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Kruzifix, schon wieder ein Mord!
Aufregung in Krindelsdorf: Archäologische Ausgrabungen bescheren dem Ort endlich einmal gute Nachrichten. Doch nun das: Theobald Gottlieb, emeritierter Professor für Kirchengeschichte, liegt tot an der Grabungsstelle - mit einem eisernen Kruzifix im Rücken! Seine Finger umklammern noch immer den Hals einer halbvollen Flasche des berühmten Krindelsdorfer Klosterlikörs. Hauptkommissar Hirschberg und Kommissarin Hansen finden schnell heraus, dass Gottlieb nicht nur ein Alkoholproblem, sondern auch so manchen Feind gehabt hat ...
Ein neuer spannender und zum Schreien komischer Fall für Hirschberg und seine Krindelsdorfer!
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 388
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
Leseprobe
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Kruzifix, schon wieder ein Mord!
Aufregung in Krindelsdorf: Die archäologischen Ausgrabungen am historischen Pestkrankenhaus Siechstätten bringen dem Ort einige Aufmerksamkeit, die endlich einmal nichts mit einem Mord zu tun hat. Doch nun das: Theobald Gottlieb, emeritierter Professor für Kirchengeschichte, liegt tot an der Grabungsstelle – mit einem eisernen Kruzifix im Rücken! Seine Finger umklammern noch immer den Hals einer halbvollen Flasche des berühmten Krindelsdorfer Klosterlikörs. Hauptkommissar Hirschberg und Kommissarin Hansen finden schnell heraus, dass Gottlieb nicht nur ein Alkoholproblem, sondern auch so manchen Feind gehabt hat.
Als wäre das nicht genug, bemüht sich Indira Wiesner, die selbsternannte Geistheilerin des Ortes, mit einer bunt zusammengewürfelten Crew aus Esoterikerinnen und Schamanen, den Ort von seiner verhängnisvollen Geschichte und „verlorenen Seelen“ zu reinigen ... Wenn das mal gutgeht!
Jessica Müller
Kruzifix und Kräuterschnaps
Ein Bayern-Krimi
Der April machte seinem launischen Ruf alle Ehre. Die Sonne war seit Ostern kaum noch zu sehen gewesen, und es war ein nasskalter Abend. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als Indira Wiesner im Krindelsdorfer Ortsteil Siechstätten ankam, wo sich im siebzehnten Jahrhundert ein Pestkrankenhaus befunden hatte. Vor knapp zwei Wochen hatten dort archäologische Ausgrabungen begonnen, was die ruhelosen Seelen Siechstättens in Aufruhr versetzte, wie sie bei ihrem letzten Besuch vor einigen Tagen erfühlt hatte.
Je näher sie dem geschichtsträchtigen Ort kam, desto stärker fröstelte sie. Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus und signalisierte ihr, dass sie sich schützen musste, bevor sie weiterging. Sie fühlte Krankheit, Schmerz und Verzweiflung. Zu viele waren hier dem Sensenmann gegenübergetreten. In historischen Aufzeichnungen war die Rede von einem italienischen Pestarzt namens Giacomo di Pocci, der in dem Krankenhaus gegen die Seuche gekämpft hatte. Viele Historiker gingen mittlerweile davon aus, dass dieser, anders als bisher angenommen, nicht auf der Durchreise, sondern vom Papst persönlich hierher gesandt worden war, um den Erkrankten zu helfen. Das Krindelsdorfer Kloster nämlich war jahrhundertelang von größter Bedeutung gewesen, und so mancher König war hier zu Grabe getragen worden. So war es wenig verwunderlich, dass der Papst dem verzweifelten Hilferuf des Abts Folge geleistet und einen der besten Mediziner seiner Zeit geschickt hatte. Was mit di Pocci nach seinem Wirken in Siechstätten geschehen war, lag jedoch bis heute im Dunkeln. In einigen alten Dokumenten hieß es, di Pocci sei ebenfalls hier der Pest zum Opfer gefallen, wieder andere behaupteten, er habe zurück in den Vatikan reisen wollen, sei dort aber nie angekommen. Indiras Versuche, mit dem Arzt Kontakt aufzunehmen, waren bisher nur von mäßigem Erfolg gewesen.
Das Krindelsdorfer Medium atmete tief ein und aus und schloss die Augen. In Gedanken bat sie die höchsten Mächte, sie zu beschützen, und sie fühlte, wie positive Energien sie durchdrangen und einen Schutzschild bildeten. Während ihres Aufenthalts in Indien hatte sie erfahren, dass sie einer langen Ahnenreihe von Sehern und Heilerinnen entstammte. Ihre Seele sei zudem eine der ältesten, die ihrem Lehrer Abhimanyu jemals begegnet seien, hatte er nach einer intensiven gemeinsamen Meditation behauptet. Seit Anbeginn der Zeit wandere ihre Seele von Leben zu Leben, um Menschen zu helfen und karmische Hindernisse zu überwinden. Sie müsse stark sein für die Prüfungen, die vor ihr lägen. Und sie dürfe nie vergessen, dass an den scheinbar friedlichsten Orten auf dieser Welt die größten Gefahren lauern könnten.
Siechstätten war nebelverhangen, nachdem es den ganzen Tag geregnet hatte. Es war ein unheimlicher Ort, doch die Finsternis konnte ihr nun nichts mehr anhaben. Noch einmal wollte sie meditieren und die höchsten Mächte um Schutz für den Ort bitten. Die Ausgrabungen – so wichtig sie für die historische Forschung auch sein mochten – störten die Ruhe der Toten, die noch immer dort verweilten. Wiesner hoffte, einige der gequälten Seelen auf die Reise in ein neues Leben schicken zu können. Nicht alle aber wollten Siechstätten verlassen, wusste sie. Manche trieb die Angst um, für ihre Sünden und Fehler, wie man zu jener Zeit geglaubt hatte, in der Hölle büßen zu müssen. So zogen sie es vor, in den Schatten auszuharren. Indira Wiesner seufzte und setzte sich auf einen feuchten Baumstumpf. Sie schloss die Augen, um sich mit ihrem höheren Ich zu verbinden.
Nach ein paar Minuten befand sich Indira Wiesner in einem tiefen tranceartigen Zustand. Auf einmal erblickte sie eine Gestalt vor ihrem geistigen Auge. Eine männliche Präsenz. Er trug einen dunklen Umhang, und sein Gesicht war hinter einer Pestmaske verborgen.
»An diesem Ort herrscht der Tod. Die Pforten zur Unterwelt werden sich bald schon erneut auftun, und die dunkelsten Seelen werden hinabgezogen. Zu viele sind noch hier.«
Indira Wiesner riss die Augen auf, nachdem die Worte verhallt waren. Zwar hatte der Mann seinen Namen nicht genannt, doch sie war sich sicher, dass kein Geringerer als di Pocci zu ihr gesprochen hatte. Mehr noch: Er hatte sie gewarnt!
Sie zog ihr Smartphone aus ihrer Jackentasche hervor und tippte auf den Namen ihrer Freundin.
»Indira?«
»Glenna, es ist so weit. Ich habe eine unmissverständliche Botschaft empfangen. Du und Haroldo solltet schnellstens herkommen«, bat sie ihre Freundin.
»Wir sind auf dem Weg.«
Hauptkommissar Alexander Hirschberg klopfte an die Tür seines Vorgesetzten. Der Präsident des LKA hatte ihn eigentlich gleich nach seiner Rückkehr aus dem Osterurlaub zu einem ausführlichen Gespräch bezüglich seiner beruflichen Weiterentwicklung bitten wollen, doch die Ereignisse hatten sich seither überschlagen: Immer wieder war Hirschberg zu Besprechungen mit der zuständigen Staatsanwältin Dr. Kirchhoffer gebeten worden, da der Prozessauftakt nach der Mordserie auf der internationalen Hundeshow in Krindelsdorf kurz bevorstand. Es würde vermutlich das aufsehenerregendste Gerichtsverfahren seit Langem sein, hatte die Staatsanwältin ihm bei einem ihrer letzten Treffen prophezeit. Das Medieninteresse war seit der spektakulären Festnahme ungebrochen. Die Verteidigung überschwemmte Gericht und Gegenseite zudem mit einer Flut an Anträgen, und Hirschberg war klar, dass es ein harter Prozess werden würde. Mit noch ungewissem Ausgang. Die Urlaubserholung war zwar längst verpufft, doch Susan, Julian und er hatten ihre Zeit in England sehr genossen. Knapp zwei Wochen war es nun her, dass die Hirschbergs aus ihrem Osterurlaub zurückgekehrt waren. Auf dem Landsitz seiner Großeltern in Cornwall hatte ein begeisterter Julian zahllose Ostereier gesucht und mit ein bisschen Hilfe von Queen Laurel und Picasso auch gefunden. Die Osterfeier in Seaview Manor war eine Familientradition, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichte, und auch Susan wollte diese gern fortsetzen. Die Tage an der Küste hatten gerade dem Hauptkommissar sehr gutgetan. Die Ermittlungen auf der Hundeshow hatten sich für ihn und Kommissarin Hansen sehr anstrengend gestaltet, daher hatte LKA-Präsident Krämer nach Abschluss des Falls darauf bestanden, dass sich die beiden Ermittler eine Weile freinahmen.
Seit dem vergangenen Abend hatten auch die Dornbergs mit Queen Laurel und Picasso wieder ihr Gästezimmer bezogen. Der Bau des dornbergschen Domizils in Krindelsdorf werde mehr und mehr zu einem Jahrhundertwerk, lautete Susans ironische Einschätzung. Ihre Tante und ihr Onkel hatten immer wieder neue Ideen, die Bauunternehmer Schreiber im Nachhinein umzusetzen hatte. Da er und seine Frau jedoch einen Narren an den Dornbergs gefressen hatten, und diese obendrein die Kasse klingeln ließen, kam er jedem ihrer Wünsche nur allzu gern nach. Nur für die Hirschbergs wurde jegliche Bauverzögerung zu einer nervlichen Zerreißprobe. Nicht zuletzt die beiden Möpse der Dornbergs brachten ihren Alltag gehörig durcheinander. Susans Tante und ihr Mann hegten noch immer die Hoffnung, Mopsdame Queen Laurel und Picasso könnten sich früher oder später füreinander erwärmen, um stolze Eltern einer entzückenden Welpenschar zu werden. Bisher jedoch beäugten sie sich nach wie vor schnauzerümpfend. Da Picasso in körperlicher Hinsicht völlig gesund war, gingen Isobel und Dornberg davon aus, dass seine Paarungsunwilligkeit psychisch bedingt sei. Lediglich die kulinarischen Ausschweifungen an Ostern hätten Picasso nicht gutgetan, hatte Dornberg ihm vorhin beim Frühstück erklärt. Er habe Susans Onkel Humphrey einige Male dabei erwischt, wie er ihm und Queen Laurel heimlich einen Happen gegeben habe. Nun seien Picassos Werte ein wenig durcheinander, und sie müssten ihn wieder auf strikte Diät setzen. Auch Queen Laurel sei laut der englischen Lady nach allem, was mit ihrem ehemaligen Herrchen geschehen war, nachhaltig traumatisiert worden, weshalb der Züricher Hundeflüsterer Dr. Moser intensiv mit ihr arbeite. Mittlerweile hätten ihr Mann und sie aber auch ein Händchen für traumatisierte Hunde, hatte Isobel behauptet. Auf Dr. Mosers Vorschlag hin wolle Dornberg sich nun speziell um die Mopsdame kümmern, da sie bisher an eine männliche Bezugsperson gewöhnt gewesen sei. Das würde ihr nach Ansicht des Hundepsychologen die Anpassung an ihre neue Peergroup erleichtern. Die Zuchtpläne lagen daher zwar vorerst auf Eis, aber sie waren nicht aus der Welt.
Doch nicht nur bei den Vierbeinern hatten die mörderischen Ereignisse auf der Hundeshow ihre Spuren hinterlassen. Gleich vier Menschen waren einem kaltblütigen Mörder zum Opfer gefallen, und die Trauer um einige der Ermordeten war noch immer groß. Hirschberg erinnerte sich an die fassungslosen Worte des LKA-Präsidenten, dass diese Mordserie selbst für Krindelsdorf unverhältnismäßig gewesen sei. Noch Tage später hatten die Medien nahezu in Dauerschleife über die spektakulären Morde berichtet, und der Hauptkommissar fürchtete, dass der bevorstehende Prozessauftakt erneut Unruhe auslösen würde. Mit Sicherheit würden erneut Fernsehteams an den Verbrechensschauplätzen im Ort Stellung beziehen, und die Reporter würden alles daransetzen, von diversen Krindelsdorfern Stellungnahmen zu bekommen.
Darüber hinaus hatten gleich nach Ostern die Ausgrabungen im Krindelsdorfer Ortsteil Siechstätten begonnen, und auch hier war das Interesse der Medien groß. Hirschberg hoffte zwar, dass die archäologischen Arbeiten der kleinen Gemeinde positive Schlagzeilen bescheren würden, allerdings brachte die Anwesenheit der Wissenschaftler und Journalisten zusätzlichen Trubel. Auch wenn hierbei zur Abwechslung berechtigtes Forschungsinteresse und kein Mord im Vordergrund stand. Durch Satellitenfernerkundung war es Archäologen nämlich gelungen, Überreste des Pestkrankenhauses aus dem siebzehnten Jahrhundert und auch einer kleinen Siedlung zu identifizieren. Ob beides aus derselben Zeit stammte, musste erst noch erforscht werden. Von ihrer Freundin Rosina Baumann hatten die Hirschbergs erfahren, dass die Weltraumarchäologie immer mehr an Bedeutung gewann. Als Historikerin war sie Feuer und Flamme für die Arbeiten, die unter anderem von einer ihrer Freundinnen, Dr. Engler, geleitet wurden. Es handelte sich um ein spannendes Projekt, fand auch Hirschberg, und Susan hatte vor, mit der zwölften Klasse die Ausgrabungsstätte zu besuchen. Allerdings war dem Hauptkommissar auch klar, dass es dem kleinen Ort nicht unbedingt guttat, erneut in den Fokus des wissenschaftlichen und allgemeinen öffentlichen Interesses zu rücken. Krindelsdorf bräuchte eine Art Winterschlaf, hatte Dornberg es letztens formuliert, und der Hauptkommissar stimmte dieser Einschätzung zu. An manchen Tagen ertappte sich der Ermittler bei dem Gedanken, auf einem Pulverfass zu sitzen, das jeden Moment explodieren konnte.
»Sie sehen besorgt aus, Herr Hauptkommissar, wenn ich das bemerken darf.« Krämer bot ihm nach seinem »Herein« an, Platz zu nehmen, und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er beugte sich nach vorn und stützte sich mit den Ellbogen auf seinem Schreibtisch auf. »Sagen Sie mir bitte nicht, dass schon wieder ein Mord im beschaulichen Krindelsdorf passiert ist.« Ein ironisch hilfloser Ausdruck huschte über sein Gesicht. Hirschberg konnte es ihm nicht verdenken. An manchen Tagen glaubte er selbst, dass das LKA ausschließlich für Verbrechen in dem kleinen Ort zuständig war. Verstärkt wurde dieses Gefühl durch die ständige Einmischung von Landrat Seitlbach, der ihn und seine Kollegin, Kommissarin Hansen, in aller Regel anforderte, sobald sich ein Mord in den nur scheinbar ruhigen Gefilden ereignete. »Da Sie und Ihre Frau wie füreinander geschaffen sind, gehe ich nicht von einer Ehekrise aus«, fügte Krämer schmunzelnd hinzu.
»Meine Frau und ich sind glücklich wie am ersten Tag«, lachte Hirschberg. »Und sollten sich jemals Probleme einschleichen, würde meine Schwiegertante umgehend einen Termin bei dem vielgepriesenen Dr. Branson in London für uns vereinbaren.« Unzählige Male schon hatte er den Namen des Therapeuten gehört, denn Isobel wurde niemals müde, Susan und ihn daran zu erinnern, dass sie nicht zuletzt für ihren Sohn und sein von ihr und Dornberg heiß ersehntes zukünftiges Geschwisterchen durchhalten müssten. Hirschberg seufzte innerlich. Er konnte es kaum noch erwarten, dass die Dornbergs endlich ihr eigenes Domizil in Krindelsdorf bezogen, denn er war es leid, sich oft schon am Frühstückstisch für seine nicht vorhandenen Eheprobleme rechtfertigen zu müssen. Bis zum Spätsommer, wenn die Bauarbeiten an ihrer Villa voraussichtlich und hoffentlich beendet sein würden, mussten sie die ausgedehnten Besuche der Turteltauben jedoch wohl oder übel noch ertragen.
»Das beruhigt mich doch sehr«, grinste sein Vorgesetzter, und er lehnte sich entspannt zurück. »Ihr Job ist nämlich sehr anstrengend und nervenaufreibend, aber das muss ich Ihnen wohl kaum sagen. Eine glückliche Familie kann da über vieles hinweghelfen.«
»Das ist mir bewusst. Ich weiß auch, dass viele Kollegen weniger großes Glück haben als ich«, entgegnete er. »Um ehrlich zu sein, mache ich mir so meine Gedanken wegen der Ausgrabungen«, ließ Hirschberg den Präsidenten des LKA wissen. »Der Ort ist nach den Morden auf der Hundeshow noch immer nicht zur Ruhe gekommen, und jetzt fluten Journalisten und sämtliche Medienvertreter schon wieder den Ort. Zwar lenken die archäologischen Ausgrabungen von dem bevorstehenden Prozess ab, was natürlich gut ist, aber dennoch herrscht ein ziemlicher Trubel. Auch die Brandls sind schon wieder ausgebucht. Zwar hauptsächlich von Historikern und Archäologen, aber ein paar Verbrechenstouristen sind bestimmt auch darunter«, fürchtete er. »Wenn es um Mord, Totschlag und Seuchen geht, zieht es alle nach Krindelsdorf, meinte Susan gestern Abend.«
»Ich kann gut nachvollziehen, was Sie meinen«, stimmte Krämer ihm zu. »Dennoch sollten Sie optimistisch bleiben. Vor ein paar Tagen ist mir übrigens der Herr Landrat über den Weg gelaufen. Er verspricht sich viele positive Schlagzeilen von den Ausgrabungen.« Seitlbach, der selbst in Krindelsdorf lebte, lag die kleine Gemeinde sehr am Herzen und noch immer hoffte er, Krindelsdorfs mörderisches Image revidieren zu können. Sollte der Ortsteil Siechstätten dazu beitragen können, die historische Forschung im Bereich der Seuchenbekämpfung in der Frühen Neuzeit voranzubringen, würde das nicht nur Verbrechenstouristen und Parapsychologen, sondern endlich auch Intellektuelle und wissenschaftlich Interessierte anziehen.
»Ja, aber laut Isobel liegt irgendetwas Beunruhigendes in der Luft.« Hirschberg zog ein wenig spöttisch die Augenbrauen nach oben. »Ihre intuitive Seite schlägt Alarm. Und Frau Dachshofer hat meiner Frau außerdem erzählt, dass sie noch nie so viel Baldriantinktur wie in den letzten Wochen verkauft habe. Außerdem sind Schmalzengrubers Predigten noch apokalyptischer als sonst.« Der Krindelsdorfer Pfarrer wurde niemals müde, die Gottlosigkeit mancher Einwohner an den Pranger zu stellen und die bevorstehende himmlische Strafe zu verkünden. Videos seines exorzistisch anmutenden Auftritts auf der Hundeshow waren innerhalb weniger Stunden viral gegangen, erinnerte sich Hirschberg. Weihrauch schwenkend hatte der Geistliche gegen den Jahrmarkt der Eitelkeiten, wie er selbst es formuliert hatte, vorgehen wollen.
»Ich hoffe doch sehr, er dreht nicht wieder durch wie nach Erwin Dimpflbergers Tod.« Krämer rollte die Augen. Der Mord an seinem Jugendfreund hatte Schmalzengruber in eine schwere Krise gestürzt, und es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er sich davon erholt hatte. »Ich möchte nur ungern eine weitere Unterredung mit dem Kardinal.«
»Und ich werde mich ganz sicher nicht noch mal zu Hochwürdens Aufpasser abkommandieren lassen«, wehrte der Hauptkommissar sogleich ab. Seine Eminenz gab sich doch tatsächlich der Illusion hin, Hirschberg könne zu dem katholischen Geistlichen besser durchdringen als jeder andere!
»Ich werde dem Kardinal schon begreiflich machen, dass Sie andere Dinge zu tun haben, als sich um Pfarrer Schmalzengruber zu kümmern«, beruhigte ihn Krämer.
»Sagen Sie das bitte auch Frau Dornberg.« Hirschberg schüttelte den Kopf. »Sie hält mich nämlich ebenfalls für den Einzigen, der verhindern kann, dass Schmalzengruber durchdreht. Dass er die Scheiterhaufen auf dem Marktplatz wieder entzündet und die Dorfbewohner sich, wie sie es formuliert, die Mistgabeln gegenseitig in die Brust rammen.«
»Ihre Schwiegertante hat nun einmal bedingungsloses Vertrauen in Sie«, hielt sein Vorgesetzter grinsend fest. »Egal, wie sehr sie Sie auch immer wieder kritisieren mag. In ihren Augen sollten Sie längst auf meinem Stuhl sitzen«, fügte er vielsagend hinzu.
»Ich werde Ihnen Ihren Sessel ganz sicher nicht streitig machen, Herr Präsident.« Hirschberg schüttelte den Kopf. »Sie machen einen hervorragenden Job.«
»Sie aber auch, Herr Hauptkommissar«, gab er das Lob zurück. »Genauso wie Ihre Kollegin. Auch Frau Hansen hat sich längst für eine Beförderung qualifiziert. Und das nicht nur, weil sie als Rheinländerin mit italienischen Wurzeln mit den Krindelsdorfern so gut zurechtkommt«, lachte Krämer.
»Sie ist eine ausgezeichnete Ermittlerin«, pflichtete Hirschberg ihm bei. »Sie sollte bei einer nächsten Beförderungsgelegenheit in die engere Wahl kommen«, machte er sich für seine Partnerin stark.
»Ich habe das im Blick, Herr Hauptkommissar«, versicherte ihm der Leiter des LKA. »Doch jetzt geht es erst einmal um Sie. Sie wissen, dass in den nächsten zwei Jahren einige Stellen freiwerden. Auch die Leitung in der Führungsgruppe ›Einsatz und Verbrechensbekämpfung‛.« Er ließ Hirschberg nicht aus den Augen.
»Ich habe da etwas läuten hören, dass der Kollege Fischbacher in vorzeitigen Ruhestand gehen will«, nickte Hirschberg. »Er hat geerbt, nicht wahr?«
»Seine Frau, um genau zu sein. Und zwar so ordentlich, dass die beiden ab jetzt ihr Leben genießen wollen«, bestätigte Krämer. »Die Fischbachers wollen dann erst einmal auf eine ausgedehnte Weltreise gehen. Seine Stelle muss deshalb nächstes Jahr neu besetzt werden. Ich hätte die Nachfolge gern jetzt schon geklärt. Herr Fischbacher würde den Neuen selbstverständlich noch einarbeiten.«
»Wenn ich Ihre Worte richtig deute, würden Sie gern mir diesen Job anbieten«, schlussfolgerte Hirschberg. Hansens und seine Erfolgsstatistik war phänomenal, und ihm war durchaus bewusst, dass man ihn für einen höheren Posten ins Auge gefasst hatte. Dem Hauptkommissar lag viel an seinem beruflichen Vorankommen, allerdings lag ihm die Polizeiarbeit im Blut. Mörder hinter Schloss und Riegel zu bringen, schien in seiner DNA verankert zu sein, hatte Hansen es vor seinem Urlaub scherzhaft formuliert, und so ganz unrecht hatte sie damit nicht. Nur hinter einem Schreibtisch zu sitzen und in Organisation und Verwaltung zu versinken, war daher nichts für ihn. Da die Dornbergs ihn schon lang auf der Karriereleiter nach oben klettern sehen wollten, zog er es vor, vorerst nichts über das gerade stattfindende Gespräch zu erwähnen. Isobel würde nur alle Hebel in Bewegung setzen, die Dinge zu beschleunigen.
»Sie sind meine erste Wahl. Auch mein Vize und der Kollege Fischbacher sähen Sie gern in dieser Position«, bejahte Krämer. »Und Sie wissen doch selbst, dass Sie weit und breit der bestgeeignete Kandidat sind.«
»Selbstbeweihräucherung liegt mir nicht so«, kam es bescheiden über Hirschbergs Lippen.
»Muss sie auch nicht.« Krämer machte eine ausladende Armbewegung. »Ihre Ermittlungserfolge sprechen für sich, und Landrat Seitlbach rührt eifrig die Werbetrommel für Sie. Sie haben Fans in den höchsten Positionen, wenn ich es einmal so formulieren darf.«
»Das ist gut zu wissen.« Hirschberg blickte ihn an. »Wann wäre die Stelle denn zu besetzen?«
»Anfang nächsten Jahres müssten Sie mit der Einarbeitung beginnen«, kalkulierte der LKA-Präsident. »Eine Weile bleibt uns Herr Fischbacher noch erhalten. Aber dann sollten Sie sich bereithalten. Dann wird wiederum Ihr Job frei, und hier ist die Kollegin Hansen definitiv meine erste Wahl.« Er beugte sich nach vorn. »Ich könnte mir für die beiden Stellen keine Besseren vorstellen als Sie beide. Ich werde selbstverständlich auch mit Frau Hansen noch sprechen. Sofern Sie sich entscheiden, die Nachfolge von Herrn Fischbacher anzutreten.«
»Bis wann brauchen Sie meine Entscheidung? Ich gehe davon aus, Sie werden mir ein wenig Bedenkzeit einräumen. Und ich würde das natürlich auch gern mit meiner Frau besprechen.«
»Es wäre schön, wenn ich – sagen wir – bis Ende Mai oder Anfang Juni eine Antwort hätte«, lächelte Krämer.
»Das ist sicher realistisch.« Hirschberg war erleichtert. So konnte er genügend Nächte über den Karrieresprung schlafen. »Ich werde ...« Er verstummte, als nach kurzem Klopfen die Tür geöffnet wurde, und Krämers Assistentin, Frau Schmiedinger, gefolgt von Kommissarin Hansen, den Raum betrat. Seine Partnerin wirkte aufgeregt.
»Die Störung tut mir unfassbar leid, Herr Präsident«, begann Hansen mit erhitzten Wangen, noch bevor die Sekretärin irgendetwas hätte sagen können. »Aber wir haben einen Notfall, Chef.« Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes, und Hirschberg erhob sich sogleich.
»Was ist passiert?«, fragten der Hauptkommissar und Krämer wie aus einem Mund.
»Das wird Ihnen beiden jetzt so gar nicht gefallen«, fürchtete die Kommissarin, nachdem sich Krämers Assistentin wieder zurückgezogen hatte. »Frau Dr. Engler ist hier. Sie hat einen Anruf von einer Mitarbeiterin erhalten.«
»Sie wollen uns jetzt nicht etwa sagen ...«, hob Krämer an.
»Ich fürchte doch, Herr Präsident«, fiel Hansen ihm sanft ins Wort. Hirschbergs Partnerin schien es selbst kaum fassen zu können. »Dr. Engler war noch in München und wollte sich gerade auf den Weg nach Krindelsdorf machen, als der Anruf kam. Ein gewisser Professor Gottlieb ist vorhin tot auf der Ausgrabungsstelle aufgefunden worden.«
»Und es deutet auf Mord hin?« Hirschbergs Magen verkrampfte sich.
»Ein Kruzifix steckt angeblich in seinem Schädel.« Dr. Engler erschien hinter Hansen im Büro. »Entschuldigen Sie, Frau Kommissarin. Ich weiß, ich hätte vor der Tür warten sollen, aber ich bin so nervös, und ... Das ist furchtbar, Alex!« Rosina Baumanns Freundin, mit der Susan und Hirschberg nach einem Abendessen bei den Baumanns mittlerweile ebenfalls per Du waren, blickte ihm aufgeschreckt entgegen. Ihre hellblauen Augen bewegten sich unruhig hin und her, und sie war bleich. Ihre Hände zitterten. »Ich habe meine Mitarbeiter angewiesen, niemanden an die Ausgrabungsstätte zu lassen, und mein erster Gedanke war, dich zu rufen, und ...«
»Es ist schon gut, Sarah.« Hirschberg warf Krämer einen Blick zu, und dieser nickte nur. Auf den Hauptkommissar und Hansen wartete Arbeit. Landrat Seitlbach würde mit Sicherheit darauf bestehen, dass nur er und seine Kollegin sich der Sache annahmen, deshalb sollten sich die beiden mit der Archäologin am besten gleich auf den Weg nach Krindelsdorf machen.
»Ich verständige Dr. Meißner und die Spurensicherung.« Hansen zog ihr Smartphone hervor und machte sich auf den Weg.
»Sarah, du fährst am besten mit mir nach Krindelsdorf«, schlug Hirschberg vor. »Vielleicht kannst du mir auf dem Weg ein wenig über diesen Professor Gottlieb erzählen. Kanntest du ihn? Alles, was ich über ihn weiß, ist, dass er Professor für Theologie ist, nicht wahr?«
»Ja, und sein Fachgebiet und Steckenpferd war Kirchengeschichte«, nickte sie, als sie ihm nach draußen folgte. »Ich begreife das alles nicht. Das ist eine Katastrophe«, brach es fassungslos aus ihr heraus.
»Hatte Professor Gottlieb denn etwas mit den Ausgrabungen zu tun?«, wollte Hirschberg verwirrt wissen. Kirchengeschichte hin oder her, das Opfer war zunächst einmal Theologe und kein Archäologe.
»Er liebte es, uns in Siechstätten heimzusuchen, wenn du so willst«, kam es atemlos über Dr. Englers Lippen.
***
Hirschberg startete seinen Wagen, um gemeinsam mit Dr. Engler Richtung Krindelsdorf zu fahren. Der Ausgrabungsort lag ein wenig abgelegen vor den Toren Krindelsdorfs, was sicher darin begründet war, dass man seinerzeit die an der Pest Erkrankten hatte isolieren wollen. Die Verhängung einer Quarantäne zum Schutz des Restes der Bevölkerung war bis heute gang und gäbe. Vermutlich hatte sich im siebzehnten Jahrhundert kaum ein gesunder Einwohner in die Nähe des Krankenhauses gewagt. Hatte man sich erst einmal mit der Seuche infiziert, war das in aller Regel das Todesurteil gewesen. Im Grunde wurde die Gegend bis heute gemieden, fiel Hirschberg plötzlich auf. Kurz bevor sie nach London abgereist waren, hatte Frau Dachshofer ihnen erzählt, dass Siechstätten jahrhundertelang im Besitz der Kirche gewesen sei. Ende der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts hatte diese es verkaufen wollen, doch niemand hatte Interesse gezeigt, es zu erwerben. Und das, obwohl es sich um ein stattliches Grundstück handelte, hatte sie mit nach oben gezogenen Augenbrauen hinzugefügt. Letztlich hatte es die Gemeinde schließlich zu einem Spottpreis übernommen. Der Gemeinderat hatte sich jedoch nie einigen können, was damit geschehen solle, und da sich seit einigen Jahren schon Historiker und Archäologen für das Areal interessierten, waren etwaige Pläne ohnehin auf Eis gelegt worden. Nunmehr wurden unter den Lokalpolitikern aller Parteien Stimmen laut, nach Abschluss der Arbeiten den Ortsteil für Interessierte zugänglich zu machen, und auch ein Museum dort zu errichten. Doch all das war Zukunftsmusik und noch lang nicht in trockenen Tüchern. Dachshofer war sich gar sicher, dass die schönen Pläne scheitern würden: Für sie habe es nämlich den Anschein, als wolle niemand den ehemaligen Seuchenort so ohne Weiteres betreten. Hirschberg war zwar keineswegs ein abergläubischer Mensch, und auch Indira Wiesners Meinung, dass sich dort ruhelose Seelen befänden, stand er skeptisch gegenüber, doch selbst er hätte für seine Familie nicht gerade in Siechstätten ein Heim bauen wollen. Der Hauptkommissar fragte sich, was Professor Theobald Gottlieb ausgerechnet dort seiner Vermutung nach zu nachtschlafender Zeit zu suchen gehabt haben könnte, und er wandte sich an die Archäologin, die mittlerweile den ersten Schock überwunden zu haben schien. Aber noch wussten sie beide nicht, welcher Anblick sie auf der Ausgrabungsstelle erwarten würde.
»Sarah, hast du eine Ahnung, was Professor Gottlieb an der Ausgrabungsstelle wollte?«, erkundigte er sich.
»Nun ja, Gottlieb ist ... war emeritierter Professor für Theologie, wie du ja bereits von irgendjemandem am Ort gehört hast.« Sie wartete, bis er ihre Annahme bestätigt hatte. »Er hat sich aber immer wieder mit Themen der Kirchengeschichte auseinandergesetzt und entsprechende Veranstaltungen angeboten, was ja auch legitim ist. In solchen Studiengängen arbeiten wir schließlich alle interdisziplinär. Schon aus diesem Grund hatte er reges Interesse an den Ausgrabungen, da ein großer Teil seiner Forschungsarbeit sich um Bischof Korbinian von Pfuhlhausen, dessen Leben und Wirken gedreht hat. Pfuhlhausen war eine Einöde hier in der Gegend, die im Dreißigjährigen Krieg dem Erdboden gleichgemacht worden ist. Die wenigen Häuser, die sich dort befunden hatten, sind laut der Quellen in Schutt und Asche gelegt worden, und die unglückseligen Einwohner, die sich nicht mehr hatten retten können, sind getötet worden. Es gibt Hinweise darauf, dass sich unter den Opfern auch die Schwester des Bischofs, deren Mann und drei Kinder befunden hatten.« Sie bedachte ihn mit einem traurigen Blick. »Korbinian muss laut den schriftlichen Zeugnissen aus dieser Zeit ein aufgeweckter und intelligenter Junge gewesen sein. Deshalb sind die Mönche im Krindelsdorfer Kloster auf ihn aufmerksam geworden und haben letztlich beschlossen, ihn bei sich aufzunehmen und zu unterrichten. In einigen alten Dokumenten heißt es, dass Korbinian nicht nur sehr intelligent, sondern auch genauso rücksichtslos gewesen sei, was seinem späteren Aufstieg in der katholischen Kirche aber nicht im Weg stand.«
»Womöglich hat ihm diese Abgebrühtheit sogar einige Türen geöffnet«, entgegnete Hirschberg nüchtern. »Wenn man keine Hemmungen hat, gegen etwaige Konkurrenten vorzugehen, hat das schon so manchen ans Ziel gebracht.«
»Darauf wollte ich hinaus«, stimmte Dr. Engler ihm zu. »Aber ich glaube, Rosina weiß ein wenig mehr über den Bischof als ich. In Bezug auf die Krindelsdorfer Geschichte ist sie ungeschlagen. Was auch ich dir aber sagen kann, ist, dass Professor Gottlieb eine in der Fachwelt sehr umstrittene Theorie aufgestellt hat: Er will in alten Urkunden und Schriften Hinweise darauf gefunden haben, dass Bischof Korbinian während der Pestzeit tatsächlich hier im Ort gelebt und das Pestkrankenhaus regelmäßig besucht hat. Damit zumindest könnte er sogar recht haben. In einer Quelle, die ich vor Ausgrabungsbeginn gelesen habe, hieß es nämlich: Der Bischof sei fest davon ausgegangen, der Herr würde ihn, als seinen treuen Diener, vor einer Ansteckung schützen. Er habe den göttlichen Auftrag bekommen, den armen seuchengebeutelten Seelen Trost zu spenden.« Sie legte ihre Stirn in Falten, als sie sich die Fakten in Erinnerung rief. »Was wir überdies mittlerweile wissen, ist, dass, nachdem der Abt des Krindelsdorfer Klosters den Papst um medizinische Hilfe gebeten hatte, dieser einen der besten Ärzte Roms hierhergeschickt hat. Sein Name war Giacomo di Pocci. Der Heilige Vater muss große Stücke auf ihn gehalten haben.«
»Rosina hat diesen Arzt erwähnt«, nickte Hirschberg, als sie den Ortsausgang hinter sich ließen und sich Siechstätten näherten. »Sie meinte aber, er sei auf der Durchreise gewesen.«
»Davon gingen Historiker lange Zeit aus«, bestätigte Dr. Engler. »In der jüngeren Forschung ist man aber auf Anhaltspunkte gestoßen, dass er tatsächlich vom Papst persönlich geschickt worden ist. In der Bibliothek des Vatikans, die ich Anfang des Jahres besucht habe, hat man mir entsprechende alte Briefe gezeigt, die das bestätigen. Unter anderem wird dort ein Schreiben des damaligen Krindelsdorfer Abtes aufbewahrt. Es ist sehr vergilbt, schwer zu lesen und muss noch genau untersucht werden, aber es deutet alles darauf hin, dass er den Papst in diesem Schreiben um Hilfe gebeten hat. Und nun komme ich zu Gottliebs in Historiker- sowie auch Theologenkreisen sehr umstrittenen Theorie: Laut ihm gebe es Hinweise darauf, dass Bischof Korbinian von eben di Pocci im Pestkrankenhaus in Siechstätten ermordet worden ist.«
»Seine Kollegen sind da also anderer Ansicht?«, hakte Hirschberg nach.
»Nicht unbedingt alle, aber doch die große Mehrheit. Gottlieb nämlich hat bis heute keine handfesten Belege für seine Behauptung geliefert. Die Hinweise, die er angeführt hat, sind nach Ansicht vieler Historiker bestenfalls vage«, erklärte sie ihm. »Zudem müssen wir davon ausgehen, dass di Pocci wegen seiner Nähe zum Papst doch sehr viele Feinde hatte.« Ein humorloses Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. »Fake News waren auch damals schon ein bewährtes Mittel, unliebsame Menschen in ein schlechtes Licht zu rücken.«
»Glaubst du, Gottlieb hat gehofft, ihr könntet im Rahmen der Ausgrabung auf etwas stoßen, was seine Theorie untermauert?«, wollte Hirschberg wissen.
»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich«, antwortete die Archäologin in nüchternem Tonfall. »Daraus hat er keinen Hehl gemacht. Er hat mich am Morgen des ersten Ausgrabungstags, als ich in Siechstätten ankam, bereits dort erwartet, um von mir zu verlangen, ihn persönlich über den Fortschritt der Arbeiten auf dem Laufenden zu halten. Die Leiche des Bischofs ist nämlich nie gefunden worden. Bisher hat man den Quellen nur entnehmen können, dass Korbinian ein gewaltsames Ende gefunden hat, aber was mit seinem Leichnam daraufhin geschehen ist, ist noch immer ungeklärt. Gottlieb hat die Hoffnung gehegt, in Siechstätten womöglich auf Korbinians Überreste zu stoßen. Vielleicht auch auf die seines angeblichen Mörders di Pocci. Ich habe dem Professor daraufhin höflich zu verstehen gegeben, dass ich nicht seine Assistentin bin.« Sie schien noch immer verärgert, und ihre Miene verdüsterte sich schlagartig. »Aber es gibt da noch etwas, was du wissen solltest: Aufgrund der Quellenlage ist in der Fachwelt unstrittig, dass Bischof Korbinian tatsächlich ermordet wurde. Er ist angeblich mit einem eisernen Kruzifix erschlagen worden, das noch in seinem Schädel steckte, als man ihn fand. Was mit seiner Leiche anschließend geschehen ist, oder wo man sie hingebracht hat, ist, wie ich vorhin erwähnt habe, bis dato nicht bekannt.«
»Dann ist der Professor also auf dieselbe Art und Weise getötet worden wie seinerzeit der Bischof?« Hirschberg hielt das nicht für einen Zufall. Bei dem Mörder musste es sich in jedem Fall um jemanden handeln, der so einiges über den Mord an Bischof Korbinian wusste. Er parkte seinen Wagen hinter Rosinas, die sich offenbar mittlerweile auch an der Ausgrabungsstelle eingefunden hatte.
»Ich finde das ausgesprochen verstörend«, gestand ihm die Archäologin, als sie die Beifahrertür öffnete. »Aber Rosina sollte dir mehr darüber berichten können. Seit Beginn der Arbeiten befasst sie sich sehr mit di Pocci, dem Bischof und sämtlichen anderen Akteuren, von denen wir dank der Quellen wissen. Da kommt sie auch schon.« Sarah deutete mit ihrem Finger auf die Historikerin, die mit geschocktem Gesichtsausdruck auf sie zukam, während Hirschberg seinen Wagen verriegelte.
»Ich kann das nicht glauben!«, brach es aus ihr heraus. »Das ist wie in einem Horrorfilm!« In ihren grünen Augen lag das blanke Entsetzen, und ihre Hände zitterten.
»Zumal er auf dieselbe Weise wie Bischof Korbinian ermordet worden ist. Sarah hat mir davon erzählt«, klärte Hirschberg Rosina auf, als er deren überraschten Gesichtsausdruck sah. Er bat Rosina, Dr. Engler und ihn zum Fundort der Leiche zu führen. »Ich hoffe sehr, es ist nichts angefasst worden?«, vergewisserte er sich. Ein Leichenfundort unter freiem Himmel war für die Spurensicherung schon problematisch genug.
»Ganz bestimmt nicht«, versicherte ihm Rosina. »Als ich vor einer halben Stunde hier angekommen bin, hatten Sarahs Mitarbeiter den Bereich schon regelrecht abgeriegelt. Außer ihnen war auch niemand hier. Allerdings gehe ich davon aus, dass sich der Mord an Gottlieb bald herumgesprochen haben wird.«
»Das fürchte ich auch«, pflichtete Hirschberg ihr düster bei. Die Krindelsdorfer würden merken, dass wieder etwas Schlimmes passiert war, wenn sich die Wagen der Spurensicherung und der Rechtsmedizin ihren Weg durch den Ort hierher bahnten. Er nickte Englers Team zu, als er an Archäologen und Studenten vorbeiging, um den leblosen Körper in Augenschein zu nehmen. Er ging neben ihm in die Hocke. Es war tatsächlich der Stoff, aus dem Albträume gemacht wurden: Der ehemalige Professor lag auf dem Bauch. Sein graues Haar war blutverkrustet, und in seinem Schädel steckte ein vermutlich eisernes Kruzifix. Seine dunkelgrüne Jacke und seine braune Hose waren noch feucht, denn es hatte in der Nacht geregnet. Die Finger seiner rechten Hand umklammerten noch immer eine halb volle Flasche Krindelsdorfer Klosterlikör, stellte der Hauptkommissar stirnrunzelnd fest, bevor er sich wieder aufrichtete.
»Er nannte den Likör sein Lebenselixier.« Rosina warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und deutete auf die Flasche. »Seit er in den Ruhestand gegangen ist, hat er sehr oft zu tief ins Glas geblickt. Viel zu tief, wenn du mich fragst. Sobald man ihn aber sanft darauf hingewiesen hat, hat er immer nur gesagt: ›Dummheit frisst, Intelligenz säuft.‛ Dann ist er in schallendes Gelächter ausgebrochen.« Die Historikerin zuckte die Schultern. »Ich glaube, er hat es nicht verkraftet, nicht mehr zu arbeiten. Nicht mehr vor Studenten zu glänzen.«
»Aber ich meine, gehört zu haben, dass er doch noch immer Vorträge gehalten hat«, erinnerte sich Hirschberg an entsprechendes Dorfgeflüster. Als Koryphäe auf seinem Gebiet war Gottlieb immer wieder von Universitäten gebeten worden, Gastredner auf diversen Veranstaltungen zu sein.
»Das ja, aber dennoch war er doch nun die meiste Zeit hier«, entgegnete Rosina. »Deshalb hat er sich vermutlich auch so sehr in seine Theorie mit Bischof Korbinian verrannt. Sarah hat dir auch davon schon erzählt?« Sie nickte in Richtung ihrer Freundin, die sich in gebührendem Abstand mit ihren Mitarbeitern unterhielt. Gewiss spekulierten sie, wie es nun mit den Arbeiten weiterging. Vorerst würden diese zu einem Stillstand kommen.
»Ja, wir haben während der Fahrt hierher darüber gesprochen. Auch dass es Streit mit seinen Kollegen diesbezüglich gegeben hat«, berichtete Hirschberg ihr. »Kannst du mir etwas über diese akademischen Konflikte sagen?«
»Nun ja, viele Theologen und Historiker – im Übrigen auch ich – kritisieren, dass Gottlieb für seine These Quellen anführt, die aus der Feder von di Poccis Gegnern stammen«, erklärte sie dem Ermittler und bestätigte damit Dr. Englers Annahme. »Der Arzt galt als Günstling des Papstes, weil er dessen Cousine das Leben gerettet haben soll. Diese wäre nach der Geburt ihres zweiten Kindes beinahe gestorben, heißt es. Natürlich ruft so etwas Neider auf den Plan«, fügte sie trocken hinzu. »Das Motiv, weshalb di Pocci den Bischof hätte umbringen sollen, ist Gottlieb zudem bisher schuldig geblieben. Einige Diskussionen mit seinen Kollegen sind daher sehr hitzig verlaufen.«
»Gibt es einen Historiker oder Theologen, der vielleicht besonders schlecht auf ihn zu sprechen war?«, wollte Hirschberg wissen.
»Professor Schretzlmeier«, antwortete Rosina wie aus der Pistole geschossen. »Mit ihm hat Gottlieb sich ganz besonders angelegt. Schretzlmeier hat ihn mehrmals als alten Spinner bezeichnet, und in seinen Veröffentlichungen war Gottlieb meist der einzige Kollege, den er nicht zitiert hat.«
»Ist das ungewöhnlich?« Hirschberg blickte sie verwundert an.
»Wenn man auf demselben oder zumindest ganz ähnlichem Gebiet forscht und so ziemlich jeden Historiker, Theologen und Kulturwissenschaftler zitiert bis auf einen, dann grenzt das schon fast an Beleidigung«, grinste sie. »Das ist eine gewisse Form der Verachtung, würde ich sagen. Man bringt damit zum Ausdruck, dass man rein gar nichts von dem betreffenden Kollegen, seiner Forschung und dessen Thesen hält.«
»Verstehe«, begriff Hirschberg. »Für Gottliebs Ego war das bestimmt nicht gut«, schlussfolgerte er, als Kommissarin Hansen, Dr. Meißner und die Mitarbeiter der Spurensicherung auf sie zukamen.
»Ja, sein Ego hat ganz sicher gelitten«, stimmte Rosina ihm zu, nachdem sie die Neuankömmlinge begrüßt hatten. »Auch wenn Gottlieb das niemals offen zugegeben hätte. Und zu deiner Info: Professor Schretzlmeier ist ebenfalls hier wegen der Ausgrabungen. Er wohnt bei den Brandls. Er kommt meistens gegen Nachmittag hierher, davor schreibt er an einer Biografie über di Pocci, anlässlich dessen vierhundertsten Geburtstags im kommenden Jahr. Unter anderem die Universität in Rom, an der er eine Weile gelehrt hat, und die eine Ausstellung zu di Pocci plant, hat ihn darum gebeten.« Sie blickte ihm fest in die Augen. »Damit du Bescheid weißt: Ich habe Schretzlmeier und Gottlieb gestern Nachmittag noch heftig streiten sehen.«
»Ach, sieh an. Gut zu wissen. Dann werden meine Kollegin und ich uns nachher mit ihm unterhalten und herausfinden, worum es bei dem Streit ging.« Hirschberg berichtete Hansen, die ihn fragend anblickte, was er bisher erfahren hatte.
»Die Todesursache ist wieder einmal eindeutig«, verkündete Dr. Meißner, nachdem der Fotograf seine Arbeit gemacht und der Rechtsmediziner eine erste Begutachtung vorgenommen hatte. »Das zumindest muss man den Krindelsdorfer Mördern lassen: Sie erschweren meine Arbeit nicht unnötig«, kam es trocken über seine Lippen, während er vorsichtig Gottliebs Jacken- und Hosentaschen durchsuchte. Er zog dessen Hausschlüssel und kurz darauf das Portemonnaie des Getöteten hervor. »Ich nehme an, Sie wollen möglichst bald sein Haus durchsuchen.« Er reichte den Ermittlern die beiden Fundstücke.
»Ist etwas Aufschlussreiches in seinem Geldbeutel?«, wollte Hansen wissen, als Hirschberg ihn öffnete.
»Die EC-Karte und zwei Kreditkarten sind noch da. Genauso wie das Bargeld. Es scheint nichts zu fehlen.« Hirschberg verzog seinen Mund zu einer abschätzenden Grimasse. »Sieht ganz danach aus, als könnten wir einen Raubmord ausschließen. Um Geld schien es dem Täter nicht gegangen zu sein.« Er wandte sich an Dr. Meißner. »Können Sie den Todeszeitpunkt ungefähr einschätzen?«
»Bedenkt man die Witterung, würde ich sagen, dass er zwischen dreiundzwanzig Uhr und ein Uhr morgens getötet worden ist.« Dr. Meißner schüttelte den Kopf. »Was wollte er denn nur um diese Zeit hier draußen? Gestern war das Wetter doch alles andere als einladend. Trinken wäre zu Hause sicher gemütlicher gewesen.« Er blickte auf die Flasche Kräuterlikör.
»Hat man seine Leiche vielleicht nur hier abgelegt?«, schlug Hansen vor.
»Unwahrscheinlich«, widersprach Doris Michels von der Spurensicherung, bevor der Rechtsmediziner hätte antworten können. »Wenn ich mir den Fundort so ansehe, sehe ich keine Schleifspuren oder andere Hinweise, die darauf hindeuten können, dass hier nicht der Tatort ist. Aber wir werden uns natürlich wie immer gründlich umsehen«, versprach sie den beiden Ermittlern.
»Dann haben Sie recht, Dr. Meißner: Was um alles in der Welt hat er hier nur gesucht?«, wunderte sich die Kommissarin. »Und offenbar auch noch in angetrunkenem Zustand.«
»Das müssen wir herausfinden, Frau Kollegin«, erwiderte Hirschberg. Es war wohl kaum Gottliebs Absicht gewesen, mitten in der Nacht in Siechstätten zu buddeln, um die Überreste des Bischofs zu finden, schoss es ihm ironisch durch den Kopf. So fanatisch konnte sicher nicht einmal er gewesen sein.
»Ich würde ihn jetzt gern in die Rechtsmedizin bringen lassen«, erklärte Dr. Meißner. »Dort kann ich dann auch das Kruzifix entfernen. Vielleicht gibt uns das Mordwerkzeug Aufschluss über den Mörder. Mehr kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht sagen. Erst nach der Obduktion.« Er winkte Michels zu sich, nachdem Hirschberg und Hansen genickt hatten. »Hätten Sie eine Beweismitteltüte? Dann können wir die Flasche sicherstellen, und ich lasse sie gleich ins Labor bringen.«
»Das ist eine gute Idee.« Hirschberg war dankbar. »Vielleicht hat der Täter ja auch einen Schluck aus der Flasche genommen.« Doch das wäre gewiss zu schön, um wahr zu sein, dachte er sogleich.
»Wir werden sehen, Herr Hauptkommissar.« Der Rechtsmediziner verabschiedete sich.
»Ich würde vorschlagen, wir befragen erst einmal das Team von Dr. Engler bezüglich der Alibis für gestern Nacht, dann fahren wir zu den Brandls, um mit Professor Schretzlmeier zu sprechen, und anschließend sollten wir uns in Gottliebs Haus umsehen«, gab Hirschberg die Marschrichtung vor.
»Halten Sie es denn für möglich, dass ein akademischer Streit unter Kollegen ausgeartet ist?«, wollte Hansen wissen.
»Möglich ist, wie wir wissen, alles, Frau Kollegin«, entgegnete er, während sie auf die Archäologen und Studenten zugingen. »Die Erfahrung hat uns doch gezeigt, dass schon aus viel niedrigeren Beweggründen gemordet worden ist.«
Hansen und Hirschberg betraten eine gute Stunde später die Gaststube der Brandls. Um diese Uhrzeit war nicht viel los, erst mittags würden sich einige Stammgäste einfinden. Der Wirt, der hinter dem Tresen Gläser trocknete, blickte auf, und seine Miene verdüsterte sich. Wenn die Ermittler aus heiterem Himmel in der Wirtschaft erschienen, hatte sich in aller Regel etwas sehr Unschönes zugetragen. Erst vor wenigen Wochen war Apolonia Brandls Bruder, Erwin Dimpflberger, ermordet worden, und die Tragödie saß der Familie noch in den Gliedern.
»Frau Kommissarin, Herr Hauptkommissar.« Brandl stellte rasch das Glas auf das Regal hinter ihm, bevor er sich wieder umwandte und sich mit den Armen auf dem Tresen aufstützte. »Kann i was für Sie tun? I nehm an, Sie sind net wegen unserer Leberspätzlesuppe hier.«
»Leider nein, Herr Brandl«, bestätigte Hirschberg. »Wir möchten zu Professor Schretzlmeier. Uns wurde gesagt, er habe sich bei Ihnen für die Zeit der Ausgrabungen ein Zimmer genommen.«
»Das stimmt. Der Professor wohnt schon seit a paar Tagen bei uns.« Apolonia Brandl kam aus der Küche in den Gastraum. Sie musste Hirschbergs Worte gehört haben. »Aber der Professor ist a bissl eigen. Er will am Vormittag nachm Frühstück net gstört werden, weil er an einem Buch schreibt. I darf auch immer erst sein Zimmer machen, wenn er am Nachmittag nach Siechstätten fährt. Net, dass überhaupt viel zu machen bei ihm wär«, fügte sie hinzu.
»Wir wissen, dass er an einer Biografie arbeitet, Frau Brandl, aber darauf können wir keine Rücksicht nehmen«, erklärte ihr Hansen. »Wir müssen dringend mit ihm sprechen. Würden Sie uns bitte seine Zimmernummer sagen?«
»Nummer vier«, kam ihr Mann ihr zuvor. Brandl war klar, dass Hirschberg und seine Kollegin sich nicht würden abwimmeln lassen. »Ist am End schon wieder jemand umbracht worden?«, brach es in dumpfem Tonfall aus ihm heraus.
»Wir müssen jetzt mit dem Professor sprechen«, wich Hirschberg einer Antwort aus und machte sich mit Hansen auf den Weg in den ersten Stock, wo sich die Gästezimmer befanden.
»Ich hatte ausdrücklich gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte!«, drang die ungehaltene Stimme des Professors auf den Flur, nachdem Hansen geklopft hatte. Man konnte hören, wie Schretzlmeier die Tastatur seines Notebooks regelrecht malträtierte. »Ich habe jetzt keine Zeit für Banalitäten! Was auch immer es ist, es muss warten!«
»Wow«, hauchte Hansen Hirschberg mit nach oben gezogenen Augenbrauen zu.
»Herr Professor Schretzlmeier, hier sind Kommissarin Hansen und Hauptkommissar Hirschberg vom LKA. Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen. Sofort. Und um Banalitäten geht es beileibe nicht«, fügte Hirschberg etwas spitz hinzu, bevor er sich hätte bremsen können. Seine Worte zeigten Wirkung: Das Klappern der Tasten verstummte, ein Stuhl wurde nach hinten gerückt, und kurz darauf öffnete Schretzlmeier mit verwundertem Gesichtsausdruck die Tür.
»Sie sind von der Polizei? Was in aller Welt will denn das LKA von mir?« Der Historiker starrte sie hinter kleinen, runden Brillengläsern völlig verdutzt an. Er trug einen weinroten Pullover zu einer schwarzen Hose, und an seinem Handgelenk prangte eine Uhr mit teurem Lederarmband und einem goldenen Zifferblatt. Sein dunkelbraunes Haar war an den Schläfen ergraut, und seine braunen Augen tanzten nervös hin und her. »Ich verstehe nicht, was ...«
»Es wäre besser, wir würden in Ihrem Zimmer weitersprechen«, fiel Hansen ihm mit gesenkter Stimme ins Wort und bedachte ihn mit einem auffordernden Blick. »Es handelt sich um eine sehr ernste Angelegenheit.«
»Wenn es denn unbedingt sein muss. Kommen Sie herein.« Der Professor trat widerwillig zur Seite, um sie einzulassen.
Hirschberg blickte sich verstohlen um, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Er kannte die Zimmer der Brandls mittlerweile zur Genüge. An den Wänden befanden sich Fotos von Krindelsdorf, gegenüber dem Doppelbett stand ein Schreibtisch mit einem kleinen Fernseher. Vor der Tür zum Badezimmer gab es einen Kleiderschrank mit bayerisch anmutenden Verzierungen. Apolonia Brandl schien tatsächlich nicht viel Arbeit wegen des Professors zu haben, dachte der Hauptkommissar. Der Raum war nahezu militärisch penibel aufgeräumt: Das Bett musste Schretzlmeier selbst gemacht haben, und sein dunkelblauer Seidenpyjama lag ordentlich zusammengelegt auf dem Kopfkissen. Bis auf ein Notizbuch und einen Kugelschreiber neben seinem Notebook lag absolut nichts Persönliches herum.
»Ich brauche ein aufgeräumtes Arbeitsumfeld, das keine noch so kleine Ablenkung zulässt.« Schretzlmeier schien Hirschbergs Blick bemerkt zu haben. »Wenn ich an einer akademischen Arbeit sitze, darf ich durch nichts aus dem Takt gebracht werden. Jegliche Störung ist eine Belastung für meinen Arbeitsprozess. Derzeit widme ich mich voll und ganz Giacomo di Pocci, der nicht zuletzt hier in Krindelsdorf gewirkt hat, um dem Wüten der Pest Einhalt zu gebieten. Ich darf doch davon ausgehen, dass Sie mit seinem Namen etwas anfangen können?« Schretzlmeier wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr fort. »Ich versuche, ganz in seiner Welt aufzugehen. Er war ein bemerkenswerter Arzt und Wissenschaftler!«, betonte er. »Studiert man seine noch erhaltenen medizinischen Aufzeichnungen, die sich im Archiv des Vatikans befinden, erzittert man selbst heute vor Ehrfurcht! Und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie anstrengend und doch gleichsam überaus lohnenswert es ist, historische Fakten zusammenzutragen und dann ein Buch daraus zu machen. Seit Jahren schon recherchiere ich das Leben Giacomo di Poccis. Er war eine der schillerndsten Persönlichkeiten des siebzehnten Jahrhunderts, wenn Sie mich fragen!« Sein Enthusiasmus für den Gegenstand seiner Arbeit war unüberhörbar. »Die ganze Welt kennt Paracelsus, und das nur, weil er glaubte, mit Laudanum ein Allheilmittel gefunden zu haben. Wissen Sie, wie er es genannt hat? ›Stein der Unsterblichkeit‛! Dabei ist diese Tinktur nichts weiter als suchterzeugendes Opium, das bis ins 20. Jahrhundert hinein inflationär verschrieben worden ist!« Der Professor schnaubte abfällig. »Di Pocci hingegen ist meiner Meinung nach ein viel bemerkenswerterer Mediziner, und nicht zuletzt wurden seine Heilkünste vom Papst persönlich in höchstem Maße geschätzt. Meine Arbeit ist ausgesprochen wichtig, daher würde ich Sie bitten, sich kurz zu fassen.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, und sein Gesicht verkam zu einer schmerzverzerrten Grimasse. »Mein Tag ist fest strukturiert. In drei Stunden muss ich bei der Ausgrabung sein, und davor möchte ich noch das Unterkapitel über die Erkrankung von di Poccis Mutter beenden. Nicht zuletzt wegen ihres Leidens hat er sich letztlich der Medizin verschrieben.«
»Es tut uns sehr leid, Ihre Arbeit unterbrechen zu müssen, aber wir haben leider keine andere Wahl«, entgegnete Hirschberg, als Schretzlmeier endlich Luft zu holen schien. »Wir müssen uns mit Ihnen über Professor Gottlieb unterhalten.«
»Sie möchten also nicht nur meine Arbeit stören, sondern mir obendrein auch noch die Laune verderben?« Schretzlmeier rümpfte die Nase.
»Hatten Sie denn bis jetzt gute Laune?«, kam es mechanisch über Hansens Lippen, und sie hielt sich sogleich die Hand vor den Mund. Hirschberg senkte den Kopf, als seine Mundwinkel auf ihre flapsige Bemerkung hin zu zucken begannen.