Revolutionäres Christentum - Jürgen Manemann - E-Book

Revolutionäres Christentum E-Book

Jürgen Manemann

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Beschreibung

Die Gesellschaft wird durch drei Krisen erschüttert: die Klimakrise, die Demokratiekrise und die Corona-Krise. Es bilden sich Risse, in denen Verdrängtes und Neues aufbricht. Furcht breitet sich aus angesichts des Verlustes des Herkömmlichen, aber auch die Faszination für Neues greift um sich. Wo sind dabei die Christ*innen? Laufen sie Gefahr zu versäumen, in dieser Situation etwas Neues zu wagen? Mutlosigkeit breitet sich unter ihnen aus. Sie scheinen sich vor ihrer eigenen Hoffnung zu fürchten. Jürgen Manemann plädiert: Hoffen auf Auferstehung heißt Aufstehen für eine neue Welt. Christ*innen fällt daher heute die Aufgabe zu, Teil einer »Revolution für das Leben« zu werden.

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Jürgen Manemann

Revolutionäres Christentum

Ein Plädoyer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Valentin Müller, Bamberg

Print-ISBN 978-3-8376-5906-1

PDF-ISBN 978-3-8394-5906-5

EPUB-ISBN 978-3-7328-5906-1

https://doi.org/10.14361/9783839459065

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Die Revolution gibt’s nicht im Fernsehen

I.Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

1.JHWH – eine revolutionäre Gottheit

2.Wider die bürgerliche Religion

3.Auferstehung als Lebensform

4.Weltwerdung der Welt

5.Prophetische Kritik

II.Christliche Hoffnung heute

1.Mut zur Trauer

2.Die Kraft zum Utopischen

3.Zukunftsangst

4.Das Utopische als Unterbrechung

5.Die Zeit ist reif

6.Wer hat Angst vor der Ansage der Apokalypse?

III.Mut zur Umkehr

1.Die kapitalistische Sachherrschaft

2.Die Entfremdung des Selbst

3.Revolution als Beziehungsweise

4.Die Befreiung des Lebens

IV.Verwundbares Leben

1.Demokratiepassion

2.Kirche jenseits »weißer Religion«

3.Sorgende Solidarität

4.Die Sorge-Revolution

V.Status confessionis

1.Ziviler Ungehorsam

2.Polizeigewalt und das Schweigen der Kirche

VI.Die Stille im Himmel

1.Exoduspolitik

2.G-ttesmacht

Dank

Literatur

Meinen Lehrern Johann Baptist Metz (1928-2019) & Tiemo Rainer Peters (1938-2017)

Die Revolution gibt’s nicht im Fernsehen1

Du wirst nicht in der Lage sein mit deinem Arsch zu Hause zu bleiben – den Fernseher einzuschalten um dann abzuschalten – und es spielt absolut keine Rolle ob du in der ersten Reihe sitzt – mit dem zweiten besser siehst ob und von wem du dich wann wie entertainen lässt – denn – die Revolution wird nicht an dir vorüber ziehen. Die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen – du kannst sie nicht downloaden – kein Bit – Byte – Stream – mp3 – mp4 oder DivX – die Revolution lässt sich nicht komprimieren – sie ist Open Source – und Elon Musk hat absolut nichts mit ihr zu tun. Die Revolution kommt nicht als Trojaner auf deinen Rechner. Sie klingelt nicht an deiner Tür im Namen der GEZ.Du kannst sie nicht im Internet bestellen oder bei Ebay ersteigern – die Revolution gibt es nicht als Flatrate. Es gibt für sie keine Flugmeilen oder Payback-Punkte – du kriegst für sie keine Abo-Prämien oder Optionsscheine.Die Revolution ist kein großes Fressen für die Heuschreckenschwärme – jede – jede – hat Anteile an der Revolution. Die Revolution läuft nicht im Cinemaxx – du kannst sie dir nicht bei Netflix ansehen oder bei Amazon ausleihen.Es gibt keine 10 Minüter von ihr bei YouTube– sie hat keine eigene Facebook-Seite – keinen Insta-Account – oder Snapchat.Die Revolution twittert nicht. Sie wird auch nicht auf die Rückseite von Cornflakes-Packungen gedruckt – und steht auch nicht auf dem Beipackzettel deiner Anti-Depressiva.Die Revolution ist nicht schmerzfrei. Die Revolution wird nicht präsentiert von Bitburger oder Red Bull – von ihr gibt es keine Banner-Werbung im Stadion – keine Krawattennadeln, Aufkleber oder Feuerzeuge.DU bist nicht blöd und die Revolution IST geil – die Revolution kostet nicht 12.000 Euro die Minute zur Primetime. Es gibt kein Patent auf die Revolution – kein Air System – du wirst durch sie nicht schneller – schöner oder erfolgreicher – sie schenkt dir kein strahlend weißes Dr. Best Lächeln und macht dich auch nicht zum Popstar oder Germany’s next Topmodel.Die Revolution holt dich auf den Boden der Tatsachen.  Es gibt keine Ankündigung der Revolution in der Frankfurter Allgemeinen –dem Spiegel oder der Bild – kein Exklusiv-Interview bei Panorama oder Sandra Maischberger – die Revolution wird kein Top-Thema beim nächsten G8-Gipfel – die Revolution bleibt Underground. Die Revolution wird nicht von Hollywood in Szene gesetzt – keine ILM Special Effects – keinen Oscar für die beste Hauptrolle.Selbst Oliver Stone ist die Revolution zu brisant – Michael Moore würde gerne, doch die Revolution will ihn nicht – die Revolution ist keine Propaganda. Kim Kardashian ist nicht das Gesicht der Revolution.Die Gala, die Bunte und das Goldene Blatt berichten nicht über sie – Die Revolution ist nicht Sudoku – die Revolution ist unberechenbar.Sie lässt sich nicht durch die Zahlen der Weltwirtschaft beeinflussen – sie beeinflusst die Zahlen der Weltwirtschaft.Du kriegst keine Zinsen auf die Revolution. Sie kommt nicht auf einem weißen Schimmel angeritten – und H&M verkauft keine T-Shirts mit dem Aufdruck – Revolution – ich bin dabei! die Revolution ist Live… (Spax)

1Mit freundlicher Genehmigung von ©Rafael Szulc-Vollmann.

I.Unterwegs zu einem revolutionären Christentum

Es gärt …

Es gärt in unserer Gesellschaft. Risse bilden sich, die an einigen Stellen bereits zu Bruchstellen werden. In ihnen bricht Verdrängtes und Neues, Gefährliches und Rettendes, Reaktionäres und Revolutionäres auf. Furcht breitet sich aus angesichts des Verlustes des Herkömmlichen, aber auch die Faszination für Neues.

Unser Zusammenleben wird durch drei Krisen erschüttert:

•erstens, die ökologische und klimatische Katastrophe,

•zweitens, die Krise der Demokratie und

•drittens, die Corona-Krise.

Aber wo sind die Christ*innen, wo ist »die Kirche«1? Während sich neue Klimagerechtigkeitsbewegungen ausbreiten und mit ihnen neue gesellschaftliche Formationen, laufen Christ*innen und die Kirche Gefahr, Neues zu versäumen. In diesen Bewegungen wächst das Bewusstsein für die Dringlichkeit maximaler Praxis: für Revolution. Die Philosophin Eva von Redecker sieht in den neuen Widerstandsformen den Beginn einer »Revolution für das Leben«, die ihren Ausgang nimmt »von einer Mobilisierung für akut bedrohte Leben« und die »für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben«2 kämpft.

1.JHWH – eine revolutionäre Gottheit

Müssten Christ*innen sich nicht in der Mitte dieser Revolution wie zu Hause fühlen3? JHWH ist schließlich eine revolutionäre Gottheit, die ein Leben in stetiger persönlicher und politischer Umkehr verlangt. G-tt4 ist eine Schöpfergottheit, die Menschen ins Leben ruft und sie zum Dienst für die Bewahrung des Lebens beruft. Der Sturz der Mächtigen gehört zu ihrem Markenzeichen. Für Kardinal Walter Kasper kommt diese revolutionäre Sicht besonders im Magnifikat zum Ausdruck.5 Maria, die Mutter Jesu, hat es gesprochen:

»Meine Seele lobt die Lebendige,und mein Geist jubelt über Gott, die mich gerettet hat.Sie hat auf die Erniedrigung ihrer Sklavin geschaut.Seht, von nun an werden mich alle Generationen glücklich preisen,denn Großes hat die göttliche Macht an mir getan,und heilig ist ihr Name.Ihr Erbarmen schenkt sie von Generation zu Generationdenen, die Ehrfurcht vor ihr haben.Sie hat Gewaltiges bewirkt.Mit ihrem Arm hat sie die auseinandergetrieben,die ihr Herz darauf gerichtet haben,sich über andere zu erheben.Sie hat Mächtige von den Thronen gestürzt undErniedrigte erhöht,Hungernde hat sie mit Gutem gefülltund Reiche leer weggeschickt.Sie hat sich Israels, ihres Kindes, angenommenund sich an ihre Barmherzigkeit erinnert,wie sie es unseren Vorfahren zugesagt hatte,Sara und Abraham und ihren Nachkommen für alle Zeit.«(Lk 1, 46-55)

Marias Lobpreis hat den Menschen- und Welthass der Faschist*innen auf sich gezogen. Prominentes Beispiel ist der Begründer der Action française, Charles Maurras. Er wollte den Katholizismus vom »Gift des Magnifikats«6 reinigen. Faschist*innen versuchen immer wieder, den römischen Katholizismus als eine Ordnungsmacht für sich zu reklamieren. Sie predigen einen Katholizismus ohne Jesus.7 Ihren Ausdruck findet diese Ordnungsmacht für sie in der Ästhetik des römisch-katholischen Triumphalismus. Ein Kind in einem Stall – mit diesem Gottesbild kommen sie nicht zurecht. Die Weihnachtsbotschaft und das Magnifikat, in denen G-ttes Zusage von der umstürzlerischen Vision vom neuen Jerusalem bereits Realität wird, sind für sie unerträglich.

Wer G-tt beim Namen nennt, reklamiert das Neue als bereits gegenwärtig, ohne dabei die Gegenwart als mit dem Neuen identisch zu behaupten. Wer die biblische Gottheit anruft, stellt jede Gegenwart unter einen eschatologischen Vorbehalt. Denn die mit G-tt verbundene Hoffnung relativiert jedes Ordnungsgefüge.8

2.Wider die bürgerliche Religion

Aber wie steht es um den Beitrag von Christ*innen in der gegenwärtigen Situation? In einem Interview zur Corona-Pandemie stellte der Soziologe Hartmut Rosa mit Bedauern fest, »dass relativ wenig von Kirchen oder von religiösen Vertretern kommt«. Er sei in der letzten Zeit »häufig in den kirchlichen oder auch theologischen Kreisen eingeladen« gewesen. Und er habe sich »oft gewundert, wo eigentlich diese Mutlosigkeit herkommt, dass da so ein bisschen das Gefühl entsteht: Die Gesellschaft will uns nicht hören.«9 Gerade die katholische Kirche hierzulande igelt sich ein, und das in einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Damit sage ich nicht, dass Christ*innen nicht engagiert sind. Einige setzen sich beispielsweise in der Pandemie für wohnungslose Menschen ein. Aber dieses Engagement geht selten mit dem Willen einer gesellschaftlichen Transformation einher. Auch wird das sichere Terrain nicht verlassen. Die gesellschaftspolitischen Bruchstellen werden gemieden. Dort taucht Kirche nicht auf. Die Feststellung des US-Rappers und säkularen Humanisten Jay-Z »No Church in the Wild« lässt sich auch auf unseren Kontext übertragen. Jay-Z hat die Kirche deshalb schon längst abgehakt. Was Rosa als »Mutlosigkeit« bezeichnet, ist Ausdruck von Furcht. Eine doppelte Furcht breitet sich in der Kirche aus: die Furcht vor der Welt um sie herum und die Furcht vor der eigenen Botschaft.

Die Kirche entfremdet sich zunehmend von sich selbst. Ihre Hoffnung ist zu einer »erwartungslosen Hoffnung« mutiert: »Hoffnung ohne Erwartung aber ist im Kern Hoffnung ohne Freude. Hier liegt für mich die Wurzel der oft so freudlosen Freude im bürgerlichen Christentum.«10 So brachte es der katholische Theologe Johann Baptist Metz schon vor längerer Zeit auf den Punkt.11 Letztlich fürchtet sich die Kirche davor, an die Hoffnung zu glauben, für die sie doch steht.

Die Furcht vor der Welt und die Furcht vor der eigenen Botschaft bedingen einander wechselseitig. Dabei haben gerade wir Katholik*innen am wenigsten Grund, uns zu fürchten, sind »wir*«12 doch privilegiert. Aber genau dieses Privilegiertsein ist der Grund unserer Furcht. Wir* sind materiell reich und werden sozial immer ärmer. Unsere Empfindlichkeit ist selten durch Sensibilität geprägt, aber häufig durch Sentimentalität. Wir* tun uns leid. Wir* haben mehr Mitleid mit uns als mit der Welt. Anstatt uns ernsthaft um die ökologische und klimatische Katastrophe zu sorgen, versinken wir* in Selbstmitleid über den eigenen Relevanzverlust. Dieser gründet in einer Identitäts- und in einer Kirchenkrise. Die Identitätskrise wurde durch eine Verbürgerlichung des Christentums ausgelöst, während die im engeren Sinne als Kirchenkrise bezeichnete innerkirchliche Erschütterung das Resultat vermachteter klerikaler Strukturen ist. Beide Krisen offenbaren, dass die Kirche an einer Selbstbezüglichkeit leidet, die erst aufgebrochen wird, wenn es gelingt, sich von der Fixierung auf das institutionelle Überleben zu verabschieden.13 Im Fokus der folgenden Überlegungen steht die Identitätskrise, die eine Krise der Institution und der Glaubenden ist, »die sich dem unweigerlich praktischen Sinn dieser Botschaft allzu sehr entziehen«14. Sie hat ihre Ursache darin, dass wir Christ*innen uns längt selbst privatisiert haben und ein bürgerliches Christentum leben:

»Doch Christentum als bürgerliche Religion ist nicht die Religion des Evangeliums; sie ist das Geschöpf des Bürgertums und der bürgerlichen Unnahbarkeit gegenüber Religion. Der Bürger läßt die Religion nicht mehr an sich heran, er bedient sich ihrer, wenn er sie ›braucht‹. So hat er selbst jene Servicekirche geschaffen, die niemanden mehr wirklich tröstet und die wir deshalb auch so sehr bekämpfen. Der Bürger selbst hat auf einer neuen Ebene, auf einer weniger anspruchsvollen, jene Betreuungskirche stabilisiert, die es gerade zu überwinden gälte.«15

Die Antwort auf das Christum als bürgerliche Religion ist eine Kirche, die in der Gesellschaft widerständig präsent ist.16 Eine solche Präsenz gibt es nicht, wie Metz eindringlich dargelegt hat, ohne eine »metaphysische Zivilcourage« der Gläubigen, durch welche die »produktive Ungleichzeitigkeit« der Botschaft Jesu in der Gesellschaft zur Geltung gebracht wird. Das Christentum verlangt von seinen Anhänger*innen viel, vielleicht zu viel. Und so hat Metz es als eine »große Übertreibung«17 bezeichnet. Die Zuwendung zu den Leidenden, die Feindesliebe, die Auferstehung – all das ist ja geradezu skandalös.18 Christ*insein in unserer Gesellschaft heißt deshalb, »Bürger mit schlechtem Gewissen« (J. B. Metz) zu sein. Doch anstatt diese Spannungen zu ertragen, hat es den Anschein, dass gerade wir Christ*innen die Maßstäbe stetig verkleinern.19 Metz zufolge steckt hinter dieser Verkleinerung des Christentums ein bestimmtes Subjekt: die Bürger*in. Zukunftsfähig wird das Christentum nur »jenseits bürgerlicher Religion«20. Aus diesem Grund bringt Metz ein messianisches Christentum gegen eine bürgerliche Religion in Stellung: »Die messianische Zukunft christlichen Glaubens bestätigt und verstärkt nicht einfach unsere vorgefaßte bürgerliche Zukunft, verlängert sie nicht, tut ihr nichts hinzu, überhöht und verklärt sie nicht, sondern – unterbricht sie.«21 Diese Einsicht hat allerdings Konsequenzen für das Selbstverständnis der Kirche. Die Kirche muss sich von der Bürger*innenkirche verabschieden, die eine »bürgerliche Angebots- und Servicekirche« ist. Die Verbürgerlichungstendenz innerhalb der Kirche zeigt sich Metz zufolge etwa darin, dass die Amtskirche in Debatten über den Zölibat zwar immer wieder versucht, einen Pflichtzölibat zu reklamieren, dieser aber lediglich der »Bemäntelung einer entradikalisierten Christenheit« diene und den Zölibatären in die Vereinsamung führe.22 Dagegen reklamiert Metz die theologische Relevanz der Ehelosigkeit. In dieser geht es nicht um eine bourgeoise Existenz. Ehelosigkeit ist auf das Reich G-ttes ausgerichtet. Aber die Kirche versucht, sie immer wieder vom Amt des Priesters her zu begründen – mit der fatalen Folge, dass sie nicht mehr »als Ausdruck apokalyptischer Kompromißlosigkeit der Nachfolge« verstanden wird.23 Deshalb verschwindet durch die »kirchliche Institutionalisierung der Ehelosigkeit für alle Priester« gerade der Sinn, den die Ehelosigkeit theologisch haben könnte.24 Hätten nicht die Orden die Aufgabe, hier zu intervenieren?25 Ehelosigkeit als Ausdruck radikaler Nachfolge bedeutet: »Solidarität mit jenen Ehelosen, für die Ehelosigkeit, sprich: Einsamkeit, sprich: ›keinen Menschen haben‹ gerade keine Tugend ist, sondern gesellschaftliches Lebensschicksal; sie drängt zu den in Erwartungslosigkeit und Resignation Eingeschlossenen«26. Seelisch krank machen nicht die evangelischen Räte, sondern ihre Stilisierung »zum Bild idealer, ›perfekter‹ Christlichkeit«27. Dabei stehen sie für eine »engagierte Leidenswahrnehmung«28.

Metz geht »von der Vermutung aus, dass die Kirche an Strahlkraft nicht deswegen eingebüßt hat, weil sie zu viel fordert, sondern weil sie eigentlich zu wenig zumutet bzw. ihre Forderungen zu wenig deutlich unter den Prioritäten des Evangeliums selbst vorträgt. Wenn sie evangelisch ›radikaler‹ wäre, brauchte sie vermutlich gesetzlich nicht so ›rigoros‹ sein.«29 An der Zeit ist deshalb eine »nachbürgerliche Initiativkirche«30. Sie nähme ihren Auftrag, »Kirche für andere« (D. Bonhoeffer) zu sein, endlich ernst. Voraussetzung einer solchen Kirche ist allerdings auch, dass die »Betreuten« sich ändern, dass auch sie ihren eigenen Klerikalismus ablegen und mündig werden.31 Aber was heißt hier Mündigkeit? Mündigkeit meint nicht die Anpassung der Religion an die bürgerlichen Plausibilitäten.32 Mündigsein im christlichen Sinne heißt nicht, sich der Religion zu bedienen, über sie zu verfügen. Ein solches Verhältnis stärkt das »Übermaß an politischer Anpassungsgeschichte«33 des Christentums. Nicht zuletzt der Blick auf die Katastrophe Auschwitz zeigt die Gefahren eines anpassungsschlauen Christentums: »ein drastisches Defizit an politischer Widerstandsgeschichte«34. Mündigsein konkretisiert sich in Verantwortungsübernahme und in Autonomie: der »Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen«35. Mündig sind diejenigen, die sich nicht anpassen, die die Ansprüche des Christentums auszuhalten versuchen, sie nicht verkleinern. Mündig sind diejenigen, die einen Glauben besitzen, der auch die Abgründigkeit G-ttes gerade im Blick auf die Katastrophe Auschwitz nicht verschweigt.36 Mündig sind diejenigen, die G-tt vermissen. Wer G-tt vermisst, stellt die Frage »Wo bleibt G-tt?«.37 Diejenigen, die G-tt vermissen, erwarten noch etwas von G-tt, erwarten G-tt.38 Sie suchen G-tt an den Bruchstellen des Lebens.

Die Programmatik einer Initiativkirche bleibt nicht bei der Forderung nach Mündigkeit stehen. Sie zielt auf ein Projektsein, dessen Aufgabe die Arbeit an Weltwerdung ist. Kirche hat sich zu bewähren in der Mitarbeit an dem Entwurf, das Leben menschlicher zu machen und zu erhalten. Nach Aristoteles ist das bereits Politik, denn politisches Handeln zielt auf das Gemeinwohl.39 In diesem Sinne ist auch das Handeln G-ttes Politik. G-tt befreit aus Unterdrückung und weist in das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen, das die Ungerechten ausspeit. Christ*innen drängt es deshalb dazu, politisch zu werden. Der Blick auf das politische Leben ist somit ein Anzeichen dafür, ob wir es mit G-tt oder bloß mit einem »geglaubten Glauben«40 zu tun haben. G-tt beim Namen nennen ist ein performativer Akt, in dem »Gott einfällt« (E. Lévinas) und die eigenen unmittelbaren Interessen irritiert.41 Das unterscheidet die Rede von G-tt von einem ›Gottesgerede‹. Auf der Basis dieser Einsichten ist das Christentum so zu verschärfen, dass es Christ*innen zukünftig unmöglich wird, sich von den Leiden anderer Menschen und nichtmenschlicher Kreaturen erfolgreich zu distanzieren.42 Gerade heute wäre im Blick auf die ökologische Katastrophe zu fragen: Warum sehen wir* unserer Kirche die Leidensgeschichte der nichtmenschlichen Lebewesen so wenig oder überhaupt nicht an?43 Und das, obwohl in der Präambel des Tierschutzgesetzes von 1986 das Tier als »Mitgeschöpf« bezeichnet wird und damit, wie der evangelische Theologe Jürgen Moltmann hervorhebt, »die Welt der Schöpfung eröffnet [ist]. Ich bin ein Geschöpf als Mensch und das Tier ist ein Mitgeschöpf, also gibt es eine Schöpfungsgemeinschaft und Gott ist der Schöpfer.«44 In der Umweltenzyklika »Laudato si’« schreibt Papst Franziskus: »Ich möchte daran erinnern, dass ›Gott uns so eng mit der Welt, die uns umgibt, verbunden [hat], dass die Desertifikation des Bodens so etwas wie eine Krankheit für jeden Einzelnen ist, und wir (…) das Aussterben einer Art beklagen [können], als wäre es eine Verstümmelung‹.«45 Er geht sogar so weit zu sagen, dass das »ewige Leben (…) ein miteinander erlebtes Staunen sein [wird], wo jedes Geschöpf in leuchtender Verklärung seinen Platz einnehmen wird (…)«46.

Viel ist gegenwärtig in der Diskussion über die Kirchenkrise von Freiheit die Rede – zu Recht. Es käme aber darauf an, Freiheit nicht auf den innerkirchlichen Ruf nach mehr Freiheit in der Kirche zu reduzieren, sondern Freiheit radikaler zu denken, sie mit dem gesellschaftskritischen Ruf nach Befreiung zu verbinden. Kirche würde sich dann, wie Metz es fordert, »als öffentliche Zeugin und Tradentin einer gefährlichen Freiheitserinnerung«47 verstehen. Sie würde fragen, wer in der Gesellschaft zu den »häufig vergessenen oder verdrängten Freiheiten« ermutigt:

»zur Freiheit, am Leiden anderer zu leiden und die Prophetie fremden Leidens zu achten – obwohl die Negativität des Leids immer unzumutbarer, ja geradezu verpönt erscheint? Zur Freiheit, alt zu werden, obwohl die Öffentlichkeit das Alter verleugnet und es geradezu als ›geheime Schande‹ empfindet? (…) Zur Freiheit schließlich, sich die eigene Endlichkeit und Fragwürdigkeit vor Augen zu führen, obwohl die Öffentlichkeit unter der Suggestion eines immer heileren, harmonischeren Lebens steht (…)?«48

Diese Freiheiten streben nach Befreiung, nach der Überwindung der Strukturen, durch die unsere Sensibilitäten für das Leben neutralisiert werden. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass das biblische Hebräisch den Begriff »Freiheit« nicht kennt.49 Stattdessen wird vom »befreienden Tun«50 in Geschichten erzählt.

Die Institution Kirche trocknet aus, wenn sie nicht belebt wird von Kirche als Lebensform. Franziskus fordert deshalb dazu auf, Maria als Vorbild zu betrachten und eine Kirche zu sein, »die dient, die aufbricht, die aus ihren Kirchen herausgeht, die aus ihren Sakristeien herausgeht, um das Leben zu begleiten, die Hoffnung zu unterstützen und Zeichen der Einheit (…) zu sein (…), um Brücken zu spannen, Mauern zu durchbrechen und Versöhnung auszusäen«51. Katholisch sein bedeutet Franziskus zufolge »radikale Präsenz« (M. Quast-Neulinger): die Inkarnation an den Orten, an denen wir leben.52 Der ehemalige Hildesheimer Caritas-Direktor, Hans-Jürgen Marcus, warnte vor einigen Jahren vor der Gefahr, dass aus der Kirchenkrise eine Evangeliumskrise werden könnte, in der das Hoffnungspotential der Botschaft verdunstet.53 Der synodale Weg besitzt das Potenzial, das zu verhindern. Er bietet die Chance, Selbstmitleid und Sentimentalität abzustreifen und durch Sensibilität zu ersetzen, indem nämlich Missbrauchsopfern in der Kirche aktiv zugehört wird. Ein solches Zuhören ginge mit Veränderungen einher, durch die vermachtete klerikale Strukturen ins Wanken geraten würden. Das wäre ein Anfang. Ob dieser Weg allerdings einen Weg »jenseits bürgerlicher Religion« weisen wird, durch den auch die Identitätskrise überwunden würde, hängt davon ab, ob es gelingt, diesen Weg bewusst »im Aufgang einer nachbürgerlichen, nachkapitalistischen Welt«54 zu beschreiten. Dazu hätte Kirche sich als Lebensform wiederzuentdecken, die den Blick nach außen richtet und jegliche Selbstbezüglichkeit durchbricht. Gerade deshalb wäre heute der Satz »Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen!« institutionstheoretisch zu wenden: »Wer um des Reiches Gottes willen seine Institution verliert, wird sie in einer neuen Weise gewinnen.«55

3.Auferstehung als Lebensform

Die Forderung nach radikaler Präsenz steht für Kirche als Lebensform. Sie geht mit der Frage einher, wie Christ*innen leben, »was sie tun und wie sie es tun«56. Dabei steht der Alltag im Vordergrund. Im Alltag entstehen die Sensibilitäten, die Wirkungen auf uns ausüben.57 Lebensformen gelten gemeinhin als »Problemlösungsinstanzen«58. Ihr Gelingen oder Misslingen »bemisst sich (…) an ihrer Fähigkeit zur Lösung dieser sich (mit) ihnen stellenden Probleme«59. Lebensformen besitzen Geltung, solange sie im Alltag von Bedeutung sind.60 Nun steht gerade der Alltag in hochmodernen Gesellschaften unter einem stetigen Veränderungsdruck. Nur diejenigen Lebensformen können Bestand haben, die lernfähig sind, die immer wieder neue Antworten auf neue Problemlagen bieten. Lernblockaden lassen sie unwirksam werden.61 Kirche als Lebensform hat nur dann eine Zukunft, wenn sie sich als lernende Kirche versteht.

Wenn Lebensformen sich dadurch auszeichnen, dass sie helfen, mit Problemen umzugehen oder sie zu lösen, dann stellt sich die Frage, auf welches Problem Kirche als Lebensform antwortet. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die Hoffnung auf Auferstehung. Aus Sicht vieler Christ*innen ist die Auferstehung die Lösung des Problems des Todes. Aber welche Bedeutung hat diese Botschaft in einer Gesellschaft, in welcher der Tod gar nicht mehr das zentrale Problem zu sein scheint? Viele Menschen behaupten, dass sie keine Angst vor dem Tod hätten und ihr Leben auch nicht durch den Tod entwertet sähen. Sie fürchten sich nicht vor dem natürlichen Tod, sondern vor dem Tod mitten im Leben, dem zu frühen Tod, und sie fürchten sich vor allem vor dem Sterben. Das einstige Problem des Todes scheint durch das Problem des Sterbens ersetzt worden zu sein. Bietet das Christentum also mit seiner Auferstehungshoffnung eine Lösung für ein Problem, das für viele Menschen gar nicht existiert? Antwortet es auf Fragen, die niemand mehr stellt? Wenn dem so wäre, wäre das Christentum und damit auch die Kirche als Lebensform gescheitert.

Die Auferstehung war ursprünglich keine Antwort auf das Problem des natürlichen Todes. Der Gedanke der Auferstehung wurde geboren aus der Situation der Unterdrückung. Das 2. Makkabäerbuch erzählt davon, wie während des Makkabäeraufstandes (168-164 v.u.Z.) Kinder vor den Augen ihrer Mutter gefoltert und ermordet werden. Die Mutter spricht zu einem ihrer Kinder:

»Ich bitte dich, mein Kind: Schau hinauf zum Himmel, sieh die Erde und alles, was auf ihr lebt. Erkenne, dass Gott dies nicht aus schon Bestehendem erschaffen hat und dass auch das Geschlecht der Menschen so entsteht. Fürchte diesen Henker nicht, sondern nimm, deiner Geschwister würdig, den Tod an, damit ich dich in der Zeit des Erbarmens zusammen mit deinen Geschwistern erhalte.« (2 Makk 7, 28-29)

Dann wendet sie sich an den Herrscher Antiochus: »Unsere Geschwister sind jetzt, da sie eine kurze Qual erduldeten, unter Gottes Versprechen des ewigen Lebens gestorben, du aber wirst durch den Richterspruch Gottes die gerechte Strafe für deinen Übermut erhalten.« (2 Makk 7, 36)

Im Angesichte der Folterung ihrer Kinder hält die Mutter dem Herrscher die Hoffnung entgegen, dass er, dass die Täter*innen, nicht in Ewigkeit über die Opfer triumphieren werden. Auferstehung heißt also zunächst Auferstehung zum postmortalen Gericht. Sie ist somit die Antwort auf eine noch ausstehende Gerechtigkeit.62 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch das wohl zeitgleich verfasste Buch Daniel: »Viele, die im Erdboden schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen für immer gering geschätzt und verabscheut. Die Verständigen werden wie der Leuchtglanz des Himmelsgewölbes leuchten, und die die Vielen zurechtbringen, wie die Sterne, für ewig und immer.« (Dan 12, 2. 3)

Die Hoffnung auf Auferstehung wurde also im Zuge der frühjüdischen apokalyptischen Weltdeutung geboren,63 und die Nachfolger*innen Jesu haben ihr Bekenntnis eingezeichnet in die Theologie der apokalyptischen Bewegungen.64 Die Apokalyptik ist die »Luft, die Jesus und seine Jünger geatmet haben«65. Sie gehört ins Zentrum des christologischen Bekenntnisses, wie ein kurzer Blick auf die neutestamentliche Formeltradition zeigt: »Die älteste Formel des Urchristentums und damit der älteste Satz des Urchristentums überhaupt hatte den Wortlaut: ›Gott, der Jesus aus den Toten erweckt hat‹ bzw. ›Gott hat Jesus aus den Toten erweckt‹.«66(1 Thess 1,10 u.a.)