­be zu­wen­de. Doch es läßt sich nicht än­dern. Wenn Sie mor­gen Archi­bald se­hen, wer­den Sie mei­ne Ge­füh­le be­grei­fen und mich be­mit­lei­den.«

Am an­dern Tag kam vom Bahn­hof ein Jagd­wa­gen am Haus vor­ge­fah­ren; ein mun­te­rer kraus­köp­fi­ger Schul­kna­be hüpf­te her­aus, sprang wie ein Gum­mi­ball die Stu­fen hin­auf und in Ali­ce Ayl­mers aus­ge­brei­te­te Arme. Be­bend und er­rö­tend schloß sie ihn an ihr Herz.

»Den­ke dir nur, Mut­ter, fast hät­te ich mein ›Glück‹ ver­lo­ren«, rief er, wäh­rend er noch an ih­rem Hal­se hing. »Es fiel mir von der Uhr­ket­te auf den Bahn­steig und wäre fast auf die Schie­nen ge­rollt. Bit­te, ver­wah­re es, bis man es wie­der an der Ket­te fest­ma­chen kann.« Da­mit leg­te er eine klei­ne sil­ber­ne Me­dail­le auf das Schränk­chen, ne­ben dem er stand.

»Gut, ich will es an mich neh­men«, ver­setz­te sie. »Geh jetzt nur auf dein Zim­mer.«

So­bald der Kna­be fort war, schwand alle Freu­de aus Frau Ayl­mers Zü­gen und sie warf Dora einen fle­hen­den Blick zu, dem die­se je­doch aus­wich.

»Sein Glück? Was woll­te er da­mit sa­gen?«

Dora hat­te die Me­dail­le in die Hand ge­nom­men und be­trach­te­te sie von al­len Sei­ten. Sie war alt und ab­ge­nutzt, doch konn­te man noch eine weib­li­che Ge­stalt dar­auf er­ken­nen, die eine Kro­ne trug und rings von Pünkt­chen um­ge­ben war, die wie Ster­ne aus­sa­hen.

»Das ge­hört auch zu der Ge­schich­te«, sag­te Ali­ce. »Die Schau­mün­ze war an ei­nem dün­nen wei­ßen Band fest um des Kin­des Hals ge­bun­den, das ich zer­schnei­den muß­te, um sie ab­zu­neh­men. Als ich Frau Ca­ruth da­nach frag­te, ge­riet sie zu­erst in Ver­le­gen­heit und leug­ne­te, et­was da­von zu wis­sen.

Nach ei­ni­ger Zeit ge­stand sie mir aber, es sei ein Amu­lett, das ihr eine Zi­geu­ne­rin ge­ge­ben habe. Na­tür­lich glau­be ich an sol­chen Zau­ber nicht, aber ich dach­te, es kön­ne nichts scha­den, wenn der Kna­be die Me­dail­le an sei­ner Uhr­ket­te trü­ge.«

»Ha­ben Sie auch das Band auf­be­wahrt?« frag­te Dora mit ei­ner Er­re­gung, die zu der un­be­deu­ten­den Tat­sa­che in gar kei­nem Ver­hält­nis stand.

»Ja­wohl«, ver­setz­te Frau Ayl­mer ver­wun­dert. »Wol­len Sie es se­hen.«

Und sie schloß eine Schub­la­de ih­res Schreib­ti­sches auf, wo un­ter an­dern Erin­ne­rungs­zei­chen aus Archi­balds frü­he­s­ter Kind­heit ein schma­les wei­ßes Band lag, das mit ei­nem fes­ten Kno­ten um des Klei­nen Hals ge­knüpft ge­we­sen und dicht am Kno­ten ab­ge­schnit­ten war.

Dora Myrl nahm es der Mut­ter has­tig aus der Hand, leg­te es ne­ben des Kna­ben »Glück« auf den Tisch und be­trach­te­te bei­des mit großer Auf­merk­sam­keit.

Dann wich plötz­lich die Span­nung aus ih­ren Mie­nen, und sie wand­te sich mit strah­len­dem Lä­cheln zu Frau Ayl­mer hin.

»Es ist al­les in Ord­nung«, sag­te sie.

»Aber was denn, lie­be Dora?« frag­te Ali­ce er­staunt über die Zu­ver­sicht in Ton und We­sen der Freun­din, die sie nicht zu deu­ten wag­te.

»Sie se­hen doch, daß das Band nur ein­mal zu­ge­knüpft und nie wie­der ab­ge­nom­men wor­den ist?«

»Das ist ganz klar, aber --«

»Nur Ge­duld! Ich will Ih­nen sa­gen, was das Amu­lett der Zi­geu­ne­rin ei­gent­lich ist: eine ge­weih­te Denk­mün­ze, auf de­ren Schutz die Ka­tho­li­ken fest ver­trau­en. Kein Wun­der, daß Frau Ca­ruth sich nicht er­klä­ren konn­te --«

»O Dora, Sie er­schre­cken mich. Re­den Sie wei­ter!«

»Sie wer­den mich gleich ver­ste­hen. Sag­ten Sie mir nicht, Ihre ka­tho­li­sche Wär­te­rin habe für den Kna­ben ge­be­tet, noch ehe die Kin­der ver­tauscht wor­den wa­ren? Sie hat ihm die Me­dail­le um den Hals ge­bun­den, und sie ist nie­mals ent­fernt wor­den, be­vor Sie das Band zer­schnit­ten ha­ben. Kön­nen Sie jetzt die fro­he Bot­schaft er­ra­ten?«

»Es ist mein Kind, mein ei­ge­nes Kind!«

Die Wor­te ka­men in ge­bro­che­nen Lau­ten über Frau Ayl­mers Lip­pen.

»Na­tür­lich, Ihr ei­ge­nes Kind, lie­be Ali­ce«, ver­si­cher­te Dora mit Be­stimmt­heit. »Ihre Mut­ter­lie­be hat sich nicht ge­täuscht. Frau Ca­ruths Plan ist leicht zu durch­schau­en; sie hat we­der die Kin­der, noch de­ren Klei­der je­mals ver­tauscht, sonst hät­te sie die Denk­mün­ze be­mer­ken müs­sen. Sie be­hielt ihr ei­ge­nes Kind, das sie ge­wiß auch auf ihre Art lieb hat­te, und wuß­te Ih­nen den Glau­ben bei­zu­brin­gen, daß es das Ih­ri­ge sei. Moch­te Ihr Sohn nun le­ben, oder ster­ben, so hat­te sie im­mer die Mög­lich­keit, aus dem Be­trug Nut­zen zu zie­hen.«

Hoff­nung und Freu­de mal­ten sich in Frau Ayl­mers Bli­cken. Und als jetzt Archi­bald lus­tig ins Zim­mer ge­stürmt kam, die An­gel­ru­te in der einen Hand und sei­ne Ball­kel­le in der an­dern, war er nicht we­nig er­staunt, als ihn die Mut­ter hef­tig an sich riß, so daß sein Spiel­zeug auf den Bo­den roll­te, ihn mit Lieb­ko­sun­gen über­häuf­te und so fest ans Herz drück­te, als wol­le sie ihn nie wie­der aus ih­ren Ar­men las­sen. »Mein Sohn«, rief sie da­bei, »jetzt end­lich, end­lich ge­hörst du mir ganz!«

Als Frau Ca­ruth am nächs­ten Mor­gen Ali­ce wie­der zu se­hen ver­lang­te, wur­de sie von Fräu­lein Dora Myrl emp­fan­gen. Bei dem Kreuz­ver­hör, das die scharf­sin­ni­ge jun­ge Dame mit ihr an­stell­te, ver­lor die Be­trü­ge­rin bald alle Fas­sung und ge­stand ihre Ar­g­list ein. Mit Furcht und Zit­tern floh sie aus dem Dor­fe und stör­te fort­an Ali­ce Ayl­mers Frie­den nie­mals wie­der.

»Sie sind un­ser gu­ter En­gel, Fräu­lein Myrl«, sag­te Herr Ayl­mer an je­nem Abend, als die drei bei­sam­men sa­ßen, und Ali­ce lä­chel­te dazu glück­se­lig, wenn auch un­ter Trä­nen.

Sie hat­te ih­rem Gat­ten al­les ge­stan­den, und nun sie sei­ner Ver­ge­bung si­cher war, kehr­te wie­der Ruhe in ihre See­le ein.

»Ja«, wie­der­hol­te Ro­de­rich Ayl­mer mit Nach­druck, »Sie sind un­ser gu­ter En­gel. Ih­nen ver­dan­ken wir al­les wie­der­ge­fun­de­ne Glück. Eine dunkle Wol­ke hing über un­serm Hau­se und Sie wa­ren die Son­ne, die sie ver­trie­ben hat. Nun müs­sen Sie uns aber auch ge­stat­ten, Ih­nen uns­re Dank­bar­keit zu be­wei­sen und --«

Da un­ter­brach ihn Dora mit mun­te­rem La­chen. »Re­den Sie doch nicht in so poe­ti­schen Aus­drücken, Herr Ayl­mer«, sag­te sie. »Ich bit­te Sie nur, mich ge­le­gent­lich bei Ihren Freun­den zu emp­feh­len, denn jetzt habe ich mei­nen Be­ruf ent­deckt und will die­se Kar­te so­gleich nach der Dru­cke­rei schi­cken.«

Die jun­ge Dame hat­te, wäh­rend sie sprach, et­was auf ein Stück Pa­pier ge­schrie­ben, das sie jetzt vor Ro­de­rich Ayl­mer hin­leg­te.

In sau­be­rer, kla­rer Schrift, fast so deut­lich, als wäre sie ge­druckt, wa­ren dar­auf die Wor­te zu le­sen:

Fräu­lein Dora My­r­l, Ge­heim­po­li­zis­tin.

Die versteckte Violine

»Ich käme ger­ne, Syl­via, aber ich kann nicht.«

»Du mußt, Dora!«

»Das ist leicht ge­sagt. Ich habe einen drin­gen­den Fall zu be­ar­bei­ten, der bis mor­gen fer­tig sein muß. Wo soll ich die Zeit her­neh­men?«

»Du wirst es schon ein­rich­ten.«

Die bei­den Mäd­chen hat­ten am Nach­mit­tag in Do­ras freund­li­chem, klei­nem Wohn­zim­mer be­hag­lich bei ei­ner Tas­se Tee ge­ses­sen. Jetzt sprang Syl­via so has­tig auf, daß ihr sei­de­nes Kleid ra­schel­te; schel­mi­sche Grüb­chen zeig­ten sich in ih­ren Wan­gen und ihre Au­gen leuch­te­ten. Sie muß­te wohl eine an­ge­neh­me Über­ra­schung für die Freun­din auf dem Her­zen ha­ben, die sie nur noch mit Mühe zu­rück­hielt.

Dora folg­te ihr mit den Bli­cken.

»Höre Syl­via, ich bin zwar Ge­heim­po­li­zis­tin, aber dein Rät­sel kann ich nicht ra­ten. Wenn du es etwa in dei­nem neu­mo­di­schen sei­de­nen Är­mel ver­birgst, dann nur her­aus da­mit! --«

Syl­via stell­te sich in freu­di­ger Er­re­gung vor sie hin.

»Si­gnor Ni­co­lo Ama­ti wird bei uns spie­len. So, nun weißt du’s.«

Dora Myrl dach­te an kei­nen Wi­der­stand mehr.

»Na­tür­lich kom­me ich«, sag­te sie lä­chelnd.

»Ob du Zeit hast oder nicht?«

»Un­ter al­len Um­stän­den!«

Eine sol­che Ge­le­gen­heit hät­te sich auch nie­mand ent­ge­hen las­sen, ge­schwei­ge denn ein Mäd­chen wie Dora Myrl, der die Le­bens­lust in al­len Fin­ger­spit­zen pri­ckel­te.

Ganz Lon­don -- das heißt, das gan­ze ge­bil­de­te und kunst­lie­ben­de Pub­li­kum Lon­d­ons, war noch im­mer voll da­von, daß der be­rühm­te Mä­cen und Mu­sik­ken­ner, Lord Mel­le­cent, bei ei­ner Rei­se, die er mit sei­ner Toch­ter Syl­via durch Nor­di­ta­li­en mach­te, in ei­nem un­ter Wein­laub ver­bor­ge­nen Dörf­chen am Ufer des Po einen wun­der­ba­ren Vio­li­nis­ten mit ei­ner himm­li­schen Gei­ge ent­deckt hat­te.

Der Lord war so­fort über­zeugt ge­we­sen, daß die Gei­ge ein Meis­ter­werk von An­to­nio Stra­di­va­ri­us sein müs­se, und der Gei­ger er­wies sich als ein di­rek­ter Nach­kom­me von Ni­co­lo Ama­ti, des­sen Na­men er trug. Seit Jahr­hun­der­ten hat­te sich das kost­ba­re In­stru­ment von Ge­ne­ra­ti­on zu Ge­ne­ra­ti­on in der hoch­be­gab­ten Fa­mi­lie Ama­ti ver­erbt und für die ein­fa­chen Dorf­be­woh­ner Mu­sik ge­macht. Bei Hoch­zei­ten hat­te es zum Tanz auf­ge­spielt und an den Grä­bern hat­te es sei­ne Kla­ge er­schal­len las­sen. Un­ter al­len Gei­gern aber, die je mit dem Bo­gen sei­ne Sai­ten ge­rührt hat­ten, galt der jun­ge Ni­co­lo für den aus­ge­zeich­nets­ten. Er wuß­te sei­ner wun­der­ba­ren Vio­li­ne Töne zu ent­lo­cken, die lieb­li­cher wa­ren als das Vo­gel­ge­zwit­scher zur Früh­lings­zeit und weh­mü­ti­ger als das Stöh­nen des Herbst­win­des in den ent­laub­ten Bäu­men.

Lord Mel­le­cent ge­riet au­ßer sich vor Ent­zücken und konn­te sich von dem son­ni­gen Dörf­chen nicht los­rei­ßen, bis es ihm nach ei­nem Mo­nat ge­lang, den Gei­ger samt sei­ner Vio­li­ne nach dem neb­li­gen Lon­don zu ent­füh­ren. Man mun­kel­te so­gar, die blau­en Au­gen sei­ner gold­haa­ri­gen Toch­ter Syl­via sei­en bei die­ser Erobe­rung nicht ganz un­be­tei­ligt ge­we­sen.

Ni­co­lo Ama­ti hat­te sei­ne Kunst nicht auf theo­re­ti­schem Wege er­lernt. Die zau­ber­haf­ten Me­lo­die­en, die er zu spie­len ver­stand, wur­den ihm nur, wenn man so sa­gen darf, durch das Ge­hör als Erb­teil über­mit­telt. Sei­ne gan­ze See­le war voll Sang und Klang, und die Mu­sik ent­ström­te den Sai­ten sei­nes In­stru­ments mit sol­cher Leich­tig­keit, wie der Nach­ti­gall ihr Lied aus der Keh­le quillt. Als er nun die Meis­ter­wer­ke der großen Kom­po­nis­ten ken­nen lern­te, sah er sich in eine neue Welt ver­setzt, die ihm un­ge­ahn­te Genüs­se bot.

Im Früh­ling war er nach Lon­don ge­kom­men, und als man die An­kün­di­gung las, daß er im An­fang des Herbs­tes zum ers­ten Male öf­fent­lich auf­tre­ten wer­de, wur­den die Ge­mü­ter von fie­ber­haf­ter Er­war­tung er­füllt.

So stan­den die Din­ge, als Lord Mel­le­cents Toch­ter ih­rer Freun­din Dora Myrl die auf­re­gen­de Nach­richt ver­kün­dig­te, daß der Künst­ler, noch vor dem öf­fent­li­chen Kon­zert, bei ei­nem Empfangs­abend in ih­rem el­ter­li­chen Hau­se spie­len wür­de.

Bei­de Mäd­chen wa­ren Schul­ge­fähr­tin­nen ge­we­sen. Die um drei Jah­re äl­te­re Dora, die so­wohl in der Klas­se als auf dem Spiel­platz im­mer die Ers­te war, hat­te sich der schüch­ter­nen blond­lo­cki­gen Klei­nen bei ih­rem Ein­tritt in die Schu­le lie­be­voll an­ge­nom­men und ihr alle Schwie­rig­kei­ten aus dem Wege ge­räumt. Daraus ent­stand all­mäh­lich eine in­ni­ge Freund­schaft, doch war und blieb Dora für Syl­via im­mer eine Re­spekts­per­son, und die Gra­fen­toch­ter schau­te mit Ehr­furcht und Lie­be zu der Ge­heim­po­li­zis­tin auf. Seit ei­ni­ger Zeit wid­me­te sie aber auch zu­gleich dem wun­der­ba­ren Ita­lie­ner ihre Hul­di­gung und Si­gnor Ni­co­lo Ama­ti wur­de häu­fig in den Ge­sprä­chen der Freun­din­nen er­wähnt. Dora brann­te vor Be­gier­de, ihn zu se­hen und zu hö­ren, und zwar nicht um Syl­vi­as wil­len. Sie sel­ber lieb­te die Mu­sik lei­den­schaft­lich und wünsch­te sich per­sön­lich da­von zu über­zeu­gen, ob der neue Ab­gott am Kunst­him­mel des Weih­rauchs wür­dig sei, den man ihm streu­te.