Kristin Lavranstochter - Sigrid Undset - E-Book

Kristin Lavranstochter E-Book

Sigrid Undset

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Beschreibung

Ein eigenwilliges junges Mädchen im Norwegen des 14. Jahrhunderts, der strahlende Liebling ihres Vaters und von diesem versprochen an den Sohn eines benachbarten Bauern. Ein Leben wie im Buche, bis sich der Tod ins Leben der jungen Kristin Lavranstochter schleicht und ein brutaler Mord ihr ihre Jugendliebe entreißt. Sie flüchtet ins Kloster – und verliebt sich Hals über Kopf in den schönen Erlend von Husaby, dem ein übler Ruf vorauseilt. Gegen alle Widerstände und obwohl sie damit ihren geliebten Vater fast umbringt, entscheidet sie sich dafür, diese Liebe zu leben. Sigrid Undsets ganz große Stärke ist die Charakterzeichnung, und so lachen und weinen, leiden und lieben wir mit der liebreizenden Kristin, einer starken Frau, die es mit der norwegischen Männergesellschaft des 14. Jahrhunderts aufnimmt und aufnehmen kann. Dass Undset für die Trilogie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, ist nur konsequent. Gabriele Haefs hat Kristin Lavranstochter vollständig neu übersetzt. So kommen nun endlich auch deutsche Leser in den vollen Genuss von Undsets außergewöhnlicher sprachlicher Ausdruckskraft. Den Anfang macht Band 1, Der Kranz, Band 2 und 3, Die Frau und Das Kreuz, folgen jeweils in halbjährlichem Abstand.

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Seitenzahl: 530

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Sigrid Undset

(1882–1949) gilt als eine der größten und einflussreichsten Schriftstellerinnen Norwegens. Ihre zeitgenössischen Romane Frau Marta Oulie und Jenny wurden wegen ihrer allzu selbständigen jungen Heldinnen zum Skandal. Als engagierte Antifaschistin stand Undset ganz oben auf der Roten Liste der Nazis und nach der Besetzung Norwegens konnte sie sich nur durch eine lebensgefährliche Flucht auf Skiern durch das Gebirge retten. Sigrid Undset erhielt 1928 »vornehmlich für ihre kraftvollen Schilderungen des nordischen Lebens im Mittelalter« den Literaturnobelpreis. Außer Kristin Lavranstochter schrieb sie die Erfolgsromane Olav Audunssohn, Viga-Ljot und Vigdis, Ida Elisabeth, Das glückliche Alter und viele andere mehr.

Gabriele Haefs

ist eine der bekanntesten Übersetzerinnen Deutschlands für den skandinavischen Raum (u. a. von Jostein Gaarder, Camilla Grebe, Anne Holt, Alexander L. Kielland). Sie wurde u. a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet, 2008 mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk, 2011 mit dem Königlich-Norwegischen Verdienstorden.

Zur Übersetzung

Die erste deutsche Übersetzung, von J. Sandmeier und S. Angerman, die in den 1920er Jahren entstanden ist, weist einige Abweichungen vom norwegischen Original auf: Eigennamen, Amtsbezeichnungen (die nicht übersetzt, sondern in der Originalfassung beibehalten wurden) und Ortsnamen sind vielfach in der dänischen Schreibweise wiedergegeben, was den Verdacht nahelegt, dass damals von der dänischen Übersetzung her übersetzt worden ist, nicht vom norwegischen Original. Beweisen können wir das allerdings nicht. Die vorliegende ist also vermutlich die erste Übersetzung ins Deutsche aus dem norwegischen Original.

Sigrid Undset

Kristin Lavranstochter

Band I: Der Kranz

Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs

Mit Anmerkungen

1. Auflage, Stuttgart, Kröner 2021

ISBN DRUCK: 978-3-520-62101-6

ISBN EBOOK: 978-3-520-62101-7

Originaltitel: Kristin Lavransdatter. Kransen, 1920

Diese Übersetzung wurde publiziert mithilfe

der finanziellen Unterstützung durch

Umschlaggestaltung Denis Krnjaić unter Verwendung von:

Helen Allingham: Picking daisies at Westerham, Kent

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

I Jørundhof

II Der Kranz

III Lavrans Bjørgulfssohn

Glossar

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Der Kranz

I Jørundhof

I

Nach dem Tod des jüngeren Ivar Gjesling auf Sundbo im Jahre 1306 fiel sein Grundstück in Sil an seine Tochter Ragnfrid und deren Ehemann Lavrans Bjørgulvssohn. Bisher hatten die beiden auf dem Lavrans gehörenden Hof Skog in Follo in der Nähe von Oslo gelebt, nun aber siedelten sie auf den in Gudbrandsdalen gelegenen Jørundhof über.

Lavrans stammte aus der Sippe, die in Norwegen als die Lagmannssöhne bekannt war. Sie waren aus Schweden gekommen, als Laurentius Østgøtalagmann die Schwester des Bjelbojarls, Jungfrau Bengta, aus dem Kloster Vreta entführt hatte und mit ihr nach Norwegen geflohen war. Herr Laurentius hatte bei König Haakon dem Alten in Diensten und in hohem Ansehen gestanden; der König hatte ihm den Hof Skog übertragen. Doch Laurentius lebte erst seit acht Jahren in Norwegen, als er an einer Seuche starb, und seine Witwe, die Folkungentochter, wie die Königstochter in Norwegen genannt wurde, kehrte nach Schweden zurück, söhnte sich mit ihrer Familie aus und ging schließlich in einem anderen Land eine reiche Heirat ein. Sie und Herr Laurentius hatten keine Kinder gehabt, und deshalb fiel Skog an Bengtas Schwager Ketil Skog. Der nun war Lavrans Bjørgulfsssohns Großvater gewesen.

Lavrans war schon als sehr junger Mann verheiratet worden. Er war erst achtundzwanzig, als er nach Sil kam, drei Jahre jünger als seine Gattin. Als Halbwüchsiger hatte er am Königshof in Diensten gestanden und eine gute Erziehung genossen, doch nach seiner Heirat war er auf seinem Hof geblieben, denn Ragnfrid war ein wenig wunderlich und schwermütig und fühlte sich unter den Menschen im Süden des Landes nicht wohl. Nachdem sie dann auch noch drei kleine Söhne in der Wiege verloren hatte, war sie geradezu menschenscheu geworden. Lavrans siedelte also vor allem deshalb nach Gudsbrandsdalen über, damit seine Frau in der Nähe ihrer Freunde und Verwandten wäre. Als sie dort eintrafen, hatten sie ein lebendes Kind, ein kleines Mädchen namens Kristin.

Doch auch nachdem sie sich auf dem Jørundhof niedergelassen hatten, lebten sie dort in aller Stille; Ragnhild schien keinen besonderen Wert auf ihre Verwandten zu legen, denn sie traf sie nur, wenn es sich anstandshalber nicht vermeiden ließ. Eine gewisse Rolle spielte dabei, dass Lavrans und Ragnhild außergewöhnlich fromme Menschen waren, die eifrig die Kirche besuchten, gern Diener Gottes, Menschen, die im Auftrag der Kirche unterwegs waren, und Pilger bei sich zu Gast hatten, wenn die auf dem Weg nach Nidaros durch das Tal kamen, und sie erwiesen ihrem Pfarrherrn – der ihr nächster Nachbar war und auf dem Romundshof wohnte – die höchsten Ehren. Die Menschen im Tal fanden eigentlich, dass das Reich Gottes sie an Abgaben, Gütern und Geld ohnehin genug kostete, deshalb meinten sie, es mit Fasten und Gebeten nicht übertreiben und Priester und Mönche erst ins Haus holen zu müssen, wenn die dort unbedingt gebraucht wurden.

Die Leute vom Jørundhof waren ansonsten hochgeachtet und überall gern gesehen, besonders Lavrans, der als starker und mutiger Mann bekannt war, dazu als friedliebend, zurückhaltend und gerecht, zuverlässig, höflich, als überaus tüchtiger Bauer und ausgezeichneter Jäger; vor allem machte er leidenschaftlich Jagd auf Wölfe, Bären und Raubtiere aller Art. In wenigen Jahren brachte er einen gewaltigen Grundbesitz an sich, war jedoch seinen Pächtern ein guter und hilfsbereiter Grundherr.

Ragnfrid ließ sich so wenig sehen, dass man schließlich kaum noch über sie sprach. In der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr ins Tal hatten viele sich gewundert, denn sie erinnerten sich noch an die junge Ragnfrid in ihrem Elternhaus auf Sundbu. Sie war zwar nie schön gewesen, aber damals hatte sie doch anziehend und fröhlich gewirkt; nun wirkte sie so verhärmt, dass man sie für zehn und nicht für drei Jahre älter als ihren Mann hätte halten können. Allgemein war man der Ansicht, dass sie den Verlust ihrer Kinder zu schwernahm, denn ansonsten ging es ihr doch in jeder Hinsicht besser als den meisten anderen Frauen – sie lebte in großem Wohlstand und hohem Ansehen, und sie vertrug sich gut mit ihrem Mann, soweit andere das sehen konnten. Lavrans trieb es nicht mit anderen Frauen, er suchte in allen Angelegenheiten ihren Rat, und niemals sagte er ein böses Wort zu ihr, ob er nun nüchtern oder betrunken war. Und sie war doch noch jung genug, um noch viele Kinder zu bekommen, wenn Gott ihr also welche schenken wollte.

Es war nicht ganz leicht, Dienstboten auf den Jørundhof zu holen, da die Hausfrau so schwermütig war und weil alle Fasttage so streng eingehalten wurden. Ansonsten hatte das Gesinde dort ein gutes Leben, und nur selten waren Beschimpfungen oder Vorwürfe zu hören; Lavrans und Ragnfrid gingen bei allen Arbeiten mit gutem Beispiel voran. Lavrans war zudem auf seine Art auch gesellig, war gern beim Tanz dabei und machte den Vorsänger, wenn sich die Jugend in den Vigiliennächten auf dem Kirchplatz vergnügte. Als Dienstboten aber gingen vor allem ältere Menschen auf den Jørundhof, sie fühlten sich wohl dort und blieben lange.

Als die kleine Kristin sieben Jahre alt war, sollte sie einmal ihren Vater zu einer ihrer Almen begleiten.

Es war ein schöner Morgen im späteren Sommer. Kristin stand auf dem Dachboden, wo sie jetzt im Sommer schliefen; sie sah, dass draußen die Sonne schien, und sie hörte ihren Vater auf dem Hofplatz mit den Knechten reden – sie freute sich so, dass sie nicht stillhalten konnte, während ihre Mutter sie anzog, sie hüpfte und sprang herum, sowie ihr ein neues Kleidungsstück angelegt worden war. Sie war noch nie oben im Gebirge gewesen, sondern nur durch die Schlucht nach Vågå gelaufen, wenn die Verwandten ihrer Mutter auf Sundbo besucht wurden, und außerdem in den Wäldern der Umgebung, zusammen mit der Mutter und den Hausmägden, wenn sie Beeren pflücken gingen, mit denen Ragnfrid ihr Dünnbier anreicherte. Sie bereitete außerdem ein saures Mus aus Preiselbeeren und Moosbeeren zu, das in der Fastenzeit vor Ostern anstelle von Butter zum Brot gegessen wurde.

Die Mutter wickelte Kristins lange blonde Haare auf und verstaute sie in ihrer alten blauen Mütze, küsste die Tochter auf die Wange, und Kristin rannte zu ihrem Vater hinunter. Lavrans saß bereits im Sattel, er hob seine Tochter hinter sich, wo er seinen Umhang wie ein Kissen zum Sitz aufgerollt hatte. Dort saß Kristin dann rittlings und hielt sich an seinem Gürtel fest. Sie riefen der Mutter einen Abschiedsgruß zu, doch die kam mit Kristins Umhang angelaufen, reichte ihn Lavrans und bat ihn, gut auf das Kind aufzupassen.

Die Sonne schien, aber in der Nacht hatte es heftig geregnet, deshalb sprühten und rauschten die Bäche überall am Hang, und Nebelschwaden trieben an den Felswänden vorbei. Über dem Hügelkamm jedoch schwebten weiße Schönwetterwolken in der blauen Luft, und Lavrans und seine Männer sprachen darüber, dass es wohl doch ein heißer Tag werden würde. Lavrans hatte vier Knechte bei sich, und alle waren ordentlich mit Waffen ausgestattet, denn um diese Jahreszeit trieb sich allerlei Gesindel im Gebirge herum – obwohl sie so viele waren und eine so kurze Strecke vor sich hatten, dass ihnen wohl kaum etwas passieren würde. Kristin mochte diese Knechte gern, drei waren schon etwas älter, der vierte jedoch, Arne Gyrdssohn von Finsbrekken, war ein halbwüchsiger Junge und Kristins bester Freund; er ritt dicht hinter Lavrans und ihr, und er sollte ihr alles erklären, was sie unterwegs sehen und beobachten konnten.

Sie ritten zwischen die Häuser des Romundshofes und begrüßten den Priester Eirik. Der stritt sich vor dem Haus mit seiner Tochter, die ihm den Haushalt führte, über eine Lage frischgefärbter Wolle, die sie am Vortag draußen vergessen hatte; jetzt war alles vom Regen verdorben.

Am Hang oberhalb des Pfarrhofs stand die Kirche, sie war nicht groß, aber schön, in gutem Zustand und frisch geteert. Bei dem Kreuz vor dem Kirchhofstor nahmen Lavrans und seine Männer die Hüte ab und verneigten sich; dann drehte sich der Vater im Sattel um, und er und Kristin winkten der Mutter zu, die sie auf der Hauswiese vor ihrem Hof sehen konnten. Ragnfrid winkte mit einem Zipfel ihres Kopftuchs zurück.

Hier auf der Kirchwiese und auf dem Kirchhof spielte Kristin fast jeden Tag, heute aber, da sie eine so weite Reise antreten sollte, kam dem Kind der vertraute Anblick von Hof und Dorf ganz neu und fremdartig vor. Die Gebäude auf dem Jørundhof schienen kleiner und grauer geworden zu sein, wie sie dort im Tal lagen. Der Fluss schlängelte sich glitzernd vorbei, und das Tal breitete sich vor ihr aus, mit seinen grünen Wiesen und Mooren ganz unten und den Höfen mit Feldern und Weiden an den Hängen unter den steilen, grauen Felswänden.

Kristin wusste, dass tief unten, wo die Berge sich trafen und den Weg versperrten, der Loptshof lag. Dort hausten Sigurd und Jon, zwei weißbärtige alte Männer, die immer mit ihr spielen und scherzen wollten, wenn sie auf den Jørundhof kamen. Kristin hatte Jon gern, denn er schnitzte wunderschöne Holztiere für sie, und einmal hatte er ihr einen goldenen Ring geschenkt. Bei seinem letzten Besuch, das war zu Pfingsten gewesen, hatte er ihr einen Ritter mitgebracht, der so prachtvoll geschnitzt und bemalt war, dass Kristin glaubte, nie ein schöneres Geschenk bekommen zu haben. Sie musste ihn jeden Abend mit ins Bett nehmen, doch wenn sie morgens aufwachte, stand der Ritter auf dem Absatz vor dem Bett, in dem sie zusammen mit ihren Eltern schlief. Der Vater sagte, der Ritter springe beim ersten Hahnenschrei auf, aber Kristin wusste, dass die Mutter ihn wegnahm, wenn sie eingeschlafen war, sie hatte Ragnfrid nämlich sagen hören, er sei so hart und kantig, dass sie nachts nicht aus Versehen auf ihm zu liegen kommen wolle. – Vor Sigurd vom Loptshof fürchtete Kristin sich allerdings, und sie wollte nicht auf seinem Schoß sitzen müssen, denn dann sagte er immer, wenn sie erst alt genug wäre, würde sie in seinen Armen schlafen. Er hatte zwei Frauen überlebt, und er meinte, die dritte würde er sicher auch noch unter die Erde bringen, und dann könnte Kristin die vierte werden. Doch wenn sie deshalb weinte, lachte Lavrans und meinte, Margit werde wohl nicht so schnell den Geist aufgeben, aber wenn es doch so schlimm käme und Sigurd auf Freiersfüßen bei ihm erschiene, würde er sich eine Absage holen, da brauche Kristin sich keine Sorgen zu machen.

Ungefähr einen Bogenschuss nördlich der Kirche lag ein gewaltiger Steinblock neben dem Weg, umgeben von dichtstehenden Birken und Espen. Dort spielten die Kinder oft Kirche, und Tomas, der jüngste Sohn von Priester Eiriks Tochter, las nach dem Vorbild seines Großvaters die Messe, spritzte mit Weihwasser um sich und taufte, wenn sich in den Mulden im Stein genug Wasser angesammelt hatte. Im vergangenen Herbst hatte dieses Spiel einmal ein böses Ende genommen. Zuerst hatte Tomas Kristin und Arne getraut – Arne war noch nicht zu alt, um mit den Kindern zu spielen, wenn seine Pflichten ihm das erlaubten. Dann hatte Arne ein Ferkel eingefangen, und das wurde nun zur Taufe getragen. Tomas salbte den Täufling mit Schlamm, tunkte ihn in ein Wasserloch und äffte seinen Großvater nach, er sang auf Latein und schimpfte die Gemeinde aus, weil sie nicht genug geopfert hatte – und da lachten die Kinder, denn sie hatten die Erwachsenen oft genug über Eiriks gewaltige Geldgier reden hören. Und je mehr sie lachten, um so wildere Einfälle hatte Tomas; jetzt behauptete er, dieses Kind sei in der Fastenzeit gezeugt worden, und sie müssten dem Priester und der Kirche für ihre Sünden Buße leisten. Die großen Jungen schrien nun vor Lachen, aber Kristin schämte sich so sehr, dass ihr die Tränen kamen, wie sie da mit dem Ferkel in den Armen stand. Und während sie mit diesem Spiel beschäftigt waren, kam zu ihrem Unglück Eirik von einem Besuch in der Gemeinde zurückgeritten. Als er begriff, was die Kinder da trieben, reichte er das heilige Gefäß so plötzlich Bentein, seinem ältesten Enkel, der ihn begleitet hatte, dass diesem die silberne Taube mit dem Leib des Herrn fast auf den Boden gefallen wäre; der Priester aber stürzte sich auf die Kinder und schlug auf alle ein, die er zu fassen bekam. Kristin ließ das Ferkel los, und das jagte kreischend und mit wehendem Taufkleid den Weg hinab, so dass sich die Pferde des Priesters vor Schreck aufbäumten; der Priester schüttelte auch Kristin so heftig, dass sie stürzte, und er trat so heftig nach ihr, dass ihr noch viele Tage später die Hüfte wehtat. Als Lavrans davon hörte, meinte er, Eirik sei doch zu streng zu Kristin gewesen, sie sei doch noch so klein. Er sagte, er werde mit dem Priester darüber reden, aber Ragnfrid bat ihn, das nicht zu tun, denn dem Kind sei nur Recht geschehen, hatte es sich doch an einem dermaßen gotteslästerlichen Spiel beteiligt. Lavrans erwähnte die Sache danach nicht wieder, verpasste Arne aber die schlimmsten Prügel, die der Junge jemals erhalten hatte.

Als sie nun an dem Stein vorüberritten, zupfte Arne Kristin am Ärmel. Er wagte nicht, vor Lavrans etwas zu sagen, schnitt aber Grimassen, grinste und klopfte sich auf das Hinterteil. Doch Kristin senkte beschämt den Kopf.

Der Weg führte durch einen dichten Wald. Sie ritten unter Hammerås weiter, das Tal wurde eng und finster, und das Rauschen des Flusses wurde lauter und wilder – als sie für einen Moment den Lågen sahen, strömte er eisgrün und von weißem Schaum bedeckt zwischen steilen Felswänden dahin. Das Gebirge war auf beiden Seiten des Tales schwarz bewaldet, es war düster und unheimlich und eng hier in der Schlucht, und ein eiskalter Wind wehte. Sie ritten über den Steg, und bald sahen sie unten im Tal die Brücke über den Fluss. In einer Höhle ein Stück flussab von dort hauste ein Nöck. Arne wollte Kristin davon erzählen, aber Lavrans untersagte dem Jungen streng, hier im Wald solche Reden zu führen. Und als sie die Brücke erreicht hatten, sprang er vom Pferd und führte es am Zaum hinüber, während er seiner Tochter den anderen Arm um den Leib legte.

Am anderen Flussufer führte ein Weg steil nach oben, deshalb stiegen die Männer ab und gingen zu Fuß, der Vater aber hob Kristin auf den Sattel, damit sie sich am Sattelknauf festhalten könnte. Nun durfte sie also allein auf Gullsvein reiten.

Neue kahle Felskuppen und Gipfel mit Schneeflecken ragten über ihnen auf, als sie weiter hinauf kamen, und jetzt ahnte Kristin zwischen den Bäumen das Dorf im Norden der Schlucht. Arne zeigte auf die Höfe, die sie erkennen konnte, und erzählte ihr, wie sie hießen.

Hoch oben am Hang erreichten sie ein kleines Gehöft. Sie blieben am Bretterzaun stehen, und ihre Rufe hallten zwischen den Bergen wider. Zwei Männer kamen zwischen den schmalen Ackerstreifen nach unten gerannt, die Söhne des Hofbesitzers. Sie waren tüchtige Teerbrenner, und Lavrans wollte sie in Dienst nehmen. Ihre Mutter folgte ihnen mit einer großen Schüssel Milch aus dem Keller, denn es war ein heißer Tag geworden, wie die Männer es erwartet hatten.

»Ich habe gesehen, dass du deine Tochter mitgebracht hast«, sagte die Frau nach der Begrüßung. »Und da wollte ich sie doch einmal anschauen. Nimm ihr die Mütze ab, ich habe gehört, dass sie so schöne Haare hat.«

Lavrans tat ihr den Gefallen, und Kristins Haare fielen ihr über den Rücken und bis auf den Sattel. Sie waren üppig und golden wie reifer Weizen. Isrid, wie die Frau hieß, griff hinein und sagte:

»Ja, jetzt sehe ich, dass es nicht übertrieben ist, was über deine kleine Tochter erzählt wird – sie ist schön wie eine Lilie und sieht aus wie das Kind eines Ritters. Sanfte Augen hat sie; sie kommt nach dir und nicht nach den Gjeslingen. Gebe Gott, dass sie dir Freude macht, Lavrans Bjørgulfssohn! Und du reitest so elegant wie ein Mann vom Hofe auf Gullsvein«, scherzte sie und hielt die Schüssel, während Kristin trank.

Das Kind errötete vor Freude, denn es wusste, dass der Vater als der schönste Mann weit und breit galt, und er sah wirklich aus wie ein Ritter, wie er hier zwischen seinen Männern stand, und dabei war er gekleidet wie ein Bauer, so, wie er im Alltag zu Hause eben angezogen war. Er trug eine ziemlich weite, kurze Jacke aus grüngefärbtem Fries, am Hals offen, so dass das Hemd zu sehen war; ansonsten hatte er Strümpfe und Schuhe aus ungefärbtem Leder und auf dem Kopf einen altmodischen, breitkrempigen Wollhut. Sein Schmuck bestand nur aus einer glatten, silbernen Gürtelschnalle und einer kleinen Silbernadel am Hemdausschnitt; außerdem war an seinem Hals ein Stück einer goldenen Halskette zu sehen. Die trug Lavrans immer, und an ihr hing ein goldenes, mit großen Bergkristallen besetztes Kreuz. Das Kreuz ließ sich öffnen, es enthielt ein Stück vom Leichenhemd Sankt Helenas von Skøvde und einige ihrer Haare, denn die Lagmannssöhne leiteten ihre Sippe von den Töchtern dieser seligen Frau her. Wenn Lavrans im Wald zu tun hatte oder andere schwere Arbeit verrichten musste, schob er das Kreuz auf seine nackte Brust, um es nicht zu verlieren.

Er sah in seiner groben Alltagskleidung allerdings vornehmer aus als manche Ritter oder Hofleute im Festgewand. Er war wunderschön gewachsen, groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, dazu ein wenig länglichen Gesichtszügen – etwas füllige Wangen, ein schön gerundetes Kinn und einen perfekt geschwungenen Mund. Außerdem war er blond, hatte einen hellen, gesunden Teint, graue Augen und dichte, glatte, seidenweiche Haare.

Er blieb noch eine Weile stehen und plauderte mit Isrid über deren Angelegenheiten, erkundigte sich nach Tordis, einer Verwandten von Isrid, die in diesem Sommer auf der Alm des Jørundhofes beschäftigt war. Tordis hatte erst kürzlich ein Kind bekommen! Isrid wartete nur auf sicheren Schutz durch den Wald, dann würde sie den Jungen zur Kirche bringen und taufen lassen. Lavrans meinte, dann solle sie mit ihnen hinauf kommen, er werde am nächsten Abend wieder hinunterreiten, und dann hätten sie und das kleine Heidenkind viele Männer zur Begleitung.

»Ehrlich gesagt habe ich auf dieses Angebot gewartet«, erwiderte Isrid. »Wir Armen hier oben am Rand des Ödlandes wissen, dass du uns gern einen Gefallen tust, wenn du herkommst.« Dann lief sie zum Gehöft zurück, um einen Umhang zu holen und ihn umzubinden.

Lavrans fühlte sich wohl bei diesen kleinen Leuten, die hoch oben am Rand des Dorfes auf Rodungen und Siedlerstätten hausten; bei ihnen war er immer munter und zu Scherzen aufgelegt. Mit ihnen sprach er über die Wanderungen der Tiere im Wald und der Rentiere auf der Hochebene und über die vielen Spukgestalten, die an solchen Orten umgehen. Und er stand ihnen mit Rat und Tat und Handreichungen zur Seite, kümmerte sich um ihr krankes Vieh, half ihnen in der Schmiede und bei Zimmermannsarbeiten – ja, manchmal wandte er all seine Kraft auf, wenn Steine oder Wurzeln aus dem Boden gebrochen werden mussten. Deshalb wurden Lavrans Bjørgulfssohn und Gullsvein hier freudig begrüßt. Gullsvein, der große rote Hengst, war ein schönes Tier mit blankem Fell, weißer Mähne und hellen Augen – stark und kühn wurde er in den Dörfern genannt, Lavrans gegenüber aber war der Hengst lammfromm, und Lavrans behauptete immer das Tier so sehr zu lieben wie einen jüngeren Bruder.

Als Erstes wollte Lavrans nach dem Holzhaufen auf Heimhaugen sehen, denn in den harten Fehdezeiten vor hundert Jahren oder mehr hatten die Bauern an einigen Stellen oben im Tal Baumstämme aufgehäuft, wie die Meldefeuer entlang der Fahrwasser an der Küste, doch diese Markierungen im Gebirge wurden offiziell nicht als Teil der Landesverteidigung angesehen. Die Bauerngilden hielten sie instand, und die Gildenbrüder wechselten sich mit der Instandhaltung ab.

Als sie sich der ersten Alm näherten, ließ Lavrans alle Pferde außer dem Saumpferd auf die Koppel laufen, und darauf folgten sie einem steilen Pfad nach oben. Riesige Kiefern standen dort tot und knochenweiß am Rand der Moore – und Kristin sah in allen Richtungen kahle Felskuppen vor dem Himmel auftauchen. Sie wanderten lange Zeit durch Geröllhalden, an einigen Stellen floss ein Bach über den Pfad, und dann musste der Vater sie tragen. Der Wind hier oben war kräftig und frisch, und die Heide war schwarz vor Beeren, aber Lavrans sagte, sie hätten jetzt keine Zeit zum Pflücken. Arne lief bald vor, bald hinter ihnen her, riss für Kristin Zweige mit Beeren ab und erzählte ihr, wessen Alm sie dort unten im Wald gerade sahen – denn damals war ganz Høvringsvangen bewaldet. Schließlich befanden sie sich unter der letzten runden, nackten Felskuppe und sahen die in die Luft ragenden schwarzen Holzstämme und die unter einem Felshammer gelegene Wachthütte.

Als sie oben auf dem Kamm anlangten, schlug ihnen der Wind entgegen und packte ihre Kleider – und Kristin kam er vor wie etwas Lebendiges, das ihnen hier oben entgegenflog, um sie zu begrüßen. Der Wind wehte, und ihre Kleidungsstücke flatterten, während Kristin und Arne über die Moosflächen liefen. Die Kinder setzten sich an den Rand einer Felsspitze, und Kristin schaute sich mit weitaufgerissenen Augen um, nie hatte sie sich vorgestellt, dass die Welt so weit und groß sein könnte. Überall unter sich sah sie bewaldete Hochebenen, das Tal war nur ein Spalt zwischen den riesigen Bergen, und die Seitentäler wurden zu noch schmaleren Spalten. Es gab viele davon, aber trotzdem waren es wenige Täler und viele Berge. Überall ragten von flammendem Heidekraut bedeckte Felskuppen über dem Waldrand auf, und in der Ferne sah sie die blauen Bergriesen mit den weißen Schneeflecken, die sich für das Auge mit den graublauen und glänzendweißen Sommerwolken vermischten. Aber im Nordosten, ganz in der Nähe – gleich hinter dem zur Alm gehörenden Wald –, lag eine Gruppe von gewaltigen, steinblauen Bergkuppen mit Rinnen voller Neuschnee an den Seiten. Kristin begriff, dass das das Rondane-Massiv sein musste, die Eberberge, und sie sahen wirklich aus wie eine Herde von riesigen Ebern, die ins Landesinnere liefen und dem Dorf das Hinterteil zukehrten. Arne aber behauptete, sie seien doch noch einen Halbtagesritt entfernt.

Kristin hatte geglaubt, wenn sie nur den ihrem Dorf nächstgelegenen Bergkamm erreicht hätten, würde sie auf ein anderes Dorf wie ihr eigenes hinabblicken können, mit Gehöften und eingezäunten Weiden, und ihr Herz wurde seltsam schwer bei der Erkenntnis, wie weit die von Menschen bewohnten Orte voneinander entfernt lagen. Sie sah die gelben und grünen Pünktchen unten im Tal und die winzigen Lichtungen mit den grauen Haustupfen an den Hängen; sie fing an, sie zu zählen, aber als sie bei drei Dutzend angekommen war, konnte sie die Zahlen nicht mehr im Kopf behalten. Und dabei waren die Wohnstätten der Menschen doch wie nichts in dieser endlosen Wildnis.

Sie wusste, dass im Wald Bär und Wolf regierten, und unter den vielen Steinen wohnten Trolle und Wichtel und das Elfenvolk; sie fürchtete sich, denn niemand wusste, wie viele es waren, doch jedenfalls gab es sehr viel mehr davon als Christenmenschen. Nun rief sie laut nach ihrem Vater, aber er hörte sie nicht in dem rauen Wind hier oben – er und die Männer rollten riesige Felsbrocken den Steilhang hinauf, um damit die Baumstämme im Holzhaufen zu stützen.

Dann aber kam Isrid zu den Kindern und zeigte ihnen, wo die westlichen Vågåberge lagen. Und Arne zeigte ihr Gråfjell, wo die Leute aus den Dörfern in Fallgruben Rentiere fingen und die Falkenjäger des Königs in Steinhütten auf der Lauer lagen. Arne wollte später auch einmal Falkenjäger werden, aber dann wollte er auch lernen, Falken zur Jagd abzurichten – und er hob die Arme, wie um den Falken losfliegen zu lassen.

Isrid schüttelte den Kopf.

»Das ist ein hartes Leben, Arne Gyrdssohn – für deine Mutter wäre es ein großer Kummer, dich als Falkenfänger sehen zu müssen, mein Junge. Da kann keiner überleben, wenn er sich nicht mit den schlimmsten Verbrechern und denen, die noch schlimmer sind, verbrüdert.«

Lavrans war dazugekommen und hatte die letzten Worte gehört:

»Ja«, sagte er. »Da gibt es wohl mehr als nur ein Nest von denen, das weder Schulden noch den Zehnten bezahlt …«

»Ja, du kennst dich sicher aus mit solchen Dingen, Lavrans«, sagte Isrid, um ihn zum Erzählen aufzufordern. »So weit, wie du herumkommst …«

»Ach – naja.« Lavrans zögerte mit der Antwort. »Kann schon sein – aber ich finde nicht, dass man über solche Dinge sprechen sollte. Man muss den Leuten, die den Frieden hier in den Dörfern verspielt haben, den Frieden gönnen, den sie in den Bergen finden können, meine ich. Und ich habe gelbe Äcker und prachtvolle Heuwiesen dort gesehen, wo nur wenige Leute wissen, dass es Täler gibt – und ich habe Herden von Groß- und Kleinvieh gesehen, aber ich weiß nicht, ob die den Menschen oder den anderen gehören …«

»Ach ja«, sagte Isrid. »Petz und Isegrim wird die Schuld für das Vieh zugeschoben, das hier auf den Almen verschwindet, aber im Gebirge gibt es ärgere Räuber als sie.«

»Ärger nennst du sie?«, fragte Lavrans nachdenklich und strich der Tochter über die Mütze. »In den Bergen südlich vor Rondane habe ich einmal drei kleine Jungen gesehen; der größte war wie Kristin hier – sie hatten gelbe Haare und Fellwämser. Sie fletschten vor mir die Zähne wie Wolfsjunge, ehe sie davonrannten und sich versteckten. Es ist wohl kein Wunder, wenn der arme Mann, der ihr Vater ist, sich gern eine oder zwei Kühe holen möchte …«

»Ach, Junge haben auch Wolf und Bär«, versetzte Isrid empört. »Und die verschonst du nicht, Lavrans, weder die Eltern noch die Jungen. Dabei haben sie nichts von Gesetz oder Christentum gehört, wie diese Übeltäter, für die du nur das Beste willst …«

»Findest du, dass ich für sie nur das Beste will, weil ich für sie etwas Besseres will als das Allerschlechteste?«, fragte Lavrans mit einem leisen Lächeln. »Aber komm jetzt, wir wollen mal sehen, was Ragnfrid uns heute Gutes eingepackt hat.« Er nahm Kristin an die Hand und ging mit ihr weiter. Und er beugte sich über sie und sagte leise: »Ich musste an deine drei kleinen Brüder denken, Kristin.«

Sie warfen einen Blick in die Schutzhütte, aber dort war die Luft stickig und es roch nach fauliger Erde. Kristin durfte sich kurz umsehen, doch es gab nur einige aus Erde aufgehäufte Lager an den Wänden, eine Feuerstätte mitten im Boden und außerdem Tonnen voller Teer und Bündel aus Kienspänen und Birkenrinde. Lavrans wollte lieber draußen essen, und ein Stück weiter unten bei einigen Birken fanden sie eine schöne grüne Stelle.

Sie luden das Saumpferd ab und streckten sich im Gras aus. In Ragnfrids Ranzen fanden sie allerlei Gutes – weiches Brot und feine Kuchenfladen, Butter und Käse, Speck und luftgetrocknetes Rentierfleisch, fette, gekochte Rinderbrust, zwei große Krüge voll mit deutschem Bier und einen kleinen voller Met. Rasch hatten sie das Fleisch zerschnitten und verteilt, während Halvdan, einer der Männer, Feuer machte – es war hier weniger gefährlich, ein Feuer zu entfachen, als im Nadelwald.

Isrid und Arne rissen Heidekraut und Zwergbirken aus dem Boden und warfen sie ins Feuer; es zischte, wenn das Feuer das frische Grün von den Zweigen fraß und kleine weiße Rußflocken zum klaren Himmel hochstoben. Kristin saß daneben und sah zu. Sie fand, dass das Feuer froh aussah, weil es hier draußen unbehindert spielen durfte. Es war ganz anders, wenn es zu Hause in der Feuerstätte eingesperrt war und sich damit abmühen musste, für die Menschen das Essen zu kochen und die Wohnstube zu beleuchten.

Sie lehnte sich an den Vater und legte ihm einen Arm über die Knie, er gab ihr von all den guten Dingen so viel, wie sie wollte, ließ sie nach Herzenslust Bier trinken und zwischendurch den Met kosten.

»Sie wird sich noch so betrinken, dass sie nicht mit auf die Alm gehen kann«, sagte Halvdan und lachte, doch Lavrans streichelte ihre runden Wangen.

»Aber dann sind hier genug Leute, die sie tragen können – ihr tut das nur gut – trink du auch, Arne, ihr müsst doch noch wachsen, also genießt Gottes Gaben ohne Zögern. Bier gibt süßes, rotes Blut und guten Schlaf, ohne Wahnsinn und Unverstand zu erwecken …«

Die Männer tranken nun ebenfalls eifrig; auch Isrid ließ sich nicht lange bitten, und bald verschwammen die Stimmen der Erwachsenen und das Knattern und Zischen des Feuers in Kristins Ohren zu einem fernen Lärm – ihr wurde der Kopf schwer. Sie nahm noch wahr, dass die anderen Lavrans ausfragten und hören wollten, was er auf seinen Jagdzügen an wunderlichen Dingen erlebt hatte. Aber er mochte nicht viel erzählen, und Kristin fühlte sich so wohl und geborgen – und außerdem war sie so satt.

Der Vater hielt ein Gerstenbrot in der Hand, er knetete mit den Fingern Stücke davon, bis sie aussahen wie Pferde; aus der Kruste formte er winzige Sättel, die er quer über die Gerstenpferde legte, die er dann über seine Oberschenkel in Kristins Mund hineinreiten ließ. Doch bald war sie so müde, dass sie weder den Mund aufsperren noch kauen konnte – und dann sank sie zu Boden und war eingeschlafen.

Als sie aufwachte, lag sie warm und dunkel im Arm des Vaters – er hatte sie beide in seinen Umhang gewickelt. Kristin setzte sich auf, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und band ihre Mütze ab, damit die Luft ihre feuchten Haare trocknen könnte.

Es war wohl schon spät am Tag, denn das Sonnenlicht war ziemlich golden, und die Schatten waren lang geworden und streckten sich nach Südosten. Kein Windhauch rührte sich mehr, und Mücken und Fliegen umsummten und umsurrten die schlafenden Menschen. Kristin blieb mäuschenstill sitzen, kratzte sich ihre von den Mücken zerstochenen Hände und schaute sich um – die Anhöhe über ihnen leuchtete im Sonnenschein weiß vom Moos und gelb von Flechten, und das Rüstwerk aus verwitterten Baumstämmen ragte in den Himmel wie das Gerippe eines seltsamen Tieres.

Ihr wurde jetzt ganz unheimlich zumute – es war so seltsam, die anderen alle bei helllichtem Tage schlafen zu sehen. Wenn sie nachts aufwachte, lag sie immer warm und dunkel neben der Mutter auf der einen und der an den Dachbalken befestigten Decke auf der anderen Seite. Dann wusste sie, dass die Stube über Nacht mit Schloss und Riegel abgesperrt war, und sie hörte die Schlafgeräusche der anderen, die zwischen Fellen und Kissen geborgen in tiefem Schlaf lagen. Aber all diese Gestalten hier, die da verzerrt und verkrümmt um den kleinen schwarzweißen Aschenhaufen herum auf dem Boden schliefen, hätten ja auch tot sein können – einige lagen auf dem Bauch und andere auf dem Rücken, mit hochgezogenen Knien, und die Geräusche, die von diesen Gestalten ausgingen, machten ihr Angst. Ihr Vater schnarchte laut, während Halvdan den Atem pfeifend und heulend durch die Nase einzog. Arne lag auf der Seite, das Gesicht am Arm versteckt und die glänzenden, hellbraunen Haare ausgebreitet im Heidekraut; er lag so still da, dass Kristin wirklich fürchtete, er könne tot sein. Sie musste sich vorbeugen und ihn anstupsen – und nun bewegte er sich ein wenig im Schlaf.

Kristin fragte sich plötzlich, ob sie vielleicht eine Nacht überschlafen hatten und das hier nun der nächste Tag sei – und darüber erschrak sie so sehr, dass sie den Vater rüttelte, doch der grunzte nur und schlief weiter. Kristin selbst hatte noch immer einen schweren Kopf, aber sie wagte nicht, sich hinzulegen und weiter zu schlafen. Deshalb kroch sie zur Feuerstelle und stocherte mit einem Stöckchen darin herum – tief unten schwelte es noch ein wenig. Sie legte Heidekraut und kleine Zweige, die sie um sich herum von den Bäumen riss, auf das Feuer, aber sie traute sich nicht, den Ring aus Schlafenden zu verlassen, um sich große Äste zu holen.

Plötzlich hörte sie von der nahe gelegenen Wiese her ein Dröhnen – Kristins Herz tat einen Sprung, und ihr wurde kalt vor Angst. Dann sah sie etwas Rotes zwischen den Bäumen, und Gullsvein brach zwischen den kleinen Birken hervor, blieb stehen und sah sie aus seinen klaren, hellen Augen an. Sie war so froh, dass sie aufsprang und auf den Hengst zurannte. Hinter Gullsvein sah sie dann auch das braune Pferd, auf dem Arne geritten war, und das Saumtier. Nun fühlte sie sich wohl und geborgen; sie ging hinüber und streichelte allen dreien die Flanken, und Gullsvein senkte den Kopf so tief, dass sie seine Wangen liebkosen und seine gelbweiße Mähne zausen konnte, während er mit seinem weichen Maul an ihren Händen schnupperte.

Die Pferde fraßen sich langsam den mit Birken bestandenen Hang hinab, und Kristin ging mit ihnen, denn sie rechnete mit keiner Gefahr, wenn sie in Gullsveins Nähe wäre – der war schon früher mit Bären fertiggeworden. Und hier wuchsen die Blaubeeren so dicht, und das Kind hatte solchen Durst und einen so scheußlichen Geschmack im Mund; auf Bier hätte sie jetzt keine Lust gehabt, aber die süßen, saftigen Beeren schmeckten ihr so gut wie Wein. In einer Geröllhalde sah sie auch Himbeeren – da fasste sie nach Gullsveins Mähne und sagte, er solle brav mit ihr kommen, und der Hengst ging gehorsam neben dem kleinen Mädchen her. Sie wanderte immer weiter den Hang hinab, und er kam mit, wenn sie ihn rief, und die beiden anderen Pferde trotteten hinter her.

Irgendwo in der Nähe hörte sie einen Bach glucksen und plätschern; sie folgte dem Geräusch nach, bis sie den Bach gefunden hatte, dann legte sie sich auf eine breite Steinplatte und wusch sich ihr schweißnasses, von Mücken zerstochenes Gesicht und die Hände. Unter einem Felsvorsprung bildete das Wasser einen stillen, schwarzen Kolk; ihr gegenüber ragte eine Felswand mit einigen kleinen Birken und Weidengestrüpp auf – es war ein wunderbarer Spiegel, und Kristin beugte sich vor und sah sich selbst im Wasser, denn sie wollte wissen, ob Isrid recht hatte und sie ihrem Vater ähnlich sah. Sie lächelte und nickte und beugte sich vor, bis ihre Haare die blonden Haare um das runde, großäugige Kindergesicht streiften, das sie im Bach sah.

Um sie herum wuchsen zahllose der schönen, hellroten Blütendolden, die Baldrian genannt wurden – die hier am Gebirgsbach waren viel schöner und röter als die zu Hause am Fluss. Kristin fing an zu pflücken und mit Grashalmen zu binden, bis sie einen wunderschönen, dichten, hellroten Kranz fertig hatte. Den drückte sich das Kind auf die Haare und lief dann zum Kolk, um sich anzusehen, jetzt, wo sie geschmückt war wie eine junge Frau, die zum Tanz geht.

Sie beugte sich über das Wasser und sah ihr eigenes dunkles Bild vom Boden her aufsteigen und klarer werden, als es auf sie zukam – und nun bemerkte sie im Spiegel des Baches, dass zwischen den Birken auf dem anderen Ufer ein Mensch stand und sich ihr entgegen neigte. Kristin richtete sich auf den Knien auf und schaute hinüber. Zuerst glaubte sie, nur die Felswand und die Bäume zu sehen, die sich an deren Fuß anklammerten. Aber plötzlich tauchte zwischen den Blättern ein Gesicht auf – dort stand eine Dame mit weißem Gesicht und üppiger, flachsgelber Mähne – die großen, hellgrauen Augen und die geblähten, blassroten Nasenlöcher erinnerten an die von Gullsvein. Die Dame trug ein funkelndes, laubgrünes Gewand, und Zweige und Blätter verdeckten ihren Körper bis hoch zu den breiten Brüsten, auf denen Spangen und glitzernde Ketten prangten.

Kristin starrte die Erscheinung an – nun hob die Dame eine Hand, zeigte ihr einen Kranz aus gelben Blüten und winkte damit. Hinter sich hörte Kristin Gullsvein laut und angstvoll wiehern – sie schaute sich um – der Hengst bäumte sich auf, schrie, dass es von der Felswand widerhallte, warf sich herum und sprengte den Hang hinauf, wobei die Erde nur so dröhnte. Die anderen Pferde liefen hinterher – sie jagten in die Geröllhalde, und Steine prasselten nach unten, Zweige und Wurzeln wurden gebrochen und knackten.

Nun schrie Kristin aus Leibeskräften. »Vater«, schrie sie, »Vater!« Sie sprang auf, rannte den Pferden hinterher und wagte nicht, sich umzublicken, sie kletterte durch die Geröllhalde, trat auf ihren Rocksaum, rutschte ein Stück weit abwärts, kletterte wieder hoch und hielt sich mit blutenden Händen fest, kroch auf wunden, zerschrammten Knien, rief nach Gullsvein, wenn sie nicht nach dem Vater schrie – und ihr brach am ganzen Leib der Schweiß aus, und ihr Herz hämmerte, als ob es aus ihrem Brustkorb ausbrechen wollte; das verängstigte Weinen schnürte ihr die Kehle zusammen.

»Ach Vater, ach Vater!«

Schließlich hörte sie irgendwo über sich seine Stimme. Sie sah, wie er in langen Sprüngen die Geröllhalde herabgerannt kam – die helle, sonnenweiße Geröllhalde; die kleinen Birken und Espen standen bewegungslos da und ließen kleine Silbertropfen auf ihren Blättern glitzern – der Hang war so still und so hell, aber der Vater kam heruntergerannt und rief ihren Namen, und Kristin sank in sich zusammen und wusste, dass sie gerettet war.

»Sancta Maria!« Lavrans fiel neben seiner Tochter auf die Knie und zog sie an sich – er war bleich und hatte den Mund so seltsam verzogen, und das machte Kristin noch größere Angst; erst in seinem Gesicht schien sie zu sehen, in welch großer Gefahr sie geschwebt hatte.

»Kind, Kind«, er hob ihre blutenden Hände hoch, sah sie an, sah den Kranz auf ihren bloßen Haaren und berührte ihn. »Was ist das – woher kommt das, Kristin, meine Kleine …«

»Ich bin mit Gullsvein hingegangen«, schluchzte sie an seiner Brust. »Ich hatte solche Angst, weil ihr alle geschlafen habt, aber dann kam Gullsvein – und dann hat mir da unten im Fluss jemand zugewinkt, und …«

»Wer hat gewinkt – war das ein Mann?«

»Nein, das war eine Dame – sie hat mit einem Kranz aus Gold gewinkt – ich glaube, es war die Zwergenkönigin, Vater.«

»Jesus Christus«, sagte Lavrans langsam und schlug über dem Kind und sich selbst ein Kreuz.

Er half ihr beim Klettern, bis sie eine Wiese erreicht hatten, dann hob er sie hoch. Sie hing an seinem Hals und weinte verzweifelt – konnte nicht aufhören, so sehr er auch versuchte, sie zu beruhigen.

Nach einiger Zeit stießen sie auf die Männer und Isrid. Isrid schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie hörte, was geschehen war:

»Ja, das war bestimmt die Zwergenkönigin – sie wollte dieses schöne Kind in den Berg locken, das ist doch klar.«

»Sei still«, gebot Lavrans ihr mit barscher Stimme. »Wir dürften über diese Dinge nicht so reden, wie wir es hier im Wald getan haben; man weiß doch nicht, wer unter den Steinen sitzt und jedes Wort hört.«

Er zog die goldene Kette unter seinem Hemd hervor und hängte sie und das Reliquienkreuz Kristin um den Hals, schob sie auf die nackte Brust des Kindes.

»Aber ihr alle«, sagte er dann, »müsst jetzt eure Zunge hüten, denn Ragnfrid darf niemals erfahren, dass das Kind in einer solchen Gefahr geschwebt hat.«

Sie fingen die Pferde ein, die in den Wald gelaufen waren, und gingen dann zur Koppel bei der Almhütte, wo die restlichen Pferde standen. Alle saßen auf, und sie ritten zur Alm des Jørundhofes; es war jetzt nicht mehr weit. Die Sonne ging gerade unter, als sie dort ankamen; das Vieh stand schon im Pferch, und Tordis und die Hirten hatten mit dem Melken begonnen. In der Almhütte stand die fertiggekochte Grütze, denn die Almleute hatten die Gäste früher an diesem Tag oben beim Holzhaufen gesehen und sie schon erwartet. Erst jetzt hörte Kristin auf zu weinen. Sie saß auf dem Schoß ihres Vaters und ließ sich von ihm mit Grütze und Sauerrahm füttern.

Am nächsten Tag wollte Lavrans zu einem tiefer im Gebirge gelegenen See reiten, wo einige seiner eigenen Senner die Stiere hingetrieben hatten. Eigentlich hätte Kristin ihn begleiten sollen, nun aber wollte er sie in der Almhütte lassen: »Und ihr passt auf sie auf, Tordis und Isrid, haltet die Tür verschlossen und legt den Riegel vor, bis wir wieder da sind, für Kristin und das kleine Ungetaufte dort in der Wiege.«

Tordis ängstigte sich jetzt so sehr, dass sie nicht länger mit ihrem kleinen Kind hier oben bleiben wollte. Zu allem Überfluss war sie auch noch nicht ausgesegnet worden; am liebsten wäre sie sofort ins Dorf gegangen. Lavrans sagte, er könne sie verstehen, sie könne am nächsten Abend mit ihm und seinen Leuten hinabreiten, er könne sicher eine ältere Witwe, die auf Jørundhof in Diensten stand, an ihrer Stelle hinaufschicken.

Tordis hatte süßes, frisches Berggras unter die Felle auf der Bank gelegt; es duftete so wunderbar und würzig, und Kristin wäre fast eingeschlafen, während der Vater für sie das Vaterunser und das Gegrüßet seist du Maria betete.

»Ja, so bald nehme ich dich nicht wieder mit ins Gebirge«, sagte Lavrans und streichelte ihre Wange.

Kristin fuhr aus dem Halbschlaf auf:

»Vater, darf ich dann auch im Herbst nicht mit dir in den Süden reisen? Das hast du doch versprochen.«

»Das werden wir noch sehen«, sagte Lavrans, und gleich darauf lag Kristin in süßem Schlummer zwischen den Schaffellen.

II

Jeden Sommer ritt Lavrans Bjørgulfssohn in den Süden, um nach seinem Hof in Follo zu sehen. Diese Reisen ihres Vaters waren wie Jahresringe in Kristins Leben – die langsamen Wochen, in denen er abwesend war, und die gewaltige Freude, wenn er mit schönen Geschenken nach Hause kam; mit ausländischen Stoffen für ihre Brauttruhe, mit Feigen, Rosinen und Honigbrot aus Oslo – und mit vielen seltsamen Dingen, die er zu erzählen hatte.

Aber in diesem Jahr begriff Kristin, dass etwas an der Reise des Vaters anders war als sonst. Sein Aufbruch wurde wieder und wieder verschoben, die Alten vom Loptshof kamen oft zu Besuch, saßen mit Kristins Eltern zusammen und sprachen über Erbteilung und Familienbesitz und Ablöserecht und die Schwierigkeit, von hier aus einen so weit entfernt liegenden Hof zu betreiben, und über den Bischofssitz und den Königshof in Oslo, die von den Bauernhöfen der Umgebung so viel Arbeitskraft einforderten. Die Eltern hatten fast keine Zeit, mit ihr zu spielen, und sie wurde zu den Mägden ins Kochhaus geschickt. Ihr Onkel, Trond Ivarssohn auf Sundbu, tauchte häufiger bei ihnen auf als sonst – aber er hatte sich nie besonders um Kristin gekümmert.

Nach und nach konnte sie sich eine Vorstellung davon machen, worum es ging. Ihr Vater hatte, seit er nach Sil gekommen war, versucht, im Dorf möglichst viel Landbesitz an sich zu bringen, und nun hatte der Ritter Andres Gudmundssohn vorgeschlagen, den Hof Formo, den Herr Andres von seiner Mutter geerbt hatte, gegen Skog einzutauschen, das für ihn günstiger gelegen war, da er der königlichen Schutzgarde angehörte und deshalb nur selten ins Tal kam. Lavrans wollte sich nur ungern von seinem Erbhof Skog trennen – dieser Hof war als Geschenk des Königs in seine Sippe gekommen; andererseits wäre der Tausch für ihn in vieler Hinsicht von großem Vorteil. Aber auch Lavrans’ Bruder, Åsmund Bjørgulfssohn, hatte Interesse an Skog – er wohnte jetzt in Hadeland, hatte dort auf einen Hof eingeheiratet, und es war nicht sicher, ob er auf sein Erbrecht verzichten würde.

Eines Tages sagte Lavrans zu Ragnfrid, in diesem Jahr wolle er Kristin nach Skog mitnehmen – sie sollte doch den Hof sehen, auf dem sie geboren war und auf dem seine Eltern gelebt hatten, falls sie ihn nun doch veräußerten. Ragnfrid konnte diesen Wunsch verstehen, auch wenn es ihr etwas Angst machte, ein so kleines Kind auf eine so weite Reise zu schicken und es selbst nicht begleiten zu können.

In der ersten Zeit, nachdem Kristin der Zwergenkönigin begegnet war, war sie so verängstigt gewesen, dass sie lieber bei der Mutter im Haus geblieben war – sie hatte sich schon gefürchtet, wenn sie nur einen der Männer gesehen hatte, die an jenem Tag im Gebirge dabei gewesen waren und wussten, was sie erlebt hatte. Sie war sehr froh darüber gewesen, dass der Vater verboten hatte, dieses Erlebnis zu erwähnen. Aber nach einiger Zeit hatte sie eigentlich doch Lust, darüber zu sprechen. In Gedanken erzählte sie es jemanden – sie wusste nicht, wem –, und das Seltsame war, je mehr Zeit verging, desto deutlicher glaubte sie, sich daran zu erinnern, und desto klarer wurde auch die Erinnerung an die schöne Dame. Das Allerseltsamste war jedoch, dass sie immer, wenn sie an die Zwergenkönigin gedacht hatte, ganz besonders große Sehnsucht nach der Reise nach Skog bekam, und immer größer wurde ihre Angst, dass der Vater sie doch nicht mitnehmen würde.

Schließlich erwachte sie eines Morgens auf dem Dachboden des Vorratshaues und sah, dass die alte Gunhild und die Mutter auf der Türschwelle saßen und Lavrans’ Bündel mit Eichhörnchenfellen durchsahen. Gunhild war eine Witwe, die von Hof zu Hof ging und Fellfutter für Umhänge und andere Kleidungsstücke nähte. Kristin konnte dem Gespräch der beiden entnehmen, dass jetzt sie einen neuen Umhang bekommen sollte, der mit Eichhörnchenfell gefüttert und mit Marderfell besetzt war. Da wusste sie, dass sie den Vater begleiten durfte, und mit einem Freudenschrei sprang sie aus dem Bett. Die Mutter kam zu ihr und streichelte ihr über die Haare und die Wange:

»Freust du dich denn so sehr darüber, meine Tochter, dass du so weit von mir fortreisen wirst?«

An dem Morgen, an dem sie aufbrachen, fragte Ragnfrid das noch einmal. Sie waren in aller Frühe aufgestanden, draußen war es noch dunkel, und dichter Nebel hing zwischen den Häusern, als Kristin aus der Tür lugte und sehen wollte, wie das Wetter war – der Nebel wogte wie Rauch um die Fackeln und vor den offenen Türen. Das Gesinde eilte zwischen Ställen und Vorratshäusern hin und her, und die Frauen brachten dampfende Grützkessel und Schüsseln voller gekochtem Fleisch und Speck – sie sollten sich ordentlich stärken, ehe sie in die morgendliche Kälte hinausritten. Im Haus wurden die ledernen Reisesäcke noch einmal aufgeschnallt und mit Dingen gefüllt, die fast vergessen worden wären. Ragnfrid erinnerte ihren Mann an alles, was er für sie erledigen sollte, und erwähnte Freunde und Verwandte, die entlang der Reiseroute wohnten – er solle diesen grüßen und nicht vergessen, sich nach jener zu erkundigen. Kristin lief aus und ein, verabschiedete sich viele Male von allen im Haus und konnte einfach nirgendwo stillstehen.

»Freust du dich denn, Kristin, mich jetzt für so lange Zeit zu verlassen?«, fragte die Mutter. Kristin wurde traurig und mutlos und wünschte, sie hätte das nicht gefragt. Aber sie gab die beste Antwort, die ihr einfiel:

»Nein, liebe Mutter, aber ich freue mich, weil ich meinen Vater begleiten darf.«

»Ja, das kann ich mir denken«, sagte Ragnfrid und seufzte. Dann küsste sie ihr Kind und zog die Kleider der Kleinen gerade.

Schließlich saß die gesamte Reisegesellschaft im Sattel. Kristin ritt auf Morvin, der früher das Reitpferd des Vaters gewesen war; er war alt, klug und zuverlässig. Ragnfrid reichte ihrem Gatten den Silberbecher mit der letzten Stärkung hinauf, legte ihrer Tochter eine Hand aufs Knie und bat sie, sich an alles zu erinnern, was die Mutter ihr eingeschärft hatte.

In der Morgendämmerung ritten sie vom Hof. Der Nebel lag milchweiß über dem Dorf. Aber nach einer Weile begann er sich nach und nach zu lichten, und schließlich sickerte Sonnenschein hindurch, und von Tau triefendnasse grüne Wiesen und weiße Stoppelfelder und gelbe Bäume und Ebereschen mit glitzernden, roten Beeren leuchteten durch das helle Nebelmeer. Die Berghänge schimmerten blau und lösten sich aus Dunst und Dampf – und dann riss der Nebel auf und trieb in Schwaden durch das Tal, und sie ritten im herrlichsten Sonnenschein bergab, Kristin ganz vorn in der Schar, an der Seite ihres Vaters.

Sie trafen an einem düsteren, regnerischen Abend in Hamar ein. Kristin saß vorn auf dem Sattel ihres Vaters, denn sie war so müde, und vor ihren Augen verschwamm alles – der See, der rechts von ihnen bleich schimmerte, und die dunklen Bäume, von denen es auf sie herabtropfte, wenn sie darunter hindurch ritten, und die schwarzen, undeutlichen Häusergruppen an den farblosen, nassen Feldern am Wegesrand.

Sie zählte inzwischen die Tage nicht mehr – sie hatte das Gefühl, schon seit einer Ewigkeit unterwegs zu sein. Auf dem Weg durch das Tal hatten sie Freunde und Verwandte besucht; sie hatte Kinder auf großen Höfen kennengelernt und in fremden Stuben, Scheunen und auf Hofplätzen gespielt, und oftmals hatte sie das rote Seidenkleid mit den Seidenärmeln getragen. Tagsüber hatten sie am Wegesrand Rast gemacht, wenn das Wetter schön gewesen war; Arne hatte für sie Nüsse gepflückt, und nach dem Essen hatte sie auf den Ledersäcken schlafen dürfen, die ihre Kleider enthielten. Auf einem Hof hatten sie in einem Bett mit Kissenbezügen aus Seide geschlafen, eine andere Nacht hatten sie in einer Herberge verbracht, und dort hatte in einem der anderen Betten eine Frau leise und jammervoll geweint, wann immer Kristin wach geworden war. Doch jede Nacht hatte sie sicher und geborgen hinter dem breiten, warmen Rücken ihres Vaters gelegen.

Kristin fuhr aus dem Schlaf hoch – sie wusste nicht, wo sie war, aber das seltsam klingende und dröhnende Geräusch, das sie im Traum gehört hatte, hielt an. Sie lag allein in einem Bett, und in dem Raum, in dem dieses Bett stand, brannte ein Feuer in der Herdstätte. Sie rief nach ihrem Vater, und er erhob sich von dem Feuer, an dem er gesessen hatte, und kam zusammen mit einer dicken Frau zum Bett.

»Wo sind wir?«, fragte sie, und Lavrans lachte und sagte:

»Wir sind jetzt in Hamar, und das hier ist Margret, die Frau von Fartein Sutare – sag ihr jetzt höflich guten Tag, du hast ja geschlafen, als wir hier eingetroffen sind. Und jetzt wird Margret dir beim Anziehen helfen.«

»Ist denn schon Morgen?«, fragte Kristin. »Ich dachte, du wolltest ins Bett kommen. Ach, bitte, hilf du mir doch«, bat sie, aber Lavrans sagte in strengem Ton, sie solle sich lieber bei Margret bedanken, weil die ihr helfen wolle. »Und sieh mal, was sie dir schenken will!«

Es war ein Paar roter Schuhe mit Seidenriemen. Die Frau lächelte über Kristins glückliches Gesicht und zog ihr im Bett Hemd und Strümpfe an, damit sie nicht barfuß auf den Lehmboden treten müsste.

»Was klingt denn da so?«, fragte Kristin. »Wie eine Kirchenglocke, nur eben wie viele?«

»Ja, das sind unsere Glocken«, lachte Margret. »Hast du nicht von dem großen Münster hier in der Stadt gehört? Dahin gehst du ja gleich. Da wird mit der großen Glocke geläutet. Und außerdem hörst du die Glocken des Klosters und der Kreuzkirche.«

Margret bestrich ein Stück Brot dick mit Butter und gab ihr Honig in die Milch, weil das schneller satt machte – sie hatten ja kaum Zeit zum Essen.

Draußen war es noch dunkel, und es hatte gefroren. Der Nebel war so kalt, dass er Kristin in die Haut schnitt. Die Spuren von Volk und Vieh und Hufschlägen waren wie in Eisen gegossen, und einmal trat sie durch die Eiskruste mitten in der Gasse in eine Pfütze, und ihre Füße wurden nass und kalt. Da nahm Lavrans sie auf den Rücken und trug sie. Sie kniff in der Dunkelheit die Augen zusammen, aber sie konnte deshalb kaum mehr von der Stadt sehen – sie ahnte schwarze Hausgiebel und Bäume vor der grauen Luft. Dann erreichten sie eine kleine Wiese, die vor Reif leuchtete, und auf der anderen Seite dieser Wiese entdeckte Kristin ein blassgraues Gebäude, so groß wie ein Berg. Es war von hohen Steinhäusern umgeben, und hier und dort leuchteten Fenster im Mauerwerk. Die Glocken, die eine Weile verstummt waren, läuteten wieder los, und nun war ihr Geläute so klangvoll, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief.

Kristin kam sich vor wie in einem verwunschenen Berg, als sie die Vorhalle der Kirche betraten; kalt und dunkel war es dort. Sie gingen durch eine Tür und wurden empfangen von einem alten, kalten Geruch nach Weihrauch und Wachskerzen. Kristin befand sich einem finsteren und ungeheuer hohen Raum. Sie konnte weder über noch neben sich das Ende der Dunkelheit erkennen, aber weit vorn brannten Kerzen auf einem Altar. Dort stand ein Priester, und der Widerhall seiner Stimme schwebte auf seltsame Weise durch den Raum, wie Flüstern und leiser Atemhauch. Lavrans bekreuzigte sich und das Kind mit Weihwasser, dann gingen sie weiter; obwohl er vorsichtig auftrat, klirrten seine Sporen laut auf dem Steinboden. Sie gingen vorbei an riesigen Steinsäulen, und zwischen den Säulen glaubte sie in kohlschwarze Höhlen zu blicken.

Vor dem Altar beugte der Vater das Knie, und Kristin kniete neben ihm nieder. Inzwischen konnte sie im Dunkeln Einiges erkennen – zwischen den Säulen am Altar funkelten Silber und Gold, aber gerade vor ihnen strahlten die Kerzen in ihren vergoldeten Haltern, und dort leuchteten die heiligen Gefäße und das große, prachtvolle Bild dahinter. Wieder musste Kristin an den verwunschenen Berg denken – so hatte sie es sich dort vorgestellt, solche Pracht, aber vielleicht noch mehr Lichterglanz. Und sie sah das Gesicht der Zwergenkönigin vor sich – aber dann hob sie den Blick und erblickte an der Wand über dem Altarbild Christus selbst, groß und streng, hoch oben am Kreuz. Sie bekam es mit der Angst zu tun – er sah nicht mild und traurig aus, wie zu Hause in ihrer eigenen traulichen, holzbraunen Kirche, wo er mit durchbohrten Füßen und Händen schwer an seinen Armen hing und den blutbespritzten Kopf unter der Dornenkrone senkte. Hier stand er auf einem Trittbrett, mit starr ausgestreckten Armen und hocherhobenem Haupt, seine Haare glänzten golden, und er trug eine Goldkrone, hob sein Antlitz und hatte einen abweisenden Blick.

Nun versuchte sie, den Worten des Priesters zu folgen, während er betete und sang, aber er sprach so undeutlich und schnell. Zu Hause konnte sie immer jedes Wort verstehen, denn Sira Eirik hatte eine klare Aussprache, und er hatte ihr erklärt, was die heiligen Worte auf Norwegisch bedeuteten, damit sie in der Kirche ihre Gedanken besser bei Gott behalten könnte. Hier gelang ihr das nicht, denn immer wieder entdeckte sie in der Dunkelheit etwas Neues. Hoch oben in der Wand saßen Fenster, und das Licht dahinter wurde jetzt heller. Und dort, wo sie knieten, war in der Nähe ein seltsames Gerüst aus hölzernen Stangen errichtet worden, dahinter sah sie helle Steinblöcke und Tröge, und Werkzeug stand und lag umher – und nun hörte sie, dass drüben Menschen hin und her liefen. Doch dann fiel ihr Blick wieder auf den strengen Herrn Christus an der Wand, und sie versuchte, an nichts anderes zu denken als an den Gottesdienst. Die Eiseskälte des Steinbodens ließ ihre Beine bis zu den Hüften erstarren, und ihre Knie schmerzten. Am Ende aber drehte sich alles vor ihren Augen, so müde war sie.

Nun erhob sich der Vater, die Messe war beendet. Der Priester kam zu ihnen und begrüßte Lavrans. Während die beiden miteinander sprachen, setzte Kristin sich auf eine Stufe, denn das hatte auch der Messdiener getan. Er gähnte – und nun musste sie ebenfalls gähnen. Als er merkte, dass sie ihn ansah, bohrte er die Zunge in die Wange und verdrehte die Augen. Danach zog er einen Beutel unter seinen Kleidern hervor und schüttelte alles, was darin war, auf die Steine – Angelhaken, Bleiklumpen, Lederriemen und zwei Würfel, und die ganze Zeit schnitt er für Kristin Grimassen. Sie staunte sehr darüber.

Schließlich schauten der Priester und der Vater zu den Kindern hinüber. Der Priester lachte und sagte dem Jungen, er solle zurück zur Schule gehen, Lavrans aber runzelte die Stirn und nahm Kristin an die Hand.

In der Kirche wurde es jetzt heller. Kristin hing schlaftrunken an der Hand ihres Vaters, während Lavrans und der Priester unter das hölzerne Gerüst traten und über Bischof Ingjalds Baupläne sprachen. Sie wanderten durch die ganze Kirche, und am Ende betraten sie die Vorhalle. Von dort führte eine Steintreppe hinaus in den westlichen Turm. Kristin schleppte sich müde die Stufen hinauf. Der Priester öffnete eine Tür zu einer wunderschönen Kapelle, aber dann sagte Lavrans, Kristin solle sich draußen auf die Treppe setzen und warten, während er drinnen die Beichte ablegte, danach dürfe sie hereinkommen und den Schrein des Heiligen Thomas küssen.

In diesem Moment kam ein Mönch in einer aschgrauen Kutte aus der Kapelle. Er blieb einen Moment lang stehen, lächelte dem Kind zu und zog dann einige Säcke und Friestücher aus einem Loch in der Mauer, die er auf dem Treppenabsatz ausbreitete:

»Setz dich darauf, dann frierst du nicht so«, sagte er und stapfte auf seinen nackten Füßen die Treppe hinunter.

Kristin schlief, als Herr Martein, wie der Priester hieß, herauskam und ihr die Hand auf die Schulter legte. Aus der Kirche unten erklang wunderschöner Gesang, und in der Kapelle brannten Kerzen auf einem Altar. Der Priester winkte ihr, neben dem Vater niederzuknien, dann nahm er einen kleinen, goldenen Schrein vom Altartisch und flüsterte ihr zu, darin liege ein Stück des blutigen Gewandes von Sankt Thomas von Kanterborg. Er wies auf die Gestalt des Heiligen, damit Kristin ihre Lippen auf dessen Füße pressen konnte.

Die wunderschönen Klänge strömten aus der Kirche, als sie nach unten kamen; Herr Martein sagte, der Orgelmeister übe, und der Knabenchor singe; aber sie hatten jetzt keine Zeit, ihnen zuzuhören, denn Lavrans war hungrig; er hatte vor der Beichte gefastet. Nun würden sie in die Gaststube der Domherren gehen und dort etwas zu essen bekommen.

Draußen vergoldete die Morgensonne die steilen Ufer des Mjøsa, und all die welken Bäume standen wie Goldstaub in den dunkelblauen Wäldern. Die Wellen im See trugen kleine tanzende, weiße Schaumkronen. Ein frischer, kalter Wind wehte, und die bunten Blätter rieselten auf den bereiften Boden. Zwischen dem Bischofssitz und dem Haus der Kreuzbrüder tauchte eine Reiterschar auf. Lavrans trat beiseite und verbeugte sich mit der Hand auf der Brust, und dabei fegte er fast mit dem Hut über den Boden, so dass Kristin wusste, dass der Herr im Pelzmantel der Bischof selber sein musste, und sie sank nieder in einem tiefen Knicks.

Der Bischof ließ sein Pferd anhalten und erwiderte den Gruß, winkte Lavrans zu sich und sprach eine Weile mit ihm. Danach kehrte Lavrans zu Kind und Priester zurück und sagte:

»Jetzt bin ich im Bischofssitz zum Essen eingeladen – meint Ihr, Herr Martein, einer der Domknechte könnte meine kleine Tochter zum Haus von Fartein Sutare bringen und meinen Begleitern sagen, dass Halvdan mich zur Non hier mit Gullsvein erwarten soll?«

Der Priester erwiderte, das werde sich wohl einrichten lassen. Da trat der Barfüßermönch, der auf der Turmtreppe mit Kristin gesprochen hatte, vor und sprach:

»Bei uns im Gästehaus ist ein Mann, der ohnehin etwas mit Fartein zu erledigen hat, er kann deinem Mann Bescheid sagen, Lavrans, und dann kann deine Tochter mit ihm gehen oder im Kloster warten, bis du selbst nach Hause willst. Ich werde dafür sorgen, dass sie dort etwas zu essen bekommt.«

Lavrans dankte, sagte dann jedoch: »Es geht doch wirklich nicht, Euch mit diesem Kind zu belästigen, Bruder Edvin.«

»Bruder Edvin holt alle Kinder zu sich, die er finden kann«, sagte Herr Martein und lachte. »Dann hat er doch jemanden, für den er predigen kann.«

»Ja, ich wage es ja nicht, Euch gelehrten Herren hier in Hamar meine Predigten anzubieten«, sagte der Mönch lächelnd. »Ich bin eben nur für Kinder und Bauern gut genug, aber deshalb soll man ja wohl dem Ochsen, der drischt, nicht das Maul verbinden.«