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"Absolut inspirierend und eine brillante Beschreibung der Meisner-Technik." Mary Steenburgen Sanford Meisner (1905–1997) gehört zu den weltweit einflussreichsten Schauspiellehrern. William Esper erklärt die Grundlagen seiner legendären Methode, führt diese weiter und entwickelt ein aufeinander aufbauendes Übungssystem, um eine wahrhaftige und überzeugende Darstellung sowohl auf der Bühne als auch bei Film und Fernsehen zu erreichen. Wie jede Kunst verlangt auch das Schauspiel, dass der Künstler seine Persönlichkeit einbringt, sich "im Moment" öffnet und seinen Instinkten folgt. Dies schafft die Meisner-Technik wie keine andere Schauspielmethode. "Ich habe mein Leben damit verbracht, mit Schauspielern zu arbeiten. Dazu braucht man nur einige wesentliche Werkzeuge: geduldig sein, konkret sein, prägnant sein, ermutigen, vorschlagen, loben, zuhören. Zum ersten Mal habe ich diese Werkzeuge durch Bill Esper kennengelernt." David Mamet William Esper hat 17 Jahre als Schauspieler und Schauspiellehrer mit Sanford Meisner zusammengearbeitet. 1965 gründete er das William Esper Studio in New York, das mehrfach zu den "25 Best Drama Schools" in den USA gewählt wurde. Damon DiMarco studierte bei William Esper und arbeitet als Autor und Schauspieler.
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Seitenzahl: 431
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William Esper (1932–2019) war Absolvent der Western Reserve University und der Neighborhood Playhouse School of the Theatre in New York City. An der Playhouse School wurde er von Sanford Meisner zum Schauspieler und Lehrer ausgebildet. Danach arbeitete Esper weitere fünfzehn Jahre als Lehrer und Regisseur eng mit Meisner zusammen und war von 1973 bis 1976 Direktor der Schauspielabteilung des Playhouse. 1965 gründete er das William Esper Studio und 1977 das »Professional Actor Training Program« an der Mason Gross School of the Arts der Rutgers University, das er achtundzwanzig Jahre lang leitete. Diese beiden Schulen sind bekannt dafür, in der Regel nur die qualifiziertesten Schauspieler*innen auf die internationale Bühne und Leinwand zu bringen. William Esper wurde 2006 und 2007 in einer Leserumfrage des Backstage-Magazins zum besten Schauspiellehrer New Yorks gewählt. Auf die lange Liste der Schauspieler und Schauspielerinnen, mit denen Esper zusammengearbeitet hat, gehören u. a. Kim Basinger, Kathy Bates, Jeff Goldblum, Patricia Heaton, William Hurt, John Malkovich, Paul Sorvino und Mary Steenburgen.
Damon DiMarco (*1971) erwarb seinen Master of Fine Arts an der Mason Gross School of the Arts der Rutgers University nach einem Studium bei William Esper. Er hat als Schauspieler für Bühne, Film und Fernsehen gearbeitet und unterrichtet Schauspiel und Regie an der Drew University. Er schreibt außerdem für Bühne und Leinwand.
William Esper/Damon DiMarco
Kunst und Handwerk des Schauspielers
William Esper lehrt die Meisner-Technik
Mit einem Vorwort von David Mamet
Aus dem amerikanischen Englisch von André Bolouri
Editorischer Hinweis:
Zitate wurden übersetzt, wenn keine deutsche Übersetzung vorlag.
Vollständig bearbeitete Neuausgabe der deutschen Erstausgabe von 2015.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel The actor’s art and craft. William Esper teaches the Meisner technique bei Anchor Books, New York.
This translation published by arrangement with Vintage Anchor Publishing, an imprint of The Knopf Doubleday Group, a division of Penguin Random House, LLC.
© 2008 by William Esper and Damon DiMarco
© für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 2021
Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin
[email protected] · www.alexander-verlag.com
Satz/Layout/Umschlaggestaltung: Antje Wewerka
Lektorat/Redaktion: Katharina Broich und Christin Heinrichs-Lauer
Dank an Jana Frey, Katja Karau und Mona Thierse.
Wir danken dem Verlag Felix Bloch Erben, Berlin, für die Bereitstellung von Stücktexten.
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-89581-554-6 (eBook)
»William Esper ist der Hüter der Meisner-Flamme. Es gibt keinen Lehrer wie ihn.«
PAUL SORVINO
»William Espers Schauspieltraining hat mein Leben für immer verändert. Ich habe gelernt, was Schauspielen wirklich sein kann … Dieses Buch ist eine wunderbare Reise in Bills Methodik. Es gibt nicht nur dem Anfänger, sondern auch erfahrenen Schauspielern ein Vokabular und Richtlinien an die Hand, um die in einem Text enthaltenen Schauspielprobleme zu lösen.«
SAM ROCKWELL
»Bei Bill zu studieren war eines der großen Geschenke meines Lebens. Wenn Sie Ihr Potential als Schauspieler voll ausschöpfen wollen, ist dieses Buch ein hervorragender Ausgangspunkt. Es gibt keinen besseren Schauspiellehrer als William Esper, der die Meisner-Technik unterrichtet.«
DAVID MORSE
»Bill Esper ist ein Meisterlehrer. Die Meisner-Technik ist ein meisterhaftes Werkzeug, um den modernen Schauspieler zu führen. Wenn der Schauspieler sie am dringendsten braucht – ob aus einem Gefühl der Verlorenheit heraus oder vor einer schwer fassbaren Erkenntnis –, kehren glücklicherweise William Espers Worte wie Musik von irgendwo tief in der Erinnerung zurück. Begeben Sie sich auf die Reise durch dieses Buch und Sie werden verstehen, warum.«
RICHARD SCHIFF
»Bill Esper hat mein Leben verändert. Mir wurde immer wieder gesagt, dass ich talentiert sei. Aber das hat mir Angst gemacht, da ich keine Kontrolle über mein Talent hatte. Was ist, wenn es sich nicht zeigte? Nach meinem Studium bei Bill verfügte ich über die Werkzeuge und Techniken, um herausragende Leistungen zu erbringen, unabhängig von Talent, Inspiration und sogar, wenn ich nicht in Stimmung wäre. Seine Schauspielmethode liefert konstante Ergebnisse.«
TONYA PINKINS
»Der Unterricht bei Bill ist von unschätzbarem Wert. Er half mir, für mein Handwerk einen Wegweiser zu finden, dem ich auf meiner Reise als Schauspieler folgte. Ich werde Bill immer dankbar sein für die Weisheit und den Sachverstand, die er mit uns geteilt hat.«
DULÉ HILL
»William Esper gilt seit langem als Sanford Meisners authentischster Schützling. Kunst und Handwerk des Schauspielers verdeutlicht nicht nur Meisners Theorie und Praxis, sondern bestätigt auch Espers eigenes Ansehen als einer der führenden Schauspiellehrer Amerikas. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die die Entwicklung eines Schauspielers lenken.«
J. MICHAEL MILLER
(Gründer des Actors Center)
»Es ist eine Freude, Bill Espers Buch zu lesen. Es erinnert mich daran, was für ein Privileg es ist, Schauspieler zu sein … Sein Buch ist äußerst inspirierend und eine brillante Beschreibung der Meisner-Technik. Bei allem Respekt gegenüber meinem geliebten Sandy, es ist meiner Ansicht nach sogar besser als Sandys eigenes Buch, weil es Übungen beinhaltet, die Sandy liebte und lehrte, aber nicht in sein Buch aufnahm … Bill Esper hat außergewöhnliche Arbeit geleistet.«
MARY STEENBURGEN
»Bill Esper war in der Lage, mir wie kein anderer Lehrer den schrittweisen Prozess der Verinnerlichung der Werkzeuge zu vermitteln, die erforderlich sind, um eine Figur erfolgreich darzustellen, eine Szene zu ergründen und Emotionen zu nutzen, zu kontrollieren und einzusetzen. Ich verdanke ihm den Erfolg, den ich heute habe. Er ist eine der wertvollsten Quellen unseres Landes für Schauspieler und die Theaterkunst.«
PATRICIA HEATON
Für Suzanne, Michael und Shannon
Vorbemerkung von André Bolouri
Vorwort von David Mamet
Prolog
Bills Klasse
1Beginne neu: Leere deine Tasse
2Die erste Übung: Hast du gehört, was er gesagt hat?
3Die Wiederholung wird fortgeführt: Hast du wirklich gehört, was er tatsächlich gesagt hat?
4Konzentration entwickeln
5Wie man absolut alles rechtfertigt
6Gürte dich nicht, um zu handeln; öffne dich, um zu empfangen
7Ziele und Erwartungen: Überleg dir gut, was du willst
8Handlungsprobleme: Erwecke den Kriminellen in dir
9Szenenarbeit: Private Gespräche – Textannäherung und das Annehmen von Impulsen
10Abschied von der Wiederholung: Tu so lange nichts, bis etwas passiert, das dich zum Handeln zwingt
11Tagträume, Fantasien und dein Innenleben: Die emotionale Vorbereitung
12Beziehungen: Ich weiß, dass er dein Bruder ist, aber wer ist er wirklich?
13Die häusliche Übung: Wie sieht’s zu Hause aus?
14Die zweite Runde der Szenenarbeit: Vertiefe dich in den Text
15Abschließende Fragen: Geschafft! Wie geht es jetzt weiter?
Dank
Glossar
Als ich vor mehr als zehn Jahren zu William Esper ins Studio kam, hielt ich mich für einen voll ausgebildeten Schauspieler. Mir war so gut wie jede gängige Technik bekannt, ich hatte mich gründlich mit Stanislawski auseinandergesetzt – bzw. mit dem, was die verschiedenen Lehrer darunter verstanden –, habe ausgiebig nach Michael Tschechow trainiert und zahlreiche Workshops besucht, u. a. bei Keith Johnstone und Yoshi Oida. Einige Zeit habe ich nach Strasbergs »Method« gearbeitet, mich an Grotowski versucht und alles an Literatur verschlungen, was es zum Thema Schauspielen gab, hatte immer wieder versucht, Peter Brooks »leeren Raum« zu füllen und sein »offenes Geheimnis« zu durchdringen.
Und obwohl ich so viel tat, um das Wesen der Schauspielkunst zu begreifen, wurde ich nie das Gefühl los, dass der Zufall meine Vorbereitung und mein Spiel bestimmte – das Resultat war Stückwerk, im besten Fall eine gute Collage. Mir fehlte die Sicherheit, die auf einem soliden Fundament gründet und eine freie Entfaltung ermöglicht. Mir fehlte auch die Anleitung zum Erlernen eines Handwerks, mit dessen Hilfe ich mein künstlerisches Ausdrucksvermögen hätte weiterentwickeln können. Doch das sollte sich ändern. In den zwei Jahren meines Studiums bei William Esper setzte ich mich intensiv mit der von Sanford Meisner entwickelten Technik auseinander und trainierte, trainierte, trainierte – bis ich schließlich eine künstlerische Befreiung erlebte. Mein bis dahin bemühtes Spiel wurde leicht und wahrhaftig. Ich hatte ein Handwerk erlernt, das mir zu Freiheit im Spiel und Freude am Spiel verhalf. Ich hatte gelernt, was eine gute Vorbereitung ist und im Moment des Spielens loszulassen, der Vorbereitung und dem Reagieren im Moment zu vertrauen.
Ein nicht zu gering einzuschätzender Anteil an der gewonnenen Freiheit ging auch auf ein neu verinnerlichtes Verständnis zurück: Im Englischen bedeutet to act handeln und actor Handelnder.
Im Zentrum der Meisner-Technik steht das Handeln unter imaginären Gegebenheiten. Ehrliches Verhalten und wahrhaftige Gefühle sind die Folge des wirklichen Handelns. Kontext, Beziehung, Ziel etc. bestimmen das Verhalten.
Was genau damit gemeint ist und wie interessierte Akteure diese Technik erlernen und anwenden können, um ihr Potential zu entfalten, davon erzählt dieses Buch. Es wird Ihnen zu größerer Freiheit, zu Selbstsicherheit, Selbstvertrauen und nicht zuletzt zur Freude am Spiel verhelfen.
André Bolouri
André Bolouri studierte von 2008 bis 2010 bei William Esper in New York. Seit 2010 ist er künstlerischer Leiter des Meisner-Jahresprogramms in seinem Berliner Studio (www.studio-ab.de), wo er die Meisner-Technik lehrt. Seit 2000 arbeitet er regelmäßig mit einem internationalen Ensemble in Kalifornien, das klassische Theaterstücke auf die Bühne bringt. Von 2005 bis 2008 war er Leiter dieses Theaterensembles. In den Jahren davor arbeitete er als Schauspieler und Regieassistent, u. a. bei Yoshi Oida. Seine Grundausbildung erhielt er von 1995 bis 1998 an der Fritz-Kirchhoff-Schauspielschule (Der Kreis) in Berlin.
Vor vierzig Jahren hatte ich das Glück, während meines Studiums an der Neighborhood Playhouse School einem großen Lehrer zu begegnen.
Sanford Meisner war der Leiter der Schule, und wir alle nahmen Unterricht bei ihm; der große Lehrer aber war Bill Esper. Erwähnt man seinen Namen gegenüber seinen Schülern aus den vergangenen Jahrzehnten, strahlen ihre Augen.
Ich lese sein wundervolles Buch und werde zurückversetzt in meine Studienzeit – dieselben Worte, die gleichen sokratischen Fragen, sanft und leicht, die die Schüler zu einem tieferen Verständnis einladen.
Ich habe mein Leben damit verbracht, mit Schauspielern zu arbeiten. Dazu braucht man nur einige wesentliche Werkzeuge, die zu beherrschen die herausfordernde Aufgabe eines Lebens ist: geduldig sein, konkret sein, prägnant sein, ermutigen, vorschlagen, loben, zuhören. Zum ersten Mal habe ich diese Werkzeuge durch Bill Esper kennengelernt, und ich bin sehr dankbar dafür.
David Mamet
David Mamet, geboren 1947 in Chicago, ist ein international erfolgreicher Dramatiker, Drehbuchautor und Regisseur.
Wenn einer wirklich Meister einer Kunst sein möchte, reicht technische Kenntnis nicht aus. Man muss die Techniken transzendieren, damit die Kunst eine »kunstlose Kunst« wird, die dem Unbewussten entspringt.
ZEN-MEISTER D. T. SUZUKI
In meinem letzten Jahr am College nahm mich ein Theaterlehrer zur Seite und sagte: »Ich weiß, dass du Schauspieler werden willst und du hast viel Talent. Aber Talent ist wie Wasser. Ohne ein Gefäß ist es nutzlos.«
»Was ist das richtige Gefäß für Talent?«, fragte ich.
Mein Lehrer antwortete: »Technik.«
»Gut«, sagte ich, »dann lerne ich Technik. Wohin muss ich dafür gehen?«
»Wenn du dir schon die Mühe machst, lernst du besser bei den Besten und studierst bei einem Meisterlehrer.«
»Sagen Sie mir, wo es solche Meisterlehrer gibt, und ich lerne bei ihnen«, sagte ich. Und so kam es, dass ich mir Tage später das Auto eines Freundes borgte und zur Rutgers University in New Brunswick, New Jersey, fuhr, zu der die Mason Gross School of the Arts gehörte, um William (Bill) Esper zu treffen.
Er war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Vermutlich hatte ich mir einen Meisterlehrer für Schauspiel als flotte Erscheinung mit Baskenmütze und Mephisto-Ziegenbärtchen vorgestellt. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, einen freundlichen, ruhigen Mann mit graumeliertem Haar zu sehen, der mich in sein enges Büro der Mason Gross School winkte. Das war der berühmte William Esper? Unmöglich. Dieser Mann war ein ganz normaler Mensch, mit einem sauber gestutzten Kinnbart und durchdringenden Augen hinter einer Brille.
Wir haben uns ungefähr fünfundvierzig Minuten unterhalten, und ich bin mir sicher, dass ich mich viel zu sehr darum bemüht habe, einen guten Eindruck zu hinterlassen, denn ehrlicherweise kann ich mich an kein einziges Wort von Bill Esper erinnern. Außer an eine Sache: Gegen Ende unseres Gesprächs fragte mich Bill: »Warum willst du gerade hierher kommen? Warum willst du bei mir studieren?«
Ich sagte: »Ich habe die Meisner-Technik ein wenig am College studiert und sie hat mir sehr geholfen. Jetzt will ich sie von Grund auf lernen.«
Bill antwortete nicht. Er saß einfach nur da und sah mich an. Schließlich sagte er sehr leise: »Wenn du hierherkommst, wirst du nicht die Meisner-Technik lernen. Du wirst meine Technik lernen. Die William-Esper-Technik. Und, so Gott will, verlässt du den Unterricht, wenn du hier fertig bist, mit deiner eigenen Technik. Verstehst du das?«
Das habe ich nicht. Nicht wirklich. Aber ich war jung. Ich log. Ich nickte und sagte: »Ja.«
***
Jetzt, mehr als zehn Jahre später, bat mich Bill, ihn zu besuchen. Die Tür zu seinem Studio öffnet sich und ich durchschreite einen kleinen Vorraum mit rot gestrichenen Wänden, der direkt in sein Büro übergeht. Es ist ein enges, vollgestopftes, kleines Zimmer, und das Erste, was mir auffällt, ist der Metallschirmständer hinter der Tür. Mit drei Regenschirmen, einem lädierten Varieté-Spazierstock, einem Louisville-Baseballhandschuh und einem Florett. Das ist sicherlich das Zimmer eines Schauspielers.
Ich blicke auf. Bücherregale bedecken die Wand hinter Bills Schreibtisch vom Boden bis zur Decke. Die Holzbretter biegen sich unter dem Gewicht seiner Bibliothek. Die Regale sind an unmöglichen Stellen mit Spiralheften vollgestopft. Aktenordner ragen hervor wie ausgestreckte Zungen, jeder zum Platzen voll mit scheinbar lebenslang hingekritzelten Überlegungen. Krimskrams aus aller Welt findet sich ebenfalls in den Regalen. Manches davon hat früher wohl als Requisite in einem Stück gedient: ein mit Glassteinen besetztes Lederarmband, ein Haarschmuck aus Federn, eine weiße Flötenvase mit einer einzigen Seidenrose, die wie ein leuchtend roter Komet daraus hervorbricht. Ein winziger Blechkasten steht neben einer abgegriffenen, blau gebundenen Ausgabe von Webster’s Unabridged English Dictionary. Hier und da stehen geschnitzte Holzpferde – sie scheinen als kleine Wächter dieser vielseitigen Bibliothek zu dienen.
Mein Lehrer sitzt hinter seinem überfüllten Schreibtisch und liest die Tageszeitung. Er schaut auf. »Ich hoffe, das ist ein guter Ort für uns, um zu arbeiten«, sagt er. Keine weiteren einleitenden Worte, obwohl wir uns seit Jahren nicht gesehen haben.
»Es ist in Ordnung für mich«, sage ich. Dieses Büro ist offensichtlich eine Zufluchtsstätte für die Fantasie und damit ein geeigneter Ort, um mit der anstehenden Aufgabe zu beginnen. »Ist das für dich in Ordnung?«
Bill grinst. »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe noch nie ein Buch geschrieben.«
»Es ist einfach«, sage ich, »wenn man weiß, wo man anfangen will. Erst einmal sollten wir dich vorstellen.« Ich nehme ein Aufnahmegerät aus meiner Tasche, schalte es ein und stelle es auf Espers Schreibtisch. »Doch zunächst, warum willst du dieses Buch schreiben? Was möchtest du sagen?«
Bill denkt lange nach. Dann sagt er: »Ich habe das Glück gehabt, die letzten vierzig Jahre meines Lebens der Fortsetzung von Sanford Meisners Vermächtnis zu widmen. In dieser Zeit war es ein großes Vergnügen – und faszinierend – für mich, seine Technik zu verfeinern und in einigen Fällen zu erweitern. Ich wurde bei Sandy siebzehn Jahre lang ausgebildet, als er auf der Höhe seiner Karriere war. Dann habe ich fast dreißig weitere Jahre daran gearbeitet, mit seiner Technik zu experimentieren, mehr aus ihr herauszuholen und sie in Bereichen anzuwenden, in denen es Sandy nicht möglich war, zum Beispiel bei den klassischen Werken, Stücken mit gehobener Sprache. Sandy hat Stil und Theatralik geliebt, aber er hatte nie die Zeit, sich diesem Gebiet als Lehrer intensiver zu widmen.«
»Lass mich für einen Moment den Advocatus Diaboli spielen«, sage ich. »Es gibt da draußen jede Menge Schauspiellehrer1. Was ist so besonders an dem, was du zu sagen hast?«
Bill nickt. »Die meisten Leute, die heutzutage von sich behaupten, Schauspiellehrer zu sein, nennen sich so, weil sie Schauspielern, die dringend echte Anleitung brauchen, ein paar Hinweise und Anekdoten anbieten. Das betrachte ich nicht als Unterricht. So wie ich es sehe, haben nur sehr wenige das getan, was Lee Strasberg und Meisner getan haben; sehr wenige Lehrer haben einen konkreten, schrittweisen Ansatz entwickelt, um einen wirklich kreativen Schauspieler auszubilden – ein System, das den Künstler als Rohstoff verwendet und die Fähigkeiten aufbaut, die er braucht, um sich in seiner Kunst hervorzutun.
Handwerk – Technik, wenn man so will – ist von entscheidender Bedeutung für die Kunst, aber so viele Leute verstehen das nicht. Das größte Missverständnis, das ich über Schauspieltechnik höre, ist, dass sie das Talent des Künstlers blockiert. Lächerlich! Letztlich schränkt Technik die Instinkte des Künstlers nicht ein, sondern befreit sie.«
»Was hat das mit der Meisner-Technik zu tun?«
»Schauspielen zu lernen ist wie ein Haus zu bauen. Zuerst muss man ein Grundstück suchen, auf dem man bauen will, und auf dem Gelände Unebenheiten einebnen. Dann muss man ein gutes Fundament bauen und es wind- und wetterfest machen. Das sind die allerersten Schritte; vielleicht sind es auch die wichtigsten. Wird das Fundament des Hauses nicht richtig gelegt, bricht das ganze Gebäude beim ersten kräftigen Wind unter dem eigenen Gewicht zusammen. Bei der Meisner-Technik halten wir an dieser Analogie fest, indem wir eine Reihe von Übungen durchführen, die das Fundament schaffen, einen stabilen Boden, auf dem wir unser Handwerk aufbauen.«
»In der Regel arbeitest du mit Schauspielern über einen Zeitraum von zwei Jahren. Wie legst du das Fundament für dieses Training?«, frage ich.
»Mit Hilfe der Meisner-Technik«, sagt Bill, »verbringen meine Schüler das ganze erste Jahr ihrer Ausbildung damit, sich zu wahrheitsgetreuen ›Schauspielinstrumenten‹ zu entwickeln. Wenn man will, könnte man sagen, dass das erste Jahr dazu dient, den Schauspieler in den Grundfertigkeiten zu schulen, die für professionelles Schauspielen notwendig sind.«
»Lass mich noch einmal Advocatus Diaboli spielen. Viele Schulen betrachten Stimme, Sprechen und Bewegung als die Grundfertigkeiten zum Schauspielen. Was glaubst du?«
Bill winkt ab. »Stimme, Sprechen und Bewegung sind äußere Fähigkeiten. Sehr wichtig zum Schauspielen, ja. Aber nicht so wichtig, dass man dafür das Innenleben des Schauspielers vernachlässigt – seinen emotionalen Kern. Ein Schauspieler ohne emotionalen Kern ist eine Pappfigur und kein menschliches Wesen.
Heutzutage lautet der häufigste Ratschlag für einen jungen Schauspieler: ›Sei du selbst.‹ Natürlich muss der Schauspieler die nächste unvermeidliche Frage stellen: ›Wer bin ich?‹ Solange ein Schauspieler nicht von seinem eigenen inneren, wahren Kern aus arbeitet, wird meiner Ansicht nach alles Stimm-, Sprech- und Bewegungstraining auf der Welt nur eine hochqualifizierte Marionette hervorbringen. Ich will aber keinen Automaten schulen. Ich will Schauspieler ausbilden, die einzigartig sind! Die lebendig sind!
Maler schaffen ihre Kunst mit Pinsel, Leinwand und Farbtönen. Bildhauer arbeiten mit Ton und Bronze, Stein und Gips. Schriftsteller verwenden Stift und Papier – neuerdings benutzen sie Computer. Musiker haben ihre Instrumente. Aber was verwendet ein Schauspieler, um seine Kunst zu schaffen? Einige würden sagen: ›Nichts‹, aber das stimmt nicht. Genau genommen hat der Schauspieler das komplizierteste Werkzeug von allen – sich selbst! Seine Erfahrungen, seine Vorstellungskraft, seine Sensibilität. Seinen physischen Körper und seine Beobachtungen. Alles, was die Summe des Menschseins einer Person ausmacht, ist Teil des Instruments eines Schauspielers. Wie Eleonora Duse sagte: ›Alles, was ich als Künstlerin zu bieten habe, ist die Offenbarung meiner Seele.‹«
»Das hört sich sehr nach Stanislawski an«, sage ich. »Warum nicht einfach seine Lehre anwenden?«
»Aus verschiedenen Gründen«, sagt Bill. »Stanislawskis Methode zu unterrichten funktioniert nicht bei zeitgenössischen Schauspielern. Die Realitäten, mit denen Schauspieler des 21. Jahrhunderts konfrontiert sind, unterscheiden sich völlig von denen der russischen Schauspieler des 19. Jahrhunderts. In Stanislawskis Welt konnten Schauspieler ein Stück drei Jahre lang proben, wenn sie es wollten. Moderne Schauspieler müssen ihre Arbeit jedoch ständig an die Anforderungen der verschiedenen Medien anpassen, und das unter den Beschränkungen unglaublich komprimierter Probenzeiten. Das gilt insbesondere für die Film- und Fernsehindustrie, wo sich Schauspieler glücklich schätzen können, wenn sie drei Minuten zum Proben bekommen, bevor die Kamera läuft. So, wie es im Moment aussieht, werden Spielfilme oft in 28 Tagen oder weniger gedreht. Und der Druck beim Fernsehen ist sogar noch größer.
Einer der Gründe, warum ich so fest daran glaube, dass die Meisner-Technik der beste Ansatz für die Schauspielausbildung ist, ist der, dass sie auf jede Herausforderung angewendet werden kann, mit denen ein Schauspieler konfrontiert wird. Sie bringt Schauspieler hervor, die darstellerische Leistungen von hoher Qualität erbringen – egal in welchem Medium.
Die Kunst des Schauspielens befindet sich seit ihrem Beginn in einem ständigen Wandel. Viel hat mit der Entwicklung der Gesellschaft zu tun, aber ein großer Teil hat – interessanterweise – mit Technologie zu tun. So wurden zum Beispiel im 19. Jahrhundert Schauspieler ausgebildet, um in großen Theatern zu spielen; sie arbeiteten daran, laut und deutlich zu sprechen und ein Repertoire an übertriebenen Gesten zu entwickeln, die ihr Gefühlsleben bis in die letzten Reihen eines großen, überfüllten Theaters transportierten. Dann, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde der Stummfilm ein rentabler Markt für Schauspieler und plötzlich mussten sie das Problem, ohne Ton zu spielen, überwinden. Mit dem Tonfilm sahen sich Schauspieler massiven Fragen bezüglich Subtilität und Aufrichtigkeit im Film konfrontiert.
Als ich in den Fünfzigerjahren bei Meisner studiert habe, kam gerade das Fernsehen als Medium auf. Schau dir an, wie viele Schauspieler heute fürs Fernsehen arbeiten. Dann begründete das Guthrie Theater 1963 die regional theater2movement. Plötzlich gab es einen enormen Bedarf an amerikanischen Schauspielern, die mit Sprache und Zeitstil der Klassiker umgehen konnten, was enorme schauspielerische Herausforderungen mit sich brachte.«
»Aber bereitet nicht jede Art von Schauspieltraining auf diese Medien vor?«
Bill schüttelt den Kopf. »Nein. Nicht im Geringsten. Heute gibt es, ganz gleich welchen Weg jemand einschlägt, um in die Schauspielkunst einzutauchen, irgendwo eine Schule, die eine Gebühr verlangt und ihre Tore öffnet. Aber sind ihre Absolventen genauso versiert im Bereich Film und Fernsehen wie für klassisches Repertoiretheater? Selten. Einfach, weil die Systeme, die sie anwenden, nicht so klar organisiert sind wie die von Meisner. Meine Vision eines gut ausgebildeten Schauspielers ist jemand, der seine Ausbildung gleichermaßen auf einen zeitgenössischen Film oder eine Bühnenproduktion von Shakespeare anwenden kann. Ein Schauspieler, der Euripides, Shaw, Brecht und O’Neill spielen kann und sich dann umdreht und eine Vertragsrolle in einer Soap-Opera übernimmt.«
»Das ist ziemlich viel verlangt.«
Bill schaut mich an. »Das ist es mit Sicherheit.«
»Aber warum ein weiteres Buch zur Meisner-Technik schreiben? Reichen Sandys Ausführungen nicht?«
Bill zieht die Augenbrauen hoch. »Sandy hat ein wunderbares Buch geschrieben. Aber wegen seiner begrenzten Zeit und Energie ist es unvollständig. Es gibt viele wichtige Aspekte seiner Technik, die er in seinem Buch Sanford Meisner on Acting (Schauspielen. Die Sanford-Meisner-Technik) nicht ansprechen konnte. Ich möchte diese nicht erwähnten Bereiche untersuchen. Auch hat die Verbreitung der Meisner-Technik zu ihrer Verwässerung geführt. Überall im Land behaupten Lehrer, authentische Versionen von Sandys Arbeit zu unterrichten, was nicht der Fall ist. Eine Schwierigkeit der Meisner-Technik ist es, dass die Anfangsübungen leicht zu lernen und zu lehren sind. Das zieht viele unqualifizierte Personen an. Sie führen verschiedene ›Wiederholungsübungen‹ (Repetition Excercises) aus und behaupten, Meisners Arbeit zu unterrichten, ohne mit den nächsten Schritten fortzufahren, die alle notwendig sind, um wirklich versierte Schauspieler auszubilden, die fähig sind, Figuren mit einem tiefen und überzeugenden Innenleben zu erschaffen.«
Ich räuspere mich, blicke schnell zur Wand: »Bill, ich muss dir etwas gestehen.«
Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie er dasitzt und wartet. Geduldig. Bill Esper hat die Sprechgewohnheiten eines Dichters. Er sagt nur die Wörter, die wesentlich sind, und fühlt sich unendlich wohl in der Stille. Hätte er eine Karriere als Schriftsteller verfolgt anstatt der eines Schauspielers, wäre er wohl ein lausiger Autor von Groschenromanen geworden, aber seine Haiku wären atemberaubend gewesen.
»Ich habe angefangen zu unterrichten.«
Bill spitzt die Ohren. Wie ich sehe, gefällt ihm das sehr.
»Ausgezeichnet!«, sagt er. »Dass du das tun würdest, habe ich mir schon immer gedacht.«
»Es ist nicht ausgezeichnet«, schimpfe ich. Meine Reaktion lässt ihn kalt. Er sagt nichts dazu. An seinem Blick kann ich sehen, dass er mein Problem bereits intuitiv erfasst hat: Es ist für mich unglaublich frustrierend. »Je mehr ich spiele und unterrichte, desto unsicherer bin ich mir darüber, warum ich es tue.«
»Es braucht Zeit, ein Gefühl dafür zu entwickeln«, sagt Bill.
»Ich mache es seit elf Jahren.«
Er lacht. »Besuch mich in dreißig Jahren wieder. Dann werden wir sehen, was du gelernt hast.« Aber dann nickt er. »Das ist gut. Ich will ein Buch über das Unterrichten von Schauspielern schreiben. Du willst mehr über das Unterrichten von Schauspielern wissen. Warum kommst du nicht morgen vorbei? Ich habe einen neuen Kurs, der gerade startet. Wir fangen ganz am Anfang an und arbeiten uns durch den ganzen Prozess.«
»Das klingt gut«, sage ich. »Wirklich. Das hört sich großartig an.«
Bill lächelt.
Die nächsten anderthalb Jahre beobachtete ich Bill beim Unterrichten seiner Erstsemester und arbeitete mit ihm an diesem Buch. Wir waren uns einig, dass wahrscheinlich kein einzelner Kurs die Vielzahl unterschiedlicher Situationen, die in einer Klasse entstehen können, berücksichtigen oder die vielen Möglichkeiten aufzeigen würde, die einzelnen Schüler bei ihren spezifischen Problemen helfen können. Stattdessen haben wir einen Bericht mit repräsentativen Informationen zum ersten Jahrgang mit den allgemeinen Typen von Studenten und Problemen erstellt, denen Bill über die Jahre begegnet ist. Keiner der in diesem Buch beschriebenen Schüler verkörpert eine tatsächliche Person. Wir haben auf meine Beobachtungen und Bills jahrzehntelange Unterrichtserfahrung zurückgegriffen, um die Unterrichtssituation wiederherzustellen und dem Leser eine aufschlussreiche Darstellung der Technik in der Praxis zu geben.
———
1Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden meist die männliche Form verwendet, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. (Anm. d. Red.)
2regional theater: regional ansässiges Landestheater, das eine »Alternative zum Broadway-Theater« darstellt und u. a. klassische Stücke professionell auf die Bühne bringt. Das Guthrie Theater wurde 1963 in Minneapolis gegründet und hat sich diesem Konzept verschrieben. (Anm. d. Red.)
TREVOR –
ein drahtiger, junger Mann mit ansteckendem Grinsen und schwarzem Haar.
AMBER –
eine hübsche, blonde Engländerin mit einem Sinn für Ironie und Absurdität.
VANESSA –
eine zierliche Afro-Amerikanerin mit einer Energie, die ihrer Größe trotzt.
JOYCE –
eine ältere Frau, die jahrelang als Schauspielerin in einem regional theater arbeitete, bevor sie eine Auszeit nahm, um eine Familie zu gründen. Ihr Blick ist direkt, eine Spur von Ironie liegt auf ihren Lippen, was sie liebenswürdig und unfreundlich zugleich macht.
DOM –
ein schlanker, gutaussehender Mann mit dichtem schwarzen Haar und einem offenen Gesichtsausdruck, der gleichzeitig sehr direkt und verletzlich ist. Er hat große, dunkle, glänzende Augen.
KENNY –
ein spindeldürrer Mann mit blonden Locken, einer hämischen Stimme und einem ständigen Grinsen im Gesicht.
QUID –
ein junger, schlaksiger Afro-Amerikaner mit Schmollmund.
REG –
ein Afro-Amerikaner mit der Statur eines Zero Mostel, einem bleistiftdünnen Schnurrbart und einem sanften Südstaaten-Tonfall.
MIMI –
ein Fernsehstar einer Sitcom aus den Achtzigern.
TYRONE –
ein muskulöser Latino mit einer rauen Bassstimme. Er schläft wohl mit Hanteln in jeder Hand. Seine Oberarme sind dick wie Schinkenkeulen.
JON –
ein kleiner, zur Glatze neigender, rundlicher Mann aus Dänemark. »Meine Familie denkt, dass ich träume«, sagt er. »Sie sagen mir die ganze Zeit: ›Du wirst niemals Schauspieler. Werde erwachsen. Such dir einen richtigen Job. Wach endlich auf.‹«
CHERYL –
eine junge Frau aus einer ländlichen Region von Illinois. Mit großen Augen, hübsch.
MELISSA –
eine große, gelenkige Frau mit der Figur einer Tänzerin und hellen Augen in einem Gesicht, das eine Menge Geheimnisse birgt. Sie neigt dazu, ihre Gefühle zurückzuhalten.
DONNA –
eine Frau Ende zwanzig mit sehr dunklen Gesichtszügen. Sie hat einen hochbezahlten Job als Finanzberaterin aufgegeben, um zu ihrer ersten Liebe zurückzukehren: der Schauspielerei.
UMA –
stellen Sie sich Kathy Bates vor, aber jünger. Vielleicht ist sie osteuropäischer Herkunft. Uma wirkt schüchtern, aber sehr intelligent. Ihre Augen funkeln unter ihrem schwarzen Pony. Sie hört zu, spricht selten, nimmt alles auf.
ADAM –
hat die stämmige Figur eines professionellen Holzfällers. Wegen seiner weißblonden Haare und seiner hellblauen Augen scheint er skandinavischer Herkunft zu sein. Doch sein Nachname ist italienisch und er ist in Wirklichkeit Sizilianer.
Wie kommt es, dass Kinder so intelligent und Männer so dumm sind? Es muss wohl an der Ausbildung liegen.
ALEXANDRE DUMAS (DER ÄLTERE)
Sechzehn Schüler warten auf Bill, acht Männer und acht Frauen. Diese Schauspieler wurden sehr sorgfältig aufgrund ihres Talentes, ihres Potentials und ihrer Zielstrebigkeit ausgewählt. Sie kommen von überall her: aus den Vereinigten Staaten und aus anderen Teilen der Welt. Einige von ihnen haben eindrucksvolle Lebensläufe; andere haben bisher nur in kleineren Theatern gespielt. Viele von ihnen sind schon von unterschiedlichsten Lehrern unterrichtet worden, die alle verschiedene Herangehensweisen an das Handwerk des Schauspiels vertreten. Jeder dieser Schauspieler scheint talentiert zu sein. In den Aufnahmegesprächen zeigte sich allerdings, dass jeder seine speziellen Probleme und Blockaden hat, die ihn daran hindern, sein Talent voll auszuschöpfen.
Alle lächeln nervös, aber aufrichtig. Hier und dort stellen sie sich einander vor. Wir warten.
Die Wände des fensterlosen Studios sind in neutralem Grau gehalten, und es gibt nur eine Tür. Die Klasse sitzt auf Stühlen, die auf einem niedrigen Podest im hinteren Teil des Raums stehen, und sieht über einen freien Bereich hinweg auf diese Tür. Das Podest bildet die Zuschauerebene für die Schüler. Espers Tisch befindet sich seitlich – auch mit Blick auf die Spielfläche.
Auf dem nackten Boden gibt es nur zwei Matratzen auf niedrigen Bettgestellen, das eine an der linken, das andere an der rechten Wand. Ein Wandregal enthält eine Reihe von Requisiten: Schnapsflaschen, Vasen, Bücher, Küchenutensilien, Weihnachtsbeleuchtung, Kaffeetassen, eine Schreibmaschine wahrscheinlich aus den Vierzigern – alles für den allgemeinen Gebrauch.
Die Tür zu Studio C schwingt auf und Bill kommt herein. Alle sind sofort ruhig. Bill geht zielstrebig an seinen Tisch und brummt ein »Hallo«, das die Klasse begeistert zurückgibt. Er setzt sich an den Tisch, öffnet das nagelneue Klassenbuch und liest einige Sekunden darin. Dann, anscheinend zufrieden, blickt er auf und fängt an.
***
»Es war einmal ein Schüler, der unbedingt etwas über Zen wissen wollte. Also ging er zu dem Haus eines großen Zen-Meisters. In einem Moment untypischer Liebenswürdigkeit bat der Meister den Schüler einzutreten.
Sie setzten sich, um Tee zu trinken. Der Meister fragte den Schüler: ›Warum bist du gekommen?‹ Der Schüler öffnete den Mund und plapperte los. Es ergoss sich ein Strom von Worten: Zeugnisse seiner großen Neugier, seiner Leidenschaft, seines Verständnisses und seiner Verwirrung in Bezug auf Zen. Er redete und redete. Der Meister schloss kurz die Augen und machte sich an die Arbeit, um Tee zu kochen. Er stellte Teetassen hin, zerrieb die Teeblätter und kochte Wasser, während der Schüler weitersprach.
Der junge Mann schloss erst den Mund, als der Meister anfing, den Tee einzugießen. Der alte Mann füllte die Tasse des Schülers, bis der Tee über den Rand schwappte und kochend heiß über den ganzen Tisch floss. ›Um Himmels willen!‹, rief der Schüler. ›Was haben Sie getan?‹
Der alte Mann hielt inne und sagte: ›Dein Geist ist wie diese Teetasse. Wie kann ich sie füllen, wenn sie schon voll ist? Wenn du Zen lernen willst, musst du mir eine leere Tasse bringen.‹«
Bill sitzt da und beobachtet, wie die Klasse das aufnimmt.
»Jetzt sagt mir«, fragt er. »Warum seid ihr hier?«
Zuerst antwortet niemand. Dann sagt jemand aus der hintersten Reihe: »Um das Schauspielen zu lernen.«
Bill denkt darüber nach. »Ja, aber was ist Schauspielen genau? Wenn du es lernen willst, ist es gut zu wissen, was es ist.«
Keiner sagt etwas. Also sagt Bill: »Nehmen wir einmal an, ihr lauft in Manhattan herum und begegnet einem Marsmenschen. Einem waschechten Marsbewohner – einem Außerirdischen von einem anderen Planeten. Ihr wisst, dass er Marsianer ist, weil er ein kleines Männchen ist, mit grüner Haut und wackelnden Antennen auf dem Kopf.«
Ich schaue mich um. Alle Augen sind weit aufgerissen.
»Na klar, natürlich seid ihr ein bisschen neugierig, oder? Nehmen wir mal an, ihr unterhaltet euch mit diesem Typen. ›Wie ist das Leben so auf dem Mars?‹ – ›Oh, nicht schlecht. Und wie ist’s auf der Erde?‹ – etwa in der Art. Und irgendwann fragt der Marsianer: ›Und was machst du so? Ich meine, was ist dein Beruf?‹ Und du sagst ihm – stolz, wie ich hoffe: ›Ich bin Schauspieler.‹
Der Marsianer fragt: ›Wirklich? Schauspieler? Was ist das? Wir haben keine Schauspieler auf dem Mars.‹ Wie würdet ihr ihm erklären, was genau ein Schauspieler macht?«
Ein dünner, drahtiger junger Mann mit schwarzem Haar und ansteckendem Grinsen hebt die Hand. Dank der vorangegangenen Vorstellungsrunde weiß ich, dass er Trevor heißt. Bill zeigt auf ihn und Trevor sagt: »Schauspielen bedeutet, in einer Illusion zu leben.«
Bill zieht eine Augenbraue hoch. »Hm. Da bist auf der richtigen Spur. Wenn du Illusion sagst, nehme ich an, du versuchst etwas über Vorstellungskraft zu sagen, nicht wahr?«
Trevor denkt nach. Nickt.
»Gut. Weil Vorstellungskraft sehr wichtig für Schauspieler ist und wir sie häufig einsetzen werden. Aber lassen wir das erst einmal und kommen später darauf zurück. Wer hat noch eine Idee?«
Eine hübsche blonde Frau mit einem leichten britischen Akzent hebt die Hand. Sie stellt sich als Amber vor. Bill zeigt auf sie. »Also, was glaubst du? Was ist Schauspielen?«
»Schauspielen ist eine Art von Unterhaltung«, sagt sie.
Bill zuckt leicht zusammen: »Okay«, sagt er. »Aber das sind Freakshows auf Jahrmärkten, Krocketpartien und Wrestling auch. Genau betrachtet, ist Flohhüpfen auch eine Art von Unterhaltung. Ich hatte gehofft, wir könnten hier etwas Höheres anstreben. Ich möchte nicht unfreundlich sein, aber es sollte schon mehr sein als nur Unterhaltung. Viel mehr. Sonst wären wir alle Komiker, keine Künstler.«
Vanessa, eine zierliche Afro-Amerikanerin, sagt: »Wisst ihr, was ich dem Marsbewohner sagen würde? Ich würde ihm sagen, dass Schauspielen das Darstellen einer Figur aus einer Geschichte ist.«
Bill denkt nach. »Okay«, sagt er. »Aber lass mich das klarstellen. Die Geschichte, von der du sprichst, die findet doch auf der Bühne statt, oder? Also … ist sie echt?«
Vanessa denkt einen Moment nach. Dann schüttelt sie den Kopf.
»Nein, ist sie nicht«, sagt Bill. »Mit anderen Worten, es ist eine Arbeit der Vorstellungskraft. Und damit sind wir wieder bei der Vorstellungskraft.« Er blickt zu Trevor, der nickt. »Vielleicht halten wir fest, dass Schauspielen etwas mit der Vorstellungskraft zu tun haben muss.«
Einige Schüler fangen an, sich Notizen zu machen. Bill fährt fort: »Hier im Studio gibt es eine Arbeitsdefinition für Schauspielen. Diese Definition stammt direkt von meinem eigenen Lehrer, Sanford Meisner, und ich persönlich halte sie – nach vierzig Jahren Unterricht – noch immer für richtig. Sandy sagte: ›Schauspielen ist wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten.‹3 Versteht ihr das?«
Sechzehn Köpfe gehen auf und ab, während sich die Klasse über ihre Notizbücher beugt.
Bill kratzt sich am Kinn und runzelt die Stirn. Dann fährt er fort: »Also gut. Dann lasst uns das ein bisschen untersuchen. Schauspielen ist wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten. Schön. Aber bevor wir weitergehen, lasst uns diese Definition zunächst einmal untersuchen. Mir scheint, es gibt zwei wichtige Dinge in dieser Definition, die berücksichtigt werden müssen. Welche sind das?«
»Wahrhaftig zu leben«, sagt jemand in der ersten Reihe.
»Richtig«, sagt Bill, »das ist ganz wichtig. Was noch?«
»Das Imaginäre. Die Vorstellungskraft«, sagt eine weibliche Stimme hinter mir.
»Gut«, sagt Bill. »Lasst uns versuchen, diese Dinge aufzuzeigen.«
Bill blickt zur Studiotür, als erwarte er jemanden. Dann sagt er: »Wahrheit ist so wichtig für die Kunst – denn beurteilen wir die Dinge nicht danach, wie wir sie sehen? Denkt darüber nach. Ist einer von euch jemals aus einem Theater oder einem Film gekommen und hat gesagt, ›Oh, das hat mir wirklich gefallen! Das war so verlogen! Ich habe nicht einen Moment daran geglaubt!‹«
Alle lachen. Auch Bill kichert: »Wahrheit ist die Essenz der Kunst. Ohne Wahrheit kann ein Kunstwerk den menschlichen Geist nicht berühren.« Jemand in der hinteren Reihe brummt zustimmend, und Bill fährt fort: »Schauen wir uns jetzt den zweiten Teil der Definition an, den imaginären Teil. Die Fantasie ist von zentraler Bedeutung für Schauspieler, da sich alles, was wir tun, in der Welt der Fantasie abspielt.
Wenn ihr euch ein Stück anseht – Hamlet zum Beispiel –, wisst ihr, dass der in Schwarz gekleidete Mann nicht wirklich der Prinz von Dänemark ist. Dass die Frau, die ihren Schwager heiratet, nicht wirklich die Königin ist. Tatsache ist, dass ihr nicht einmal in Dänemark seid. Ihr sitzt im zweiten Rang eines Broadway-Theaters in der Vierundfünfzigsten Straße, und das Ganze ist ein Lügengewebe, ein Fantasiegebilde von William Shakespeare. Wenn also alles Lüge ist, wie können wir sagen, dass es wahr ist?«
Amber blickt auf. »Weil wir vergessen, dass es eine Lüge ist, wenn die Schauspieler gut sind.«
Bill nickt. »Stimmt. Wenn die Schauspieler gut sind, beginnen wir auf das Bühnengeschehen so zu reagieren, als ob es real wäre, als ob wir einem tatsächlichen Ereignis zuschauten. Weißt du, warum das so ist?«
Amber denkt nach und schüttelt dann den Kopf.
»Weil nämlich, wenn die Schauspieler wirklich gut sind, das, was wir sehen, nicht vorgetäuscht ist. Es ist Wirklichkeit. Wisst ihr, warum? Hemingway sagte einmal: ›Alle guten Bücher haben eine Sache gemeinsam – sie sind wahrer, als wenn sie wirklich passiert wären.‹ Ist es nicht genau das, worüber wir hier gerade reden?«
Alle schreiben mit. Bill fährt fort: »Kennt ihr den großen Harold Clurman? Er war ein angesehener Kritiker, Regisseur und Lehrer, der maßgeblich an der Gründung des Group Theatre beteiligt war – das vielleicht wichtigste Theater, das wir in diesem Land je hatten. Eines seiner Bücher war eine Sammlung seiner Theaterkritiken mit dem Titel Lies Like Truth (Lügen wie Wahrheit). Ich liebe diesen Titel, weil er die Essenz des Theaters in drei einfachen Worten ausdrückt. Lügen wie Wahrheit. Das ist das Wesen allen guten Schauspielens: Illusion, die real ist. Fantasie, die wahr gemacht wird.«
Eine ältere Frau, Joyce, meldet sich. Mir fällt wieder ein, was Bill mir von ihr erzählt hat. Sie war einige Jahre recht erfolgreich in einem regional theater, bevor sie eine Pause einlegte, um eine Familie zu gründen: »Du meinst also, dass Schauspieler Lügner sind?«
Die Klasse lacht. Bill wendet sich ihr zu und lächelt: »Das ist in der Tat genau das, was ich sage.«
Die Klasse hört auf zu lachen.
»Ja, Schauspieler sind wunderbare Lügner. Sie bringen einen dazu, alles zu glauben, oder? Sie können einen davon überzeugen, dass sie gerade eine Million Dollar gewonnen haben oder dass ihre Mutter heute früh gestorben ist. Sie sprechen mit einem Akzent und lassen einen glauben, sie seien Deutsche, wenn sie in Wirklichkeit Australier sind. Sie sind wunderbare Lügner – aber der Unterschied ist: Ihre Lügen gründen immer auf Wahrheit und immer – immer! – dienen ihre Lügen der Kunst.«
Die Klasse schweigt. Nach einem längeren Moment fährt Bill fort.
»Ihr wisst, dass ich immer Gespräche mit den Schülern führe, bevor sie mit dem Unterricht bei mir beginnen. Oft frage ich: ›Hast du vorher schon einmal gespielt?‹ Manchmal sagt einer: ›Na ja, nein! Ich habe noch nie gespielt – weder in einem Theaterstück noch im Fernsehen oder in einem Film. Aber ich spiele ständig! Im Leben!‹ In Wirklichkeit meint er, dass er viel lügt. Dazu sage ich: ›Unsinn! Das ist nicht Schauspielen.‹ Weil Schauspielen nicht unter echten Lebensbedingungen stattfindet; es spielt sich innerhalb der Grenzen von imaginären Gegebenheiten ab.«
Bill macht eine nachdenkliche Pause: »Versteht ihr den Unterschied?«, fragt er.
Die Klasse nickt.
»Also, wir haben diese wunderbare Arbeitsdefinition für Schauspielen: Schauspielen ist wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten. Aber es gibt da ein Problem, oder nicht? Ihr seht das Problem, oder?«
Die Klasse starrt Bill mit ausdruckslosen Gesichtern an.
»Nun, es ist eine recht allgemeine Definition, oder nicht?«
Niemand antwortet.
»Ich zeige euch, was ich meine.« Bill zeigt auf einen der jungen Männer in der ersten Reihe. »Wie heißt du?«
Der junge Mann hat dichtes schwarzes Haar und einen offenen Gesichtsausdruck, der gleichzeitig alarmierend direkt und verletzlich ist. Er sagt: »Ich heiße Dom.«
»Okay, Dom«, sagt Bill. »Wie lautet unsere Definition für Schauspielen nochmal?«
Dom wiederholt: »Wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten.«
Bill lächelt. »Könntest du mir bitte einen Gefallen tun?«
Dom ist vorsichtig. »Klar.«
»Könntest du bitte nach vorne kommen und für alle ›wahrhaftig leben‹? Natürlich nur als Beispiel.«
Dom rührt sich nicht.
Bill beugt sich vor. »Gibt es ein Problem?«
»Ich kann … Ich meine … Ich …«
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Warum nicht?«
Verwirrung breitet sich auf Doms Gesicht aus. »… ›leben‹ …?«
Bill runzelt die Stirn. »Weißt du nicht, was ›leben‹ bedeutet?«
Dom müht sich mit der Frage für einen Moment ab, schüttelt aber schließlich den Kopf.
»Okay«, sagt Bill. »Das ist das Problem, über das ich gesprochen habe. Wir müssen das genau definieren, bevor wir weitermachen. Was bedeutet ›leben‹?«
Ein kurzer Blick in die Klasse zeigt mir, dass jeder versteht, worauf Bill hinauswill.
Bill sagt: »Dom, ich stelle dir jetzt mal eine Frage. Hast du heute gelebt? Du warst am Leben, nicht wahr? Heute Morgen, meine ich.«
Dom denkt nach und nickt sehr langsam.
Bill lächelt Dom an und fährt fort: »Okay. Gut zu wissen. Also, Dom, als du am Leben warst heute Morgen, was hast du gemacht?«
»Heute Morgen?«
»Bevor du hierhergekommen bist, ja.«
Dom denkt einen Moment lang nach. »Ich bin aufgestanden. Ich habe Frühstück gemacht. Ich habe es gegessen.«
Bill macht einen zufriedenen Eindruck. »Aha«, sagt er – als wollte er sagen, sprich weiter.
Dom blickt an die Decke, denkt nach: »Ich habe ein paar Anrufe gemacht. Ähm … dann habe ich die Zeitung geholt und die Jobanzeigen durchgesehen. Dann habe ich meine Telefonrechnung bezahlt, bin zur U-Bahnstation, habe eine Fahrkarte gekauft und bin hierhergekommen.«
Bill nickt zufrieden: »Gut. Also. Du hast diese ganzen Dinge gemacht, nicht wahr? Und vielleicht machst du morgen noch ein paar Dinge mehr. Vielleicht sehr viel mehr. Richtig?«
Dom zuckt mit den Schultern. »Muss ich. Ich brauche einen Job.«
Die Klasse lacht.
Bill lächelt: »Das kann ich verstehen. Aber hör zu. Vielleicht hast du die Frage, was ›leben‹ ist, schon beantwortet.«
Dom starrt ihn erwartungsvoll an.
»Du hast gesagt, dass du all diese Dinge getan hast und morgen noch ein paar Dinge mehr tun wirst. Also, vielleicht kann ›leben‹ definiert werden durch das, was du tust.«
Dom denkt nach und nickt. Das leuchtet ihm ein.
Bill schaut wieder die Klasse an: »Hört zu, das ist sehr wichtig. Wir ersetzen das Wort ›leben‹ mit ›handeln‹. Jetzt haben wir also: Schauspielen heißt handeln – wirklich tun – wahrhaftig unter imaginären Gegebenheiten.
Dieses Prinzip – die Realität des Handelns – ist das Fundament aller Schauspielkunst und der Grundpfeiler von Sanford Meisners ganzer Arbeit.4 Der Fokus unserer Arbeit wird also sein zu lernen, wirklich zu handeln oder etwas wirklich zu tun. Das ist unser erster Schritt auf dem Weg zur Schauspielkunst.«
Ein spindeldürrer Mann mit blonden Locken und einer hämischen Stimme ruft dazwischen. Es ist Kenny.
»Aber woher wissen wir, wann wir wirklich etwas tun statt … Du weißt schon.«
Bill legt den Kopf schief: »Statt etwas nicht zu tun? Statt etwas vorzutäuschen?«
»Ja.«
»Sag mal, wie viele Buchstaben haben dein Vor- und Nachname zusammen?«
»Was?«
»Ich habe gefragt, wie viele Buchstaben dein Name hat.«
Kenny sagt: »Weiß ich nicht.«
»Zähle sie für mich.«
Kenny sieht geflissentlich über Bill hinweg. Dann runzelt er die Stirn und fängt an, sich zu konzentrieren. Er formt die Buchstaben seines Namens mit dem Mund, während er mit den Fingern zählt. Schließlich sagt er: »Elf.«
Bill nickt: »Also hast du die Buchstaben wirklich gezählt? Oder hast du vorgetäuscht, sie zu zählen?«
Kenny überlegt: »Ich … Oh. Alles klar. Ich verstehe. Das ist der Unterschied.«
»Genau«, sagt Bill, »das ist der Unterschied. Jetzt möchte ich, dass ihr alle etwas versucht. Versucht euch an den Tag vor genau zwei Wochen zu erinnern. Ich möchte, dass ihr euch an diesen Tag erinnert … und erinnert euch an alles, was ihr gegessen habt.«
Sofort schweigt die Klasse. Nach einem kurzen Moment fragt Bill: »Wie viele von euch können sich erinnern?«
Ein paar Schüler heben die Hand. Die meisten jedoch nicht.
»Dann lasst mich Folgendes fragen: Auch wenn ihr euch nicht erinnern könnt, habt ihr wirklich versucht, euch zu erinnern? Oder habt ihr nur so getan?«
Alle murmeln: »Versucht. Wirklich versucht.«
»Dann ist es das, was wir wollen. Das ist die Realität des Handelns. Jetzt wollen wir etwas anderes hinzufügen. Von dort, wo ihr gerade sitzt, möchte ich, dass ihr alle einen Moment lang zuhört. Aber ihr müsst wirklich zuhören, denn der Klang, den ihr hören sollt, ist sehr weit weg. Ich möchte, dass ihr auf den Chor der Engel hört, die über euren Köpfen singen. Versucht zu hören, welches Lied sie singen.«
Wieder gespanntes Schweigen in der Klasse. Einige Augenblicke später fragt Bill: »Wer hat die Engel gehört?«
Keine Hand geht nach oben, also sagt Bill: »Das ist gut. Denn wenn ihr das getan hättet, müsste ich euch einige ziemlich starke Medikamente verordnen.«
Die Klasse lacht.
»Aber worauf ich hinauswill: Ist es wichtig, ob ihr sie gehört habt oder nicht?«
Ein schlaksiger Afro-Amerikaner mit Schmollmund meint: »Nein. Es ist nur wichtig, dass wir tatsächlich versucht haben zuzuhören.«
Bill nickt: »Genau. Wie heißt du?«
»Quid.«
»Quid, sehr gut. Würdest du mir einen Gefallen tun?«
Quid nickt.
»Es gab gestern Abend einen Unfall hier im Studio. Sehr bedauerlich. Ich glaube, da sind noch ein paar Blutflecken auf dem Bettlaken da drüben. Schau mal nach, ob du sie siehst.«
Quid blinzelt nervös bei dieser merkwürdigen Aufforderung, steht aber leichtfüßig von seinem Platz auf und geht zu dem Bett, auf das Bill gezeigt hat. Er untersucht schnell das Bettlaken und findet nichts. Dann schaut er genauer und sucht das Laken Zentimeter für Zentimeter ab. Immer noch nichts. Während wir zuschauen, zieht er das Bettgestell von der Wand und untersucht das Laken aus einem anderen Blickwinkel. Nichts. Dann zieht er das Laken von der Matratze ab und dreht es um, um die andere Seite zu prüfen; wieder sucht er den Stoff Zentimeter für Zentimeter ab. Er ist mittendrin in seiner Suche, als Bill schließlich fragt: »Findest du nichts?«
Quid schreckt aus seiner Konzentration hoch: »Was? Nein.«
Bill wendet sich wieder an die Klasse: »Natürlich nicht, denn die Blutflecken sind imaginär. Aber ist das wirklich wichtig?« Alle schütteln den Kopf: »Warum nicht?«
Adam hat die stämmige Figur eines professionellen Holzfällers. Ich habe sogar jemanden in Bills Büro sagen hören, dass er im College Football gespielt hat. Er scheint skandinavischer Herkunft zu sein, doch sein Nachname ist italienisch. In Wirklichkeit ist er Sizilianer. »Es ist nicht wichtig, dass da Blutflecken sind«, sagt Adam. »Sondern, dass er wirklich nach ihnen gesucht hat.«
»Das ist richtig«, sagt Bill. »Ich sage es noch einmal! Die Realität des Tuns ist die einzige und wichtigste Regel für wahrhaftiges Handeln. Es ist der Schlüssel, der es euch ermöglicht, die Tür zur imaginären Welt zu öffnen, sie zu betreten und dort wahrhaftig zu leben.
Wir wollen noch einmal auf die vorhin erwähnte Hamlet-Inszenierung zurückkommen. Kennt jeder das Stück?«
Ja, erklingt es unisono.
»Gut. Schauspieler sollten Hamlet kennen. Also sagt mir, worum geht es in dem Stück?«
Ein Afro-Amerikaner mit der Statur eines Zero Mostel, einem bleistiftdünnen Schnurrbart und einem sanften Südstaaten-Tonfall meldet sich.
Er heißt Reg. Er sagt: »Es geht um Leidenschaft, Schmerz und Rachsucht.«
Bill zuckt mit den Schultern: »Du hast mir eine Liste von Emotionen gegeben, aber ich möchte, dass du damit sehr vorsichtig bist. Viele Leute denken, dass Emotionen – Gefühle darstellen – die Eckpfeiler guter Schauspielkunst seien. Robert (Bobby) Lewis pflegte zu sagen: ›Wenn Schauspielen Weinen bedeutete, wäre meine Tante Tessie eine großartige Schauspielerin.‹«
Die Klasse lacht.
»Versuchen wir es noch einmal. Ihr kennt die Geschichte von Hamlet. Also lasst uns das Stück wie Schauspieler betrachten. Da gibt es diesen Prinzen in Dänemark. Was tut er in dem Stück?«
Kenny ruft: »Er sieht den Geist seines Vaters und hört das Geheimnis, das der Geist ihm mitteilt.«
»Richtig«, sagt Bill. »Was noch?«
Amber: »Er gibt vor, wahnsinnig zu sein.«
Kenny: »Er trennt sich von Ophelia.«
Reg: »Er stellt die Schauspieler ein, schreibt eigens ein Stück für sie und schult sie, es genau so zu spielen, wie er es möchte.«
»Sehr gut«, sagt Bill. »Weiter.«
Mimi, Fernsehstar einer Sitcom aus den Achtzigern: »Er denkt über Selbstmord nach. ›Sein oder Nichtsein!‹«
Trevor: »Er tötet Polonius.«
Kenny: »Oh! Und er legt die beiden anderen Typen rein, Rosenkranz und Güldenstern.«
»Das ist richtig«, sagt Bill. »Und so weiter und so fort. Also, Hamlet tut all diese Dinge. Deshalb muss der Schauspieler, der den Hamlet spielt, auch diese Dinge tun. Er muss wirklich unter den imaginären Gegebenheiten des Stücks handeln. Und wenn der Schauspieler all diese Dinge tut – wirklich handelt –, was passiert dann?«
»Er wird zu Hamlet«, sagt Dom leise.
»Noch nicht«, sagt Bill. »Aber es ist ein verdammt guter Anfang.«
***
Das Gespräch geht weiter. Sehr bald wird allen klar, dass, wenn Schauspielen mit der Realität des Handelns beginnt, sie alle ihr Leben lang bereits gehandelt haben.
Sie haben sich wirklich jeden Morgen ihre Schuhe zugebunden. Sie haben sich wirklich eine Tasse Kaffee gemacht. Wirklich ihre Rechnungen bezahlt. Wirklich Sex gehabt. Wirklich Filme angeschaut. Sich wirklich gefragt, wohin sie ihr Leben führen wird. Wirklich gearbeitet, um zu überleben. Wirklich das Bett gemacht, Wäsche gewaschen, und sie sind wirklich mit dem Hund spazieren gegangen.
Von dem Moment an, in dem wir den Mutterleib verlassen, verpflichten wir uns alle zu Handlungen. Wir handeln. Schauspieler handeln.5 Ja, es ist noch weit entfernt von Hamlet, vor allem weil keine dieser Handlungen unter imaginären Gegebenheiten ausgeführt wurde. Aber es waren nichtsdestotrotz Handlungen und daher – wie Bill gesagt hat – ein verdammt guter Anfang.
***
Bill erläutert seine Ansichten über das Schauspielen als Kunst: »Diese Arbeit hat ein Credo, ein Glaubensbekenntnis, wenn ihr so wollt. Ich glaube, dass Schauspielen in den besten Händen eine kreative Kunst wird, und dass wahre Spitzenleistung in der Praxis nur durch die Gesamtbeherrschung des technischen Handwerks erreicht werden kann. Das braucht leider Zeit, und Amerika ist ein Ort der Hast und Eile. In Amerika glauben wir, dass wir etwas dadurch gewinnen, wie schnell sich alles um uns bewegt. Jeden Tag, schneller und schneller. Aber was übersehen wir dabei?
In Japan gibt es eine wunderbare, uralte Form des Puppentheaters, das Bunraku. Diese Puppen kann man nicht mit europäischen Marionetten vergleichen. Bunraku-Puppen sind lebensgroße Nachbildungen von Menschen. Jede Puppe wird von drei Puppenspielern geführt, die – anders als europäische Puppenspieler – auf der Bühne für die Zuschauer zu sehen sind.
Eine Bunraku-Aufführung zu erleben ist eine unheimliche Erfahrung. Diese Puppen sind so lebensecht! Sie bewegen sich wie Menschen; sie haben sogar einen Gesichtsausdruck. Hinter ihnen stehen die schwarz gekleideten Puppenspieler – deutlich sichtbar. Sie bewegen sich um die Puppe wie griechische Schicksalsgöttinnen. Ein Puppenspieler bewegt Beine und Füße. Ein anderer bewegt Torso und Arme der Puppe. Der dritte kontrolliert den Kopf. Mit all diesen Händen am gleichen Instrument ist es leicht vorstellbar, dass es eine Menge Missverständnisse, Verwirrung und Disharmonie gibt. Aber weit gefehlt! Die Bewegungen der Bunraku-Künstler sind so synchron, dass man sofort vergisst, dass man einer Puppe zusieht. Bunraku verwandelt die hölzerne Puppe in weiches, lebendiges menschliches Fleisch. Eine unglaubliche Kunst.
Das erzähle ich euch, weil ihr wissen sollt – um Bunraku-Puppenspieler zu werden, müsst ihr zwanzig Jahre in die Lehre gehen!
Das Erste, was ein junger Lehrling lernt, ist, wie die Füße der Puppe bewegt werden. Dann – nach acht oder neun Jahren – geht er zu Torso, Armen und Händen über. Endlich, nach sehr, sehr langer Zeit, lernt er, den Kopf und das Gesicht der Puppe zu kontrollieren. Zu diesem Zeitpunkt ist er mit jeder Angewohnheit und Bewegung der Puppe bestens vertraut.«
Bill hält inne und richtet seinen Blick auf die Klasse: »Zwanzig Jahre, um eine Kunst zu lernen. Mein Gott! In unserem Land gehen wir davon aus, dass jemand in zwanzig Jahren vier bis fünf Mal den Beruf gewechselt hat. Wo liegt unser Fokus? Natürlich sind wir eine vergängliche Kultur. Aber nichts, was sich zu lernen lohnt, geht schnell. Das hat Sandy gesagt, und ich habe mich immer daran gehalten: Es dauert zwanzig Jahre, um ein Meister des Schauspiels zu werden.