Künstliche Intelligenz – das Ende der Kunst?. [Was bedeutet das alles?] - Catrin Misselhorn - E-Book

Künstliche Intelligenz – das Ende der Kunst?. [Was bedeutet das alles?] E-Book

Catrin Misselhorn

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Beschreibung

Mit Macht dringt die Künstliche Intelligenz nun auch in den Bereich der Kunst vor: Apps malen auf Knopfdruck Bilder verschiedenster Stil- und Kunstrichtungen, KI komponiert Sinfonien und Chatbots schreiben Gedichte.   Was bedeutet das für die Kunsttheorie und -Praxis? Müssen wir Kunst neu definieren? Wen oder was verstehen wir als Schöpfer der Kunst? Wie unterscheiden wir zwischen Original und Fälschung?   Catrin Misselhorn diskutiert in ihrem Essay diese brennenden Fragen. Geht es mit der Kunst zu Ende oder schlagen wir ein völlig neues Kapitel in der Geschichte der Kunst auf?

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Catrin Misselhorn

Künstliche Intelligenz – das Ende der Kunst?

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 14355

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962208-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014355-1

www.reclam.de

Inhalt

Hinführung

1. Wann kommt Kunst an ein Ende?

Das Ende der Kunst bei Hegel

Brillo Box als Ende der Kunst?

Eine Kunstdefinition

Kunst nach dem Ende der Kunst?

2. Autorschaft und ästhetische Verantwortung

Bedeutung und Interpretation

Realer oder hypothetischer Autor?

Ästhetische Verantwortung

3. Promptgenerierte Kunst

Kategoriale versus semantische Intentionen

Kunst auf Anweisung

KI-Kunst und Fotografie

Kollektive Autorschaft

4. Mensch oder KI – ein Unterschied für die ästhetische Erfahrung?

Was ist ästhetische Erfahrung?

Autoren als Freunde?

Ästhetische Erfahrung und ästhetischer Wert

Die rote oder die blaue Pille?

5. KI-Kunst, Fake und Fälschung

Kunstfälschung

Stil in der Kunst

Fake-Art

Ausblick: Ist KI-Kunst das Ende der Kunst?

Die Scheune vor lauter Fakes nicht sehen

Kunst ohne menschliches Zutun?

Zurück in die Zukunft

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zur Autorin

Danksagung

[7]Hinführung

KI kann jetzt auch Kunst? So lautet die ungläubige Frage angesichts des Vordringens der KI in eine weitere derjenigen menschlichen Praxisformen, die ihrer Natur nach auf den ersten Blick immun gegen jede Form der Automatisierung wirken und in denen sie auch als wenig wünschenswert erscheint. Denn es geht um Tätigkeiten, die wir als intrinsisch wertvoll und erfüllend erleben. Eine Reihe namhafter KI-Forschender unterzeichnete u. a. aus diesem Grund im Frühjahr 2023 einen Aufruf des Future-of-Life-Instituts, eine sechsmonatige Pause bei der Entwicklung künstlicher Systeme einzulegen, die mächtiger als ChatGPT-4 sind. Es entbehrt nicht der Ironie, dass viele der Unterzeichnenden zuvor selbst wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen haben.1

Eine dieser Tätigkeiten, die in einem besonderen Sinn zum Menschsein gehören und Menschen gegenüber anderen Lebewesen auszeichnen, ist es, Kunst zu schaffen und zu erleben. Eine Frage, die viele seither umtreibt, ist, ob diese Praxis ihrer Pointe beraubt wird, wenn KI in sie eindringt.

Doch was genau ist überhaupt ›KI-Kunst‹? Unter diesem Begriff werden im weiteren Verlauf nicht sämtliche Kunstformen verstanden, die sich der KI oder gar Computertechnologie im weitesten Sinn bedienen. Auch um Krypto- oder NFT-Kunst wird es nicht gehen, die eine mit einem analogen künstlerischen Original vergleichbare Exklusivität für die digitale Kunst anstrebt. Das Thema dieses Buchs ist ausschließlich generative KI-Kunst, also solche Werke, mit denen der Anspruch verbunden ist, die künstlerische Leistung sei auf KI zurückzuführen. Die Rolle des [8]Menschen reduziert sich darauf, die Systeme zu programmieren oder ihr Stichwortgeber zu sein. Im Verlauf werden ausgewählte Beispiele generativer KI-Kunst besprochen, die auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Es handelt sich vorwiegend um Werke, die mit Hilfe von Bildgeneratoren erzeugt wurden. Die Ergebnisse lassen sich aber auch auf andere Kunstformen übertragen.

Das Ziel der KI wird seit ihren Ursprüngen in den 1950er Jahren darin gesehen, menschliche kognitive Leistungen zu simulieren oder sogar nachzubilden.2 Während schwache KI auf die Lösung konkreter Anwendungsprobleme bezogen ist und menschliche Intelligenz bestenfalls simuliert, strebt starke KI das Ziel an, menschliche Intelligenz zu reproduzieren, einschließlich echtem Denken und Bewusstsein.

Dementsprechend geht es bei der KI-Kunst um die Simulation oder Nachbildung menschlichen künstlerischen Schaffens und künstlerischer Kreativität. Das erschien lange Zeit selbst vielen Fachleuten als unmöglich. Doch insbesondere durch die generative KI, bei der auf den Grundlagen maschinellen Lernens eigene Inhalte in Form von Bildern, Texten, Musik oder multimedialen Kompositionen produziert werden, scheint dies in der Zwischenzeit Wirklichkeit geworden zu sein. Bewusstsein oder die Fähigkeit, wirklich zu denken, sind dafür nicht nötig, weshalb wir uns im Rahmen dieses Buchs immer im Bereich der schwachen KI bewegen.

Doch bedeutet es nicht das Ende der Kunst, wenn es KI wirklich gelingt, Kunstwerke zu erschaffen, ohne über Bewusstsein zu verfügen oder denken zu können? Das vorliegende Buch widmet sich der Untersuchung dieser Frage vor [9]dem Hintergrund der philosophischen Ästhetik. Es besitzt essayistischen Charakter, weil es philosophische Annahmen und Theorien voraussetzt, die zwar plausibel gemacht, jedoch nicht in aller Ausführlichkeit gegen sämtliche Alternativen verteidigt werden. Außerdem habe ich mich im Zweifel für eine weniger vorsichtige These entschieden, sofern sie mir einleuchtender erschien, als immer auf Nummer sicher zu gehen. Zugleich hält das Buch an einer theoretisch fundierten Erkundung seines Gegenstandsbereichs fest. Seine Überzeugungskraft soll – so die Hoffnung – aus der Entwicklung eines kohärenten und einheitlichen Theorieansatzes erwachsen, der unterschiedliche Blickwinkel umfasst.

Generell wird mehr von Ästhetik als von KI die Rede sein. Die KI-Kunst dient als Brennglas, um bestimmte ästhetische Fragen zu betrachten, etwa diejenige, welche Rolle der Autor eines Kunstwerks spielt.3 Dieses Brennglas soll als philosophisches Instrument dienen, um den spezifisch menschlichen Faktor der Kunstpraxis herauszuarbeiten. KI-Kunst schärft den Blick auf Fragen, die im Hin und Her des Ästhetik-Diskurses bislang nicht zufriedenstellend beantwortet wurden. Das bedeutet nicht, dass man die Dinge nicht anders sehen kann, als ich es vorschlage. Mein Ziel besteht vielmehr darin, zu zeigen, was auf dem Spiel steht, wenn man es tut.

Üblicherweise wird zwischen Rezeptions- und Produktionsästhetiken unterschieden, also zwischen Theorien, die aus der Perspektive der Künstler formuliert werden, und solchen, die von der Sicht des Publikums ausgehen. Während lange Zeit Genieästhetiken Konjunktur hatten, hat sich der Fokus in jüngerer Zeit stärker auf [10]Rezeptionsästhetiken verlagert, in denen die Sicht der Künstler häufig nicht mehr thematisiert wird. Demgegenüber hat der hier entwickelte Ansatz den Anspruch, eine Interpretation der Kunstpraxis zu formulieren, die im Hinblick auf die Erfahrungen, Werte und das Selbstverständnis aller Beteiligten attraktiv ist, sei es als Kunstschaffende oder Kunsterfahrende. Dieser umfassende, genuin ästhetische Ansatz ergänzt den bisherigen Diskurs der KI-Kunst, der durch Beiträge aus Sicht der Wissenschafts- und Technologiestudien (STS) und Technikphilosophie dominiert wird.4

Der gedankliche Weg, den wir beschreiten, wird uns zunächst zu der Frage führen, unter welchen Bedingungen man überhaupt davon sprechen kann, dass Kunst an ein Ende gelange. Mit dem Hervortreten von KI-Kunst ist das Ende der Kunst nämlich nicht zum ersten Mal beschworen worden. Die Besonderheit der KI-Kunst liegt darin, zugleich eine dezidierte Weiterentwicklung der Kunst nach den bisherigen Diagnosen ihres Endes darzustellen und erneut die Frage aufzuwerfen, ob mit diesem Schritt die Kunst nun nicht definitiv an ihr Ende gelangt sei. Um diese Frage zu beantworten, gilt es, die zentralen Kategorien der Kunsttheorie erneut vor dem Hintergrund der KI-Kunst zu beleuchten:

Was ist Kunst, und inwiefern fordert KI-Kunst die Definition von Kunst heraus?

Welche Rolle spielt der Autor, und kann seine Funktion durch KI übernommen werden?

Ist es für die ästhetische Erfahrung von Bedeutung, ob ein Kunstwerk durch KI oder von Menschen hervorgebracht wurde?

[11]Inwiefern ist KI-Kunst mit Fälschungen vergleichbar, oder ist sie gar nur Fake?

Wie im Verlauf der Argumentation ersichtlich wird, wäre es eigentlich angebracht, den Begriff ›KI-Kunst‹ konsequent in Anführungszeichen zu setzen. Denn genauso wenig wie eine Gummiente eine Ente ist, ist ›KI-Kunst‹ Kunst. Doch wie man in der Badewanne auch ohne Anführungszeichen sagen kann: »Gib mir mal die Ente rüber«, werden die Anführungszeichen der besseren Lesbarkeit halber durchgängig weggelassen.

Das abschließende Kapitel wird sich der übergeordneten Frage dieses Bands zuwenden, ob KI-Kunst nun das Ende der Kunst ist oder nicht und was das für die Zukunft der Kunst bedeuten könnte.

[12]1. Wann kommt Kunst an ein Ende?

Das Ende der Kunst ist schon verschiedentlich beschworen worden, philosophisch besonders prominent von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), dem ambitioniertesten Vertreter des Deutschen Idealismus. In jüngerer Zeit wurde die These wirkungsmächtig von dem amerikanischen Philosophen Arthur C. Danto (1924–2013) aufgegriffen, der sich auch als Kritiker moderner Kunst einen Namen gemacht hat. Wir werden zunächst einen kurzen Blick auf Hegel werfen, der die Diagnose vom Ende der Kunst als Erster philosophisch begründet hat, bevor wir uns Danto zuwenden, dessen Ansatz im Zentrum der Argumentation stehen wird.

Die Wahl fiel auf ihn, weil seine Begründung des Endes der Kunst auf ein Motiv setzt, das im vorliegenden Kontext erneut bedeutsam wird: die Ununterscheidbarkeit von Kunst und Nichtkunst. Hinzu kommt, dass Dantos Ansatz zwar – wie alle Kunsttheorien – philosophische Voraussetzungen macht, seine These vom Ende der Kunst aber nicht von einer umfassenden Metaphysik abhängt, sondern er stattdessen versucht, kunstimmanent zu argumentieren.

Zunächst stellt sich indes eine offensichtliche Frage: Wie können bedeutende Denker wie Danto oder Hegel vom Ende der Kunst sprechen angesichts der Tatsache, dass Kunst bis heute in Hülle und Fülle produziert, rezipiert und zu Höchstpreisen gehandelt wird? Diese Tatsache als Widerlegung ihres Befunds zu betrachten, wäre freilich zu kurz gegriffen. Vielmehr deutet sie darauf hin, dass mit dem Ende der Kunst nicht gemeint sein kann, es entstünde ab einem gewissen Zeitpunkt gar keine Kunst mehr.

[13]Stattdessen geht es darum, dass die Entwicklung der Kunst an ein Ende gekommen ist. Das bedeutet, in einem näher zu bestimmenden Sinn gibt es ab diesem Punkt nichts Neues mehr in der Kunst, obwohl nach wie vor Kunst gemacht wird. Die Begründungen, die die beiden hier diskutierten Philosophen für diese Behauptung geben, weisen zum Teil zwar in eine ähnliche Richtung, unterscheiden sich aber auch in wesentlicher Hinsicht.

Das Ende der Kunst bei Hegel

Hegel selbst spricht nicht wörtlich vom Ende der Kunst, sondern bezeichnet sie als ein »für uns Vergangenes«.5 Diese Behauptung resultiert bei ihm aus einem umfassenden philosophischen System, das jedem Aspekt der Wirklichkeit seinen Platz zuweist. Vereinfacht gesprochen, befasst sich die Kunst (wie auch die Religion) mit demselben Gegenstandsbereich wie die Philosophie, nur in sinnlicher Form. Hegel spricht vom »sinnlichen Scheinen der Idee«6. Die Kunst erlaubt es, zu Wahrheiten zu gelangen, die allgemein menschliche, metaphysische, erkenntnistheoretische und ethische Probleme betreffen. Diese Wahrheiten sind für Hegel historisch und kulturell bedingt, da sie von unterschiedlichen menschlichen Lebensformen abhängen. Hegel versteht diese Wahrheiten gleichwohl nicht als ein beliebiges Sammelsurium, sondern sieht einen logischen Entwicklungsgang am Werk, dem diese Lebensformen in ihrer geschichtlichen Abfolge unterliegen.

An einem gewissen Punkt gelangt eine sinnlich vermittelte Auseinandersetzung mit derartigen Fragen allerdings [14]an ihre Grenzen. Das ist der Moment, in dem die Kunst der Vergangenheit angehört und das abstrakte philosophische Denken die Aufgabe zu Ende führen muss. Während Hegel den Höhepunkt dessen, was Kunst zu leisten vermag (wenn auch noch nicht ihren Abschluss), bereits in der griechischen Antike erreicht sieht, gelangt auch das philosophische Denken für ihn an ein Ende.7 Hegel betrachtet seine eigene Philosophie als den Schlussstein dieser Entwicklung, da sein System die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit erfasse. Nachfolgenden Philosophien kann demnach nur noch die Aufgabe zukommen, dieses Gerüst auszuarbeiten.

Es ist nachvollziehbar, dass der monumentale Anspruch von Hegels Philosophie ebenso umfassende wie heftige Kritik nach sich zog, zumal seine Überlegungen den Anspruch haben, einen voraussetzungslosen Anfang und zwingenden Verlauf zu besitzen. Die von ihm gezeichnete begriffliche und historische Entwicklung muss mit strenger Notwendigkeit erfolgen und somit alternativlos sein. Es gibt nur wenige, die Hegels philosophisches System heute noch in seiner Gesamtheit mit diesem Anspruch übernehmen. Da die Begründung von Hegels These des Vergangenheitscharakters der Kunst wesentlich von diesem System abhängt, findet auch sie heute der Sache nach kaum mehr Anklang, selbst unter denjenigen, die für Hegels Philosophie ansonsten aufgeschlossen sind. Die zunehmende Ausdifferenzierung der Philosophie nach Hegels Zeit könnte eher dafür sprechen, dass sie der Aufgabe, ein umfassendes System zu liefern, welches ein für alle Mal gültig ist, nicht gerecht werden kann. Infolgedessen gewinnt die Kunst als Form menschlicher Selbstverständigung wieder an Bedeutung.8

[15]Eine Schwierigkeit von Hegels Argumentation besteht darin, dass die Gründe, die aus seiner Sicht für das Ende der Kunst sprechen, wesentlich philosophischer und nicht künstlerischer Art sind. Negativ ausgedrückt könnte man Hegel vorwerfen, er stülpe der Kunst ein ihr äußerliches Begriffsraster über. Hinzu kommt, dass künstlerische Entwicklungen nach Hegels Zeit, wie die Entstehung von Fotografie, abstrakter Kunst, Film oder Performance Art (ganz zu schweigen von digitalen Kunstformen) in seinem System naturgemäß nicht berücksichtigt werden.

Im Unterschied zu Hegel leitet Danto seine These nicht in erster Linie aus philosophischen Erwägungen ab, sondern seine Begründung erhebt den Anspruch, kunstimmanent zu sein. Danto zufolge resultiert das Ende der Kunst aus der Kunstentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbst.

Brillo Box als Ende der Kunst?

Ein Schlüsselerlebnis für Danto war die Begegnung mit einigen Arbeiten Andy Warhols (1928–1987), die er im Frühjahr 1964 als junger Philosophieprofessor in der kleinen Stable-Galerie in Manhattan sah.9 Bei den dort ausgestellten Skulpturen handelte es sich um Produktverpackungen aus dem Supermarkt bzw. originalgetreue Nachbildungen. Emblematisch für diese Serie wurde Brillo Box, eine Skulptur, die aus täuschend echt aussehenden Faksimiles von Kartons für Topfreinigungsschwämme der Firma Brillo bestand, die wie in einem Warenlager aufeinandergestapelt worden waren.

[16]Die entscheidende Wendung bestand aus Dantos Sicht darin, dass damit Kunstwerke in der Welt waren, die äußerlich nicht von Gebrauchsgegenständen zu unterscheiden sind. Auch wenn die Kartons von Brillo Box anders als die Originale aus Sperrholz und nicht aus Pappe bestehen, ist der wesentliche Punkt damit gemacht und bis in die Gegenwart enorm wirkmächtig (so wurde 2014 das Werk My Bed, bestehend aus der ungemachten Schlafstätte der britischen Künstlerin Tracey Emin, für umgerechnet etwa 3,2 Millionen Euro versteigert).

Wenn aber alles Kunst sein kann, dann – so Danto – ist die Entwicklungsgeschichte der Kunst abgeschlossen. Zu klären bleibt nur noch die Frage, worin sich ein Kunstwerk von einem Alltagsgegenstand unterscheidet. Denn nach wie vor gilt, dass zwar Warhols Brillo Box ein Kunstwerk darstellt, die Verpackungskartons der Firma Brillo in den Supermarktregalen hingegen nicht. Die Frage nach der Differenz zwischen beidem kann nach Danto nicht mehr mit den Mitteln der Kunst beantwortet werden. Es handelt sich um ein theoretisches Problem, das letztlich die Definition des Kunstbegriffs betrifft. Seit Sokrates gehören solche definitorischen »Was ist X?«-Fragen nach der Natur einer Sache zum Kernbereich der Philosophie, der an dieser Stelle betreten wird.

Danto greift mit der These vom Übergang der Kunst zur Philosophie ein Motiv Hegels auf, wenngleich er es anders begründet.10 Die Kunst wird nicht überflüssig, aber mit der Ausschöpfung ihrer Mittel ist sie der Aufgabe enthoben, ihre Grenzen immer weiter auszuloten, die vor allem der modernen Avantgarde zur Pflicht wurde.11 Nur solche Werke durften den Anspruch darauf erheben, Kunst zu sein, die [17]neue Wahrnehmungs- und Darstellungsformen erschlossen. Nachdem der Endpunkt dieser Entwicklung erreicht ist, besteht ein Pluralismus der künstlerischen Herangehensweisen und Stilrichtungen. Fortan ist es der Kunst erlaubt, sich mit allen möglichen Themen in verschiedenster Form auseinanderzusetzen. Darf man Danto Glauben schenken, so beginnt das Leben der Kunst sogar erst richtig, wenn ihre Geschichte zu Ende ist.12

Eine Kunstdefinition

Wenden wir uns der Kunstdefinition zu, die aus dieser Entwicklung resultieren soll. Sie dient als Ausgangspunkt der weiteren Argumentation über die Auswirkungen von KI auf die Frage nach dem Ende der Kunst. Für Danto stellen sich philosophische Probleme grundsätzlich im Gewand der Ununterscheidbarkeit, so etwa in Hinblick darauf, wie sich Traum und Wirklichkeit auseinanderhalten lassen (ebenfalls ein Kernthema der Philosophie). Das Herausarbeiten der Differenzen zwischen vordergründig Ununterscheidbarem wird so zur grundlegenden Methode der Philosophie auf dem Weg zu einer Definition.

Brillo Box lehrt uns, dass Kunstwerke nicht isoliert von ihrem Kontext betrachtet werden dürfen. Diesen Kontext definiert Danto in einem frühen, kanonisch gewordenen Aufsatz als »Kunstwelt«.13 Der Begriff bezeichnet den institutionellen Rahmen, in dem Kunst stattfindet. Dieser umfasst den Kunstmarkt, Museen, Galerien, Theater, Konzerthallen, Opernhäuser, aber auch und insbesondere Kunstkritik und Kunsttheorie. Brillo Box ist ein Kunstwerk, weil [18]es in einer Galerie präsentiert wurde und eben nicht in einem Supermarkt und weil es vor einem entsprechenden kunsttheoretischen Hintergrund rezipiert wurde.

Nun ist es nicht etwa so, dass Objekte einfach nur durch ihre Präsenz in einer Galerie und das Etikett »Dies ist Kunst« zu Kunstwerken gemacht werden, wie es eine schlichte Form der institutionellen Kunsttheorie nahelegen könnte.14 Vielmehr trägt der entsprechende Kontext dazu bei, dass wir diese Gegenstände anders wahrnehmen und uns andere Gedanken über sie machen. So gelangen wir etwa zu der Einsicht, dass es Warhol mit Brillo Box wesentlich darum ging, die Frage nach dem Unterschied zwischen Kunst- und Gebrauchsgegenständen aufzuwerfen.

Allerdings unterliegt der Kunstbegriff durch seine Theorieabhängigkeit einer historischen Veränderung; und eine Definition kommt somit erst nach dem Ende der Kunstentwicklung in Reichweite. Nicht alles kann zu jeder Zeit Kunst sein. So wäre es 200 Jahre früher nicht möglich gewesen, einen derartigen Gebrauchsgegenstand zum Kunstwerk zu machen, weil der entsprechende theoretische Hintergrund fehlte. Etwas als Kunstwerk und nicht nur als Ding anzusehen beinhaltet wesentlich, es zu interpretieren.

Eine Interpretation besteht Danto zufolge darin, »eine Theorie anzubieten, worum es in einem Werk geht, und was sein Sujet ist«.15 Wer von einer Interpretation absieht, betrachtet einen Gegenstand als bloßes Ding und nicht als Kunstwerk. Der Zielpunkt einer Interpretation ist die Bedeutung eines Kunstwerks im weitesten Sinn. Zwar besitzt auch eine Gebrauchsanweisung Bedeutung, und nicht selten ist sie auch interpretationsbedürftig; das macht sie gleichwohl nicht zum Kunstwerk.

[19]Um derartige Fälle auszuschließen, gibt Danto weitere Bedingungen an, wie Bedeutung in Kunstwerken realisiert sein muss. Der übergeordnete Punkt ist, dass die Bedeutung im Kunstwerk auf eine Art und Weise verkörpert sein muss, die es unmöglich macht, diese vom Kunstwerk ohne Verlust abzuziehen.16 Auch die beste Interpretation kann deshalb die Erfahrung des einzigartigen Kunstwerks nicht ersetzen. Man muss es selbst erleben. Das liegt auch daran, dass ein Kunstwerk nicht nur einen Sachverhalt darstellt, sondern Ausdruck einer Art und Weise ist, die Welt zu sehen. Damit ist die Aufforderung an den Betrachter verbunden, diese Einstellung ebenfalls einzunehmen, die sich im Stil des Kunstwerks niederschlägt.

Die Bedeutung des Kunstwerks ist darüber hinaus nicht unmittelbar gegeben, sondern in Form einer Metapher. Eine Metapher ist für Danto eine »abweichende Äußerung«, die nur indirekt auf ihre Bedeutung hinweist.17 Sie lädt dazu ein, eine Sache im Licht einer anderen Sache zu sehen, um Aspekte hervortreten zu lassen, die bislang verborgen waren.

Metaphern zeichnen sich nach Danto durch eine elliptische Struktur aus. Das bedeutet, dass das Wesentliche ungesagt bleibt und erschlossen werden muss; genau deshalb bedürfen sie immer der Interpretation. Romeo bezeichnet Julia in Shakespeares Liebestragödie metaphorisch als »die Sonne« (II. Aufzug, 2. Szene). Die Abweichung besteht darin, dass Julia natürlich kein Himmelsgestirn ist. Doch wenn wir der Metapher folgen, können wir Romeos Sicht der Dinge nachvollziehen und Julia als das hell strahlende Licht empfinden, welches Wärme spendet und ohne das kein Leben möglich ist, um nur einige Aspekte der metaphorischen Bedeutung herauszugreifen.

[20]Die von Danto anvisierte indirekte Bedeutung muss aber nicht zwangsläufig im strengen Sinn die Form einer Metapher aufweisen. Zutreffender ist es, von einem Gehalt höherer Ordnung zu sprechen, der im Gegensatz zum Gehalt erster Ordnung nicht direkt ausgedrückt wird.18 Metaphern sind ein Beispiel für eine solche Struktur; die wörtliche Bedeutung der Aussage wäre in diesem Fall der Gehalt erster Ordnung, die metaphorische Bedeutung der Gehalt höherer Ordnung.

Typisch für die Kunst ist eine Verschachtelung von Ordnungsstufen: So besitzt die Metapher in Romeo und Julia