Kritik des Anthropozäns - Jürgen Manemann - E-Book

Kritik des Anthropozäns E-Book

Jürgen Manemann

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Beschreibung

»Willkommen im Anthropozän« - so titelte der »Economist« 2011 und stieß damit eine neue klimapolitische Debatte über den Menschen und das neue »Menschenzeitalter« an. Mittlerweile wandert dieser Begriff nicht nur durch die Gazetten, sondern auch durch Wissenschaft, Politik und Kultur. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff, wo kommt er her? Jürgen Manemann führt in die Debatte ein, zeigt die Gefahren der Theorie des Anthropozäns auf und plädiert für eine neue Humanökologie, die auf eine Transformation der Zivilgesellschaft in eine »Kulturgesellschaft« (Adrienne Goehler) zielt. An der Zeit ist nicht eine weitere Hominisierung der Welt, sondern eine tiefere Humanisierung des Menschen.

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»Willkommen im Anthropozän« – so titelte der »Economist« 2011 und stieß damit eine neue klimapolitische Debatte über den Menschen und das neue »Menschenzeitalter« an. Mittlerweile wandert dieser Begriff nicht nur durch die Gazetten, sondern auch durch Wissenschaft, Politik und Kultur.

Was verbirgt sich hinter diesem Begriff, wo kommt er her? Jürgen Manemann führt in die Debatte ein, zeigt die Gefahren der Theorie des Anthropozäns auf und plädiert für eine neue Humanökologie, die auf eine Transformation der Zivilgesellschaft in eine »Kulturgesellschaft« (Adrienne Goehler) zielt.

An der Zeit ist nicht eine weitere Hominisierung der Welt, sondern eine tiefere Humanisierung des Menschen.

Jürgen Manemann (Prof. Dr.) ist Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen der Umweltphilosophie, neue Demokratie- und Politiktheorien, die Verhältnisbestimmung von Religion und Politik sowie Wirtschaftsanthropologie.

www.fiph.de

Jürgen Manemann

Kritik des Anthropozäns

Plädoyer für eine neue Humanökologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook transcript Verlag, Bielefeld 2014

© transcript Verlag, Bielefeld 2014

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Konvertierung: Michael Rauscher, Bielefeld

Print-ISBN 978-3-8376-2773-2

PDF-ISBN 978-3-8394-2773-6

EPUB-ISBN 978-3-7328-2773-2

http://www.transcript-verlag.de

Inhalt

Vorwort

I. Menschenflucht und Menschwerdung

II. Willkommen im Anthropozän

III. Vom Sinn des Nichtwissens

IV. Katastrophen-Blindheit

V. »Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.« (Walter Benjamin)

VI. Über Halt und Haltung

VII. Die kranke Gesellschaft

VIII. Achte auf dich selbst!

IX. Vom Weltgärtner und Übermenschen

X. Unterwegs zu einer neuen Humanökologie

Literatur

Vorwort

»Es gibt Zeiten, da ist ein leidenschaftliches Plädoyer mehr wert als alle Konzepte, mögen sie noch so ausgereift und Eventualitäten berücksichtigend sein. Im Film würde man die Klappe fallen lassen und ›action‹ brüllen.«

(Adrienne Goehler)

»Willkommen im Anthropozän« – so titelte der Economist 2011 und stieß damit eine neue klimapolitische Debatte über den Menschen und das neue Erdzeitalter der »Menschenzeit« an. Mittlerweile geistert dieser Begriff nicht nur durch die Gazetten, sondern auch durch Wissenschaft, Politik und Kultur. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff, wo kommt er her? Der Essay führt nicht nur in die Debatte ein und zeigt die Gefahren der Theorie des Anthropozäns auf. Er bietet auch eine Alternative, indem der Weg zu einer neuen Humanökologie geebnet wird. An der Zeit ist nicht eine neue Hominisierung der Welt, sondern eine tiefere Humanisierung des Menschen.

Mein Dank gilt Ryôsuke Ohashi, der es mir ermöglicht hat, meine Ideen zur Humanökologie erstmalig am Deutsch-Japanischen Kulturinstitut in Kyoto vorzustellen und diskutieren zu lassen. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Anna Maria Hauk für die Hilfe bei der Korrektur des Manuskriptes und nicht zuletzt dem transcript Verlag für die Unterstützung dieses Projekts.

Hannover, im September 2014Jürgen Manemann

I. Menschenflucht und Menschwerdung

Das Untier Mensch

»Die Apokalypse steht ins Haus. Wir Untiere wissen es längst, und wir wissen es alle.« So beginnen die Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, die der Philosoph Ulrich Horstmann im Jahre 1983 unter dem Titel Das Untier vorstellte. Für Horstmann war es damals offensichtlich: Die Geschichte, die der Mensch »Weltgeschichte« nennt, sei nichts anderes als eine negative Fortschrittsgeschichte, die letztlich nur von einer Hoffnung getragen werde: der Hoffnung auf die Katastrophe, auf den Untergang, auf das Auslöschen der Spuren. Es gebe so etwas wie »eine heimliche Übereinkunft, ein unausgesprochenes großes Einverständnis: daß wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, so bald und so gründlich wie möglich – ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne Überlebende.«[1] Es komme jetzt darauf an, das Ende des Menschen zu denken und nicht, wie im vergeblichen Versprechen des Humanismus, den Menschen zu Ende zu denken.

Aber können wir Menschen uns vom Humanen freimachen? Ja, so Horstmann, wenn wir eine, wie er es nennt, anthropofugale Perspektive einnähmen, das heißt, wenn wir Welt und Mensch aus dem Blickwinkel einer spekulativen Menschenflucht betrachteten. Diese Perspektive setze allerdings ein »Auf-Distanz-Gehen des Untiers zu sich selbst und seiner Geschichte, ein unparteiisches Zusehen, ein Aussetzen des scheinbar universalen Sympathiegebotes mit der Gattung, der der Nachdenkende selbst angehört, ein Kappen der affektiven Bindungen«[2] voraus.

Formuliert wurde die Philosophie der Menschenflucht zunächst angesichts einer ins Unermessliche sich steigernden atomaren Aufrüstung, später bezog Horstmann auch die drohende ökologische Katastrophe mit ein. Horstmann wusste natürlich, dass er nicht der erste Katastrophendenker war. Bereits vor ihm hatte der Technikphilosoph Günther Anders die Apokalypse-Blindheit der Menschen kritisiert. Aber im Unterschied zu ihm habe der »Erzhumanist« Anders letztlich immer noch an das humane Potenzial zur Selbsttransformation geglaubt:

»Angesichts der unerhörten Anstrengungen unserer Ahnen, die die Mittel und Instrumente ersinnen, um uns selbst und unsere Umwelt dem Fluch zu entziehen, der uns an das Dasein kettet, angesichts der Tatsache, daß aufgrund des Fleißes und der Opferbereitschaft unzähliger Geschlechter die Eskalationsleiter, die aus der Senkgrube der Schöpfung in die Freiheit des Anorganischen führt, für die Letztgeborenen endlich zur Rolltreppe geworden ist, die sie dem Scheitelpunkt jetzt ohne eigenes Zutun entgegenträgt, muß uns der Aberwitz eines Anders beschämen, der – obgleich er den Mechanismus unseres Fortschritts durchschaut – nichts Besseres zu tun weiß, als ihn zu verketzern, als sich umzuwenden und seine Mitreisenden dazu zu ermuntern, gegen die Bewegungsrichtung der Treppe die Stufen wieder hinabzusteigen.«[3]

Ein anderer Denker, der zwar auch die Apokalypse nahen sah, sich aber nicht als Katastrophendenker verstand, sondern nach alternativen Lebensweisen Ausschau hielt, der Zukunftsforscher Robert Jungk, widersprach dieser Philosophie der Menschenflucht aufs Heftigste. In einem berühmten TV-Gespräch warf er Horstmann vor, dass sein Buch noch schlimmer sei als Mein Kampf, denn in Mein Kampf würde nur ein Teil des menschlichen Lebens als unwertes Leben betrachtet, während Horstmann alles menschliche Leben zu unwertem Leben erkläre. Jungk konzedierte in dem Gespräch mit Horstmann sehr wohl, dass der Mensch eine teuflische Seite habe, aber man müsse sich davor hüten, das Teuflische im Menschen zum beherrschenden Prinzip zu machen. Horstmann parierte, indem er sein philosophisches Bemühen als einen Exorzismus des guten Gewissens interpretierte, das auch Jungk antreibe, das aber immer wieder unwillentlich eine Zuliefererfunktion des Schlechten übernehme, da es einem Fortschrittskonzept aufsitze, das es doch gerade zu bekämpfen gelte. An der Zeit sei, so Horstmann, ein letztes Experiment: ein Moratorium. Wir sollten unsere Hände in den Schoß legen und uns in Andacht üben.[4]

Die Philosophie der Menschenflucht hat ihre Aktualität keineswegs eingebüßt, wie nicht nur die Wiederauflage des Buches im Jahr 2005 zeigt; ihr kommt gerade in heutiger Zeit eine neue Relevanz zu, in der sich mehr und mehr die Ansicht durchsetzt, dass der Mensch der Feind der Erde sei. Die neue Philosophie der Menschenflucht kommt allerdings gegenwärtig im Gewande der Menschrettung daher. Ihr Name ist Programm: Anthropozän. Dieser Name steht nicht nur für das neue Erdzeitalter der Menschenzeit. Er enthält auch einen Imperativ: Menschenzeit soll sein!

Werde Mensch!

Wer sich ein Bild von der gegenwärtigen Situation machen will, in der die Erde vom Menschen bedroht wird, der ist gut beraten, sich cineastischen Zukunftsbildern zuzuwenden. In gewisser Weise haben Filme die Aufgabe der Prophetie übernommen. Künstler sind vielleicht heutzutage die eigentlichen Propheten. Prophetie hat jedoch nichts mit Wahrsagerei zu tun. Diesen Unterschied kann man nicht häufig genug betonen. Wahrsager sagen bekanntlich die (vermeintliche) Zukunft voraus. Propheten haben an Wahrsagerei kein Interesse. Sie treffen mit der Aussage über die Zukunft eine Aussage über die Gegenwart. Und dieser kommt die Funktion zu, zum gegenwartsverändernden Handeln zu motivieren. Das Bild der Zukunft ist nur auf den ersten Blick ein Bild der Zukunft. Im eigentlichen Sinne ist es ein Bild der Gegenwart. Und dieses Bild soll, so die Absicht vieler prophetischer Zukunftsfilme, uns dazu herausfordern, umzukehren, um dem prognostizierten Schicksal doch noch zu entgehen.

»Kehrt um!« so lautet auch die Hintergrundbotschaft des Blockbusters Der Tag, an dem die Erde stillstand aus dem Jahr 2008. Der Film handelt davon, dass der Mensch zum Feind der Erde geworden ist. Die Erde ist dem Menschen ausgeliefert. Im Film sind es Vertreter außerirdischer Kulturen, die die Erde vor den Menschen retten wollen. Die einzige Lösung zur Rettung der Erde sehen sie in der Vernichtung der Menschen. Erst im letzten Moment werden sie jedoch gewahr, dass die Menschen fähig sind, sich radikal zu ändern, und so lassen sie von ihrem Plan der Zerstörung der Menschheit ab.

Solche Visionen sind nicht völlig neu. Im Gegenteil. Sie sind inspiriert durch Ideen, die den kulturellen Gedächtnissen eingepflanzt sind. Auch Ulrich Horstmann sieht seine Philosophie der Menschenflucht nicht als etwas völlig Neues an. Er stellt Verbindungen her zum mythisch-religiösen Bewusstsein, beispielsweise zu alten Schöpfungsmythen, in denen seine Philosophie schon angelegt sei. Diese, so Horstmann, enthielten bereits ein anthropofugales Bewusstsein, da sie die Erkenntnis vermittelten, dass der Mensch aus der Schöpfung herausgefallen sei. Aber Horstmann erzählt nur die halbe Geschichte dieser Mythen. Denn in vielen dieser Traditionen wird auch davon erzählt, dass Menschen der Gefahr kollektiver Vernichtung durch eine radikale Selbsttransformation entgangen sind. Man denke nur an die Geschichte des Propheten Jona im Alten Testament. Jona verkündet der Stadt Ninive die Zerstörung aufgrund der Bosheit ihrer Bewohner. Ausgelöst wird diese Prophetie weder durch ein besonderes Wissen, über das Jona verfügt, noch durch die eigene Verzweiflung, auch nicht durch eigenen Zorn über das Verhalten der Bewohner. Jona hat gar keinen Bezug zu der Stadt. Die Ansage der Vernichtung geschieht im Auftrag eines Dritten, eines »Außerirdischen«, nämlich Gottes, der die Vernichtung beabsichtigt und Jona als deren Verkünder schickt. Für die Bewohner von Ninive, soviel steht in der Erzählung zunächst fest, gibt es kein Entkommen. Aber dann geschieht das Unerwartete: Ninive wird nicht zerstört. Wider Erwarten kehren die Bewohner um. Angesichts der Erkenntnis, dass Menschen sich ändern können und wollen, nimmt Gott völlig unerwartet von seinem Plan Abstand – zum Bedauern des Propheten Jona, der nun als falscher Prophet dasteht.

Sowohl der Film als auch die biblische Geschichte von Ninive vermitteln eine Philosophie der Menschwerdung, die auf der Erkenntnis beruht, dass der Mensch, wenn er sich selbst ändert, sogar das Unmögliche möglich zu machen und sein unabdingbares Schicksal abzuwenden vermag. Diese Erkenntnis ist grundlegend für eine Philosophie der Menschwerdung, die die fortschreitende Hominisierung der Welt, die Aneignung der Welt durch den Menschen für eigene Zwecke, durch eine Humanisierung des Menschen durchbrechen will.

So gesehen, stehen sich heute eine Philosophie der Menschenflucht und eine Philosophie der Menschwerdung gegenüber. Beide setzen voraus, dass der Mensch zur primären gestalterischen Kraft auf Erden avanciert ist. Der Konflikt beider Philosophien erreicht gegenwärtig, im sogenannten Zeitalter des Anthropozäns, seinen Höhepunkt.

Anmerkungen

1 | U. Horstmann, Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, Frankfurt a.M. 1985, 7.

2 | Ebd., 8.

3 | Ebd., 111/112.

4 | Vgl. Ulrich Horstmann im Gespräch mit Robert Jungk/Moderation Franz Kreuzer, Reihe »Disputationes«, ORF 30.01.1991.

II. Willkommen im Anthropozän

»Willkommen im Anthropozän« – so titelte die Zeitschrift »The Economist« am 26. Mai 2011. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff, wo kommt er her? Wenn auch der Begriff nicht allein auf ihn zurückgeht, und wenn auch der Kerngedanke bereits im 19. Jahrhundert erstmalig von einem italienischen Geologen geäußert worden war, so entfaltete der Begriff doch erst seine Dynamik, als der Nobelpreisträger für Chemie und ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz, Paul J. Crutzen, im Jahre 2002 seinen Aufsatz Die Geologie der Menschheit in der Zeitschrift Nature veröffentlichte.[1] Crutzen diagnostiziert in diesem Essay eine Eskalation des menschlichen Handelns auf die globale Umwelt durch anthropogene CO2-Emissionen in den letzten drei Jahrhunderten. Diese Eskalation habe nun ein solches Ausmaß angenommen, dass es nötig sei, von einer neuen geologischen Epoche zu sprechen, dem Anthropozän. Das Anthropozän folge auf das Holozän und beginne im späten 18. Jahrhundert:

»Den Beginn des Anthropozäns kann man auf das späte 18. Jahrhundert datieren, da Untersuchungen der in Eisbohrkernen eingeschlossenen Luftbläschen ergaben, daß die Konzentration von CO2 und Methan in der Atmosphäre in dieser Zeit weltweit zuzunehmen begann. Dieses Datum fällt überdies mit James Watts Erfindung des sogenannten Wattschen Parallelogramms im Jahre 1784 zusammen, einer entscheidenden Verbesserung der Dampfmaschine.«[2]

Angesichts des Bevölkerungswachstums, der Abholzung des Regenwaldes, der Überfischung, des Ausstoßes an Schwefeldioxid, des Anstiegs der Treibhausgase etc. »wird die Menschheit auf Jahrtausende hinaus einen maßgeblichen ökologischen Faktor darstellen«.[3] Es sei denn, es trete eine globale Katastrophe ein: etwa durch einen Meteoriteneinschlag, einen neuen Weltkrieg oder eine verheerende Pandemie.[4] Angesichts dieser Diagnose sieht Crutzen Wissenschaftler und Ingenieure vor einer gewaltigen Aufgabe stehen, die »angemessenes menschliches Verhalten auf allen Ebenen und möglicherweise auch großangelegte Geoengineering-Projekte, zum Beispiel zur ›Optimierung‹ des Klimas«[5], erforderlich mache.

Seither wird der Begriff des Anthropozäns unter Geologen intensiv diskutiert. Die Arbeitsgruppe Anthropozän der Subcommission on Quaternary Stratigraphy (Kommission für Stratigraphie) konnte allerdings auf dem Kongress der Internationalen Geologischen Gesellschaft 2012 in Brisbane die Frage nicht beantworten, ob es sich hier um einen sinnvollen geologischen Begriff handelt oder nicht. Sie hat nun die Aufgabe, auf dem nächsten Treffen im Jahre 2016 einen Vorschlag zur Klärung der Frage zu unterbreiten. Obwohl es also unter Geologen bis heute keine Einigung darüber gibt, ob der Begriff tatsächlich wissenschaftlich haltbar ist, breitet er sich immer rasanter aus. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Verbreitung hat der Wissenschaftsjournalist Christian Schwägerl mit seinem Taschenbuch Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Wie wir heute die Welt von morgen erschaffen geleistet. Im Vorwort des Buches stellt Paul Crutzen mit Genugtuung fest, dass die Anthropozän-Idee dabei sei, »zu einem wichtigen Werkzeug für Wissenschaft, Gesellschaft und Philosophie zu werden«.[6] Für Crutzen ist die Idee des Anthropozäns insbesondere für das Leben junger Menschen wichtig, da sie ihnen die Bedeutung vermittele, »dass sie es sind, die diese Erde der Zukunft gemeinsam mit ihren Altersgenossen teilen und auch erschaffen helfen«.[7]

Menschenzeit

Kann man heute sinnvoll von einem »Zeitalter ›des Menschen‹ sprechen, wenn wir doch gerade im Blick auf den Menschen mit einer Diversität konfrontiert sind, beispielsweise einer ›Neuro-Diversität‹ von Gefühlen, Verhalten, Gedanken, Musik, Geschichten, Träumen, Körpersprache, Sexualpraktiken, Gesten und Taten«, die durchaus mit der Biodiversität des Regenwaldes vergleichbar ist? – so fragt Schwägerl gleich zu Beginn seiner Ausführungen.[8] Seine Antwort: Ja, es lässt sich nämlich so etwas wie eine »›Signatur des Menschen‹ auf der Erde« ausmachen. Es gibt eine »neue Anthropo-Erde«, und diese entsteht aus »dem Kollektiv der Unterschiede«.[9] Vom Gedanken der »Anthropo-Erde« leitet er dann unvermittelt zur Idee des Anthropozäns über. Dabei lädt er diesen Begriff gleich mit einer geradezu heilbringenden Komponente auf. Denn dieser Begriff konnte eigentlich, so hebt Schwägerl hervor, von keinem anderen erfunden werden als von Crutzen, dem wir bekanntlich die Einsichten in die negativen Wirkungen der Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW) auf die Ozonschicht zu verdanken haben.[10] Erst durch die Ozonforschung sind wir zu der Erkenntnis gelangt, »das Wirken des Menschen als wichtige, ja vielleicht wichtigste Kraft in der Natur anzuerkennen«.[11] Crutzen avanciert bei Schwägerl zum Menschheitsretter: »Paul Crutzen hat als einzelner Mann den Prozess ausgelöst, der die Menschheit vor der evolutionsbiologischen Blamage rettete, wegen Deodorantsprays und leckender Kühlschränke den wichtigsten Schutz gegen UV-Strahlen zu verlieren.«[12] Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass der Begriff des Anthropozäns keineswegs bloß deskriptiver Art ist. Längst hat er eine normative Komponente angenommen. Und so plädiert Schwägerl dafür, Crutzens Anthropozän-These zu einem globalen Ethos fortzuentwickeln.[13] Mit dem Zeitalter des Anthropozäns wird nämlich eine »neue Ära der Verantwortung« eingeleitet.[14]

Schwägerl bleibt hier jedoch nicht stehen. Das Anthropozän wird bei ihm nicht nur zu einem neurobiologischen, sondern auch zu einem neurogeologischen Phänomen hochstilisiert:

»Aus unserer Wahrnehmung, aus den Gedanken und Gefühlen, aus unseren Bedürfnissen, Gewohnheiten, Entscheidungen und Prognosen entsteht ein neuer Planet. Wir erleben den Beginn einer Neuro-Geologie. Das macht es unmöglich, länger die Reiche von Natur und Kultur zu trennen. Im Anthropozän werden sie auf die eine oder andere Art verschmelzen, in einem Prozess bio-kultureller Evolution.«[15]

Damit wird die Menschheit zur Avantgarde der Evolution ausgerufen. Antreiber der Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind nicht mehr einzelne Menschen mit ihrem »Körperleib« (Helmuth Plessner), sondern »das Kollektiv der menschlichen Gehirne«:

»Seit 1945, als die ›Große Beschleunigung‹ begann, hat das Kollektiv der menschlichen Gehirne viele Eigenschaften und Werkzeuge entwickelt, deren Potenzial für positive zivilisatorische Veränderungen groß ist. Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess ist so stark wie nie, er schrumpft das Riesenreich des Nichtgewussten, enthüllt Geheimnisse von Atomen, Gehirnen, Ökosystemen. Die Fähigkeiten, neue Technologien hervorzubringen, wachsen rasch, sodass Fertigkeiten entstehen, die bis vor kurzem noch unvorstellbar erschienen, von der Gentherapie bis zur künstlichen Photosynthese.«[16]

Der Fortschrittsoptimismus Schwägerls ist trotz Klimakrise ungebrochen – als gäbe es auch keine Finanz- und Wirtschaftskrise. So visioniert er, dass die freie Marktwirtschaft in sich die Chance trägt,

»dass sich die besten Produkte und Dienstleistungen durchsetzen und Konsumenten die Dingwelt durch freie Entscheidungen erschaffen. Das World Wide Web und seine sozialen Medien ermöglichen eine weltweite Verbundenheit, überwinden geografische Barrieren und erlauben es Menschen, an sozialen und politischen Prozessen unabhängig von ihrem Wohnort teilzunehmen. Und die Vereinten Nationen bieten eine Struktur, die Nationen und Kulturen für einen fairen Ausgleich ihrer Interessen zusammenbringt«.[17]

Die »›Anthropoisierung‹ der Welt«, ihre Aneignung durch den Menschen, könnte »das großartigste Unterfangen überhaupt sein«, liegt doch in diesem Prozess vielleicht ein tieferer Sinn verborgen, nämlich »die Erde zu vermenschlichen, menschlicher zu machen, zu humanisieren«.[18] All das wäre möglich, wäre da nicht die Gegenwartspräferenz, die uns auf ein Kurzfristdenken verpflichtet.[19] Dieses Kurzfristdenken gründet in der »Dominanz des Amerikanischen Traumes«, des »Traums vom unlimitierten Zugang zu Ressourcen und individuellem Anspruch auf Verschwendung«; es ist »der Traum davon, auf einer unendlichen Erde zu leben und das Leben in einem konstanten Strom kurzfristiger Belohnungen zu verbringen«.[20]

Seit der Ankunft des Menschen wird die Welt radikal verändert. Darin kann Schwägerl auch nichts Verwerfliches erkennen, denn: »Der Mensch ist das Lernwesen schlechthin – warum sollte da der Weg zu einem Planeten, den der Mensch durchdringt und beherrscht, nicht positiv verlaufen? Die Menschheit hat die erstaunlichsten Wissenschaftler und Künstler hervorgebracht – warum sollten da nicht Menschen möglich sein, die Habgier und krankes Wirtschaften von heute überwinden? Erfindungsreiche Menschen füllen unsere Welt mit den erstaunlichsten Maschinen – warum sollten es nicht Maschinen sein, die sich an die Lebenssysteme der Erde anpassen, statt sie zu schädigen?«[21] Heute kommt dem Menschen die Aufgabe zu, »Züchter einer Welt zu werden«.[22] Aber dieses Züchten ist etwas völlig anderes als das »primitive Umgestalten des globalen Ökosystems«, mit dem wir es heute zu tun haben; es ist gestalterisch, nicht zerstörerisch.[23]

Die Welt, in der wir leben, befindet sich durch den Einfluss des Menschen in stetiger Veränderung. Durch ihn wurde sie zu einer »gezüchteten Welt«, denn das Züchten ist das Grundprinzip menschlicher Zivilisation. »Es folgt dem Prinzip der biokulturellen Evolution. Es verbindet Genom und Gedanken, Natur und Kultur, Realität und Träume. Züchten ist für das Anthropozän prägender als Häuser.«[24] Und nicht nur das:

»Das Prinzip des Züchtens zieht sich durch alle Handlungen. Ingenieure züchten Maschinen, Künstler züchten Kunstwerke, Konsumenten züchten Produkte, Medien züchten Weltbilder, Wissenschaftler züchten Hypothesen. Das wirft einige bedeutende Fragen auf: Was züchtet die heutige Landwirtschaft selbst, was züchten die Politiker, die ihre Regeln festlegen, und was züchten die Essenden?«[25]

Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Einsicht, dass das, was Natur heißt, im Anthropozän »in vielen Fällen dem menschlichen Gehirn«[26] entstammt. Mit dem Anthropozän-Paradigma wird das Nachhaltigkeitsparadigma abgelöst, da letzteres immer noch auf dem »Gegenüber von Mensch und Natursystem besteht«.[27] Der Gedanke einer »Menschen-Erde« kann deshalb auf der Basis des Nachhaltigkeitsparadigmas nicht mehr gedacht werden.[28]

Heute fällt dem Menschen die Aufgabe zu, ein globaler Gärtner zu werden.[29] Schaut man aber auf die Gestaltungskraft des Menschen, so ist auf die Symbiose Mensch und Maschine einzugehen.[30] Die Maschine ist Teil des Menschen geworden. Es ist eine Weltfabrik entstanden, die jedoch im Zeitalter des Anthropozäns nach dem Prinzip der »Bioadaptation«[31]