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Susan Andretti hat einen neuen Job als Systemberaterin. Bei ihrem Kunden Kronus in Bremen fasst sie schnell Fuß, doch dann wird der zweijährige Enkel des Großindustriellen entführt. Während Susan mit den Schatten ihrer eigenen Vergangenheit kämpft, unterstützt sie die Familie bei der Suche nach dem Kind. Je tiefer sie hinter die Fassade des Familienkonzerns blickt, desto mehr Abgründe tun sich auf, die sie am Ende selbst zu verschlingen drohen.
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Seitenzahl: 271
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Alexa Stein
Kronus’ Kinder
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Ernst
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlagbild: © 300dpi – istockphoto.com
Umschlaggestaltung: Alexander Somogyi
ISBN 978-3-7349-9268-8
Die Schaukel quietscht. Wenn man lange genug hinhört, klingt es wie ein Esel. Meine Mutter sagt, es nervt. Ist mir egal.
Mein Bruder spielt im Sandkasten. Er lässt Autos zusammenkrachen und macht dabei blöde Brummgeräusche. Mehr kann er nicht.
Er ist doch noch so klein, sagt Papa.
Ich hole Schwung und lasse die Beine baumeln. Dann warte ich, bis die Schaukel ganz vorne ist, und springe. Es ist wie fliegen. Eines Tages werde ich ganz hoch schaukeln. So hoch, bis ich abhebe und davonfliege.
Mein Knie blutet.
Ich laufe zu dem großen Busch ganz hinten im Garten. Das ist mein Lieblingsplatz. Er ist voll von weißen Blüten wie im Schloss von Dornröschen. Es ist mein Schloss. Ich bin die Königin und Laura ist die Prinzessin. Laura ist meine beste Freundin. Dass ihr Kopf so schief ist, ist seine Schuld. Alles ist seine Schuld.
Gleich kommt Papa nach Hause. Dann spielt er wieder mit ihm, ›seinem kleinen Liebling‹. Ich hasse diesen Wurm. Ich hasse ihn.
Susan war eingekesselt. Vor ihr, hinter ihr, von allen Seiten schoben sich Autos über die Elbbrücken. Keine Chance zu entkommen. Sie steckte fest, wieder einmal.
Du schaffst es nicht, heute nicht, niemals …
»Verdammt!« Susan schlug mit der flachen Hand auf das Steuer und traf die Hupe. Der Fahrer vor ihr drehte sich um, tippte sich gegen die Stirn. Sie sah zur Seite. Am Fahrbahnrand lag eine Amsel. Ihr Kopf war nach hinten geknickt, die Augen weit aufgerissen, ausgetrocknet. Ein Rest Flaumfedern wirbelte über die Leitplanke. Ein kleiner zerschmetterter Körper.
Kommt dir das nicht bekannt vor? Lauf davon! Lauf, solange du noch kannst!
»Nein, tue ich nicht!« Susan blickte nach vorn und drückte den Handballen fest auf die Hupe.
Vier Minuten vor neun bog sie in eine kleine Seitengasse ein. Sie fand die Softwarefirma in einem ehemaligen Fabrikgebäude in der zweiten Häuserreihe und parkte ihren Wagen auf dem Hof, neben den Abfallcontainern. Noch zwischen Fahrertür und Auto versuchte sie, die Knöpfe ihres Blazers zu schließen, doch es war immer dasselbe, in der Taille saß er perfekt, über dem Busen spannte er. »Verdammt!«
»Entschuldigen Sie …«
Nur allmählich drang die tiefe Stimme in ihr Bewusstsein. Susan sah nach oben. Ein Mann im grauen Jackett lehnte aus einem der Fenster.
»Tut mir leid, aber heute kommt die Müllabfuhr. Sie sollten diesen Wagen besser woanders parken.«
Susan zog die Mundwinkel nach oben und ließ sie abrupt wieder fallen. Das war eindeutig gegen ihren Fiat gerichtet, dennoch verkniff sie sich eine Antwort und stieg wieder ein. Als sie endlich bei Systems klingelte, war es fünf Minuten nach der verabredeten Zeit. Kein gutes Omen für einen Neuanfang.
»Frau Andretti?« Der Mann im Türrahmen ging einen Schritt zurück und ließ sie eintreten. »Anton Jablonski. Das Mädchen für alles.« Sein Lächeln rahmte seinen Mund wie eine Clownsmaske ein. Es war eine Spur schelmisch, aber offen und herzlich. »Herr Berger erwartet Sie.«
Durch die verglasten Bürowände fiel das Tageslicht weit in den Eingangsbereich, warf ein helles Band auf den Parkettboden. Außer dem Surren der Rechner und dem Klappern von Tastaturen, die von flinken Händen bedient wurden, war nichts zu hören. Ein Luftzug trug den Geruch warm gelaufener Platinen zu ihr.
Susan strich sich die widerspenstigen Locken so gut es ging hinter die Ohren, atmete tief durch, als Jablonski die Tür eines Büros öffnete, das zur Hofseite lag. Sie ging an ihm vorbei und machte innerlich einen Schritt zurück. Vor ihr stand der Witzbold, grinsend, den Kopf zur Seite geneigt.
»Wie ich sehe, haben Sie noch einen Parkplatz gefunden.«
Susan nickte andeutungsweise und hielt ihm die Hand entgegen. Sie musste sich kaum strecken, um ihm in die Augen zu sehen, was bei Männern selten vorkam. »Susan Andretti.«
Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden, ergriff er ihre Hand und drückte kräftig zu. »Ich weiß.«
Susans Wangen begannen zu prickeln. »Natürlich.« Sie zog ihre Hand zurück, führte sie beiläufig an ihrer Nase vorbei. Ein Hauch Seife, weiter nichts. Er benutzte weder Rasierwasser, noch sonstige parfümierte Stoffe.
»Bitte, setzen Sie sich.«
Berger zeigte auf einen der Stühle, die um einen großen Konferenztisch herumstanden. Im Gegensatz zu dem Schreibtisch am Ende des Büros, lag nicht ein Stück Papier darauf. Jablonski ging zur Tür, zog sie leise hinter sich zu.
Berger war jünger, als sie beim ersten Blick vermutet hatte. Vereinzelt schimmerten drahtige, weiße Haare im dunkelblonden Schopf. Seine Haut zeigte die typische Blässe arbeitswütiger Bürohengste. Am markantesten waren seine tintenblauen Augen, die sie fixierten und einen Deut schmaler wurden, als er sie ansprach.
»Ich habe schon gefrühstückt.«
»Bitte?« Susan schreckte aus ihren Gedanken.
»Ich habe nicht vor, Sie zu fressen.«
Berger lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Sie sehen aus, als ob Sie das befürchten.«
Wärme breitete sich in Susans Gesicht aus, kroch in ihre Kehle, ließ sie trocken und rau werden.
»Sie sind zurzeit im Bereich Marketing tätig?«
»Ja …«
»Und das macht Ihnen keinen Spaß mehr.«
Es klang wie eine Feststellung. Was bezweckte er damit? »Doch, natürlich. Programmierung allein ist für eine gute Projektleitung nicht ausreichend. Gerade Marketing und Organisation gehören für mich unbedingt dazu.«
»Sie sind mit objektorientierten Datenbanken vertraut, Vererbung und dem ganzen Gedöns?«
»Ja.«
»Rauchen Sie?«
Susan zögerte. Wollte er ihr eine Zigarette anbieten? Sie hätte längst gerochen, würde er rauchen. »Nein.«
»Wunderbar.« Er schwieg eine Weile, wobei er sie offen taxierte.
Hatte er die kleine Lüge bemerkt? Susan rutschte ein Stück nach hinten und senkte den Blick auf die Tischplatte. Ihre Haare klebten im Nacken. Wenn sie nur nicht so dringend diesen Job bräuchte. In zwei Wochen lief ihr Arbeitsvertrag aus und dies war ihre erste Einladung zu einem Bewerbungsgespräch.
Berger räusperte sich, und Susan sah wieder auf.
»Frau Andretti, haben Sie Probleme mit dominanten Männern?«
Sie öffnete den Mund, machte eine vage Handbewegung. Was zum Teufel sollte das? »Ich?« Sie legte ihre Unterarme auf die Tischplatte und richtete sich auf. »Nein.«
Berger grinste. »Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Aber es ist von elementarer Wichtigkeit. Ich suche jemanden, dem ich die Projektleitung für die Firma Kronus in Bremen übertragen kann. Ein komplettes Vertriebssystem. Herr Kronus, der Inhaber und Geschäftsführer, ist ein Hanseat vom alten Schlag. Ein Patriarch durch und durch … nicht eben zeitgemäß, indes nicht weniger effektiv. Wie auch immer, wir können es uns nicht leisten, diesen Kunden zu verlieren. Wenn Sie sich das nicht zutrauen, dann sagen Sie es bitte gleich.«
Susan nahm den Kopf noch weiter nach oben und lehnte sich zurück. »Sehe ich so aus?«
Berger fixierte sie erneut, erhob sich und trat auf sie zu. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls aufzustehen.
»Vielen Dank, Frau Andretti. Ich bin leider im Zeitdruck. Wir werden uns in Kürze bei Ihnen melden. Herr Jablonski begleitet Sie hinaus.« Er blickte durch die Glaswand in das benachbarte Büro und gab ein Handzeichen.
»Verdammt, verdammt, verdammt …!«
Du hast es verbockt! Du hättest auf mich hören sollen!
Susan lehnte sich von innen gegen ihre Wohnungstür, zog die Pumps aus und schleuderte sie in die Ecke. Rock und Blazer folgten. Sie riss das Fenster im Wohnzimmer auf, ließ sich auf das Sofa fallen.
Du wirst es immer verbocken!
Und jetzt? Wie sollte es weitergehen? Ohne Job. Mal wieder.
Susan zog sich eines der Kissen über das Gesicht. In ihrem Kopf herrschte das gleiche Chaos wie in ihrer Wohnung. Dabei wollte sie endlich ein normales Leben führen. Endlich einen festen Job, ein Zuhause finden.
Du machst dir was vor!
Schon fast ein Jahr lebte sie in Bremen. Aber auch hier war es ihr nicht gelungen, sich einzurichten, weder in der Wohnung, noch in ihrem Leben. Die meisten ihrer Sachen dümpelten in Kartons verpackt herum, ebenso wie ihre Gefühle. Es waren genauso viele Kartons, wie sie auf einmal in ihr Auto laden, genauso viele Gefühle, wie sie unter Kontrolle halten konnte.
Immer fluchtbereit!
»Nein, mobil! Das ist ganz was anderes.«
Susan stieg aus dem Wagen, sah auf ihre Armbanduhr. Auf die Minute pünktlich. Sie knöpfte den neuen Blazer zu und ging über den Parkplatz zum Firmengebäude der Kronus GmbH. Sie arbeitete jetzt seit einem Monat für Systems. Schon zwei Tage nach dem Bewerbungsgespräch hatte sie den Vertrag im Briefkasten gefunden, den Vertrag und einen Zettel, dass sie am Montag um neun Uhr anfangen sollte. Ein Monat, in dem Berger ihr im Eilverfahren eingetrichtert hatte, was sie an Basiswissen für die Projektbetreuung benötigte. Alles andere ergäbe sich in der Praxis, hatte er gesagt. Seine Anforderungen waren hoch, und er war verdammt schwer einzuschätzen. Jeder Tag, den sie mit ihm zusammenarbeitete, verstärkte diesen Eindruck. Immer, wenn sie dachte, sie wüsste was er vorhatte, reagierte er anders. Launisch war er allerdings nicht. Alles schien gut überlegt, selbst seine Stimmungen.
Frau Gruber, die Sekretärin des Firmeninhabers, führte sie in ein mehr als großzügiges Büro und ließ sie mit der Bemerkung zurück, dass der Senior gleich käme.
Unschlüssig sah Susan sich um, rieb die Handflächen gegeneinander, aber sie blieben kalt, wie der Raum mit seinen schweren englischen Möbeln. Selbst der seidige Schimmer des rotbraunen Holzes und der weiche Duft nach Bienenwachs vermochten dem Raum keine heimelige Atmosphäre zu verleihen.
Die Rahmen der vier Portraits, die hinter dem Schreibtisch hingen, hoben sich kaum von der Wandvertäfelung ab, ließen die Gesichter mit der Wand verschmelzen. Hagere Gesichter, umrahmt von sorgfältig geschnittenen, blonden Haaren, graue Augen, das erste mit Bart, die anderen sorgfältig rasiert. Sie alle saßen vor diesem Schreibtisch, den linken Arm auf die Lehne dieses Stuhles gelegt, selbst der Aktenschrank schien noch aus der Gründerzeit zu stammen, als habe sich der Raum über die Generationen hinweg nicht verändert. Sie alle blickten streng auf Susan herab, nur das Gesicht mit dem Bart hatte ein Zwinkern in den Augen.
Als sie es genauer betrachtete, bemerkte sie, dass der Stehkragen nicht so dicht saß, die Hand leicht gebogen auf der Lehne lag, als wollten die Finger augenblicklich lostrommeln. Die Zipfel des Schnauzbartes schienen noch zu zucken, als würde die ganze aufgesetzte Strenge jeden Augenblick von einem Lachen vertrieben.
Als die Tür geöffnet wurde, zuckte sie zusammen, und bevor sie sich dafür schelten konnte, kam Henning Kronus auf sie zu, füllte den vorher so geisterhaft geordneten Raum mit Leben.
Berger hatte recht, dieser Mann flößte einem schon durch seine bloße Anwesenheit Respekt ein.
Er begrüßte sie mit einem kräftigen Handschlag und bat sie, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Erst als sie saß, ließ er sich in dem hohen Ledersessel nieder. Er lächelte freundlich, gleichwohl ließ sein Blick keinen Zweifel daran, wer hier das Sagen hatte. Die Ruhe und Bestimmtheit, mit der er sich ihr zuwandte, ließ ihn aufmerksam erscheinen, erinnerte Susan an den väterlichen Ausdruck des Schnauzbartes über ihm.
An der Wand zu ihrer Rechten hing ein Ausschnitt aus dem Weser Kurier, mit der Überschrift Bremer Traditionsunternehmen für soziale Verdienste ausgezeichnet. Sie kannte den Artikel. Er war vor einem halben Jahr in der Rubrik Märkte & Macher erschienen. Henning Kronus hatte in dem Interview die Firma stolz als seine Familie bezeichnet, für die er sich auch über geschäftliche Angelegenheiten hinaus verantwortlich fühlte.
Der Senior stützte die Ellenbogen auf die Mahagoniplatte und verschränkte die schmalen, knochigen Hände. Beide Ringfinger wurden von Standessymbolen geschmückt. Der Rechte von einem schmalen, goldenen, der Linke von einem dunkelgrünen Siegelring.
Seine Bewegungen waren rund und geschmeidig, wobei er einen frischen Duft verströmte, der von einer erdigen Basisnote getragen wurde. Lediglich die leicht erschlaffte Haut und das weiße Haar ließen erahnen, dass er vor wenigen Monaten 70 geworden war.
Er folgte Susans Blick zu dem Zeitungsbericht. »Tradition hat bei uns höchste Priorität. Selbst in der vierten Generation ist die Firma zu 100 Prozent im Besitz der Familie. Und so wird es bleiben.«
Als Susan nicht antwortete, lächelte er. »Das mag weltfremd klingen, doch glauben Sie mir, nichts – absolut nichts – kann den Erfolgsfaktor einer intakten Firmenstruktur ersetzen. Genau genommen ist ein Unternehmen nichts anderes als eine Großfamilie. Mein Sohn und meine Tochter sind seit Jahren hier tätig. Sie haben von der Botenabteilung angefangen alle Abteilungen durchlaufen. Es ist wichtig, die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Verstehen Sie, was ich meine?«
Susan nickte. »Nichts ist schlimmer für ein Unternehmen, als ein Geschäftsführer, der seinen Betrieb ausschließlich aus Statistiken kennt.«
Henning Kronus zwinkerte ihr zu. »Ich sehe, wir verstehen uns. Und das ist wichtig. Schließlich wird die Umstrukturierung auf Basis Ihres Systems das Rückgrat unserer Firma bilden. Ich muss allerdings gestehen, von EDV nicht allzu viel Ahnung zu haben. Deshalb wird die Projektleitung bei meinem Sohn liegen. Doch zögern Sie bitte nicht, mich jederzeit anzusprechen.«
Er griff zum Telefon, runzelte die Stirn, als er auflegte, erneut wählte, und Frau Gruber bat, seinen Sohn zu ihm zu schicken.
Wenige Minuten später betrat eine Frau den Raum. Ohne zu wissen wer sie war, erkannte Susan sie sofort als eine Kronus. Sie war Mitte 30, hochgewachsen und schlank, beneidenswert schlank. Susan fand sich selbst zu klein, zu pummelig, auch wenn ihre Mutter ihr immer wieder versichert hatte, dass sie eine schöne, eine weibliche Figur habe. Weiblich, was sagte das anderes aus, als dass die Männer sie auf ihren Busen reduzierten. Weiblich, sie hasste allein das Wort. Sie hätte so gern einen Körper, der sportlich und dynamisch wirkte, wie jener, der dort im Türrahmen stand.
Henning Kronus zog die Brauen nach oben.
Die Frau machte einen kleinen Schritt nach vorn, ohne die Hand von der Türklinke zu nehmen. »Georg ist nicht im Haus. Da dachte ich …«
»Was soll das heißen? Er wusste von dem Termin.«
»Es gab augenscheinlich Wichtigeres.« Sie trat weiter in den Raum und verschränkte die Arme.
Henning Kronus blieb stumm, aber seine Wangenmuskeln spannten sich. Unwillkürlich blickte Susan zu den Portraits, die mit zustimmenden Blicken dem Senior den Rücken stärkten. Schließlich wandte er sich wieder an Susan.
»Frau Andretti, darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen? Sie wird Sie vorerst mit unserer Vertriebsstruktur vertraut machen.«
Seine Tochter wartete, bis er ausgesprochen hatte, dann ging sie auf Susan zu. Sie hatte die großen, grauen Augen ihres Vaters, doch strahlten sie bei ihr eine andere Wirkung aus. Sie verliehen dem schmalen Gesicht etwas Mädchenhaftes, das nicht ganz zu dem Businesskostüm und dem bequemen Chic der Schuhe passte und dennoch ihren schlichten Stil betonte.
»Andrea Kronus. Ich freue mich sehr auf unsere Zusammenarbeit.« Sie streckte Susan die Hand entgegen und lächelte.
Schon beim Betreten des Büros roch Susan die Anwesenheit eines Babys. Der Duft nach Schafsfett und Vanille, begleitet von dem säuerlichen Geruch verdauter Milch. Andrea Kronus ging zu dem Kinderwagen, der neben ihrem Schreibtisch stand, beugte sich darüber. »Das ist mein Sohn Julian. Er ist sechs Monate alt.«
Susan trat näher und sah auf den schlafenden Jungen. Sein Gesicht war leicht gerötet und die kleine Nase zuckte, wie die eines Kaninchens. Als seine Mutter behutsam die Zudecke zur Seite schlug, gähnte er, ohne die Augen zu öffnen. Sie zog ihre Hand zurück, schaukelte den Wagen ein wenig hin und her und setzte sich.
Susan blieb stehen. »Wie friedlich er aussieht.« Vorsichtig berührte sie seine warme, feuchte Wange. Das Kind bewegte sich, suchte mit seiner kleinen Faust ihren Finger. Susan deckte ihn wieder zu und setzte sich Andrea Kronus gegenüber.
»Der Schein trügt. Wenn ihm etwas nicht passt, kann er sich durchaus lautstark bemerkbar machen. Haben Sie Kinder?«
»Nein.« Die Antwort kam schärfer heraus, als Susan es beabsichtigt hatte. Andrea Kronus sah sie an, als würde sie eine Erwiderung überlegen, ging aber nicht weiter darauf ein. Stattdessen griff sie zum Telefon.
»Kaffee?«
Während Frau Gruber servierte, reichte Andrea Kronus Susan eine Mappe, schlug ein Organigramm auf. »Unser weltweiter Vertrieb wird von unterschiedlichen Vertretungen wahrgenommen, die eine lose Verbindung zum Stammhaus in Bremen haben, was die Zusammenarbeit erschwert. Noch sind wir kein Konzern. Mein Vater konnte sich bisher nicht dazu durchringen.« Sie klopfte mit einem Stift gegen ihren Oberarm. »Unsere Tochtergesellschaften arbeiten darüber hinaus mit eigenständigen EDV-Programmen, was den Austausch von Daten immens verkompliziert.«
Susan konnte sich kaum Notizen machen, so schnell flogen ihr die Worte entgegen. Je mehr Andrea Kronus erzählte, desto mehr Farbe bekamen ihre Wangen. Alles was sie sagte, hörte sich an, als hätte sie es schon Dutzend Mal referiert. Und das, obwohl sie spontan für ihren Bruder eingesprungen war. Ihre Begeisterung steckte Susan so an, dass es ihr vorkam, als würden sie seit Jahren zusammenarbeiten.
»Ist denn geplant, auch die Tochtergesellschaften mit Systems auszustatten?«, wollte sie wissen.
»Wenn es nach mir ginge, sofort, mein Vater jedoch …, er möchte erst die Implementierung hier im Hause abwarten.«
Bevor Susan eine weitere Frage stellen konnte, mischte sich Julian in das Gespräch ein. Es begann mit einem leisen Glucksen und ging in Weinen über. Seine Mutter blickte zur Uhr.
»Habe ich es nicht gesagt. Er hat Hunger. Es ist unglaublich, was so ein kleiner Wurm täglich verschlingt. Wenn Sie mich kurz entschuldigen.« Sie stand auf, nahm ihn auf den Arm und verließ den Raum. Zu Susans Erstaunen kam sie schon nach wenigen Minuten ohne das Kind zurück.
»Frau Gruber gibt ihm die Flasche«, erklärte sie und schien für einen Augenblick zu stocken, als sie Susans fragenden Blick bemerkte. »Ich habe in einer Stunde einen Termin, deshalb sollten wir gleich weitermachen.« Sie lächelte, setzte sich an ihren Schreibtisch und war sofort wieder beim Thema. Susan nickte. Diese Frau hatte ihr Leben im Griff. Sie wusste, wo sie hingehörte, was sie wollte, ganz im Gegensatz zu ihr. Wäre Andrea Kronus ihr nicht so sympathisch, hätte sie direkt neidisch sein können.
Henning Kronus drückte auf die Wahlwiederholung. Es klingelte fünf Mal, ehe sich die Mailbox einschaltete. Er presste die Kiefer aufeinander, legte den Hörer zurück. Die Anspannung zog in den Nacken, verstärkte das Pochen hinter den Schläfen, das sich ausbreitete, schnell und hartnäckig wie ein Buschfeuer. Schon als Kind hatte er unter Migräneanfällen gelitten und gelernt sie auszuhalten. ›Reiß dich zusammen, sitz grade! Du bist ein Kronus!‹ Ein Kronus… Die Stimme seines Vaters war bei diesem Wort bestimmter geworden, härter, falls eine Steigerung überhaupt möglich war. ›Den Namen Kronus zu tragen bedeutet eine Verpflichtung. Denk daran! Denk immer daran!‹ Henning hatte sein ganzes Leben daran gedacht, besonders in den 30 Jahren, nachdem sein Vater ihm, dem ältesten Sohn, die Firma– seine Familie– übergeben hatte. ›Es liegt jetzt an dir und deinem Erben. Setz dich durch! Georg ist ein Versager!‹ Sein Vater hatte es ihm noch auf dem Sterbebett vorgehalten. Georgs Versagen war sein Versagen, er hatte es oft genug gehört. Dennoch würde er seine Pflicht erfüllen. Er würde sich an die Tradition halten und trotzdem die Firma in qualifizierte Hände geben.
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