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Felix Büschelberger, Hauptkommissar bei der Frankfurter Mordkommission, wird eines Abends zusammen mit anderen Mitgliedern einer Umweltschutzgruppe beim Krötensammeln beinahe überfahren. Am nächsten Morgen wird der Raser tot im Osthafen aufgefunden. Selbstmord? Mord? Schnell stoßen Felix und sein italienischer Jugendfreund und Kollege Emilio mit ihrem Team auf unlautere Machenschaften, die bis in höchste politische Kreise reichen könnten. Verzwickte Spuren führen die teetrinkenden Ermittler von Deutschland über Italien bis nach Kenia. In den unterschiedlichste Welten sind die scheinbaren Saubermänner genauso verdächtig wie schwule und verzweifelte Stricher. Mit Hilfe des kettenrauchenden Chefpathologen Dr. Kevin Murr und ausgefeilter Technik werden knifflige Rätsel aufgelöst, doch immer neue entstehen. Aber mit ihrem äußerst leistungsfähigen Elektro-Auto stromern Felix und Emilio dem Täter unerbittlich hinterher. Heftige Turbulenzen in Felix´ Privatleben sorgen nebenbei für Spannung ganz anderen Art. Ein charmanter Kriminalroman mit liebenswert gezeichneten Charakteren - gewürzt mit einer Prise Elektromobilität.
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Seitenzahl: 480
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Stephan Schwarz
Krötenmord
Kriminalroman
CAPSCOVIL VERLAG | GLONN | GERMANY
www.capscovil.com
Buch
„Ein feiner Landregen trieb durch den Lichtkegel des Wagens, den Hauptkommissar Felix Büschelberger gerade auf halber Strecke zwischen Langenhain und Eppstein auf der einsamen Straße parkte.“
Felix Büschelberger, Hauptkommissar bei der Frankfurter Mordkommission, wird eines Abends zusammen mit anderen Mitgliedern einer Umweltschutzgruppe beim Krötensammeln beinahe überfahren. Am nächsten Morgen wird der Raser tot im Osthafen aufgefunden.
Selbstmord? Mord? Schnell stoßen Felix und sein italienischer Jugendfreund und Kollege Emilio mit ihrem Team auf unlautere Machenschaften, die bis in höchste politische Kreise reichen könnten. Verzwickte Spuren führen die teetrinkenden Ermittler von Deutschland über Italien bis nach Kenia. In den unterschiedlichste Welten sind die scheinbaren Saubermänner genauso verdächtig wie schwule und verzweifelte Stricher.
Mit Hilfe des kettenrauchenden Chefpathologen Dr. Kevin Murr und ausgefeilter Technik werden knifflige Rätsel aufgelöst, doch immer neue entstehen. Aber mit ihrem charmanten und leistungsfähigen Elektrofahrzeug stromern Felix und Emilio dem Täter unerbittlich hinterher.
Heftige Turbulenzen in Felix´ Privatleben sorgen nebenbei für Spannung ganz anderen Art......
Autor
Aufgewachsen in Bremen verbrachte Stephan Schwarz dort eine glückliche Kindheit und lernte die Neugier auf das Leben und die Welt kennen. Nach der Dienstzeit bei der Deutschen Luftwaffe studierte er Ingenieurs- und anschließend Wirtschaftswissenschaften. Beruflich reist er viel durch Europa und schnappt dort immer wieder Eindrücke für seine Geschichten und Krimis auf. Heute lebt er im Großraum München und ist glücklich verheiratet.
Sein Lebensmotto lautet: „Menschlich bleiben, bei allem was Du tust.“
Daher unterstützt er mit seinem Debut-Roman soziales Engagement. Nähere Informationen hierzu sind auf der Verlagswebseite zu finden.
Veröffentlicht im Capscovil Verlag
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1. Auflage eBook (epub)
ISBN 978-3-942358-17-0
© Copyright Stephan Schwarz, 2011
© Copyright der deutschen Ausgabe: Capscovil Verlag, Glonn, 2011
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
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Umschlaggestaltung: Capscovil Verlag
Umschlagmotiv: Stephan Schwarz
Satz: Capscovil Verlag
Deutsche Taschenbuch-Erstausgabe Dezember 2011
ISBN 978-3-942358-16-3
Weitere Ausgaben:
ISBN 978-3-942358-18-7 - 1. Auflage textunes
(iPhone/iPad/Android)
ISBN 978-3-942358-19-4 - 1. Auflage iBooks
ISBN 978-3-942358-20-0 - 1. Auflage Amazon Kindle
www.capscovil.com
Kapitel 1
Ein feiner Landregen trieb durch den Lichtkegel des Wagens, den Hauptkommissar Felix Büschelberger gerade auf halber Strecke zwischen Langenhain und Eppstein auf der einsamen Straße parkte. Felix seufzte. Dieser Regen würde ihn wieder einmal ganz durchnässen und mit knapp zwölf Grad Celsius war es auch nicht wirklich warm. Dann fiel sein Blick auf seine zwei Begleiter. Auch sie starrten in die Dunkelheit hinaus, aber in ihren Gesichtern war kein Zweifel zu sehen, eher eine freudige Erwartung, die Menschen immer dann an den Tag legten, wenn sie von einer Sache wirklich überzeugt waren.
Eben verloschen beim Wagen, der hinter ihrem stand, die Lichter und zwei weitere Begleiter stiegen aus. Beide trugen orange Schutzwesten mit zwei reflektierenden hellen Streifen darüber und blaue kleine Plastikeimer in der Hand. Felix lächelte jetzt: Nein, dies war keine normale Nacht – heute Nacht musste er keinen Mord aufklären, sondern würde mit seinen vier Gefährten dem Tod ein Schnippchen schlagen. Heute Nacht würde hier auf dieser Strecke kein weiteres Verbrechen geschehen.
Alle fünf verteilten sich langsam an der Straße und fingen an, mit Taschenlampen auf und ab zu leuchten. Hier kreuzte ein Krötenwanderweg die Straße und angesichts ihrer stark motorisierten Gegner hatten die Amphibien keine Chance, zu ihrer Paarungsstelle bei den kleinen Seen auf der anderen Seite zu gelangen. Felix hob seine erste Kröte für diese Nacht auf, ein Männchen, das sich sofort an seinen Mittelfinger klammerte. Erstaunlich wie diese kleinen Kerlchen auf jede Bewegung reagierten.
Wenn sie an einem still sitzenden Weibchen vorbei krochen, bemerkten sie es nicht, aber eine leichte Bewegung im Gras versetzte sie in helle Aufregung. Er streifte die Kröte von seinem Finger ab und setzte sie in den Eimer. Sie würden sie nachher noch zählen und versuchen grob zu katalogisieren, bevor sie die Tiere an den Teichen wieder in die Freiheit entlassen würden.
Felix hob eine weitere Kröte auf, dieses Mal ein Weibchen, an dem sich schon zwei Männchen festgeklammert hatten. Das Weibchen fiepte mehrere Male kurz hintereinander auf, bis es im Eimer saß. Felix hatte sich schon oft gefragt, was die Tiere ihm wohl erzählen wollten. Im Schein seiner Taschenlampe erkannte er, dass es eine gute Ausbeute geben würde – es waren zahlreiche Kröten unterwegs. Er erinnerte sich, dass sie während der Wanderungsperiode vor zwei Jahren mit der gesamten Gruppe über dreitausend Kröten gerettet hatten.
Darüber war sogar ein kleiner Artikel im Kreisblatt von Bad Soden mit Foto der ganzen Helfertruppe erschienen, aufgenommen auf irgendeiner Feier. Es hatte natürlich nicht lange gedauert bis dieser Bericht den Weg auf das Revier fand, in dem Felix arbeitete. Das hatte ihm den Spitznamen »Hauptkommissar Frosch« eingebracht. Es war sinnlos gewesen, seinen Kollegen zu erklären, dass sie nicht Frösche, sondern Kröten retteten. Es hätte die Spötteleien eher noch verstärkt. Eine Woche später war ein großer aufblasbarer Frosch in seinem Büro gelandet. Dieser war einfach in der Ecke gesessen, als er morgens zum Dienst gekommen war, und alle hatten gegrinst.
Felix hatte es dabei belassen und der Frosch saß heute noch da. Seine Kollegen hatten nie verstanden, warum er in seiner knappen Freizeit jedes Frühjahr wieder loszog, aber er genoss es einfach. Es war richtig und alle, die dabei halfen, waren Idealisten. Da er hauptberuflich nur mit Gewalttätern zu tun hatte, waren diese Leute für sein seelisches Gleichgewicht wichtig.
Petra zum Beispiel, die neben ihm Kröten auflas, war eine Marketingmanagerin in einer großen Firma in Frankfurt. Er hatte sie einmal in der Fußgängerzone getroffen und fast nicht erkannt, wie sie in ihrem Hosenanzug von Gucci und aufregend geschminkt mit sündhaft teuren Schuhen plötzlich vor ihm stand. Jetzt war sie völlig ungeschminkt, trug ausgewaschene Jeans und einen weiten Sweater unter ihrer Schutzweste und steckte mit beiden Händen tief in einem Eimer voller Kröten. Idealisten, Menschen die noch an etwas glaubten – ja, das war der wahre Grund, warum er hier bei dieser Gruppe gelandet und geblieben war.
Trotz des Wetters war die Stimmung ausgelassen. Wie üblich wetteiferten sie, wer die größte Krötendame mit den meisten auf ihr hockenden Krötenmännchen finden würde, und wie üblich würde sicher Petra gewinnen. Sie hatte einen Blick dafür, wo man suchen musste. Die ersten Eimer mit ihrer krabbelnden Ladung waren bereits auf die andere Seite gebracht worden und die zweite Sammlung lief auch schon erfolgreich, als Petra plötzlich rief: »Vier auf eins, ich habe gewonnen!«
Ihr helles Lachen erfüllte die Nacht und Felix und die anderen gingen zu ihr. Ein Kleeblatt, wie sie diese Kombination nannten, war selten, also wollten es alle sehen und eine kleine Pause war ihnen ebenfalls willkommen. Sie standen dicht beieinander, sahen auf das Krötenknäuel, das Petra beleuchtete, und alberten ein wenig herum. Ihre Eimer standen an der Straße und so hörte keiner, wie sich ein schwerer Wagen aus Richtung Langenheim mit hoher Fahrt näherte.
Erst als er ganz nah war, horchten sie auf und sahen, wie das dunkle Auto, ein 5er BMW, durch die Kurve schoss und sie mit seinen hellen Xenonscheinwerfern blendete. Er nahm die Kurve zu schnell und wurde aus der Bahn getragen. Der BMW hielt direkt auf sie zu. Felix warf sich auf Petra und brachte sie dadurch in Sicherheit. Auch die anderen reagierten gerade noch rechtzeitig. Der Wagen erwischte jedoch zwei ihrer Eimer, schleuderte sie hoch in die Luft und war innerhalb von Sekunden in Richtung Eppstein verschwunden.
Ruhe senkte sich wieder über die nächtliche Straße und für eine kleine Ewigkeit, so kam es Felix zumindest vor, sagte niemand etwas. Dann fing Petra an zu stöhnen. Jochen, der Gründer ihrer Gruppe, schimpfte laut vor sich hin und stieß heiße Verwünschungen in den Himmel. Felix hatte nur den Geruch von Petras Haaren in der Nase und seine Erinnerungen kreisten um einen Abend vor knapp zwei Jahren. Damals hatte sie ihm ein ziemlich eindeutiges Angebot gemacht, auf das er sich aber – gerade frisch geschieden – nicht einlassen konnte.
Er zwang sich, seine Gedanken wieder auf die Gegenwart zu lenken, und stand auf. Dann half er Petra auf die Beine und fragte, ob sich irgendjemand verletzt hatte. Alle verneinten, machten ihrem Ärger jedoch mit Fluchen und Schimpfen Luft.
»Mann, hättest du dem nicht die Reifen zerschießen können?«, fragte Eric, der Jüngste ihrer Gruppe.
»Ich glaube, du schaust zu viele amerikanische Actionfilme«, antwortete ihm Felix und konnte sich bei der Vorstellung, wie er mit seiner Waffe mannhaft hinter dem davonrasenden Wagen her feuerte, ein Auflachen nicht verkneifen.
»Außerdem wäre es ungesetzlich gewesen. Aber hat sich irgendjemand das Nummernschild merken können? Ich habe nur F-MS lesen können und selbst da bin ich mir nicht ganz sicher.«
Doch niemand hatte mehr gesehen. Der eine Eimer lag völlig zerstört ungefähr hundertfünfzig Meter entfernt auf der Straße, den zweiten fanden sie gar nicht mehr. Ebenso wenig hatten irgendwelche Kröten, die sie schon gerettet glaubten, den Unfall überlebt. Die Stimmung war gedrückt. Sie sammelten alle noch dreißig Minuten weiter und brachen dann auf zurück nach Frankfurt. Als sie sich trennten, versprach Felix am nächsten Tag zu versuchen, den Fahrer des BMW zu ermitteln.
Zu Hause angekommen, duschte er sich heiß ab. Er liebte das Gefühl, wenn warmes Wasser seinen Körper entlanglief. Die ganze Zeit aber waren seine Gedanken bei Petra. Er konnte den Duft ihrer Haare noch riechen und bei der Erinnerung daran, wie er auf ihr gelegen hatte, wurde ihm heiß. Er setzte sich in sein Wohnzimmer und goss ein Glas von dem Rotwein ein, den er am vorigen Abend angebrochen hatte. Der Wein war dunkelrot, trocken und sehr beerig, genau so wie er ihn liebte.
Wo steckte bloß Django? Er schaute sich um. Django war sein grauer Kater, den er vor einigen Jahren mitgenommen hatte, damals beim Mordfall Britta M. Es waren keine Angehörigen aufzutreiben gewesen und das Tierheim hatte den Vierbeiner sofort einschläfern wollen, da ihm ein Ohr fehlte und er ansonsten auch nicht besonders hübsch war. Also nicht vermittelbar!
Der Hauptkommissar hatte den Gedanken nicht ertragen können, dass der Kater so enden sollte, und seitdem bildeten die beiden eine seltsame WG. Er schien zu spüren, wenn sein menschlicher Mitbewohner einen stillen, aber verständnisvollen Zuhörer brauchte.
Dafür verlangte er aber die Freiheit, zu gehen und zu kommen wie er wollte, und sein Futternapf hatte bei seiner Rückkehr gefüllt zu sein. Ansonsten durfte Felix mitbringen, wen er mochte. Jeder fand Djangos Zustimmung, was sich meistens in seiner völligen Nichtbeachtung der Besucher ausdrückte.
An diesem Abend schien sein siebter Katzensinn allerdings nicht zu funktionieren. Felix musste wohl Selbstgespräche führen, wenn er einen Zuhörer haben wollte. Mit einem leisen Seufzer schenkte er sich noch einmal nach, als eine Katzenpfote Einlass fordernd an seinem Wohnzimmerfenster kratzte. Er öffnete es.
»Na, mein Freund, ich habe schon gedacht, du vergisst mich heute und gehst deinen eigenen Geschäften nach.«
Das Tier verschwand in der Küche, wo sein Fressnapf auf ihn wartete. Felix blieb im Wohnzimmer, es hatte keinen Sinn seinen Kater zu Eile anzutreiben, er würde kommen, wann es ihm beliebte. Wenig später sprang Django auf den Wohnzimmertisch und ließ sich auf seiner Lieblingsecke nieder. Sein Ohr war gespannt aufgerichtet und er schaute Felix an, als wolle er sagen: »Na los, komm, erzähle mir davon.«
Sein Schwanz baumelte über die Kante des Tisches und bewegte sich im Takt von Felix’ Erzählweise.
»Heute wärst du beinahe Vollwaise geworden, aber es ist alles nochmal gut gegangen. Bloß kann ich seit diesem Erlebnis an nichts anderes mehr denken als an Petra. Und das ist, glaube ich, ein Problem.«
Felix merkte selber, wie konfus seine Rede war. Er schaute seinem Kater in die Augen.
»Du meinst sicher auch, ich rede nur Stuss, oder?«
Django blinzelte und gähnte, danach streckte er sich.
»Okay, ich habe verstanden. Ich rufe sie einfach morgen an und dann werden wir sehen, was sich ergibt.«
Felix leerte sein Glas und entließ das Tier erneut in die Nacht. Dann löschte er die Lichter.
Um acht Uhr fünfzehn betrat der Hauptkommissar sein Büro und grüßte seine Kollegen, die gerade bei ihrem morgendlichen Teezeremoniell zusammensaßen:
Emilio, der zurzeit nur gewürzten Schwarztee trank, heute auf syrische Art mit einer Prise Zimt und Kardamom, Frauke, die wie er selbst am liebsten grünen Tee trank, und Arno, der nur Ostfriesentee zu sich nahm, den ihm seine Mutter immer aus Aurich per Post zuschickte. Arno vertraute nicht einmal den Mischungen aus den Teeläden hier in Frankfurt. Frauke reichte Felix seinen Becher.
»Heute habe ich Himmelstau für uns beide gemacht!«
Er lächelte sie an, dabei musste er an den seltsamen Ruf denken, den seine Truppe hier hatte. Er kannte keine andere Ermittlungsgruppe, die nur aus Teetrinkern bestand. Bei den anderen war der Kaffeekonsum groß, hier gleich null.
»Bevor wir den heutigen Tag und unsere Aufgaben besprechen, möchte ich dich bitten, ein Kennzeichen für mich zu überprüfen!«, wandte sich der Hauptkommissar an Arno. »Es geht um einen schwarzen oder dunkelblauen 5er BMW mit dem Kennzeichen F-MS, weiter weiß ich es nicht.«
»Das ist seltsam. Wir haben vor zwanzig Minuten eine Meldung bekommen, dass sie im Osthafen eine männliche Leiche gefunden haben, der in einem schwarzen 530d mit dem Kennzeichen F-NS 609 saß. Sieht auf den ersten Blick nach Selbstmord aus. Die Kollegen der Schupo und KTU sind vor Ort, wir werden wohl dem Fall zugeteilt.«
Felix blickte Frauke an, die ihn mit dieser Mitteilung überrascht hatte und verspürte ein Kribbeln. Konnte das wahr sein? Er war sich ja nicht sicher gewesen, ob er die Buchstaben überhaupt richtig erkannt hatte.
Das Telefon klingelte und er meldete sich.
»Mordkommission viertes Revier, Hauptkommissar Büschelberger.«
Am anderen Ende war Staatsanwalt Fromm.
»Guten Morgen, ich hoffe die Teestunde ist bereits zu Ende, denn ich habe Arbeit für Sie. Haben Sie schon von dem Toten im Osthafen gehört? Ich möchte, dass Ihr Team den Fall übernimmt, die anderen Gruppen haben alle noch aktuelle Ermittlungen, also viel Erfolg.«
Fromm wartete keine Erwiderung ab und hängte auf. Felix schaute seine Mitarbeiter an.
»Frauke hat wie üblich recht gehabt, wir sind drin. Also, Emilio und ich fahren raus. Arno, schau nach, was du durch das Kennzeichen über den Halter rausbekommst. Bei der Gelegenheit checke trotzdem noch, ob es auch ein Kennzeichen mit MS gibt. Und du, Frauke, kannst die administrativen Dinge erledigen, die wir für einen neuen Fall brauchen. Wir treffen uns hier, wenn wir zurück sind.«
Emilio hatte schon den Wagenschlüssel in der Hand und griff nach seiner Jacke, während Felix noch schnell seinen Becher leerte und sich dabei den Mund verbrannte. Am Parkplatz angekommen stieg er leise vor sich hin fluchend in ihren schwarzen Stromos, auf dessen Kofferraum sein Kollege vorschriftswidrig einen Aufkleber von Lazio Rom geklebt hatte. Der Hauptkommissar tolerierte es, da Emilio die Zuverlässigkeit in Person war. Denn wann immer nötig arbeitete er auch die ganze Nacht und das Wochenende, obwohl er als Einziger noch verheiratet war.
Der Stromos war der zweite Grund, warum die Ermittlungsgruppe als sehr speziell galt. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin, eine Grüne, hatte zehn Elektroautos dieser Marke angeschafft und Freiwillige gesucht, die die Tauglichkeit im öffentlichen Dienst testen wollten. Felix war der erste und einzige Polizist gewesen, der ein Fahrzeug für seine Truppe bestellt hatte. Selbst Emilio, als Italiener mit Benzin im Blut geboren, hatte sich inzwischen mit dem kleinen Flitzer angefreundet.
Der Motor summte leise und sie schossen vom Hof, denn Emilio fuhr immer als wäre er auf der Rennstrecke von Monza unterwegs. Während der Fahrt erinnerte sich Felix lächelnd an die Diskussionen über die Nutzung eines Elektroautos. Sein Kollege hatte Bedenken wegen schlechter Beschleunigung gehabt, immerhin bot der Stromos trotz seiner Kompaktheit vier vollwertige Plätze und damit ein hohes Ladegewicht an. Würden sie da schnell genug vom Fleck kommen?
Dieses Argument konnte der Hersteller damals leicht entkräften. Das Elektroauto hatte bessere Beschleunigungswerte als viele Autos mit Verbrennungsmotor. Ehrlicherweise musste auch Emilio zugeben, dass wilde Verfolgungsjagden mit hochmotorisierten Gangstern nur extrem selten vorkamen. Viel schwieriger war die Diskussion um die Reichweite des alternativen Dienstwagens gewesen.
Voll aufgeladen konnte der Stromos garantiert einhundert Kilometer fahren, da während der Fahrt auch die Bremskraft wieder in Energie umgewandelt und der Batterie zugeführt wurde. Sogar hundertfünfundzwanzig Kilometer hatte Emilio auch schon nonstop geschafft. Dafür musste der Stromos knapp acht Stunden geladen werden. Als Richtwert gab der Hersteller an, dass eine Stunde Ladezeit die Reichweite um fünfzehn Kilometer erhöhte.
Eine statistische Auswertung aller Dienstwagen hatte ergeben, dass ein Polizeifahrzeug der Kripo im Durchschnitt fünfundneunzig Kilometer täglich fuhr. Darin lag ein Risiko, dessen waren sich Felix und die Oberbürgermeisterin bewusst.
Ihr Test sollte auch aufdecken, inwieweit der Einsatz von Blaulicht und Martinshorn die Reichweite des Autos verkürzte, da der dazu benötigte Strom ebenfalls aus der Batterie entnommen wurde. Zu diesem Zweck war ein Zusatzcomputer installiert worden, der den Stromverbrauch genau aufzeichnete. Über ein GPS-System wurden außerdem die genaue Route und Fahrtleistung des Stromos festgehalten.
Alle Daten wurden am Monatsende ausgelesen und an German E-Cars sowie Siemens geschickt, die mit den Messwerten ihre Fahrzeuge und Ladestationen optimieren wollten. Der Computer zeigte auch den jeweiligen Ladezustand und die ungefähre Reichweite an. Bei jeder Rückkehr zum Revier war es für Emilio inzwischen selbstverständlich geworden, den Stromos an die Ladesäule anzuschließen, die extra für sie von der Firma Siemens dort installiert worden war.
Ein weiterer Vorteil, der den Italiener von dem Elektroauto überzeugt hatte, war die sehr gute Straßenlage. Da die Batterien im Unterboden verbaut waren, lag der Schwerpunkt sehr tief und Emilio konnte jede Kurve fahren, als säße er in einem Ferrari. Das letzte Argument für den kleinen Elektroflitzer war das Ergebnis des Crashtests: Er hatte aufgedeckt, dass das Auto genauso sicher war wie vergleichbare Autos mit herkömmlichem Verbrennungsmotor. Zudem wurde das Auto sofort spannungsfrei geschaltet, wenn der Airbag ausgelöst wurde – so konnte kein Insasse oder Helfer durch Strom verletzt werden.
Sie erreichten den Osthafen in Rekordzeit.
»Na, mal wieder geflogen?«, fragte Hauptwachtmeister Müller, als sie mit quietschenden Reifen zum Stehen kamen.
Felix mochte den Mann, der immer ruhig und besonnen war, der schon alles gesehen und in seinen dreißig Dienstjahren einen großen Erfahrungsschatz gesammelt hatte. Diese Erfahrung stellte er auch jedem Kollegen zur Verfügung, der darauf zurückgreifen wollte.
Der Hauptkommissar klopfte Müller freundschaftlich auf die Schulter.
»Du kennst doch Emilio und seinen Fahrstil, eines Tages heben wir noch ab. Aber einen Pakt mit irgendwelchen Heiligen muss er schon haben – noch nie ein Unfall, trotz seines Kamikazestils. Also, was haben wir hier?«
Bei der Bemerkung über seinen Pakt mit Schutzheiligen rollte Emilio mit den Augen und knurrte vernehmlich, als er den beiden zum Fundort der Leiche folgte. An manchen Tagen verstand er keinen Spaß damit.
»Wir haben eine männliche Leiche, neununddreißig Jahre alt. Er saß auf dem Fahrersitz und mit Hilfe eines Schlauches wurden die Autoabgase in die Fahrerkabine geleitet. Die Identität haben wir anhand des Führerscheines schon ermitteln können: Es handelt sich um Dr. Uwe Kaptaijn, gemeldet hier in Frankfurt in der Beethovenstraße sechzehn. Er wurde heute Morgen um sieben Uhr neun von einem Jogger gefunden, der noch versucht hat den Mann wiederzubeleben. Also hat er das Auto geöffnet und den Motor abgestellt, dann aber sehr schnell gemerkt, dass es sinnlos ist. Soweit die Fakten. Doch wenn du meine Meinung wissen willst, ich habe ein komisches Gefühl. Ich glaube nicht an einen Selbstmord, aber kann dir nicht genauer sagen, warum.«
Der Fundort war mit rotweißer Banderole weiträumig abgesperrt. Felix sah die Männer der KTU um den BMW herum arbeiten, um die Spuren zu sichern. Die Leitung hatte Dr. Kevin Murr, der beste Mann, den es für diesen Job geben konnte. Er war Pathologe und besaß zusätzlich einen Doktortitel in Philosophie. In Fachkreisen genoss er einen sehr guten Ruf. Bei schwierigen Fällen holte man auch schon einmal bundesweit seine Meinung ein, obwohl er als extrem launisch galt.
Die unvermeidliche Zigarette zwischen die Lippen gequetscht, beschäftigte er sich mit irgendetwas am Kühlergrill des Autos. Felix konnte sich nicht erinnern Dr. Murr jemals ohne Zigarette gesehen zu haben. Selbst in der Pathologie bei der Obduktion war sie in seinem Mund zu finden. Fast konnte man glauben, er wäre schon mit Glimmstängel auf die Welt gekommen.
Beide Männer respektierten sich und gingen freundschaftlich miteinander um. Neben dem Team von Dr. Murr waren noch drei Schutzpolizisten anwesend. Einer von ihnen sprach gerade mit einem Mann im Jogginganzug.
»Felix, komm her! Das wird ganz speziell dich interessieren«, rief der Pathologe.
»Gleich!«, antwortete dieser und wandte sich an Emilio.
»Sprich mit dem Jogger und nimm seine Aussage auf. Danach kann er gehen, wenn wir seine Personalien haben. Er soll aber morgen oder übermorgen zu uns kommen, damit wir Fingerabdrücke nehmen können, um sie zu vergleichen. Wenn er will, können ihn auch die Schupos nach Hause bringen.«
Dabei deutete er auf die beiden Beamten, die gelangweilt herumstanden. Emilio nickte. Felix blickte sich noch einmal ganz in Ruhe um. Der erste Eindruck von einem Fund-, eventuell sogar Tatort war wichtig, dafür musste man sich Zeit nehmen.
Es gab nur diese eine Chance. Wenn man sie vertat, konnte man wichtige Hinweise übersehen. Das hatte ihn sein erster Partner gelehrt und wie oft hatte sein heute pensionierter Freund recht gehabt. Manchmal traf er sich noch mit Hauptkommissar a.D. Ludwig Ruebens. Dann diskutierten sie bei einigen Flaschen Bier aktuelle Fälle von Felix, was inzwischen aber immer seltener wurde.
Im Hintergrund sah der Hauptkommissar die Skyline von Frankfurt – oder Mainhattan, wie es oft genannt wurde. Davor floss der Main, grau und kalt. Der Wagen stand so, dass der Fahrer auf die Skyline gesehen haben musste, als die Abgase seine Lungen füllten. Nachts, wenn die City beleuchtet war, bestimmt ein schöner Anblick.
Ansonsten war nichts Außergewöhnliches zu sehen und so ging Felix zum Pathologen, der ihn zu seiner Verwunderung breit angrinste. Dr. Murr trug seinen Namen zu Recht: Er war nicht als Mann bekannt, der über einen ausgeprägten Humor verfügte. Jetzt lehnte er am Kühlergrill und zündete sich eine weitere Zigarette an.
»Ich dachte schon, du interessierst dich nicht mehr für meine Entdeckung.«
Er zeigte wieder ein wölfisches Lächeln, ging einen Schritt zur Seite und deutete auf den unteren Teil des Kühlergrills.
»Eine interessante Kühlerfigur, recht selten, würde ich sagen.«
Felix erkannte sofort, was Dr. Murr meinte. Die mitten im Kühlergrill klemmende Kröte bot einen bizarren Anblick. Also war der Fahrer von gestern Abend gefunden.
»Ich wusste doch, dass so etwas unserem Froschkönig gefällt«, lachte der Pathologe.
»Hauptkommissar Frosch, das weißt du doch. Außerdem sieht es nicht wie ein Frosch aus, sondern wie eine Erdkröte, würde ich sagen«, entgegnete Felix.
»Genau. Es ist ein Exemplar der Gattung Bufo bufo. Jedenfalls eine seltene Todesursache. Ich habe noch nie gesehen, dass unsere heimischen Amphibien so hoch springen und im Flug erwischt werden. Du weißt ja besser als ich, dass die meisten Exemplare auf der Straße enden – und zwar nicht durch direktes Überfahren. Schuld ist der hohe Luftdruck, der entsteht, wenn ein Auto über sie hinweg rast. Der bringt ihre Innereien zum Platzen. Die Franzosen haben Mitte der achtziger Jahre eine Waffe entwickelt, die ein ähnliches Prinzip hatte. Sie sollte den Gegner durch Schallwellen innerlich verbluten lassen, aber ich schweife ab. Jedenfalls kann ich mir nicht erklären, wie unser kleiner Freund hierher kam.«
Dr. Murr blickte auf die tote Kröte.
»Das kann ich dir sagen. Gestern Abend war meine Umweltgruppe unterwegs. Wir wurden von diesem Auto fast umgefahren und der Fahrer hat zwei unserer Eimer mit den gesammelten Kröten erwischt. Dabei muss eine hochgeschleudert worden sein und sich hier verfangen haben. Ich habe heute Morgen schon versucht, den Fahrer wegen Fahrerflucht ermitteln zu lassen. Das kann ich jetzt wohl bleiben lassen.«
Der Hauptkommissar kratzte sich am Kopf. Kevin pfiff durch die Zähne.
»Na, dann pass auf, dass sie dir kein Motiv unterstellen!« Dann lachte er, wobei er seine nikotingefärbten Zähne entblößte.
»Aber lass uns ernst werden. Der Mann ist seit mindestens fünf Stunden tot und ich kann nicht glauben, dass er an einer Vergiftung durch die Abgase gestorben ist. Seine Gesichtsfarbe entspricht nicht der solcher Opfer, sie wirkt nicht grau genug. Genaueres weiß ich natürlich erst nach der Obduktion. Du kennst ja das Prozedere.«
»Müller glaubt auch nicht an einen Selbstmord«, meinte Felix.
»Dann hast du ja eine Menge Arbeit vor dir und solltest mich in Ruhe lassen!« Mit diesen Worten wandte sich Dr. Murr an seine Leute:
»Seid ihr fertig?«
»Wenn du die Leiche noch einmal sehen willst, bevor wir sie wegbringen, dann los«, drehte er sich zu Felix um.
Sie gingen auf die andere Seite des Wagens, wo ein weißes Tuch den Leichnam bedeckte. So verhüllt hatte der Tod für den Polizisten immer etwas Irreales, fast Friedliches. Das Weiß verband er mit Unschuld. Dr. Murr schlug das Tuch zurück.
Das Opfer lag da wie schlafend und sein Gesicht wirkte entspannt. Uwe Kaptaijn trug einen beigen Rollkragenpullover, eine Bluejeans von Joop und hellbraune, ziemlich teure Markenschuhe. Als Felix einmal um das Opfer ging, sah er das Schild von Salvatore Ferragamo auf die Sohlen genagelt. Italienische Handarbeit, erkannte er nicht ganz ohne Neid. Er träumte oft von teuren, aber hauptsächlich bequemen Schuhen. Doch bei den Orten an die ihn seine Arbeit führte, lohnte es sich nicht, zu viel Geld in Schuhe zu investieren. Sonst war nichts Auffälliges weiter zu bemerken. Insgesamt wirkte das Opfer sehr gepflegt und hatte zu seinen Lebzeiten sicher vielen Frauen den Kopf verdreht. Eine Spur, der sie nachgehen mussten, notierte sich Felix gedanklich.
»Kannst du mir sonst noch etwas sagen?« Er blickte den Rechtsmediziner an, der unwillig den Kopf schüttelte.
»Im Moment kann ich dir noch nichts sagen und meine Vermutung hast du gehört. Also, kann er zu uns in die Pathologie gebracht werden?«
»Sicher, mach mit ihm, was du willst.«
Allerdings wollte der Hauptkommissar lieber nicht genau wissen, was man so alles anstellen musste, um den Toten ihre Geheimnisse zu entlocken. Kevin Murr winkte den Mitarbeitern des Bestattungsunternehmens, die inzwischen eingetroffen waren und den Toten fortbrachten. Emilio gesellte sich zu ihnen.
»Unser Zeuge heißt Matthias Grüntal und wohnt ganz in der Nähe, in der Holzgasse dreizehn. Die Strecke hier am Main läuft er zweimal die Woche und heute hat er dabei das Opfer noch im Auto sitzend gefunden. Er hat den Wagen geöffnet, um den Mann, der nach seiner Aussage auf das Lenkrad gesunken war, aus dem Wagen zu ziehen und ihn wiederzubeleben. Dabei hat er aber schon gemerkt, dass Herrn Kaptaijn wohl nicht mehr zu helfen war, doch trotzdem noch nach Puls und Atmung gesucht; hat dann aber aufgegeben, den Motor abgestellt und uns per Handy um sieben Uhr fünfzehn verständigt. Er scheint ziemlich gut mit diesem Ereignis fertigzuwerden. Ihm ist noch aufgefallen, dass die Heizung des BMW lief. Warum er auf die Idee gekommen ist, den Motor abzustellen, kann er nicht mehr erklären. Er wird im Laufe der nächsten Tage zu uns ins Büro kommen, um weitere Fragen zu klären und seine Aussage noch einmal zu Protokoll zu geben.«
»Vermutest du etwas Bestimmtes?«, fragte Felix, der am Tonfall seines Kollegen merkte, dass ihm einiges nicht gefiel.
»Ich habe schon viele Zeugen befragt, die einen Toten gefunden haben, aber die wenigsten sind so cool dabei. Das gefällt mir nicht. Ich denke, wir sollten uns Herrn Grüntal noch einmal genauer ansehen!«, brummte dieser.
»Gut, dann mach das. Aber jetzt fahren wir erst einmal bei der Adresse von Uwe Kaptaijn vorbei und sehen, was wir rausbekommen.« Felix ging zum Fahrzeug voraus.
Die Beethovenstraße sechzehn wirkte von außen völlig unspektakulär, wie ein ganz normales Wohnhaus eben, und hatte vierundzwanzig Mietparteien. Man würde hier keinen Mieter vermuten, der so teure Kleidung trug wie das Opfer.
Auf das Klingeln beim Namensschild Kaptaijn erfolgte keine Reaktion, so klingelte Felix bei allen Schildern durch, bis sich eine ältere Frauenstimme meldete: »Ja?«
»Guten Tag, Frau Schumm«, antwortete er nach einem schnellen Blick auf das Klingelschild. »Ich bin Hauptkommissar Felix Büschelberger und würde mich gerne kurz mit Ihnen unterhalten.«
Der Türsummer brummte und sie traten ein. Als glücklichen Zufall betrachtete Felix die Tatsache, dass die Frau vis-à-vis der Wohnung vom Opfer wohnte. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und ein Paar blaue Augen blickte sie wachsam an: »Dürfte ich erst einmal Ihre Ausweise sehen?«
»Sicher!« Sie zeigten ihre Ausweise und nach einer längeren Prüfung ließ Frau Schumm sie in ihre Wohnung.
»Man kann nie vorsichtig genug sein.«
Darauf konnten die beiden Beamten nur zustimmend nicken. Felix fiel sofort auf, dass diese Wohnung frisch roch. Meistens hatten Wohnungen, gerade auch von älteren Leuten, einen ganz eigenen Geruch. Hier fehlte er völlig. Er musterte die Frau, die er auf fünfundsiebzig Jahre schätzte. Sie hatte strahlend blaue Augen, volle Lippen und trug ihr Haar lang und offen, es war schneeweiß. Einst war sie sicher eine schöne Frau gewesen und ihre Ausstrahlung ließ davon noch immer erkennen.
»Entschuldigen Sie, dass wir Sie so erschrecken, aber wir haben heute Morgen Ihren Nachbarn Uwe Kaptaijn tot im Osthafen aufgefunden. Nun wollen wir sehen, ob er hier irgendwelche Angehörigen hatte oder ob wir in seine Wohnung können«, sagte Felix.
Neugier und Entsetzen spiegelten sich in den blauen Augen, die ihn musterten.
»Oh, wie schrecklich, der arme Herr Dr. Kaptaijn! Nein, wie ist das schrecklich!«
»Sie wissen, dass er einen Doktortitel hatte? Wissen Sie noch mehr über ihn?«, fragte er.
»Da muss ich mich erst einmal setzen. Ich habe gerade einen Tee gebrüht, wenn Sie auch einen wollen, dann kann ich Ihnen noch ein bisschen erzählen. Viel weiß ich nicht über meinen Nachbarn. Ach, er war immer so freundlich zu mir, manchmal hat er sogar meine Einkäufe nach oben getragen, wissen Sie«, murmelte sie.
Die beiden Kommissare folgten der Frau in die Küche und setzten sich an den Küchentisch, auf dem eine dampfende Kanne mit rotem Früchtetee stand. Das Feuilleton der FAZ lag neben einer Tasse, in die sich Frau Schumm bereits Tee eingegossen hatte. Der Raum wirkte sehr aufgeräumt und sauber. Die Polizisten nahmen dankend ihre Tassen entgegen und grinsten sich kurz an. Das passte wieder einmal zu ihrem Ruf als Teetruppe. Der heiße Tee schien die alte Frau zu beruhigen.
»Was wollen Sie noch wissen?«, fragte sie an die beiden Kommissare gewandt.
»Gibt es hier Familie oder wohnte Herr Kaptaijn alleine? Wo hat er gearbeitet? Wie war er so als Mensch? Das sind die Fragen, denen wir immer zuerst nachgehen«, entgegnete Felix.
Frau Schumm wollte gerade ansetzen, als Emilio sie unterbrach.
»Einen Moment noch bitte, ich muss meinen Tablet-PC schnell starten.«
Sein ganzer Stolz lag in dem neuen Galaxy Tab, auf dem er die Aussagen vor Ort mitschrieb und dann per WiFi an seinen Computer im Büro übertrug. Beides waren seine privaten Geräte. Das Equipment der anderen Kollegen war hoffnungslos veraltet und Emilio als Technikfetischist hatte sich so lange über seinen Arbeitsrechner geärgert, bis er eines Tages mit einem neuen PC im Büro erschienen war. Es hatte zwar einigen Ärger mit der IT-Abteilung gegeben, aber da der Kommissar ihnen technisch überlegen war, hatte sich der Ärger am Ende in Luft aufgelöst.
»Oh, Sie sind aber modern ausgerüstet! Ich kenne mich damit gar nicht mehr aus, ist das so eine Art Diktiergerät?« Interessiert blickte Frau Schumm auf die Geräte.
»Könnte man fast glauben, nicht wahr? Aber nein, es ist ein sogenannter Tablet-PC, dessen Tastatur über den berührungsempfindlichen Bildschirm bedient wird. Auf diesem Tablet-PC schreibe ich immer gleich mit, dann brauchen wir im Büro nichts mehr in den Computer zu tippen und sparen eine Menge Arbeit. Mit der entsprechenden Software könnten solche Geräte sogar jedes Gespräch aufnehmen und gleich in ein Textdokument umwandeln, das wäre dann erst richtig interessant.«
Emilio geriet ins Schwärmen.
»Heute probiere ich etwas Neues aus und lege das Dokument gleich auf einem Server in der Cloud ab, so dass meine Kollegen im Präsidium direkt nach Ihrer Aussage darauf zugreifen könnten.«
»Wer hat was geklaut? Entschuldigen Sie, das habe ich jetzt nicht verstanden!« Verwirrt blickte die alte Dame ihn an.
»Ich muss Sie um Verzeihung bitten. Manchmal verliere ich mich vor lauter Begeisterung in technischen Dingen«, entgegnete er.
»Ach, das macht nichts, das bin ich von meinem Enkel gewohnt. Der redet auch dauernd so und wenn ich etwas nicht verstehe, dann rollt er immer die Augen. Aber ich würde es gerne verstehen.«
»Okay«, sagte Emilio nach einem kurzen Seitenblick auf Felix, »ich kann Ihnen das gerne erklären. Die Cloud-Technologie ist die Weiterentwicklung und Teilung von Ressourcen über das Internet oder Netzwerke. Das klingt jetzt erstmal ziemlich kompliziert, aber stellen Sie sich vor, Sie wollen im Wohnzimmer Tee trinken. Sie haben ihn gebrüht und nach drüben getragen. Dann bemerken Sie, dass Sie den Zucker in der Küche stehen gelassen haben. Also müssen sie wieder aufstehen und zurück in die Küche laufen, was Zeit in Anspruch nimmt und anstrengend sein kann.«
Frau Schumm lächelte. »Sie können mir glauben, Herr Kommissar, das passiert mir ziemlich oft!«
»Sehen Sie, genauso funktioniert die alte Netzwerkstruktur. Da hatte alles seinen festen Platz. Man musste wissen, wo etwas ist und es nach Nutzung wieder dorthin bringen, damit andere es finden konnten. Die Cloud ist da anders. Das Wort bedeutet Wolke und soll einfach einen riesigen Raum andeuten, bei dem der einzelne Nutzer nicht mehr im Detail zu wissen braucht, wo genau etwas ist. Trotzdem kann er alles mit anderen teilen. Darum kümmern sich spezielle Software-Tools – also Werkzeuge, die alles im Nebel der Wolke organisieren und gleichzeitig für verschiedene Leute bereitstellen. In Ihrem Fall würde das bedeuten, dass Sie eine Durchreiche hätten. Das wäre ihre Wolke, in der der Zucker steht. Sie können also im Wohnzimmer etwas Zucker aus der Dose nehmen und Ihr Enkel, der in der Küche sitzt, kann sich zur gleichen Zeit ebenfalls Zucker nehmen. Sie teilen sich den Zucker, obwohl Sie in getrennten Räumen sitzen. Im Internet können sich viele Leute über die Cloud gleichzeitig Programme, Dokumente oder Berichte teilen, sie benutzen und bearbeiten.«
»Oh danke, das habe ich tatsächlich begriffen! Alles, was Sie aufschreiben, kann also auch sofort von Ihren Kollegen gelesen werden?«, fragte die Nachbarin des Opfers.
»Genau. Sobald ich den Bericht freigegeben habe, können meine Kollegen, wo immer sie auch sind, darauf zugreifen und die Informationen nutzen, um den Verbrecher zu jagen. Verbrechen geschehen in Echtzeit und jetzt jagen wir sie in Echtzeit!« Die Augen des Kommissars funkelten.
»Seit wann sind wir denn in der Cloud?«, fragte Felix erstaunt.
»Na, ich habe dir, Frauke und Arno vorgestern eine E-Mail mit euren Benutzerkonten und Zugangsdaten geschickt. Sobald ihr diese aktiviert, habt ihr Zugang zu allen Daten, die wir in die Cloud legen. Du kannst darauf sogar mit deinem iPhone zugreifen. Ich sage ja immer, wir müssen moderner werden, um keine Zeit zu verlieren!«
Felix legte seine Hand auf Emilios Schulter und unterbrach ihn, bevor dieser sich vollständig in sein Lieblingsthema vertiefte.
»Frau Schumm, was können Sie uns denn nun mitteilen?«
»Also, Herr Kaptaijn lebte hier alleine, aber ich glaube, er war verheiratet. Einmal hat er so etwas erzählt. Er ist Doktor der Chemie bei irgendeinem Labor und arbeitet immer sehr lange. Er ist oder war immer freundlich, ich habe ihn nie verärgert gesehen oder hektisch. Nein, sein ganzes Benehmen war sehr kultiviert, das muss ich schon sagen. Ich kann es nicht fassen, dass er tot ist. Wie ist er denn gestorben?«
»Es sieht nach Selbstmord aus«, antwortete Felix auf die Frage.
»Nein, das glaube ich nicht, nein, ganz bestimmt nicht! Er war immer so fröhlich… Nein, Herr Hauptkommissar, Sie müssen sich irren!«
Die Bestimmtheit in ihrer Stimme ließ Felix aufhorchen.
»Natürlich werden wir zur Todesursache noch genauere Untersuchungen vornehmen. Können Sie mir etwas über seinen Bekanntenkreis sagen?«
»Nein, ich habe nie irgendwelchen Besuch gesehen und auch selten etwas gehört. Aber die Wände sind hier sehr dick und ich bin entgegen Vorurteilen über alte alleinstehende Frauen nicht neugierig. Leben und leben lassen, das war schon immer meine Devise und ich bin immer gut damit gefahren«, sagte Frau Schumm.
Felix merkte, wie ihm diese Frau immer sympathischer wurde.
»Wer ist Eigentümer der Wohnungen hier und gibt es vielleicht jemanden, der einen weiteren Schlüssel besitzt?«
»Ja, haben Sie denn den Schlüssel nicht bei Herrn Kaptaijn gefunden?«, fragte die alte Dame.
»Doch, aber der muss erst einmal zur kriminaltechnischen Untersuchung, vorher dürfen wir ihn nicht einfach so mitnehmen.«
»Ach so, ich dachte schon, es läuft irgendein Fremder mit dem Schlüssel zum Haus herum!« Ihre Erleichterung war ihr deutlich anzuhören.
»Das Haus gehört der HW GmbH, das heißt Himmlisches Wohnen. Das hat sich bestimmt so ein junger Werbemensch ausgedacht, allerdings lässt es sich hier wirklich sehr gut wohnen. Ich glaube aber nicht, dass unser Hausmeister Herr Rosen einen Schlüssel zu der Wohnung von Herrn Dr. Kaptaijn hat.«
»Wo können wir Herrn Rosen erreichen?«
»Im Moment ist er im Urlaub, in dringenden Fällen sollen sich die Mieter direkt an die Hausverwaltung wenden«, sagte Frau Schumm.
»Dann ruf doch bitte den Schlüsseldienst an, mit dem wir immer zusammenarbeiten«, wandte sich Felix an seinen Kollegen.
Dieser griff zu seinem Handy und gab die Adresse durch.
»Sie sind in ungefähr zehn Minuten hier.«
Felix sah auf seine Uhr. »Gibt es noch weitere Mieter im Haus, die Kontakt zu Herrn Kaptaijn hatten?«
»Hier auf der Etage wohnen noch die Schmidts und Frau Wenzel, aber alle drei sind berufstätig und jetzt wohl nicht mehr da. Von den anderen Mietern weiß ich nicht, ob sie Kontakt hatten, tut mir leid.«
Der Hauptkommissar nickte.
»Das ist schon okay. Wir werden erst abwarten, ob es Selbstmord war oder nicht, dann können wir immer noch die anderen Mieter befragen.« Er erhob sich. »Wir werden unten auf den Schlüsseldienst warten. Besten Dank für den Tee.«
Als sich hinter ihnen die Wohnungstür schloss, sagte Emilio anerkennend: »Che cosa una bella signora.«
»Ja, sie ist eine Frau mit einer sehr starken Ausstrahlung, das ist mir auch aufgefallen.«
Genau elf Minuten warteten sie auf den Schlüsseldienst. Als er mit ihnen ins Haus ging, stellte Emilio den Türschnapper zurück, den er vorher umgelegt hatte, um wieder hineinzugelangen. Der Handwerker hatte die Tür in genau sieben Sekunden auf.
»Sie war nur zugezogen und nicht abgeschlossen«, sagte er.
Dann drehte er um und ließ die beiden Kommissare alleine. Felix blickte ihm nach und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie viele dieser Schlüsseldienste wohl nebenbei noch als Einbrecher unterwegs waren. Er war immer wieder erstaunt, wie schnell diese Leute jedes Hindernis überwanden.
»Seltsam dass die Tür nur zugezogen wurde, vielleicht hat unser Mann die Wohnung ja in großer Eile verlassen.«
Der Hauptkommissar musste seinem Partner zustimmen, besonders nach seinem ersten Blick auf die Einrichtung. Hier hatte jemand nicht auf Geld geachtet, sondern sehr exquisiten Geschmack bewiesen. So eine Wohnung ließ man nicht ungeschützt zurück.
Der Boden war mit Parkett ausgelegt und an den Wänden hingen in jedem Zimmer Kunstdrucke. Die Tapeten waren in Pastelltönen gehalten, im Flur ein helles Maigrün, im Wohnzimmer ein warmes Ocker, die Küche war in Hellblau und das Schlafzimmer in einem Rotton gestrichen. Alles in allem wirkte die Wohnung sehr gediegen und nicht wie eine typische Junggesellenbude. Wenn Felix an seine dachte, war der Unterschied sehr deutlich. Hier war es aufgeräumt und auf dem Tisch im Wohnzimmer stand ein Blumenstrauß.
Die Ermittler trugen inzwischen Handschuhe, um keine unnötigen Spuren zu hinterlassen. Eigentlich durften sie nicht hier sein. Doch wenn von drei Seiten Zweifel an dem Selbstmord bestanden, so war es für Felix Grund genug, die Dienstvorschrift etwas kreativ auszulegen, wie Emilio es ausdrücken würde. Im Wohnzimmer sahen sie sich genauer um, fanden aber keinen Abschiedsbrief oder dergleichen. Der Hauptkommissar untersuchte gerade den Anrufbeantworter, als sein Partner ihn rief.
»Hey, das musst du dir anschauen!«
Felix fand ihn im Badezimmer, wo an der Duschkabine ein Lederdress für Männer zum Schnüren hing. Auf einem Tischchen daneben lag eine Ledermaske, an der die Augen und der Mund zusätzlich verschlossen werden konnten. Ein Lederreinigungsmittel, ökologisch abbaubar und für den Menschen ungefährlich wie die Verpackung betonte, stand ebenfalls darauf.
Der Hauptkommissar pfiff durch die Zähne. »Also war Herr Kaptaijn nicht nur freundlich. Anscheinend hatte er auch etwas für die härtere Gangart übrig.«
Emilio schüttelte den Kopf. »Ich werde nie verstehen, was diese Männer dabei empfinden. Ich finde es pervers!«
»Es gibt wohl mehr Männer als du denkst, die zumindest ab und zu diese Spielart der Liebe genießen. Habe ich jedenfalls gehört.«
Emilio bedachte seinen Chef mit einem fragenden Blick, äußerte sich aber nicht weiter dazu. Nachdem sie sonst nichts Erwähnenswertes mehr fanden, zogen sie die Tür zu und machten sich auf den Rückweg ins Büro.
Kapitel 2
Im Revier angekommen stellte Emilio ihren Dienstwagen auf dem extra für sie reservierten Parkplatz ab und befestigte das Ladekabel am Stromos. Die Ladesäule registrierte, dass tatsächlich ein Fahrzeug angeschlossen war, und schaltete den Stromkreis frei. Diese Sicherheitsmaßnahme garantierte, dass nur Strom floss, wenn Kontakt zu einem Auto bestand. So wurde Missbrauch ausgeschlossen und Verletzungen von Menschen verhindert, die die Ladestation berührten oder an ihr rumspielten.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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