Tod am Traitors' Gate - Jessica Müller - E-Book

Tod am Traitors' Gate E-Book

Jessica Müller

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Beschreibung

London, 1865. Caroline Courtwood wird in der Nähe des Traitor's Gate erwürgt aufgefunden. Inspektor Stockworth und Sergeant Bennett ermitteln in diesem Fall. Da Stockworths Ehefrau Charlotte sich, wie die Tote, in der Greenland´s Armenschule engagiert hat, stellt sie eigene Nachforschungen an. Hat die junge Frau mit ihrer Arbeit Kriminelle gegen sich aufgebracht? Oder war ihr der Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, zum Verhängnis geworden? Bald schon findet Charlotte heraus, dass die eigenwillige junge Frau sowohl im Londoner East End als auch in den eigenen Reihen so manchen Feind gehabt hat.

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Todam

Traitors’ Gate

Ein viktorianischer

Krimi

Müller, Jessica: Tod am Traitors’ Gate. Ein viktorianischer Krimi. ­

Hamburg, Dryas Verlag 2023

Originalausgabe

E-Book ISBN 978-3-98672-039-1

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN 978-3-98672-038-4

Lektorat: Andreas Barth, Oldenburg

Umschlaggestaltung: © Christl Glatz | Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von iStock und AdobeStock

Umschlagabbildungen: © Photocreo Bednarek/AdobeStock, © russellbinns/iStock/Getty Images Plus, © Bluberries/iStock/Getty Images Plus, © Obencem/iStock/Getty Images Plus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Der Dryas Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© Dryas Verlag, Hamburg 2023

Alle Rechte vorbehalten.

http ://www.dryas.de

Contents

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Personenregister

Landmarks

Cover

Prolog

Die volle Scheibe des Mondes tauchte den trostlosen Winkel der Stadt in ein eisiges Licht. Trotz der milden Temperaturen fröstelte Caroline Courtwood, und Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Das East End war kein Ort für eine Frau ihres Standes. Erst recht nicht zu vorgerückter Stunde. Doch sie musste das Wagnis wie schon so oft zuvor eingehen.

Die alte Zigeunerin, die scheinbar an jeder Ecke Londons wie aus dem Nichts aufzutauchen vermochte, hatte ihr vor nicht allzu langer Zeit zugeflüstert, dass der Tod sowohl Ende als auch Anfang sei. Seelen wanderten von Leben zu Leben und wählten sich jedes neue Dasein selbst. Caroline habe die richtige Wahl getroffen und könne so die Verfehlungen ihrer vergangenen Existenzen sühnen. Was auch immer das heißen mochte, fragte sie sich nun und kämpfte gegen ihr plötzliches Unbehagen an. Sie zog die Kapuze ihres Umhangs, den sie eigens für ihre heimlichen Ausflüge hatte schneidern lassen, über ihren Kopf und hastete mit angehaltenem Atem an einigen Gestalten der Nacht vorbei. Sie durfte keine Zeit verlieren, denn niemand in ihrem Haushalt sollte ihre Abwesenheit bemerken.

Schon als Kind hatte Caroline sich in den Reihen ihrer Familie fehl am Platz gefühlt. Hatte sich nicht unterordnen wollen und war deshalb unermüdlich getadelt worden. Als adlige Tochter habe sie hübsch auszusehen und folgsam zu sein, erinnerte sie sich an die Worte ihrer verbitterten Gouvernante. Heute erntete Caroline ungeduldiges Naserümpfen seitens der Ihren, wenn sie gesellschaftliche Missstände anprangerte und sich für die Schwächsten in ihrer Mitte einsetzte. Ihren Eltern und der Familie ihres Mannes war ihre Unterstützung der Armen ein Dorn im Auge, und sie solle sich gefälligst wie eine sittsame junge Ehefrau verhalten. Jedoch lag es nicht in Carolines Naturell, ihre wahre Persönlichkeit zu verbergen. Sie hatte beschlossen, ihren eigenen Weg trotz aller Widrigkeiten zu gehen und sich vor allem weiterhin mit ihrer Freundin Ebba zu treffen. Das ehemalige Dienstmädchen ihrer Eltern hatte nach einem Übergriff durch Caro­lines Onkel fluchtartig das Haus verlassen. Letztlich hatte sie sich daraufhin einigen jungen Frauen angeschlossen, denen es ähnlich wie ihr ergangen war, und die sich nunmehr ihrer gesprengten Fesseln erfreuten. Ebbas Freiheit jedoch war eine fragwürdige Medaille, denn ihr selbst gewähltes Metier barg zahllose Gefahren. Immer wieder einmal entdeckte Caroline Striemen und Blutergüsse an Ebbas Körper, und dennoch beharrte ihre Freundin darauf, es besser zu haben als unter dem Dach ihrer Eltern oder bei anderen Herrschaften. Zu viele Frauen mussten zwischen Pest und Cholera wählen, wenn sie überleben wollten.

In dieser lauen Nacht Ende Mai fieberte Caroline ihrem Treffen mit Ebba mehr als sonst entgegen. Für sie stand alles auf dem Spiel, aber auf ihre Vertraute hatte sie sich stets verlassen können. Die junge Frau benötigte Informationen, und nur Ebba konnte sie mit diesen versorgen.

Caroline hüpfte zur Seite und versteckte sich im Schatten eines Hauseingangs, als ihr einige betrunkene Männer entgegentorkelten. Angespannt wartete sie, bis die grölende Meute auf unsicheren Beinen an ihr vorbeigezogen war. Ihr Mut bedeutete nicht, dass sie keine Angst verspürte. Nur hatte Caroline sehr früh schon begreifen müssen, dass Furcht sie nicht ans Ziel bringen würde. Erleichterung durchflutete sie, als sie kaum eine Minute später an die Tür des heruntergekommenen Hauses klopfte.

»Da bist du ja endlich! Komm rein! Dich darf niemand sehen!«, wisperte Ebba nervös und zog sie am Arm in das winzige Zimmer, das sie ihr Heim nannte. Ihre dunklen Augen musterten sie eindringlich. »Wir haben nicht viel Zeit. Ich erwarte einen …«

»Ich verstehe schon.« Caroline drückte ihren Arm. »Hast du etwas in Erfahrung bringen können?« Ebba nickte, und ihre Freundin lauschte aufmerksam ihren Ausführungen.

1.

Charlotte Stockworth strahlte das fast vier Wochen alte Baby in ihren Armen an. Der Sohn ihrer Freundin Lina richtete seine blauen Augen auf sie und gluckste. Er war satt und zufrieden und würde sicher bald wieder einschlafen. In Roisin O’Mahoneys Einrichtung für gefallene Frauen hatte auch seine Mutter nach ihrer Ankunft in London ein neues Zuhause gefunden. Als ehemalige Kurtisane kannte die Hausherrin die Gefahren der Straße aus eigener Erfahrung und wollte deshalb so vielen jungen Frauen wie nur möglich helfen. Unterstützt wurde sie hierbei von einer stattlichen Zahl loyaler Verbündeter und ihren Männern, die nunmehr auch Lina und den kleinen John beschützten. Und Charlotte selbst würde niemals vergessen, dass das ehemalige Dienstmädchen und ihr verstorbener Mann Kopf und Kragen für sie riskiert hatten.

»Er sieht Johann von Tag zu Tag ähnlicher«, stellte Lina mit einem Lächeln fest. »Er hat sich so sehr auf unser Kind gefreut.« Noch immer war ihre Trauer unüberhörbar, doch sie war mittlerweile auch bereit, nach vorn zu sehen, hatte sie Charlotte anvertraut. Johann Wolf war noch vor der Geburt seines Sohnes im Auftrag von Charlottes ehemaligem Verlobten, Heinrich von Burgfeld, in Wien aufgespürt und ermordet worden, weil er und Lina Charlottes Flucht aus Berlin unterstützt hatten. Doch das Schicksal hatte zurückgeschlagen: Von Burgfeld war vor Kurzem selbst Opfer eines kaltblütigen Mörders geworden. Und das ausgerechnet hier in London.

»Eines Tages wird dein Sohn sämtlichen jungen Damen den Kopf verdrehen«, prophezeite Charlotte lachend. »Er ist bildschön, und ich möchte ihn gar nicht mehr hergeben. Ich könnte ihn stundenlang herumtragen.«

»Du wirst bald dein eigenes Baby haben.« Lina zwinkerte ihrer Freundin zu, bevor sie ihren Kopf abschätzend zur Seite neigte. »Das ist doch so, nicht wahr?«

»Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber es wäre möglich«, gab Charlotte zu. Es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Das ehemalige Dienstmädchen der von Winterbergs kannte sie seit einer Ewigkeit und würde jede noch so kleine Lüge erkennen.

»Dann wird mein Kleiner einen Spielgefährten bekommen!«, freute sie sich. »Hast du schon mit Basil gesprochen?«

»Bisher noch nicht.« Sie senkte ihre Stimme. »Solange ich noch keine Gewissheit habe, will ich es noch für mich behalten. Basil kann es gar nicht erwarten, Nachwuchs zu haben, deshalb will ich mir erst ganz sicher sein, damit er nicht enttäuscht wird. Also verplappere dich bloß nicht«, mahnte sie Lina lächelnd.

»Ich schweige wie ein Grab«, versprach diese. »Wie geht es deinem Mann eigentlich? Wir haben ihn kaum zu Gesicht bekommen in letzter Zeit. Gibt es Neuigkeiten, was von Burgfelds Ermordung angeht?«

Nachdem man Heinrich von Burgfelds Leichnam in der Kirche St Martin-in-the-Fields aufgefunden hatte, waren Inspektor Stockworth und dessen Partner Sergeant Bennett an den Tatort gerufen worden. Die Identität des Toten war verhängnisvoll. Von Burgfeld hatte zwar viele einflussreiche Freunde in der britischen Hauptstadt, jedoch auch so manchen Feind.

»Es gibt so gut wie keine neuen Erkenntnisse.« Charlotte zuckte resigniert die Schultern. »Basil ist in einer sehr schwierigen Situation. Die von Burgfelds verbieten sich jegliche Einmischung seinerseits in den Fall. Aus diesem Grund hat Collins sich zwar voll und ganz hinter Basil gestellt, ihn und Bennett aber nicht mit den Ermittlungen betraut.« Andeutungen der von Burgfelds, dass Stockworth selbst in den Mord verstrickt sein könnte, hatte Superintendent Collins im Keim erstickt und Heinrichs Vater mit schwerwiegenden Konsequenzen gedroht, sollte dieser Rufmord betreiben.

»Du weißt, was ich von dieser adligen Brut halte, Charlotte, aber so ganz verübeln kann man ihnen ihre Abneigung gegenüber Basil nicht«, wandte Lina ein und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Die Sorge war ihr anzusehen. »Immerhin hat er die Frau geheiratet, die eigentlich einem von Burgfeld das Jawort hätte geben sollen, wäre sie nicht bei Nacht und Nebel vor ihm davongelaufen. Diese Familie lässt sich nur ungern etwas wegnehmen, von dem sie glaubt, es stehe ihr zu.«

»Denkst du etwa, dessen bin ich mir nicht bewusst?« Charlotte bändigte eine brünette Locke, die sich aus einer Haarnadel gelöst hatte. »Die von Burgfelds würden mich nur allzu gern an den Pranger stellen, als Hure beschimpfen und ganz London gegen mich aufbringen. Dass ich nach meiner Ankunft hier nicht in der Gosse gelandet bin und um mein Leben kämpfen musste, bereitet ihnen gewiss körperliches Unwohlsein.« Sie klang sarkastisch. Nach ihrer Flucht aus Berlin hatte sich Charlottes Leben drastisch verändert. Ihr ursprünglicher Plan war es gewesen, mit gefälschten Papieren unter dem Namen Violet Lewis in London als Gouvernante zu arbeiten und selbst für sich zu sorgen. Nach dem Mord an Sir William May, an dessen Aufklärung sie tatkräftig beteiligt gewesen war, hatte Inspektor Stockworth aber um ihre Hand angehalten und sie somit zur zukünftigen Lady Stockworth gemacht. In manchen Kreisen war sie daraufhin eine Weile argwöhnisch als adlige deutsche Ausreißerin beäugt worden.

»Die von Burgfelds würden nur zu gern auf dich herabblicken und dich am Boden sehen«, stimmte Lina ihr zu.

»Wir sind Heinrichs Vater mit Sir Baxter neulich in der Oper begegnet. Du hättest den Hass in ihren Gesichtern sehen sollen.« Charlotte blickte ihre Freundin eindringlich an. »Du und John dürft bis auf Weiteres nicht allein das Haus verlassen. Sie können mir nichts anhaben, aber …«

»Lina schon.« Roisin erschien in der Tür. Allem Anschein nach hatte sie ihre letzten Worte gehört. Wie immer bot ihre Freundin einen spektakulären Anblick. Sie trug ein königsblaues Kleid mit schwarzen Stickereien und silbernen Ohrringen. Ihre schwarzen Locken waren kunstvoll nach oben gesteckt. Sie ging strahlend auf die drei zu. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen! Und mach dir keine Sorgen: Lina und dem kleinen Mann hier«, sie beugte sich nach unten, um John über den Kopf zu streicheln, »wird nicht das Geringste zustoßen.«

»Dass die beiden bei euch in Sicherheit sind, ist mir eine große Erleichterung«, beteuerte Charlotte und wechselte das Thema. »Du warst Spenden sammeln auf einem Empfang bei Lady Bell-Cunningham, wie ich höre?«

»Die geladenen Gäste waren sehr spendabel«, freute sich die Hausherrin. »Aber Mylady hat mich nicht nur deshalb zum Tee gebeten: Ihr Enkel sucht eine Nanny für seinen Nachwuchs.«

»Und natürlich hast du ein oder zwei junge Damen im Auge, die in Frage kämen«, schlussfolgerte Charlotte. Roisin ließ ihre Schützlinge unterrichten und sie ihren Fähigkeiten entsprechend fördern. Viele von ihnen arbeiteten später als Gesellschafterinnen oder Kindermädchen.

»Er wird die beste Nanny bekommen, die London jemals gesehen hat! Verlass dich darauf!«, erwiderte Roisin lachend. »Dafür habe ich es sogar ertragen, dass die Hunde seiner Großmutter den Saum meines Kleides mit ihrem Speichel durchtränkt haben.« Sie rollte mit den Augen. Auch wenn sie keine Männer um den Finger wickelnde Kurtisane mehr war, legte sie doch stets größten Wert auf ihr Äußeres, wusste Charlotte. »Aber ich kann mich glücklich schätzen, dass ich zu Lady Bell-Cunninghams Stadthaus überhaupt Zutritt habe, bedenkt man meine Vergangenheit und Myladys moralische Erhabenheit. Dein Vater und auch deine Mutter müssen ein sehr gutes Wort für mich eingelegt haben.« Sie zwinkerte ihr zu.

»Ja, Lord Hazelton kann sehr überzeugend sein.« Charlotte grinste.

»Da kommt seine Tochter ganz nach ihm. Zudem bist auch du mittlerweile in der Gnade«, ließ Roisin sie mit zuckenden Mundwinkeln wissen. »Da nun ganz London weiß, dass du eine wahre Hazelton und keine von Winterberg bist, betrachtet dich Lady Bell-Cunningham nicht mehr als die eigenwillige ausländische Adlige, die Lord Stockworths Sohn vom Heiratsmarkt genommen und ihren Enkeltöchtern vor der Nase weggeschnappt hat.« Vor einigen Wochen hatte Charlotte erfahren, dass sie in Wahrheit das Ergebnis einer Liaison ihrer Mutter mit Lord Clarence Hazelton war. Während seines Aufenthalts in Berlin hatten sich die beiden trotz Amalies Verlobung mit Carl von Winterberg unsterblich ineinander verliebt und waren sich nähergekommen. Seit einiger Zeit befand sich ihre Mutter nun in London, und Lord Hazelton wünschte sich sehnlichst eine Aussöhnung der beiden wichtigsten Frauen in seinem Leben. Charlotte konnte Amalie noch immer nicht verzeihen, dass sie sie über ihre wahre Herkunft im Unklaren gelassen und nie gegen Carl von Winterberg verteidigt hatte. »Lady Clifton hat prophezeit, dass es ab jetzt nur noch eine Frage der Zeit sei, bis du von Lady Bell-Cunningham zum Tee gebeten wirst. Und es sei nur recht und billig, dass auch du dich endlich einmal ein paar Stunden zu Tode langweilst«, gab Roisin ihr Gespräch mit Lady Elizabeth Clifton in schelmischem Tonfall wieder.

»Wie gelingt es ihr nur, sich in Lady Bell-Cunninghams Gegenwart zurückzunehmen?«, wunderte sich Charlotte lachend. Lady Cliftons Spitzzüngigkeit besaß nahezu sprichwörtlichen Charakter. Charlotte amüsierte sich stets köstlich mit ihr. Sie und Lady Bell-Cunningham, die angeblich jede Form von Klatsch als nahezu gotteslästerlich empfand, hätten unterschiedlicher nicht sein können.

»Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich mich das selbst schon gefragt habe. Aber genug gescherzt: Wie geht es mit den Ermittlungen im Fall Heinrich von Burgfeld voran?«, wechselte Roisin das Thema.

»Wie ich Lina bereits sagte: Es gibt nichts Neues. Inspektor Baker ist …«

»Ein versoffener Idiot«, beendete ihre Gastgeberin ihren Satz, als sie sich auf die Couch setzte. Sie machte eine abfällige Geste. »Ein unfähiger Tölpel wäre er vermutlich aber auch in nüchternem Zustand. Dieser so genannte Inspektor könnte einen Mörder nicht erkennen, wenn er ihn auf frischer Tat mit blutigem Messer in der Hand ertappen würde. Der einzig Fähige, den Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen, ist dein Mann. Was denkt sich der Superintendent nur dabei, Baker mit der Klärung des Falls zu betrauen?«

»Mein Schwiegervater ist da ganz deiner Meinung, aber die von Burgfelds wollen nun einmal um jeden Preis verhindern, dass Basil in den Fall involviert wird. Und dieser Inspektor Guthries trinkt vor lauter Kummer über den Tod seiner Frau noch mehr als Baker und ist erst recht nicht zu gebrauchen.« Charlotte seufzte. Sie teilte Roisins Frustration. Von Burgfeld mochte kein guter Mensch gewesen sein, aber selbst einer wie er verdiente es nicht, hinterrücks ermordet zu werden. Ihrem Mann und ihr lag genauso viel daran, seinen Mörder zu finden, wie seiner Familie. »Wir können schon froh sein, dass sie uns nicht trotz Collins’ Warnung lauthals unterstellen, etwas mit Heinrichs Tod zu tun zu haben. Im Geheimen bewerfen sie uns gewiss mit Dreck.«

»Da hast du wohl recht, aber wenn Baker keine Fortschritte macht, wird sie das auch nicht erfreuen«, vermutete Roisin. »Am Ende muss Superintendent Collins noch um seine Position fürchten, wenn die von Burgfelds sich bei ihren einflussreichen Freunden über ihn beschweren. Er ist ein guter Mann, und ich sähe ihn ungern seines Postens enthoben. Das muss unbedingt verhindert werden«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Ich hoffe doch nicht, dass es so weit kommen wird.« Charlotte war bewusst, dass Roisins Befürchtung nicht ganz von der Hand zu weisen war. Die von Burgfelds wollten Köpfe rollen sehen.

»Hat man diesem Baker nicht Constable White zur Seite gestellt?«, fiel Lina ein. »White ist doch zumindest ein heller Kopf, nicht wahr? Ich höre immer nur Gutes von ihm. Vor allem von Maisie«, fügte sie grinsend hinzu. Das Dienstmädchen der Stockworths und White hatten sich während der Ermittlungen im Fall Sir William May kennengelernt und waren mittlerweile ein Paar.

»Ja, White macht seine Sache mehr als gut. Er ist es auch, der in Wahrheit die Ermittlungen leitet. Der Ärmste ist nicht zu beneiden«, vertraute Charlotte den beiden an. »Vor ein paar Tagen musste er Baker aus einem Pub abholen und ihn nach Hause bringen, weil der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Der Superintendent ist verzweifelt.«

»Wie soll White denn diesen Mord aufklären können, wenn er im Grunde den Aufpasser für seinen versoffenen Vorgesetzten spielen muss?« Roisin schüttelte den Kopf und ein grüblerischer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Man muss ihm schnellstens unter die Arme greifen.«

»Was heckst du aus?« Charlotte kannte ihre Freundin lang genug, um zu wissen, dass sie einen Plan schmiedete. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.

»Ich überlege nur ein wenig«, wehrte sie sogleich ab. Charlotte entschied, nicht weiter in sie zu dringen. Es wäre ein sinnloses Unterfangen. Roisin würde sich erst mitteilen, wenn ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt werden konnte. Wenn man seine Ziele und Pläne geheim hält, kann einem niemand einen Strich durch die Rechnung machen, hatte sie ihr einmal erklärt. Sie wäre niemals so weit gekommen, hätte sie ihre Karten immer gleich auf den Tisch gelegt.

»Was mich nicht zur Ruhe kommen lässt, ist die Art und Weise, wie man von Burgfeld getötet hat.« Charlotte stand auf und legte Lina vorsichtig ihren mittlerweile schlummernden Sohn in die Arme.

»Weil die Vorgehensweise des Täters dieselbe ist wie bei Madame Blanche und Lady Shanton.« Das stadtbekannte Medium und die Adlige waren vor einigen Wochen wie von Burgfeld von hinten erdrosselt worden. Roisin presste einen Moment ihre Lippen aufeinander. »Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Ich halte das nämlich nicht für einen Zufall. Irgendetwas Merkwürdiges geht hier vor. Und der Gedanke, dass Verbrecher sich gegenseitig nachahmen könnten, verursacht mir Magenschmerzen.«

»Mir auch. Aber es muss sich um jemanden handeln, der die Morde von Madame Blanches Ehemann nachahmen möchte. Denn er selbst sitzt, wie wir alle wissen, im Gefängnis und wartet auf das Ende seines Prozesses«, nannte Charlotte die Tatsachen beim Namen. »Dessen Vorgehensweise ist schließlich allgemein bekannt. Die Zeitungen waren voll davon.«

»Ist nicht auch eine Frau beobachtet worden, die aus der Kirche gelaufen ist, kurz bevor man die Leiche gefunden hat?«, hakte Lina nach. Der Priester, der gerade dabei gewesen war, die Treppen hinaufzusteigen, hatte angeblich eine weibliche Gestalt aus der Kirche kommen sehen. Der Geistliche hatte angegeben, dass er deren Gesicht leider nicht habe erkennen können, und allem Anschein nach sei sie sehr in Eile gewesen.

»Das behauptet zumindest der Pfarrer. Soweit ich weiß, gibt es aber keine weiteren Hinweise auf die Unbekannte. Genauso wenig gibt es andere Zeugen.« Charlotte klang resigniert. »Aber James geht davon aus, dass auch eine Frau kräftig genug wäre, jemanden zu erdrosseln. Von Burgfeld muss zudem stark angetrunken gewesen sein, daher hatte der Täter leichtes Spiel.«

»James ist ein hervorragender Arzt. Wenn er der Ansicht ist, dass auch eine Frau ihn getötet haben könnte, dann vertraue ich seiner Einschätzung«, hielt Roisin fest. »Und glaubt mir, auch wir Frauen können die grausamsten Verbrechen begehen. Die Vorstellung ist zwar niemandem, vor allem Männern nicht, geheuer, aber so ist es nun einmal.«

»Das ist wohl wahr«, stimmte Charlotte ihr zu.

»Dabei fällt mir ein: Hast du noch etwas von dieser Marie Schuhmacher gehört?«, wollte Roisin plötzlich wissen. Carl von Winterbergs Mätresse war vor einigen Wochen in Begleitung eines reichen Amerikaners in London aufgetaucht und hatte Geld von Charlotte verlangt. Im Gegenzug würde sie davon absehen, die Ehe ihrer Tante Anna von Krenze als Farce zu enttarnen, weil diese in Wahrheit eine Frau und Charlottes Onkel einen Mann geliebt hatte.

»Nichts seit Mutter ihr eine schallende Ohrfeige verpasst hat.« Charlotte stieß ein anerkennendes Lachen aus. Amalie von Winterberg war für einen Moment lang die Mutter gewesen, die sie sich immer gewünscht hatte. Die sich für ihr Kind und ihre Familie stark gemacht hatte. »Außerdem wollte sie von Schuhmacher wissen, ob sie tatsächlich nicht in Carls Arbeitszimmer war, als er sich erschossen hat. Schließlich hat sie immer nur behauptet, nichts mit seinem Tod zu tun zu haben. Aber Mutter will die beiden kurz vor dem Schuss noch lautstark streiten gehört haben.«

»Das ist interessant.« Roisin musterte sie aufmerksam. »Wie hat sie darauf reagiert?«

»Sie hat natürlich vehement abgestritten, etwas mit seinem Tod zu tun zu haben, aber ich würde es nicht ausschließen.« Charlotte fiel plötzlich etwas ein. »Ich kann mich erinnern, dass Carl ihr beigebracht hat, mit Waffen umzugehen. Ich fand das unheimlich«, gestand sie.

»Sie könnte ihn im Zorn erschossen haben«, zog Roisin in Betracht, bevor sie das Thema wechselte. »Aber was deine Mutter betrifft: Jeder Mensch hat das Potenzial, sich zu ändern. Das solltest du niemals vergessen, Charlotte. Und wenn du ihr verzeihst, tust du es vor allem für dich und nicht für sie. Es wird dich befreien.«

»Vielleicht hast du recht«, erwiderte sie zögerlich. »Aber warum fragst du nach Marie Schuhmacher?«, wollte sie wissen.

»Ich behalte die Menschen, die den Meinen schaden wollen, einfach nur gern im Auge, wie du weißt. Ich mag keine etwaigen bösen Überraschungen.« Roisin verschränkte die Arme vor der Brust. »Womöglich hat sie sich mit Heinrich von Burgfeld treffen wollen. Vielleicht war sie diejenige, die der Priester gesehen hat.«

»Du hältst es also für möglich, dass sie ihre Drohung wahrmachen und Tante Annas Ruf zerstören wollte? Und dass sie vorhatte, sich mit Heinrich zu treffen, um Geld von ihm für ihre pikanten Informationen zu bekommen?« Roisins Überlegungen hatten Hand und Fuß. Die von Burgfelds waren gut bekannt mit von Winterbergs ehemaliger Mätresse. Nach ihrer erzwungenen Verlobung hatte Charlotte gar den Verdacht gehegt, in Heinrichs Auftrag von ihr bespitzelt zu werden, da sie ihr oftmals wie ein Schatten nachgeschlichen war. Vor ihrer Flucht hatte sie daher größte Vorsicht walten lassen. Die Angst, ihre Pläne könnten von Schuhmacher aufgedeckt werden, war enorm gewesen.

»Ihr Gönner, Theodore Billings, ist schon vor einer guten Woche ohne Begleitung zurück nach Amerika gereist, wie man mir zugetragen hat. Ich persönlich halte es für ausgeschlossen, dass er ihr eine großzügige Summe gelassen hat.« Roisin verzog ihre Miene zu einer humorlosen Grimasse. »Ich kenne Männer wie diesen Billings nur zu gut. Sie benutzen Frauen, und sobald sie keine Verwendung mehr für sie haben, streifen sie sie ab wie einen alten Handschuh. Eine Frau wie diese Schuhmacher kann er an jeder Ecke finden. Ich bin mir deshalb sicher, dass sie mittlerweile auf der Suche nach einer neuen Geldquelle ist, und bei deinem rachsüchtigen ehemaligen Verlobten könnte sie eine günstige Gelegenheit gewittert haben. Aus diesem Grund wäre ich dafür, sie schnellstens ausfindig zu machen und sich mit ihr zu unterhalten. Ich sage nicht, dass sie ihn getötet hat, aber wenn sie diejenige ist, die der Priester gesehen hat, mag sie vielleicht etwas beobachtet haben, was zur Aufklärung des Falls beitragen könnte«, führte Roisin aus.

»Das ist gut und schön. Nur leider habe ich nicht die geringste Ahnung, wo sie sich derzeit aufhalten könnte.« Charlotte zuckte die Schultern. »Womöglich ist sie zurück nach Berlin gegangen, und …«

»Ohne Geld? Niemals«, widersprach Roisin vehement. »Nein, diese Blutsaugerin ist noch hier. Und ich werde zusehen, dass ich sie aufspüre.«

»Wenn das jemandem gelingt, dann dir«, nickte Charlotte, als die Standuhr im Salon schlug. »Aber ich mache mich jetzt besser auf den Heimweg. Basil wollte pünktlich zum Dinner zu Hause sein.« Das gemeinsame Frühstück und Dinner waren den beiden heilig, und sie verabschiedete sich rasch.

Charlotte lief die Treppen des Stadthauses hinunter und verdrängte ihre Sorgen. Stattdessen freute sie sich auf einen ruhigen Abend mit ihrem Mann.

2.

Inspektor Basil Stockworth lauschte dem rhythmischen Klacken der Pferdehufe. Sergeant Bennett und er waren von einem aufgeregten Constable alarmiert worden, kaum dass er an diesem Morgen in Whitehall eingetroffen war. Man habe eine übel zugerichtete weibliche Leiche am Ufer der Themse in der Nähe des Towers gefunden, und sie sollten sich sofort auf den Weg machen. Nachdem Bennett einen Constable angewiesen hatte, Dr. Honeywell zu benachrichtigen, hatten die beiden Ermittler keine Zeit mehr verloren. Zwar würde der Mörder längst über alle Berge sein, aber Stockworth wollte die Leiche den Blicken der Schaulustigen nicht zu lange aussetzen. Die Würde des Menschen sollte auch im Tod gewahrt bleiben.

Während der Kutschfahrt kreisten Stockworths Gedanken wie andauernd in letzter Zeit um den Mord an Heinrich von Burgfeld. Superintendent Collins hatte ihn eindringlich davor gewarnt, sich in den Fall einzumischen und Angriffsflächen für die einflussreiche deutsche Adelsfamilie zu bieten. Seit seiner Ankunft in London suchte Heinrichs Vater Collins fast täglich in Begleitung von Sir Baxter Stapleton auf, um sich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen. Constable White tat sein Bestes, doch Inspektor Baker bremste ihn auf jede erdenkliche Weise aus. Dem rangniedrigeren Polizisten brachte der Inspektor keinerlei Respekt entgegen, und zu allem Überfluss hatte White alle Hände voll zu tun, die Fehltritte seines Vorgesetzten in Ordnung zu bringen. Und doch beschwerte sich der Constable nicht, sondern gab sein Bestes, Stockworth und dessen Familie vor Anschuldigungen und falschen Verdächtigungen zu schützen. Er stand tief in Whites Schuld, und er würde sich zu gegebener Zeit erkenntlich zeigen, nahm Stockworth sich vor.

»Sir?« Bennetts Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Der Sergeant musterte ihn eindringlich. »Sie sehen aus, als würden Sie sich wieder den Kopf über einen Fall zermartern, der nicht in Ihrer Hand liegt.«

»Das haben Sie gut erkannt, Sergeant.« Er lächelte. Bennett war ein hervorragender Polizist, und er verfügte über das Potenzial, es weit zu bringen. Doch Stockworth wusste auch, dass er ihn eines – noch hoffentlich fernen – Tages verlieren würde. Bennetts alter Weggefährte Felix Shaw, der Eigentümer des bekannten Gentlemen’s Club Shaw’s, hatte ihn zu seinem Alleinerben gemacht, und eines Tages würde Bennett die Geschäfte übernehmen. Es war ein für den In­spektor nicht unwillkommenes Arrangement. Mit dem Club würde Bennett nämlich nicht nur Shaws Verbindungen in die höchsten Kreise der Gesellschaft, sondern auch in die tiefsten Tiefen der Londoner Unterwelt erben. Mit Gefälligkeiten für die oberen Zehntausend hatte Shaw sich aus dem Armenviertel gekämpft, und noch immer stand so manch feiner Herr in seiner Schuld, während er in Verbrecherkreisen gefürchtet war. Shaw hatte es verstanden, sich gegen etwaige Angriffe abzusichern, und ihm zu nahe zu kommen, wäre ein riskantes Unterfangen. Er beherrschte die Spielregeln der Welten, in denen er sich bewegte, wie kein Zweiter. Sein designierter Nachfolger Bennett hingegen konnte sich einer weißen Weste rühmen, und er war von Grund auf anständig. Und das allein flößte Shaws Leuten schon jetzt Respekt ein. Diese würden noch nach dessen Tod loyal zu ihrem Dienstherrn stehen und seinem Willen, Bennett in allem zu unterstützen, Folge leisten. Der Sergeant würde dem Inspektor daher auch außerhalb von Whitehalls Mauern ein verlässlicher Partner bleiben.

»Sie sollten sich nicht zu viele Sorgen machen, Inspektor«, beruhigte er ihn. »White weiß, was er tut, und er wird mit Baker schon fertig. Außerdem hat Felix mir versichert, dass er und seine Leute ihm in jeder Hinsicht zur Seite stehen würden, sollte er Unterstützung benötigen. Falls es nötig wäre, würden sie selbst Baker im Zaum halten. Und wenn auch nur irgendetwas in Zusammenhang mit von Burgfelds Tod in London die Runde macht, dann erfährt White umgehend davon. Wir werden umgehend davon erfahren.« Wie Roisin O’Mahoney verfügte auch Shaw über ein stattliches Netzwerk an Verbündeten. Gegen Ende seines Lebens lag ihm viel daran, die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen, weshalb er die Ermittler nach Kräften unterstützte.

»Daran zweifle ich keine Sekunde, Sergeant.« Stockworth verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur wirft der Fall sehr viele Rätsel auf, und keine der möglichen Lösungsmöglichkeiten gefällt mir. Und die von Burgfelds warten nur darauf, dass Scotland Yard irgendeinen Fehler macht, damit sie sich auf uns stürzen können wie Aasgeier auf eine Leiche. Selbst James’ Obduktionsergebnisse haben sie in Zweifel gezogen.« Heinrich von Burgfelds Erkrankung mussten seine Angehörigen als Stigma empfinden, weshalb sein Vater nichts hatte unversucht lassen wollen, Dr. Honeywell zu diskreditieren.

»Dass ihr Sohn schwer an Syphilis erkrankt war, befleckt dessen Andenken und den Ruf seiner Familie.« Bennett schnaubte verächtlich, und Stockworth konnte es ihm nicht verübeln. Der gesellschaftliche Umgang mit der Krankheit war seiner Meinung nach scheinheilig. Syphilis galt als Hurenkrankheit, und während die feinen Herren, die sich bei einer Prostituierten ansteckten, als Opfer gesehen wurden, erfuhren die Frauen des horizontalen Gewerbes Schuldzuweisungen und Verachtung. »Aber der Arzt, den sie eigens für eine zweite Obduktion aus Berlin haben kommen lassen, hat Dr. Honeywells Bericht doch bestätigt, nicht wahr?«, vergewisserte sich der Sergeant.

»Dr. von Trautner hat sich James’ Meinung in vollem Umfang angeschlossen«, bestätigte Stockworth. »Die auffälligen Anzeichen konnte er genauso wenig ignorieren wie James.« Stockworth hatte von seinem Freund erfahren, dass von Burgfelds Körper den für Syphilis typischen Hautausschlag aufwies. Knötchen hatten sich ebenfalls bereits gebildet, darüber hinaus konnte der Arzt Schleimhautveränderungen im Mund feststellen. »Im Laufe der Zeit wäre er immer unberechenbarer geworden und hätte seinen Verstand endgültig verloren. Nicht auszudenken, was er alles hätte anrichten können.«

»Ich möchte keinesfalls pietätlos klingen, aber wenn man so will, hat sein Mörder womöglich Schlimmeres verhindert«, bemerkte Bennett nüchtern.

»Der Gedanke kam auch mir schon, Sergeant. Aber dennoch bleibt Mord nun einmal Mord und muss bestraft werden.« Stockworth seufzte, als die Kutsche zum Stehen kam. »Aber jetzt müssen wir uns auf unseren neuen Fall konzen­trieren.« Trotz seiner inneren Anspannung wollte er dem Opfer seine volle Aufmerksamkeit widmen. Wer auch immer die Getötete war, sie verdiente Gerechtigkeit.

Der Inspektor stieg gefolgt von Bennett aus der Kutsche. Er runzelte verärgert die Stirn. Die Schaulustigen hatten sich bereits am Fundort der Leiche eingefunden und wurden von mehreren Constables im Zaum gehalten. Die morbide Faszination, die für so viele von Mord und Totschlag ausging, machte Stockworth wütend. Die sensationslüsterne Menge vergaß stets, dass es sich um einen Menschen handelte und nicht um ein exotisches Ausstellungsstück.

»Inspektor, Sergeant.« Constable Stevens kam mit Grabesmiene auf sie zu. Er war bleich und wirkte geschockt. »Ich habe bereits nach Verstärkung geschickt, um die Leute fernzuhalten.« Er nickte in Richtung der Menschenansammlung. »Es ist ein trauriger Anblick. Die arme Frau muss vor ihrem Tod die Hölle durchlebt haben.«

Stockworth und Bennett wechselten einen düsteren Blick und folgten Stevens zum Flussufer. Hinter ihnen befand sich der St Thomas’s Tower, dessen Becken nunmehr trockengelegt war, und der derzeit von Anthony Salvin wiederaufgebaut wurde. Aufgrund von Vibrationen durch die Kanonenproduktion war das Ostende des Turmes eingestürzt. Der St Thomas’s Tower verdankte seinen Namen Thomas Becket und wurde umgangssprachlich Traitors’ Gate genannt, da ab dem 16. Jahrhundert Verräter vom Fluss aus durch das Tor in den Tower gebracht worden waren. Während der Ära der Tudors wurden im Tower Staatsgefangene wie der Lordkanzler Thomas Morus inhaftiert. Als treuer Unterstützer des Heiligen Stuhls war dieser der Ansicht gewesen, dass nur der Papst die Ehe zwischen Heinrich VIII. und Katharina von Aragón hätte annullieren dürfen. Nachdem Papst Clemens VII. dem englischen Monarchen eine Scheidung verweigert hatte, hatte sich dieser von Rom losgesagt und kurzerhand seine eigene, die anglikanische Kirche gegründet. Um seiner Treue zu Rom willen, war Morus daraufhin als Lordkanzler zurückgetreten und hatte sich letztlich geweigert, Heinrich VIII. als Oberhaupt der neu gegründeten Kirche anzuerkennen sowie den Eid auf den Act of Succession zu leisten. Jenes Gesetz hatte Heinrichs und Anne Boleyns Tochter, die spätere Königin Elizabeth I., als Nachfolgerin des Monarchen legitimiert, während deren ältere Halbschwester Mary dadurch zum königlichen Bastard erklärt worden war. Morus hatte den Tower nicht mehr lebend verlassen, und seine Hinrichtung war im Juli 1535 erfolgt. Nur knapp ein Jahr später, im Mai des Jahres 1536, war Anne Boleyn ihm wegen angeblichen Ehebruchs aufs Schafott gefolgt. Die letzte Demütigung, unter den Augen des Pöbels öffentlich enthauptet zu werden, hatte Heinrich VIII. seiner zweiten Frau erspart.

»Die Ärmste!«, entfuhr es Bennett, als sie vor der Ermordeten standen und er das malträtierte Gesicht der jungen Frau sah.

»Ich werde niemals verstehen, wie ein Mensch einem anderen so etwas antun kann.« Der Inspektor beugte sich über den Leichnam. Ihr linkes Auge war blau und geschwollen, die Unterlippe war aufgeplatzt und blutverkrustet. Dennoch war ihr Gesicht nicht allzu sehr entstellt, was eine Identifizierung hoffentlich ein wenig erleichtern würde, dachte er traurig.

»Oh mein Gott!« Dr. Honeywell war unbemerkt eingetroffen und legte seinem Freund zur Begrüßung die Hand auf die Schulter. Er ging neben Stockworth in die Hocke, ohne seinen Blick von der Leiche abzuwenden. Er war sichtlich erschüttert. »Das ist Caroline Courtwood.«

»Courtwood?« Der Inspektor horchte auf. »Ist sie etwa Percy Courtwoods Frau? Lord Courtwoods Schwiegertochter?« Der Mord an einer jungen Adligen, deren geschundener Körper am Ufer der Themse gefunden worden war, würde hohe Wellen schlagen, fürchtete er. Hatte der Fundort nahe des Traitors’ Gate womöglich irgendeine Bedeutung für den Täter?, fragte er sich. Wollte man Caroline Courtwood als Verräterin brandmarken? Stockworth rief sich innerlich zur Ordnung. Für Spekulationen dieser Art war es viel zu früh.

»Das ist sie«, bestätigte Honeywell seine Annahme, bevor er begann, ihre sterblichen Überreste eingehend in Augenschein zu nehmen. Der Arzt war sichtlich betroffen, fiel seinem Freund auf, aber er würde dennoch gründlich seine Arbeit machen und sich nicht von seinen Gefühlen aus dem Takt bringen lassen. Honeywell empfand sich selbst als das Sprachrohr für all die Unglückseligen, die nicht mehr selbst für sich Gerechtigkeit einfordern konnten. »Man muss sie vor ihrem Tod schwer verprügelt haben.« Er schloss einen Moment lang die Augen und seufzte. »Und wie es aussieht, hat der Täter sie anschließend mit bloßen Händen erwürgt.«

»Kanntest du Caroline Courtwood? Kannst du mir irgendetwas über sie sagen?« Stockworth richtete sich auf.

»Nun ja, sie muss deiner Frau sehr ähnlich gewesen sein.« Er blickte ihn nachdenklich an. »Charlotte sollte sie sogar kennen. Adelia hat mir letztens berichtet, dass Caroline Courtwood sich in der Greenland’s engagiert hat. Sie hat vor einiger Zeit schon ihre Hilfe angeboten.« Adelia Webster war die Tochter des Schulleiters einer Armenschule. Nachdem zwei der Lehrer ermordet worden waren, hatten Stockworth und Bennett die Ermittlungen aufnehmen müssen, und Charlotte hatte beschlossen, die Schule zu unterstützen. Kinder benötigten genug zu essen, ordentliche Kleidung und ein sicheres Dach über dem Kopf. Dass manche der Schüler nur Lumpen am Leib trugen und viele gezwungen waren, auf dem kalten Fußboden zu schlafen, setzte ihr zu. Stockworths Schwiegervater und dessen bester Freund Wyatt Sullivan wollten den Websters deshalb helfen, ein Kinderheim zu eröffnen.

»Adelia?« Trotz der Umstände musste Stockworth schmunzeln. Zwar stammten sein Freund und er aus adligen Kreisen, und Honeywell war einer der begehrtesten Junggesellen Londons, aber allem Anschein nach zog der Arzt nun eine nicht standesgemäße Verbindung in Betracht. Stockworth war sich sicher, dass Honeywells Eltern im Falle einer Heirat keine Einwände erheben würden. Seinem Vater war nur wichtig, dass sein Sohn keiner der Enkeltöchter Lady Bell-Cunninghams ins Netz ging. Sein völlig gesundes Herz wäre niemals in der Lage, dies zu verkraften, betonte Sir Benedict Honeywell, wann auch immer von einer potenziellen Schwiegertochter die Rede war. »Ihr verbringt sehr viel Zeit miteinander, wie mir scheint.«

»Das ist dir also nicht entgangen«, erwiderte Honeywell lächelnd, bevor er wieder ernst wurde. »Adelia hat Caroline Courtwood als sehr mutige und eigenwillige junge Frau beschrieben. Eigenschaften, die nicht jedermann schätzt, würde ich behaupten.«

»Gewiss nicht«, stimmte Stockworth ihm zu. Auch über Charlotte wurde in manchen Kreisen getuschelt. Dass sie unerschrocken und ihre beste Freundin ausgerechnet ein ehemaliges Dienstmädchen war, erweckte in vielen Menschen ihres Standes Argwohn.

»Ist Miss Webster zufällig bekannt, ob sie mit irgendjemandem Streit gehabt hat? Oder ob jemand nicht gut auf sie zu sprechen gewesen ist?«, meldete sich Bennett zu Wort.

»Sie hat mir gegenüber nichts erwähnt«, enttäuschte ihn Honeywell. »Allerdings habe Caroline immer wieder betont, dass sie sich dem Willen anderer nicht beugen würde. Auch nicht dem ihrer Familie. Sie würde tun, was sie für richtig halte, denn sie wolle mit sich selbst im Reinen sein. Und wenn sie den Kindern der Ärmsten helfen wolle, dann würde nichts und niemand sie davon abbringen.«

»Und das war bestimmt so manchem ein Dorn im Auge«, folgerte Stockworth. Gerade die Familie ihres Mannes stand in dem Ruf, sehr konservativ zu sein und an gesellschaftlichen Traditionen festzuhalten, wie er in seinem Club erfahren hatte. Es würde ihnen nicht gefallen, wenn ihre Schwiegertochter aus der Reihe tanzte.

»Ich werde Caroline jetzt ins St Mary’s bringen lassen.« Honeywell warf einen missmutigen Blick auf all die Schaulustigen, die es noch immer in Scharen an den vermeintlichen Ort des Verbrechens trieb, um einen Blick auf die arme Seele, die es erwischt hatte, zu erhaschen. »Ich möchte nicht, dass sie zu einer Attraktion wird.«

»Du hast recht. Du solltest sie schnellstens von hier wegbringen, James«, nickte Stockworth. »Kannst du mir sagen, wann du …«

»Ich habe heute nur wenige Patienten, daher kann ich, sofern ich nicht zu einem Notfall gerufen werde, bald mit der Obduktion anfangen«, versprach er. »Und du kannst den Coroner wegen der Anhörung benachrichtigen. Die Schwiegertochter von Lord und Lady Courtwood ist definitiv keines natürlichen Todes gestorben.«

»Wie wäre es, wenn Sie den Coroner aufsuchen, Sergeant, und ich mache mich auf den Weg zu ihrer Familie?«, schlug Stockworth an Bennett gewandt vor.

»Natürlich, Sir. Ich würde nur gern noch mit den Constables ein paar Worte wechseln, ob sie etwas gefunden haben, das auf den Täter hindeuten könnte, und …«

»Leider nein, Sergeant«, fiel Constable Fraser ihm zerknirscht ins Wort. Er war unbemerkt hinter ihnen erschienen und musste Bennetts Worte gehört haben. »Wir haben das Ufer abgesucht, aber wir haben nichts gefunden bis auf den üblichen Schund, der von jedem Einwohner Londons stammen könnte.«

»Wer hat die Leiche eigentlich gefunden?«, fiel dem Inspektor plötzlich ein und schüttelte über sich selbst den Kopf. So entsetzt war er von dem Anblick der Toten gewesen, dass er das Naheliegendste außer Acht gelassen hatte. Bevor er sich auf den Weg zu ihrer Familie machte, wollte er unbedingt mit demjenigen sprechen, der die junge Frau entdeckt hatte.

»Der junge Herr dort drüben. Er wartet darauf, von Ihnen befragt zu werden, Inspektor.« Fraser deutete auf einen dunkelhaarigen jungen Mann mit olivfarbener Haut und fast schwarzen Augen. Er trug einen teuren hellgrauen Anzug. »Sein Name ist Sanchez. Er stammt aus Madrid und besucht seine Tante, die einen englischen Teehändler geheiratet hat. Er hätte sich vor Schock fast übergeben, aber mittlerweile scheint es ihm wieder besser zu gehen«, fügte er hinzu.

»Spricht er unsere Sprache?«, erkundigte sich Bennett und warf Stockworth einen vielsagenden Blick zu. Seine spanische Verlobte Maria würde notfalls übersetzen können.

»Er beherrscht sie ausgesprochen gut, Sergeant. Sein Vater ist ein wohlhabender Weinhändler, wie er mir berichtet hat, und er ist von einer englischen Hauslehrerin unterrichtet worden.«

»Das macht die Sache leichter.« Stockworth war dankbar. Er verabschiedete sich von Honeywell, der seinen Helfern Anweisungen gab, Caroline Courtwood für den Transport bereit zu machen, und begab sich mit Sergeant Bennett zu ihrem offenbar einzigen Zeugen.

»Mr Sanchez, das sind Inspektor Stockworth und Sergeant Bennett«, stellte der Constable die Herren einander vor.

»Stockworth?« Der junge Mann ergriff seine Hand. Noch immer wirkte er ein wenig mitgenommen, und der Inspektor konnte es ihm nicht verübeln. Über eine Leiche zu stolpern, war kein alltägliches Phänomen. »Mrs von Krenzes Nichte ist Ihre Ehefrau, nicht wahr?«

»Das ist richtig. Sie kennen die Tante meiner Frau?«, erkundigte er sich lächelnd.

»Leider nicht persönlich, aber Mrs von Krenze kauft regelmäßig Tee bei meinem Onkel, Mr Weston, und meine Tante schwärmt regelrecht von ihr. Sie und mein Onkel beschreiben sie als eine ausgesprochen freundliche Kundin.«

»Mrs von Krenze ist ein sehr herzlicher Mensch, kann ich Ihnen versichern.« Der Inspektor konnte sehen, dass Sanchez sich auf diesen unverfänglichen Austausch hin ein wenig entspannte, und er räusperte sich. »Mr Sanchez, ich kann mir nur allzu gut vorstellen, dass das nicht einfach für Sie ist, aber können Sie uns sagen, wie Sie die Tote gefunden haben?«

»Natürlich, Inspektor.« Der Spanier schluckte. »Ich stehe immer sehr früh auf, um noch vor dem Frühstück einen Spaziergang an der Themse zu machen. Ich mache mir dann einen Plan für den Tag, und …« Er presste die Lippen aufeinander. »Verzeihen Sie, dass ich abschweife. Heute Morgen habe ich etwas … jemanden in der Nähe des Ufers liegen sehen. Ich dachte aus der Ferne zunächst, es wäre vielleicht nur ein Betrunkener, der seinen Rausch ausschläft, aber dann habe ich mich näher herangewagt und gesehen, dass …« Der junge Mann hielt sich die Faust vor den Mund.

»Es muss ein sehr großer Schock für Sie gewesen sein«, erwiderte Bennett mitfühlend. »Haben Sie aber vielleicht dennoch irgendjemanden gesehen oder etwas Seltsames bemerkt?«

»Nicht das Geringste.« Er schüttelte den Kopf. »Es war auch weit und breit niemand zu sehen. Erst Minuten, nachdem ich die arme Frau gefunden hatte, konnte ich glücklicherweise zwei Constables, die ihre Runde drehten, auf mich aufmerksam machen. Ich hätte sonst nicht gewusst, was ich tun sollte.« Er blickte zwischen Stockworth und Bennett hin und her. »Noch niemals zuvor bin ich mir so hilflos vorgekommen, und ich konnte beim besten Willen keinen klaren Gedanken fassen. Einerseits wollte ich Hilfe holen, andererseits hatte ich das Gefühl, sie nicht allein lassen zu können, und …«

»Wir können das sehr gut verstehen, Mr Sanchez. Gott sei Dank waren die beiden Constables zur Stelle.« Stockworth blickte den Spanier nachdenklich an. Er war sich sicher, dass er die Wahrheit sagte. Wer auch immer Caroline Courtwood ermordet hatte, hatte sie vermutlich noch vor Sonnenaufgang und im Schutz der Dunkelheit an die Themse gebracht. Ihr Mörder war längst über alle Berge.

»Inspektor, wäre es in Ordnung, wenn ich mich jetzt auf den Heimweg machte?«, erkundigte sich Sanchez. »Meine Tante fragt sich bestimmt längst händeringend, wo ich bleibe, und …«

»Natürlich, Sir. Wir wissen ja, wo wir Sie im Falle eines Falles finden können. Soll einer der Constables eine Kutsche für Sie finden?«, bot Stockworth an.

»Ehrlich gesagt, würde ich gern zu Fuß gehen, Inspektor. Ich brauche die Bewegung an der frischen Luft, um auf andere Gedanken zu kommen.« Sanchez verabschiedete sich.

»Seinen Besuch in London wird er bestimmt nie wieder vergessen«, prophezeite Bennett und blickte dem jungen Mann hinterher.

»Da mögen Sie recht haben«, pflichtete Stockworth ihm bei. »Auf derartige Reiseerinnerungen kann man gut und gern verzichten. Ich mache mich dann am besten auf den Weg nach Mayfair zu den Courtwoods, um ihnen die traurige Nachricht zu überbringen.«

3.

Inspektor Stockworth stieg vor dem Stadthaus von Lord und Lady Courtwood am Hanover Square im Herzen Mayfairs aus der Kutsche. Der nach der königlichen Dynastie benannte Platz war im Jahr 1717 auf dem Grund und Boden des Earl of Scarborough angelegt worden. Während die Fassaden der Häuser bescheiden anmuteten, war deren Interieur hingegen luxuriös. Hinter den Häusern befanden sich Gärten, Räumlichkeiten für das Hauspersonal und Ställe, und natürlich gab es dort einen separaten Eingang für die Dienstboten. Die ersten Anwohner waren meist Whigs und hochrangige Militärs aus dem Adelsstand gewesen. Stockworth wusste, dass auch Lord Courtwoods Großvater und Vater hohe Posten in den Reihen der Streitkräfte bekleidet hatten, er selbst hingegen hatte es vorgezogen, wenigstens mit dieser Tradition zu brechen und in die Politik zu gehen. Von seinem Freund Dr. Honeywell hatte der Inspektor überdies erfahren, dass Percy und Caroline Courtwood noch so lange unter Lord Courtwoods Dach wohnen wollten, bis sie im Juli ihr eigenes Heim beziehen konnten. Daher schien es naheliegend, dass er Percy Courtwood bei dessen Eltern antreffen würde. Seufzend lief er die Treppen zum Eingang nach oben und griff nach dem Türklopfer.

»Sir?« Ein hager wirkender Butler mit graubraunem Haar öffnete die Tür. Seine grauen Augen musterten Stockworth argwöhnisch, und sein Gesichtsausdruck war abweisend. Unangemeldeter Besuch schien nicht willkommen.

»Ich bin Inspektor Basil Stockworth«, stellte er sich vor, ohne sich von der Abwehrhaltung des Hausdieners beeindrucken zu lassen. »Ich möchte zu Percy Courtwood.«

»Die Herrschaften sind gerade zu Tisch, Inspektor. Wenn es Ihnen möglich wäre, später wieder …«, versuchte der Butler, ihn abzuwimmeln.

»Leider nein«, unterbrach Stockworth ihn sanft, aber bestimmt. »Mein Anliegen duldet keinen Aufschub. Ich muss ihn umgehend sprechen.«