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Kunsttherapie für die Praxis Was macht Kunsttherapie in jüngster Zeit so populär? Ist "… jeder Mensch ein Künstler"? Kunst oder Gestaltung? Welche Techniken eignen sich für welche PatientInnen? Kann, darf oder soll man die gestalteten Objekte interpretieren? Wie wird man Kunsttherapeutin oder Kunsttherapeut? Im vorliegenden Buch geht es um die Beantwortung solcher Fragen und um die Bedeutung, die Kunsttherapie heute in der therapeutischen Begleitung von Patientinnen und Patienten aus den unterschiedlichsten Institutionen hat. Was ursprünglich einmal als adjuvante Beschäftigungstherapie betrachtet wurde, gilt heute als eine wesentliche nonverbale Unterstützung und Ergänzung medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung. Das Buch ist ein Fundus für angehende Kunsttherapeutinnen und -therapeuten sowie ein Denkanstoß für Angehörige aller Berufsgruppen, die in der medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung tätig sind. Kompakt: Ein handliches Buch zur Kunsttherapie Konkret für die Praxis: Handwerk und Methoden Mit Beiträgen von: Luise Reddemann, Peter Henningsen, Peter Buchheim, Gerd Rudolf u.a.
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Seitenzahl: 618
Veröffentlichungsjahr: 2022
Flora von Spreti | Wulf Bertram | Thomas Fuchs
Kunsttherapie kompakt
Schöpferisch denken – therapeutisch handeln
Unter Mitarbeit von
Wulf Bertram
Erik Boehlke
Peter Buchheim
Rainer Buland
Karin Dannecker
Dietrich von Engelhardt
Sebastian Euler
Thomas Fuchs
Nicole Giese-Kroner
Nurjehan Gottschild
Alfred Haberkorn
Thomas Hellinger
Peter Henningsen
Diana Jallerat
Mechtild Katzorke
Helmut Kirchlechner
Tilman Kluttig
Achim Kobe
Sonja Kulhanek
Sylvio Lütscher
Philipp Martius
Juliane Melches
Mechthild Neises-Rudolf
Gabriele Pitschel-Walz
Luise Reddemann
Caroline Renz
Thomas Röske
Gerd Rudolf
Carolina Schindler
Volker Schöwerling
Flora von Spreti
Esther Stalujanis
Florian Steger
Hans Stoffels
Elisabeth Stöger
Doris Titze
Sigrid Völker
Gottfried Waser
Jürgen Wertheimer
Barbara Wild
Schattauer
Besonderer Hinweis:
Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.
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Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe
Schattauer
www.schattauer.de
© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltungskonzept: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg
Cover: Jutta Herden, Stuttgart
unter Verwendung einer Abbildung von Adobe Stock/New Africa
Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
Lektorat: Mihrican Özdem, Landau
ISBN 978-3-608-40143-1
E-Book ISBN 978-3-608-11965-7
PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20580-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Herausgeberin und Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Herausgeberin und Herausgeber
Autorinnen und Autoren
Geleitwort
Literatur
Teil I
Schöpferisch denken – schöpferisch handeln
Dietrich von Engelhardt
1 Das Verrückte im Künstler oder die Kreativität des Wahnsinns
1.1 Thematisches Spektrum
1.2 Chancen und Risiken im historischen Verlauf
1.3 Repräsentationen in Kunst und Literatur
1.4 Therapie – Kunst
1.5 Gesellschaft – Kultur
Literatur
Thomas Fuchs
2 Kunst und das »Als-ob«
2.1 Zur Anthropologie des Bildes
2.2 Das Bild der Kunsttherapie
Literatur
Thomas Hellinger
3 Struktur künstlerischen Handelns
3.1 Die Tradition des Bildermachens
3.2 Der Raum im Bild
3.3 Das Bild als Medium
3.4 Der Prozess der Formfindung
3.5 Gedanken aus dem Atelier
Literatur
Luise Reddemann
4 Künstlerische Verarbeitung und Kunsttherapie
4.1 Nelly Sachs (1891–1970)
4.2 Rainer Maria Rilke (1875–1926)
4.3 Niki de Saint Phalle (1930–2002)
4.4 Schlussworte
Literatur
Teil II
Annäherung
Elisabeth Stöger und Peter Buchheim
5 Kunsttherapeutische Arbeit in einer Katathym-imaginativen Psychotherapie (KIP)
5.1 Erstkontakt mit einer eindrucksvollen Szene
5.2 Zweite Sitzung und weiterer Fortgang der Therapie
Literatur
Thomas Röske
6 Die Entwicklung der Sicht auf künstlerische Werke Psychiatrieerfahrener von 1800 bis heute
6.1 Diagnostische Perspektive
6.2 Ästhetische Perspektive
6.3 Art brut und Outsider Art
6.4 Diskussion aktueller Entwicklungen
Literatur
Karin Dannecker
7 Der ästhetische Moment – Intersubjektivität und Veränderungsprozesse in der Kunsttherapie
7.1 Einführung
7.2 Die neueren Entwicklungen der psychotherapeutischen Theoriebildung
7.3 Intervention und Intersubjektivität in der Kunsttherapie
7.4 Kommunikation, Intentionalität und Beziehungswissen
7.5 Implizites Wissen und der Moment der Begegnung in der Kunsttherapie
7.6 Schlussgedanken
Literatur
Doris Titze
8 Der schmale Grat zwischen Kunst und Leben
8.1 Kunst und Lebenszeit
8.2 Das Bild im Dreiklang
8.3 Die Flut der Bilder
8.4 Antwortbeziehungen
8.5 Mit Haut und Haar
8.6 Die Wahrnehmung der Differenz
Literatur
Hans Stoffels
9 Das Künstlerische und das Therapeutische: Getrennte Welten?
9.1 Bescheidenheit
9.2 Kunsttheorie
9.3 Der kreative Betrug
9.4 Engel und Dämonen
9.5 Der a-soziale Künstler
9.6 Grenzenlose Kunst und grenzenlose Psychotherapie?
9.7 Die lebensveränderte Fantasie
Literatur
Teil III
Anwendung – Erfahrung – Wirkung
Peter Henningsen
10 Kunsttherapeutisches Handeln
10.1 Vom Computermodell des Geistes zur Embodied Cognition
10.2 Konsequenzen für das Verständnis (kunst-)therapeutischen Handelns
Literatur
Gabriele Pitschel-Walz
11 Kunsttherapie und der Einfluss auf Verhalten und Handeln
11.1 Wirksamkeit
11.2 Einflüsse auf Verhalten und Handeln
11.3 Kooperation von Kunst- und Verhaltenstherapie
Literatur
Juliane Melches
12 Theorie und Praxis der Kunsttherapie
12.1 Die Theorie bereitet den Boden, bietet Halt und Orientierung
12.2 Die therapeutische Kraft entfaltet sich in der Praxis
12.3 Theorie und Praxis im Dialog
12.4 Die Forschungsmethode bringt Bild und Fallbericht mit
12.5 Die Praxis verbindet sich mit dem Projekt
Literatur
Esther Stalujanis und Sebastian Euler
13 Mentalisieren und Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) – Einführung und Anwendungsmöglichkeiten
13.1 Was bedeutet »Mentalisieren«?
13.2 Mentalisierungsdimensionen
13.3 Nonmentalistische Modi
13.4 Haltung und Interventionen der Mentalisierungsbasierten Therapie
13.5 Anwendung des Konzepts in Kreativtherapien
Literatur
Barbara Wild
14 Sprache, Psychotherapie und Kunsttherapie
14.1 Sprache in der Kunsttherapie
14.2 Psychotherapeutische Kenntnisse
Literatur
Teil IV
Praxis Kunsttherapie
Tilman Kluttig, Sonja Kulhanek und Caroline Renz
15 Poiesis – die Entdeckung des eigenen künstlerisch-schöpferischen Handelns als Teil der forensischen Psychotherapie
15.1 Poiesis und forensische Psychotherapie
15.2 Ernst Ludwig Kirchner als Kranker
15.3 Narrative Selbststilisierung und Realitätsverlust bei Ernst Ludwig Kirchner
15.4 Die Theaterarbeit
15.5 Identifikationsprozesse, Rollenentwicklung und persönliche Veränderung
15.6 Poiesis in der forensischen Kunsttherapie
Literatur
Flora von Spreti, Philipp Martius
16 Künstlerische Therapie bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
16.1 Von der Kunst zur Therapie
16.2 Kunst und Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)
16.2.1 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)
16.2.2 Kunst und Borderline-Störung im klinischen Kontext
Kunsttherapie
Bild und bildnerische Aussage
Erweiterung des Lebensraumes
Die akute Krise
Triangulierung
Das Bild – nur Ressource?
Wenn Patienten nach der Bildbedeutung fragen
Spaltung im Team als Hinweis für Borderline-Störung
Die Ressourcen des Schöpferischen
Kunstpädagogische Methode
Literatur
Alfred Haberkorn
17 Ein Bild von Dir …
17.1 Einführung
17.2 Die Porträtarbeit im Einzelnen
17.3 Es lohnt nicht, aufzugeben …
Literatur
Link
Carolina Schindler
18 Im Land von Feuer und Eis
18.1 Von der Hochschule in den Sandkasten
18.2 Mit kunsttherapeutischen Ansätzen als Förderlehrerin im isländischen Kindergarten
18.3 Kunsttherapie in Island
18.4 Kunsttherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Reykjavík
18.5 Fazit
Erik Boehlke, Volker Schöwerling, Mechthild Katzorke und Achim Kobe
19 Kunst ohne Methode – Struktur, Arbeit und Kreativität
19.1 Prolog
19.2 Das Projekt: Malen am Bauzaun
Literatur
Helmut Kirchlechner
20 Kunsttherapie im Psychiatrischen Krisenzentrum Atriumhaus in München
20.1 »Gibt es ein Thema?«
20.2 Frau M., Herr K. und Herr F.
Teil V
Historische Erinnerungen
Gottfried Waser
21 Gaetano Benedettis Weg zu einem künstlerischen Therapieansatz
21.1 Einleitung
21.2 Zur Psychotherapie der Schizophrenie
21.3 Benedettis Zuwendung zur Kunsttherapie
21.4 Zwei operationelle Settings
21.4.1 Bildgestaltende Psychotherapie
21.4.2 Das Progressive therapeutische Spiegelbild (PTS)
21.5 Ausblick
Literatur
Silvio Lütscher
22 Bilderrettung
22.1 Das Bellevue in Kreuzlingen
22.2 Kunst und Therapie im Bellevue
22.3 Geschichten aus dem Offenen Atelier
22.3.1 Edina Anson und Fräulein Antje – der Steinerne Fisch
22.3.2 Steve – ninety-seven Swans
22.3.3 Bernardo – Brahms-Symphonie
22.4 Ein Nachtrag mit einem Nachspiel
Literatur
Teil VI
Praxis: Handwerk
Sigrid Völker
23 Wie kommt die Kunsttherapie zu ihrem Hand-Werk?
23.1 Künstlerisches und wissenschaftliches Handeln
23.2 Kunst schafft neue Wirklichkeit
23.3 Herstellung von Kunst in der Menschheitsgeschichte
23.4 Die Begegnung von Kunst, Ästhetik und Psychologie als spezifisches Potenzial der Kunsttherapie
Literatur
Rainer Buland und Nurjehan Gottschild
24 Spiel in kunsttherapeutischen Prozessen
24.1 Begriffliche Klarstellung vorweg
24.2 Verschiedene Spielformen
24.3 Einsatz von Spiel in verschiedenen Ansätzen der Kunsttherapie
24.4 Grundhaltung bei der Kunsttherapie und dem Gestaltungs-Spiel
24.5 Verlauf und Dynamik des Gestaltungs-Spiels
24.6 Der kunsttherapeutische Prozess als Gestaltungs-Spiel
24.7 Was ist mit dieser Sichtweise der Therapie als Gestaltungs-Spiel gewonnen?
Literatur
Juliane Melches
25 Kompetenz in kunsttherapeutischen Methoden: Karte und Gebiet
25.1 Kunsttherapeutische Methoden: begriffliche Annäherung
25.2 Vielfalt und Verbreitung kunsttherapeutischer Methoden
25.3 Grenzen kunsttherapeutischer Methoden: Prozess- und Zielkomplexität
25.4 Erweiterung des Methodenverständnisses um die Komponente Spiel
Literatur
Flora von Spreti
26 Handwerk, Kunst und Psychotherapie
26.1 Zum Einstieg
26.2 Wie wirkt künstlerisches Handeln und Kunsttherapie?
26.3 Psychiatrie, Kunst und Therapie
26.3.1 Institution Klinik: Wer darf was?
26.3.2 Kellerkinder oder Atelierbesitzer – der Therapieraum
26.3.3 Indikation zur Kunsttherapie
26.3.4 Setting
26.3.5 Therapeutischer Kontakt
26.3.6 Wenn Patienten die Kunsttherapie ablehnen
26.3.7 Arbeit in der Gruppe
26.3.8 Anfang und Ende einer Therapiestunde
26.3.9 Abschied: Ende der Therapie
26.4 Die Materialien in der Kunsttherapie
26.4.1 Katalogisierung von Materialien
26.4.2 Die Materialien
26.4.3 Viel hilft viel oder ist weniger mehr? Die Materialvielfalt
26.4.4 Übergabe des Materials an den Patienten
26.4.5 Erklären und Unterstützen bei der Gestaltung
26.5 Ausbildung in Kunsttherapie
Philipp Martius
26.6 Gibt es eine medizinische Indikation zur Kunsttherapie?
Literatur
Diana Jallerat
27 Methoden, Methoden, Methoden …
27.1 Einleitung
27.2 Viele bunte Steinchen im Kaleidoskop und die Suche nach Ordnung
27.3 Versuch einer Ordnung
27.3.1 Richtungen und Ansätze
27.3.2 Begrifflichkeiten
27.4 Kunsttherapeutische Methoden
27.4.1 Gezeichnete Schnörkel als Brücke zum anderen – das Squiggle-Spiel
27.4.2 Sandspieltherapie
27.4.3 Gemeinsam Fortschritt gestalten – das progressive therapeutische Spiegelbild
27.4.4 Malend verstehen – Begleitendes Malen
27.4.5 Lösungen finden am Bild im Hier und Jetzt – Begleitetes Malen/Personenorientierte Maltherapie
27.4.6 Begreifen, Berühren – Lebenswelt Gestalten: die Arbeit am Tonfeld®
27.4.7 Malen aus dem Unbewussten/Intuitives Malen
27.4.8 Geführtes Zeichnen
27.4.9 Das Andere als Spiegel unseres Selbst – die Resonanzbildmethode
27.5 Methode und Beziehungsgestaltung
27.5.1 Blick in die Nachbarlandschaft der psychotherapeutischen Forschung
27.5.2 Der gekonnte Einsatz kunsttherapeutischer Methoden
Literatur
Teil VII
Kunst und Mensch
Jürgen Wertheimer
28 Löwenmensch und Venus – Prolog
Mechthild Neises-Rudolf
29 Paula Modersohn-Becker – die Rolle des »Weibes« in der Malerei vor 100 Jahren und danach?
29.1 Weiblichkeitsentwürfe
29.2 Paula Modersohn-Becker, eine Frau der vorletzten Jahrhundertwende
29.2.1 Herkunftsfamilie
29.2.2 Kindheit und Jugend
29.3 Paula Modersohn-Becker, Malerin der Moderne
29.3.1 Künstlerin und Frau
29.3.2 Künstlerehe und Mutterschaft
29.4 Frau-Sein und Künstlerin heute
Literatur
Nicole Giese-Kroner
30 Sichtbarkeit von Frauen in der bildenden Kunst heute
Literatur
Gerd Rudolf
31 James Ensor: Der Künstler als Subjekt in der Gesellschaft seiner Epoche
31.1 Die besondere Situation des Künstlers
31.2 Psychodynamische Aspekte des Künstlerischen
31.3 James Ensor: lebensgeschichtliche Entwicklung und »früheste Erinnerung«
31.4 Ensors künstlerische Entwicklung
31.5 Ein psychisch kranker Künstler?
Literatur
Florian Steger
32 Ein Arzneimittelskandal in der DDR – kunsttherapeutische Auseinandersetzung der Frauen
32.1 Was war geschehen?
32.1.1 Zur Anti-D-Immunprophylaxe
32.1.2 Kontamination
32.1.3 Erste Erkrankungen
32.1.4 Folgen
32.1.5 Zwangsbehandlung
32.1.6 Forschung
32.2 Belastungen und Auseinandersetzung
32.3 Anerkennung
Literatur zur Vertiefung
Dr. med. Dipl.-Psych. Wulf Bertram
Arzt und Psychotherapeut
Arminstraße 25
70178 Stuttgart
Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs
Universitätsklinikum Heidelberg
Klinik für Allgemeine Psychiatrie
Voß-Straße 4
69115 Heidelberg
Prof. Flora von Spreti
Agricolastraße 8A
80687 München
Erik Boehlke
Vorstandsvorsitzender des GIB e. V. und der GIB-Stiftung
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
Germanenstraße 33
13156 Berlin
Prof. Dr. med. Peter Buchheim
Innere Wiener Straße 12
81667 München
Ass. Prof. Dr. MAS Rainer Buland
Universität Mozarteum
Institut für Spielforschung
Schwarzstraße 24
5020 Salzburg
Österreich
Prof. Dr. habil. Karin Dannecker
Weißensee Kunsthochschule
Studiengang Kunsttherapie
Schönstraße 90
13086 Berlin
Prof. Dr. phil. med. habil. Dietrich von Engelhardt
Fichtestraße 7
76133 Karlsruhe
PD Dr. med. Sebastian Euler
Stv. Klinikdirektor
UniversitätsSpital Zürich
Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik
Culmannstrasse 8
8091 Zürich
Schweiz
Nicole-Giese-Kroner
Syker Vorwerk
Zentrum für zeitgenössische Kunst
Am Amtmannsteich 3
28857 Syke
Nurjehan Gottschild MAS
General Arnold Straße 13
5020 Salzburg
Österreich
Alfred Haberkorn
Sebnitzerstraße 30
01099 Dresden
Thomas Hellinger
Kyffhäuser Straße 11
01309 Dresden
Prof. Dr. med. Peter Henningsen
Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Klinikum rechts der Isar der TU München
Langerstraße 3
81675 München
Diana Jallerat
Diplom-Heilpädagogin/Kunsttherapeutin
Klinik Höhenried gGmbH
Abt. für Psychosomatik
82347 Bernried
Mechthild Katzorke
catlinafilm katzorke & schöwerling
Sophie-Charlotten-Straße 84
14059 Berlin
Helmut Kirchlechner
Atriumhaus
Psychiatrisches Krisen- und Behandlungszentrum
Bavariastraße 11
80336 München
Dipl.-Psych. Tilman Kluttig
Zentrum für Psychiatrie Reichenau
Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
Feursteinstraße 55
78479 Reichenau
Achim Kobe
Hauptstraße 7
10827 Berlin
Sonja Kulhanek
Kunsttherapeutin M. A.
Zentrum für Psychiatrie Reichenau
Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
Feursteinstraße 55
78479 Reichenau
Silvio Lütscher
Casa Zita/Casa Torre
6694 Prato-Sornico/Lavizzara
Schweiz
Prof. Dr. Philipp Martius
Hochschule München
Praxis am Schlossplatz
Dr.-Karl-Aschoff-Straße 2
55543 Bad Kreuznach
Prof. Juliane Melches
Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft
Villestraße 3
53347 Alfter
Prof. apl. Dr. med. Dr. rer. nat. Mechthild Neises-Rudolf
Schlehenweg 11
69181 Leimen-Lingental
PD Dr. rer. biol. hum. Gabriele Pitschel-Walz
Leitung der Arbeitsgruppe »Psychologie und Psychotherapie in der Allgemeinmedizin«
Institut für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung
Technische Universität München, Klinikum rechts der Isar
Orleansstraße 47
81667 München
Prof. Dr. med. Luise Reddemann
Holzgasse 4
53925 Kall
Caroline Renz
Zentrum für Psychiatrie Reichenau
Feursteinstraße 55
78479 Reichenau
PD Dr. phil. Thomas Röske
Sammlung Prinzhorn
Klinik für Allgemeine Psychiatrie
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Universitätsklinikum Heidelberg
Voßstraße 2
69115 Heidelberg
Prof. Dr. Gerd Rudolf
Klinik für Allgemeine und Psychosomatische Medizin der Universität Heidelberg
Thibautstraße 2
69115 Heidelberg
Carolina Schindler
Kunsttherapeutin MA in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Island
Listmeðferðarfræðingur MA
Barna- og unglingageðdeild Landspítalans
Dalbraut 12
105 Reykjavík
Island
Volker Schöwerling
catlinafilm katzorke & schöwerling
Sophie-Charlotten-Straße 84
14059 Berlin
Dr. phil. Esther Stalujanis
Klinische Psychologin
UniversitätsSpital Zürich
Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik
Culmannstrasse 8
8091 Zürich
Schweiz
Univ.-Prof. Dr. Florian Steger
Universität Ulm
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Parkstraße 11
89073 Ulm
Prof. Dr. med. Hans Stoffels
Park-Klinik Sophie Charlotte
Private Fachklinik für Psychiatrie
Heubnerweg 2a
14059 Berlin
Elisabeth Stöger
Dorfstraße 58
6072 Lans bei Innsbruck
Österreich
Prof. Doris Titze
Kyffhäuser Straße 11
01309 Dresden
Prof. Sigrid Völker
Dechenstraße 12
53115 Bonn
PD Dr. med. Gottfried Waser
Praxis für Psychiatrie/Psychotherapie
Rümelinbachweg 20
4054 Basel
Schweiz
Prof. Dr. Jürgen Wertheimer
Internationale Literaturen
Universität Tübingen
Wilhelmstraße 50
72074 Tübingen
Prof. Dr. med. Barbara Wild
Fakultät Umwelt Gestaltung Therapie
Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen
Campus: CI11 035
Sigmaringer Straße 15/2
72622 Nürtingen
Vor ca. 40 Jahren hatte ich das Glück, der Künstlerin Flora von Spreti zu begegnen und sie zur Mitwirkung am therapeutischen Programm einer neu zu errichtenden psychiatrischen Universitätsklinik zu gewinnen. Die Patienten, die dort Aufnahme fanden, befanden sich in einer durch schicksalhafte äußere Umstände mitverursachten Lebenskrise oder waren infolge einer krankheitsbedingten Erstarrung und Entmächtigung des eigenen Ichs ihrer bisherigen Lebenswelt entfremdet. Für diesen Personenkreis entwarf Flora ein als Kunsttherapie bezeichnetes gruppentherapeutisches Behandlungsverfahren, das täglich für die Dauer von 2 Stunden im Tagesraum einer Akutstation durchgeführt wurde. Die Teilnehmenden an dieser Gruppentherapie wurden dazu angeregt, ein von der Therapeutin vorgegebenes einfaches, lebensweltliches Thema bildlich darzustellen und danach über ihre Bildgestaltung, falls sie dazu bereit waren, in Anwesenheit der anderen Gruppenteilnehmer zu sprechen. Die Gestaltungen, welche hierbei entstanden, waren meist einfache Darstellungen eines vorgegebenen Themas und vermittelten verständlicherweise nur selten den Eindruck hoher Kunstfertigkeit. Dennoch ließen sich die Produkte, die aus dieser Gruppentherapie hervorgingen, zurecht als Kunst in einem erweiterten Sinn des Wortes interpretieren, weil sie – wie jede echte Kunst – mit dem Bedürfnis hervorgebracht wurden, die Bedrängnis eines gegenwärtigen Leidenszustands zu transzendieren, um die Erfordernisse des Alltags wieder bewältigen zu können.
In den Jahrzehnten, die seit der Einführung der Kunsttherapie in der von mir geleiteten psychiatrischen Klinik verstrichen, wurde diese Behandlung zum festen Bestandteil therapeutischer Programme in zahlreichen psychiatrischen, psychosomatischen und geriatrischen Institutionen. Flora von Spreti erwarb sich durch ihre fachliche Erfahrung und aufgrund ihrer gewinnenden Persönlichkeit hohes internationales Ansehen. In Zusammenarbeit mit fachlich kompetenten Ärzten oder Psychologinnen gelang es ihr, den Anwendungsbereich der Kunsttherapie bei vielen verschiedenartigen seelischen Störungen in mehreren reich bebilderten Monografien eingehend darzustellen. Wenn sie sich nunmehr zur Herausgabe eines neuen Buches über die Kunsttherapie entschlossen hat, so dürfte es nicht ihre Absicht gewesen sein, ein weiteres Unterrichtswerk zu verfassen. Vielmehr ging es ihr vermutlich darum, den Blick auf die von ihr kreierte Behandlungsform zu erweitern. Für den Erfolg eines derartigen Vorhabens wird es voraussichtlich von Vorteil sein, wenn man sich nicht auf die Fähigkeit zur Produktion von Kunstgegenständen beschränkt, sondern auch solche Aspekte der Kunsttherapie in Betracht zieht, die darauf abzielen, die Rezeption verschiedenartiger Kunstrichtungen – also auch solche der Musik, der Dichtung, des Theaterspiels oder der Filmkunst – zu fördern.
Dass man bei einer derartigen Erweiterung des Gesichtsfeldes zu einer vertieften Einsicht in die Wirksamkeit der Kunsttherapie gelangen kann, will ich an zwei Beispielen veranschaulichen, die beide dem von mir bevorzugten Kunstbereich, der Literatur, entstammen.
Äneis. Das erste Beispiel entnehme ich einer Szene aus der vom römischen Dichter Vergil gegen Ende des ersten Jahrhunderts v. Chr. verfassten Äneis (Aen. 1, 450–485). Äneas, der Held dieses Epos, verlässt mit einer Gruppe von Gefährten seine durch mörderisches Kriegsgeschehen bereits völlig zerstörte Heimatstadt Troja und wird nach jahrelanger Irrfahrt über das Mittelmeer schließlich von einem Seesturm an die lybische Küste geworfen. Zu Fuß erreicht er die nahe gelegene, erst kürzlich gegründete, mit kostbaren Bauten versehene Stadt Karthago und macht an einem Tempel der Göttin Juno Halt, dessen Wände mit künstlerisch wertvollen aus dem Felsgestein gemeißelten szenischen Darstellungen geschmückt sind. Der Blick des Äneas fällt auf mehrere Abbildungen, die vom grausamen trojanischen Krieg und vom Untergang der brennenden Stadt Troja berichten. Auf diesen Bildern sind die Kriegshelden Achill und Hektor deutlich zu erkennen; auch die langjährige ruhmreiche Herrschaft des Königs Priamus wurde auf den Darstellungen festgehalten. Mit tiefer Erschütterung betrachtet Äneas der Reihe nach diese Kunstwerke. Selbst hier, an einem von Troja weit entfernten Ort erinnere man sich also noch immer an das tränenreiche Geschick (»sunt lacrimae rerum«) der trojanischen Kämpfer, selbst hier sind, wie er feststellt, die ruhmvollen Taten der Vergangenheit nicht völlig vergessen. Überall auf der Welt und zu jeder Zeit wird das Denken der Menschen vom Bewusstsein der Sterblichkeit erfasst (»mentem mortalia tangunt«).
(Wie sehr erinnert Vergils Beschreibung des trojanischen Krieges auch heute noch an die grausamen aktuellen Geschehnisse unserer Zeit.)
Die von mir zitierten Verse Vergils weisen auf einen wenig beachteten Aspekt der Kunstbetrachtung hin. Die Rezeption von Kunstwerken vermittelt dem Menschen die Fähigkeit, an dem Erleben von Dauer, an der Erfahrung von unbegrenzter Zeit teilzuhaben. Die Begegnung mit Kunst setzt dem biologischen Diktat des Todes und dem historischen Bewusstsein der Vergänglichkeit die Hoffnung entgegen, dass alles, was dem Leben des Individuums Bedeutsamkeit verleiht, auch nach dem Verlöschen leiblicher Funktionen Bestand haben wird. Die Kunsttherapie stellt eine wichtige Voraussetzung dafür dar, dass auch kranken, hochbetagten und verzweifelten Personen eine solche Hoffnung nahegebracht werden kann.
Rainer Maria Rilke. Ein weiteres literarisches Beispiel für die Wirkungsmacht der Kunsttherapie stammt aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es geht hierbei um ein Gedicht von Rainer Maria Rilke (2020) mit dem Titel »Archaïscher Torso Apollos« (S. 531). Apoll wurde im griechischen Altertum als Gott des Lichts und der Sonne verehrt und galt zugleich als Schirmherr der schönen Künste und der Musen. In den ersten Versen des Rilke-Sonetts wird das Aussehen des aus der Frühzeit des griechischen Altertums stammenden, in einer Pariser Sammlung aufbewahrten Torso des Apoll beschrieben. Rilke hebt das Leuchten und Glänzen hervor, das von der ganzen Figur ausstrahlt; es ist so, als werde der auf den Torso gerichtete Blick des Betrachters von diesem auf das menschliche Gegenüber zurückgeworfen. Mit anderen Worten: Nicht nur die Kunstliebhaberin betrachtet ein Kunstwerk, sondern sie wird zugleich ständig von diesem angeblickt. Am Ende des Sonetts wandelt sich auf einmal der bislang sachlich beschreibende Charakter der Verse und macht einer lyrischen Atmosphäre Platz. Der Betrachter des Torsos wird als ein persönliches Du mit den Worten angesprochen: »… denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern« (S. 531). Der dramatische Schlusssatz endet nicht mit einem Ausrufezeichen, sondern mit einem Punkt. Es handelt sich also nicht um einen ethischen Imperativ; gemeint ist wohl eher die Tatsache, dass der den Betrachter anblickende Kunstgegenstand ein Ideal-Ich darstellt, das dem Real-Ich um mehrere Schritte voraus ist und sich der unerwünschte Abstand nur durch eine ständige spannungsreiche Bemühung des Betrachters verringern lässt. Offen bleibt nur, wer eigentlich die sprechende Person ist, die den Betrachter des Torsos persönlich anspricht. Wahrscheinlich ist es derjenige, der den Bewunderern des Torsos das Rilke’sche Sonett vorliest. Und sicher ist der Gedanke nicht gänzlich abwegig, dass es sich bei dieser Person um eine Kunsttherapeutin gehandelt haben könnte …?
Nun bitte ich Flora von Spreti um Nachsicht, dass ich in dieses Geleitwort einige bekenntnishafte Anmerkungen hineingeschmuggelt und hierbei die mir zu Gebote stehende Seitenzahl überschritten habe. Ich wünsche dem von ihr herausgegebenen Buch eine weite Verbreitung bei vielen nachdenklichen Lesern.
Hans Lauter
im Januar 2022
Rilke RM (2020). Gesammelte Werke. Die Gedichte. München: Anaconda.
Teil I
Dietrich von Engelhardt
Die Verbindung von Wahnsinn und Kreativität ist seit der Antike ein zentrales Thema der Kultur- und Medizingeschichte. Wahnsinn wird nicht nur als körperlich bedingte Krankheit mit psychischen Symptomen verstanden, ihr wird immer wieder ein geistiger Sinn zugeschrieben. Künstler widersprechen in ihrem Leben und ihren Schöpfungen gesellschaftlichen und etablierten Normen des Denkens, Fühlens und Verhaltens; Geisteskranke können ihrerseits kreativ sein und Kunstwerke hervorbringen. Vielfältig sind die Darstellungen und Deutungen des Wahnsinns oder der Geisteskrankheit in Literatur, Malerei und Musik. Allen Künsten werden therapeutische Funktionen zugeschrieben; Medizin selbst gilt nicht nur als Wissenschaft (scientia), sondern stets auch als Kunst (ars), vereint Natur- und Geisteswissenschaften, ist in ihrem Wesen Medical Humanities oder humane Humanmedizin.
Sokrates stellt in den platonischen Dialogen dem Wahnsinn als menschlicher Krankheit den göttlichen Wahnsinn als Grund außergewöhnlicher Begabung und Leistungen in der Philosophie, Dichtung und Politik gegenüber: »Nun werden uns aber die bedeutendsten Güter durch Wahnsinn (manía) zuteil, sofern er als göttliche Gabe kommt« (Plato 1993, S. 28). Kenntnisse, die nur über Ausbildung und Erfahrung gewonnen werden, gehen über ein durchschnittliches Niveau nicht hinaus: »Denn alle guten Ependichter singen nicht aufgrund eines Fachwissens (téchne), sondern in göttlicher Begeisterung (éntheos) und Ergriffenheit alle diese schönen Dichtungen« (Plato 1963, S. 19). In dieser Perspektive ist auch Seneca von der aristotelischen Auffassung überzeugt: »Keine hohe Begabung (magnum ingenium) gibt es ohne eine Beimischung von Wahnsinn (dementia)«; alltäglicher Verstand bringe nur Trivialitäten hervor, allein geistiger Schwung und »göttliche Eingebung« (instinctus sacer) schafften große Werke – »etwas Erhabeneres als ein sterblicher Mund (aliquid cecinit grandius ore mortali)« (Seneca 1989, S. 173).
Mittelalter und Moderne setzen mit neuen Akzenten und veränderten Schwerpunkten diese Tradition fort. Offenbarungen und Prophetien manifestieren für scholastische Theologen den Einbruch von Transzendenz in die Immanenz, sind Dokumente aktiver Passivität oder geistige Akte in einem Modus des Erleidens. Glossolalie oder Xenolalie sind vom Heiligen Geist eingegebenes Verstehen und Sprechen, die über individuelle und damit begrenzte Möglichkeiten hinausreichen.
»Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.« (Apostelgeschichte, 3–4)
Künstler leiten selbst ihr Schaffen vom Einfluss höherer Kräfte ab. Auf dem Bild »Der hl. Lukas malt die Madonna« (um 1520) von Jan Gossaert führt ein Engel dem Künstler die Hand. Albrecht Dürers sinnend-untätige Frauengestalt auf seinem Gemälde »Melencolia« (1514) zeigt die zeitüberdauernde Verbindung von Melancholie und Kreativität. Mit den Attributen Handwerksgeräte, magisches Quadrat, Leiter, Sanduhr, Waage, Komet, Putto, Hund, Fledermaus werden Beziehungen der Melancholie zu Theologie, Philosophie, Medizin, Technik und Künsten hergestellt. Biografische Hintergründe sind offensichtlich; Dürer leidet an schwermütigen Stimmungen, die Zahl 1514 auf dem Bild ist zugleich das Todesjahr seiner Mutter.
Philosophie und Theologie sind ihrerseits von diesen Zusammenhängen überzeugt. Richard Burton (1988) hebt in der »Anatomie der Melancholie« (1621) die Verwandtschaft von Wahnsinn (dementia) und Genialität (magnum ingenium) hervor und verspricht mit der Lektüre seines Werkes nicht nur theoretische Erkenntnis, sondern Melancholikern und auch sich selbst Hilfe und Trost. »Ich rede aus schmerzlicher Erfahrung (experience), und ich möchte anderen aus Mitgefühl (fellow-feeling) helfen« (Burton 1988, S. 24). Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1983) erkennt eine innere Nähe von Verstand und Wahnsinn: »Was wir Verstand nennen, wenn es wirklicher, lebendiger, aktiver Verstand ist, ist eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn« (S. 414). Menschen ohne diesen verborgenen Wahnsinn hätten einen leeren und unfruchtbaren Verstand. Immer wieder müsse aber erlebt werden, wobei Schelling an seinen geisteskranken Freund Friedrich Hölderlin gedacht haben wird, dass die regulative und kompensatorische Kraft des Verstandes zu schwach sei und dieser dem Wahnsinn erliege: »Allein es gibt Fälle, wo auch der Verstand den in der Tiefe unseres Wesens schlummernden Wahnsinn nicht mehr bewältigen kann« (S. 414).
Künstler sind sich der ständigen seelisch-geistigen Gefährdung als Preis für ihre Kreativität bewusst. Friedrich Hölderlin führt in antiker Tradition sein eigenes seelisches Leiden auf das Wirken überirdischer Mächte zurück: »Mich hat Apollo geschlagen« (Hölderlin 1969, S. 362). Marcel Proust zählt physische und psychische Belastungen, die zu wenig beachtet und anerkannt würden, zu wesentlichen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen künstlerischer Leistungen:
»Wir genießen kunstvolle Musik, schöne Bilder, tausend erlesene Köstlichkeiten, aber wir wissen nicht, was sie ihre Schöpfer an Schlaflosigkeit, an Tränen, an krampfhaftem Lachen, an Nesselfieber, Asthma, Epilepsie gekostet haben oder an Todesangst, die schlimmer als alles ist.« (Proust 1975, S. 404 f.)
Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers, der die Beziehungen von Geisteskrankheit und Kreativität intensiv bei Strindberg, van Gogh, Hölderlin und Nietzsche untersucht hat, versteht »Enthusiasmus« ebenfalls nicht nur als psychologische Begeisterung, sondern in einem tieferen Sinn als Immanenzwerdung der Transzendenz, die bei Denkern und Künstlern zu beobachten und von mystischer Ekstase zu unterscheiden sei.
»Immer bleibt der enthusiastischen Einstellung das Merkmal, daß alles ans Ganze gesetzt wird, dass das Opfer der eigenen Individualität (das aus allen begrenzten Einstellungen erlebnismäßig unbegreiflich ist) selbstverständlich wird, und daß jener einzigartige Seelenzustand mit Kraft lebendig ist, den Philosophen und Dichter immer wieder als Rausch, Schwärmerei, Liebe, Wahnsinn beschrieben haben.« (Jaspers 1971, S. 118)
Geisteskranke sind in allen Kunstarten kreativ, nicht selten auch erst nach der Erkrankung, mit der die künstlerische Tätigkeit aber auch abnehmen oder verloren gehen kann. Bei Hölderlin bricht die Kreativität mit der schizophrenen Erkrankung nicht ab, hält, wenn auch mit Einschränkungen, bis an sein Lebensende an. Von immanenter Resignation und transzendenter Hoffnung ist ein Gedicht von ihm aus dem Jahre 1812 erfüllt: »Die Linien des Lebens sind verschieden, / wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen. / Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen / mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden« (Hölderlin 1951, S. 268). Hölderlins dichterische Produktivität in den späteren Jahren bringt Jaspers in einen Bezug zu seiner geistigen Erkrankung, mit Anregungen für medizinisches und philosophisches Verständnis. »Wie eine kranke Muschel Perlen entstehen läßt, so können schizophrene Prozesse einzigartige geistige Werke entstehen lassen« (Jaspers 2013, S. 130). Bedeutende Beispiele der Malerei Geisteskranker enthalten die Sammlung Morgenthaler der Psychiatrischen Klinik Waldau und die Sammlung Prinzhorn der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik. In der Landesnervenklinik Gugging bei Wien leben geisteskranke Maler und Dichter in einem Haus zusammen (Navratil 1983), das 2007 in ein Museum umgewandelt wurde.
Vielfältig und zahlreich sind Literatur und Künste an Darstellungen und Deutungen der Verbindung von Wahnsinn und Kreativität seit der Antike.
Die prophetische Gabe der Seherin Sibylle von Cumae ist in Vergils »Aeneis« (29–19 v. Chr.) göttlichen Ursprungs mit Auswirkungen auf Körper und Seele. Als die Seherin Apollo um einen Schicksalsspruch bittet,
»bleibt ihr Gesicht, ihre ganze Erscheinung nicht mehr dieselbe, nicht mehr geordnet ihr Haar, es keucht ihre Kehle, und in wildem Rasen (rabies) schwillt ihr die Brust. Größer erscheint sie, ihre Stimme hat nichts Menschliches mehr (nec mortale sonans), denn es streift sie der Anhauch (numen) des Gottes, der ihr schon ganz nahe ist.« (Vergil 6,47–50, 2005, S. 247)
Platonische Weisheit, paradiesische Einfalt, religiöse Begeisterung und Geisteskrankheit werden von Erasmus von Rotterdam (1977) im »Lob der Torheit« 1511 aufeinander bezogen. Wer aus dem Zustand der ekstatischen oder wahnsinnigen Entrücktheit (dementia) zurückkehrt, kann die normale Wirklichkeit nur schwer akzeptieren:
»Sie erinnern sich nur nebelhaft und wie nach einem Traum, was sie gehört, gesehen, gesagt und getan haben, und wissen nur so viel, dass sie in tiefster Seligkeit waren, als sie so entzückt wurden. Deshalb bedauern sie auch, dass sie wieder zu Besinnung gekommen sind, und möchten am liebsten auf immer in solcher Verrücktheit (insania) von Sinnen sein.« (Erasmus von Rotterdam 1977, S. 111)
Wahnsinnsarien erklingen seit dem Barock, im 19. Jahrhundert vor allem in italienischen Opern von Gioachino Rossini, Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti, Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini. In Donizettis »Lucia di Lammermoor« (1835) ermordet Lucia an ihrem Hochzeitstag in einem Ausbruch des Wahnsinns ihren verhassten Bräutigam, hält sich nun frei für ihren Geliebten, erleidet einen Zusammenbruch (»di ragion la trasse amore«) und stirbt.
Ursachen und Folgen des Wahnsinns werden ambivalent beurteilt. Francisco de Goya lässt auf dem Gemälde »El sueño de la razón produce mostruos« (1797/1798) aus dem Schlaf oder Traum der Vernunft Ungeheuer entstehen. Fantasie ist schöpferisch, kann aber ebenso Vernichtung und Krankheit hervorrufen: »Wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte [der geisteskranke Sittlichkeitsverbrecher] Moosbrugger entstehen«, erkennt Robert Musil (1984, S. 76) in dem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. Wahnsinn soll das Bewusstsein auch für Wahrheiten öffnen können. Novalis (1981a) lässt »Heinrich von Ofterdingen« (1802) »freiwilligen Wahnsinn« erleiden, um »den Sinn der Welt« zu erraten (S. 344). Wahn und Wahrheit berühren und unterscheiden sich: »Der Unterschied zwischen Wahn und Wahrheit liegt in der Differenz ihrer Lebensfunktionen. Der Wahn lebt von der Wahrheit; die Wahrheit hat ihr Leben in sich« (Novalis 1981b, S. 414).
Bewusstseinserweiternde Fähigkeiten relativieren verbreitete Unterscheidungen von Gesundheit und Krankheit. In den »Nachtwachen des Bonaventura« (1804) von E. A. F. Klingemann (1974) wird die irritierende Frage gestellt: »Ja, wer entscheidet es zuletzt, ob wir Narren hier in dem Irrenhause meisterhafter irren, oder die Fakultisten in den Hörsälen? Ob vielleicht nicht gar Irrtum, Wahrheit; Narrheit, Weisheit; Tod, Leben ist« (S. 120). Im Übrigen soll Wahnsinn, wovon Jean Paul (2000) überzeugt ist, ebenso wenig das Bewusstsein total zerstören wie physische Krankheit nicht vollständig den Körper des Menschen, andernfalls hätte jede Therapie auch keinen Sinn: »Auch der Wahnsinn muss der Seele eine uneroberte heilige Nervenstelle lassen, wie die vernünftigen Träume und vernünftigen Sterbeaugenblicke der Wahnsinnigen beweisen« (S. 1214).
Dem Ausbruch des Wahnsinns gehen in Honoré de Balzacs Roman »Louis Lambert« (1832) geniale Leistungen voraus: »Eine tiefe Meditation, eine schöne Ekstase sind vielleicht beginnende Katalepsien.« (Balzac 1972, S. 574). Lamberts Sinnesorgane sind hoch entwickelt, vor allem gilt das für seinen Geruchssinn, er verfügt über das zweite Gesicht, leidet an Bewusstseinsabsencen, nervöser Hysterie und tiefer Melancholie, die mit Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit einhergeht: »Und läßt mich das Nichts im Grund der gewissesten Reichtümer sehen (le néant au fond des plus certaines richesses)« (Balzac 1972, S. 561). Bei aller Trauer über die geistige Erkrankung wird Lambert die Möglichkeit überirdischer Weisheit nicht abgesprochen:
»Die Philosophen werden dem Blättersprossen nachtrauern, das in der Knospe vom Frost getroffen wurde; aber sicherlich werden sie seine erschlossenen Blüten in Regionen erblicken, die höher gelegen sind als die höchsten Stätten der Erde (les plus hauts lieux de la terre).« (Balzac 1972, S. 538)
Der Ich-Erzähler in Gérard de Nervals Erzählung »Aurélia« (1855) fragt sich, ob sein Leiden wirklich Geisteskrankheit sei,
»[…] denn niemals habe ich meinesteils mich wohler gefühlt. Mitunter schien es mir, als hätten meine Kraft und mein Tätigkeitsdrang sich verdoppelt; ich glaubte, alles zu wissen, alles zu verstehen; meine Einbildungskraft (imagination) gewährte mir unendliche Entzückungen (des délices infinies). Soll ich ihnen nachtrauern, nun, wo ich das, was die Menschen Vernunft (raison) nennen, wiedererlangt habe?« (Nerval 1989, S. 361)
»Die Empfindung des Lebens, des Bewußtseins verzehnfachte sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Der Verstand, das Herz waren plötzlich von ungewöhnlichem Licht erfüllt; alle Aufregung, alle Zweifel, alle Unruhe löste sich gleichsam in eine höhere Ruhe auf, in eine Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Sinn und letzter Schöpfungsursache (polnoe razuma i okončatel’noj pričiny).« (Dostojewskij 1963, S. 347)
Steigerung und Befreiung im Wahnsinn beschreibt der Psychiater und Schriftsteller Mario Tobino in seinem Roman »Die freien Frauen von Magliano« (1953). Eine seiner Patientinnen
»machte ihrem Herzen Luft; ja sie war es, sie enthüllte ihre Seele, sie stieg auf die Bäume und sang; sehr behende war sie wie eine Seeräuberin, eine Heldin, mit reinen, rötlichen Gesichtszügen und feurigen Augen; die Fahne der Unterdrückten entfaltete sich in der Weite des Lichts; endlich war sie frei, in ihrem Reich, im Wahnsinn (infine libera nel suo regno, nel manicomio).« (Tobino 1988, S. 9)
Wahnsinn und Kreativität stehen in wechselseitigen Zusammenhängen, werden wiederholt in Werken der Kunst und Literatur beschrieben und interpretiert, die selbst wieder zur Behandlung von Geisteskrankheiten beitragen können. Kunst ist Therapie, Therapie auch Kunst.
Vom Besuch der Tragödien erwartet Aristoteles (2008) kathartische Wirkungen: »Durch Mitleid (éleos) und Furcht (phóbos) bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle« (S. 9). Der Musik wird ebenfalls in jener Zeit heilende Kraft zugeschrieben, so auch im Alten Testament: »Sooft nun ein Geist Gottes Saul überfiel, nahm David die Zither und spielte darauf. Dann fühlte sich Saul erleichtert, es ging ihm wieder gut, und der böse Geist wich von ihm« (1. Samuel 16, 23). Die antiken Ärzte Xenokrates und Asklepiades von Bithynien empfehlen Musik zur Therapie Geisteskranker. Auch in der arabischen Medizin werden der Musik heilende Kräfte bei seelischen Krankheiten zugesprochen. Mit der Niederschrift ihrer Visionen lindert im Mittelalter die Äbtissin, Ärztin und Naturforscherin Hildegard von Bingen ihr lebenslanges Leiden an Körper, Seele und Geist. Mit Musik und ihrer eigenen Leidensgeschichte wird Shakespeares »Pericles« (1607) von seiner Tochter Marina aus Melancholie und Sprachlosigkeit befreit. In Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« (1821/1829) trägt der kranke Flavio zum Prozess seiner Genesung durch eigenes Dichten bei, zusätzlich unterstützt durch das Klavierspiel von Hilarie, zugleich unter der Aufsicht des Arztes. »Hier nun konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik heilt sie alle Seelenleiden« (Goethe 1967, S. 206).
Künstler wissen aus eigener Erfahrung, dass Kunst aber auch belasten kann. In Conrad Ferdinand Meyers Novellenfragment »Der Gewissensanfall« (1916) bringt die Lektüre »Meine Gefängnisse« (1832/1843) des italienischen Schriftstellers Silvio Pellico (1960) bei der Mutter des Majors die »Schwermut, die freilich schon lang in ihr gebrütet haben mochte, zum Ausbruch« (Meyer 1976, S. 563). Nach Franz Kafka (1958) sollen Bücher wie »die Axt für das gefrorene Meer in uns« (S. 28) wirken, sollen positive Entwicklungen unter zugleich schmerzhaften Empfindungen auslösen. Gottfried Benn (1987) erwartet von Kunstwerken die Befreiung von »analytisch applanierten Psychen, hedonisierten Genitalien, Flucht in die Neurose: happy end« wie ebenfalls vom »Zivilisationsschotter« der Gegenwart (S. 241). Romano Guardini (1954) weist auf Chancen und Gefahren der Literatur hin. »Denn, wenn das Buch uns beschenken, uns trösten und stärken kann – wie tief kann es auch beunruhigen, irreführen und zerstören« (S. 34). Graham Greene (1981) hält es für unbegreiflich, »wie alle jene, die nicht schreiben, komponieren oder malen, es zuwege bringen, dem Wahnwitz (madness), dem Trübsinn (melancholia) und der panischen Angst (panic and fear), die dem menschlichen Dasein innewohnen, zu entfliehen« (S. 306).
Alle Richtungen der Kunsttherapie wie der Psychotherapie können in allen medizinischen Disziplinen Bedeutung gewinnen und in Diagnostik und Therapie, in Prävention und Rehabilitation, im Umgang des Kranken mit seiner Krankheit, in seiner Beziehung zum Therapeuten und zu seiner Lebenssituation Anwendung finden.
Mit den Zusammenhängen von Wahnsinn und Kreativität beschäftigen sich seit der Antike Medizin, Philosophie, Theologie, Kunst und Literatur – in den Ursachen, Erscheinungen und Therapie, als Unterstützung und Beistand, in der Subjektivität des Kranken, in den sozialen Reaktionen und geistig-symbolischen Deutungen. Die Erfahrungen, Initiativen und Theorien der Vergangenheit können auch in der Gegenwart zum besseren Verständnis der Kunst und des Künstlers, der Geisteskrankheit und des Geisteskranken beitragen. Der Raum der Geschichte und Kultur manifestiert das Spektrum menschlicher Möglichkeiten in Theorie und Praxis.
Kunst und Realität unterscheiden sich und sind zugleich aufeinander bezogen. Kunst stellt gängige Einstellungen gegenüber der Geisteskrankheit infrage und fördert verständnisvolle und menschliche Reaktionen, entwirft Anregungen für Psychiatrie, Psychotherapie und Kunsttherapie, manifestiert das ebenso substanzielle wie komplexe Verhältnis von Objektivität und Subjektivität, Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, Behinderung und Begabung, Freiheit und Unfreiheit. Evidenzbasierte Medizin heißt empirisch-statistischer Beweis, aber ebenso unmittelbare Einsicht; personale Medizin muss neben genetisch-biologischer Individualität auch die Person des Kranken, sein Bewusstsein, seine Gefühle, Gedanken und Wünsche sowie seine soziale Situation berücksichtigen; Präzisionsmedizin schließlich meint nicht nur objektive, sondern ebenso subjektive Genauigkeit, Selbstwahrnehmung des Kranken, Beobachtungen seiner Umwelt und Beurteilungen des Therapeuten. Entscheidend sind Kreativität und Wahnsinn in ihren unterschiedlichen Formen und Beziehungen, Toleranz und Solidarität gegenüber kranken Künstlern, Verbindung von Therapie, Ästhetik und Ethik.
Aristoteles (2008). Poetik [griech. um 355 v. Chr.]. Werke in deutscher Übersetzung: Bd. 5. Berlin: Akademie Verlag.
Balzac H de (1972). Louis Lambert [franz. 1832]. In: Die Menschliche Komödie. Bd. 12. München: Goldmann; S. 417–593.
Benn G (1987). Zur Problematik des Dichterischen [1930]. Sämtliche Werke, Bd. 3. Stuttgart: Klett-Cotta; S. 232–247.
Burton R (1988). Anatomie der Melancholie [engl. 1621]. Zürich: Artemis.
Dostojewskij FM (1963). Der Idiot [russ. 1868/1869]. München: Piper.
Erasmus von Rotterdam (1977). Das Lob der Torheit [lat. 1511]. Stuttgart: Reclam.
Goethe JW (1967). Wilhelm Meisters Wanderjahre [1821/1829]. Werke, Bd. 8. Hamburg: Christian Wegner.
Greene G (1981). Fluchtwege [engl. 1980]. Wien: Zsolnay.
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Hölderlin F (1951). Sämtliche Werke Bd. 2. Stuttgart: Kohlhammer.
Hölderlin F (1969). Sämtliche Werke Bd. 10. Stuttgart: Kohlhammer.
Jaspers K (1971). Psychologie der Weltanschauungen [1919]. Berlin: Springer.
Jaspers K (2013). Strindberg und van Gogh. Versuch einer vergleichenden pathographischen Analyse [1921]. München: Piper.
Jean Paul (2000). Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele [1827]. Werke, Abt. 1, Bd. 6. Darmstadt: WBG; S. 1105–1236.
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Klingemann EAF (1974). Die Nachtwachen des Bonaventura [1804]. Frankfurt a. M.: Insel.
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Musil R. (1984). Der Mann ohne Eigenschaften [1930–1952]. Reinbek: Rowohlt.
Navratil L (1983). Die Künstler aus Gugging. Wien: Medusa.
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Novalis (1981a). Paralipomena zum »Heinrich von Ofterdingen« [1802]. Schriften, Bd. 1. Darmstadt: WBG; S. 335–358.
Novalis (1981b). Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub [1798]. Schriften, Bd. 2. Darmstadt: WBG; S. 412–470.
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Plato (1983). Ion [ griech. um 413 v. Chr.]. München: Heimeran.
Plato (1993) Phaidros [griech. zwischen 420 und 400 v. Chr.]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Proust M (1975). Auf der Suche nach der verlorenen Zeit [franz. 1913–1927]. Werke, Bd. 5. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Schelling FWJ (1983). Stuttgarter Privatvorlesungen [1810]. In: Schriften von 1806–1813. Darmstadt: WBG; S. 361–428.
Seneca LA (1989). Über die Seelenruhe [lat. zwischen 49 und 62 n. Chr.]. In: Philosophische Schriften, Bd. 2. Darmstadt: WBG; S. 100–173.
Tobino M (1988). Die freien Frauen von Magliano [ital. 1953]. Darmstadt: Luchterhand.
Vergil (2005). Aeneis [lat. 29 bis 19 v. Chr.]. Zürich: Winkler.
Thomas Fuchs
Anthropologische Anmerkungen
Künstlerische Tätigkeit ist ihrem Wesen nach herausgehoben aus den Zweck-Mittel-Zusammenhängen, die das alltägliche Handeln regieren. Welche Absichten und Ziele die Künstlerin auch immer verfolgen mag, das Kunstwerk als solches ist kein »Werkzeug«, es dient keinem unmittelbaren Zweck oder Gebrauch, es steht für sich selbst. Insofern ist Kunst Ausdruck der spezifisch menschlichen Freiheit, sich von der unmittelbaren Notwendigkeit der Daseinsfristung zu emanzipieren. Was ist das Wesen dieser Freiheit, worum geht es bei ihr? Wir können uns dies vielleicht am besten anhand eines der ältesten Zeugnisse menschlicher Kreativität deutlich machen: der Produktion von Bildern, die ihren Anfang vor über 30 000 Jahren mit den Höhlenmalereien nahm. Welche besondere menschliche Fähigkeit ist es, die sich im bildnerischen Ausdruck manifestiert?
Ein Bild ist ein eigenartiges Gebilde zwischen Sein und Nicht-Sein: Es zeigt uns etwas, was es doch selbst nicht ist. Es präsentiert etwas Abwesendes. Wir sehen nicht eine farbige Leinwand oder ein schwarz-weißes Papier, sondern wir sehen – gewissermaßen durch diese Materialien hindurch – den dargestellten, den gemalten oder fotografierten Gegenstand. Der Kunsthistoriker Gottfried Boehm (1994) hat von der »ikonischen Differenz« zwischen Bild und Bildmaterial gesprochen. Sie ist Ausdruck der spezifisch menschlichen Fähigkeit, das bloß Faktische gewissermaßen einzuklammern und es als ein anderes zu sehen. Wir sehen das Bild als Bild, das heißt, wir sehen das Dargestellte so, als ob es das Wirkliche wäre. Der Rahmen des Bildes grenzt eine andere, fiktionale oder symbolische Welt von der gewöhnlichen Realität ab. So ist das Bild ein ganz anderes Ding als ein Stein, ein Apfel oder auch ein Tisch; Bilder gibt es nur für Wesen, die ihre Darstellungsfunktion, ihre »Als-ob«-Funktion begreifen, die also das Vermögen der Fiktionalität haben. Das lateinische fictio bedeutet Bildung, Formung, Gestaltung. Hans Jonas (1973) hat daher die Bildproduktion als das wesentliche Kriterium angesehen, das den Menschen vom Tier unterscheidet: Der Mensch zeigt sich zuallererst als Bilderschöpfer, als homo pictor.
Diese Fähigkeit zur Fiktion, zum Als-ob, ist aber nun keineswegs eine rein individuelle Errungenschaft, sondern an sich intersubjektiver Natur. Das erkennen wir bereits am Begriff der Darstellung: Dargestellt wird etwas immer für jemand anderen. Indem wir ein Bild als Bild sehen, denken wir immer schon jemanden mit, der dieses Bild gemacht hat. Und wenn wir auf den Ursprung der fiktionalen oder Als-ob-Funktion zurückgehen, so finden wir ihn in dem Sprung, den das Kind etwa um den 8./9. Lebensmonat herum macht, wenn es zum ersten Mal begreift, dass seine Mutter ihm mit dem ausgestreckten Finger etwas zeigen will; dass dieser Finger also nicht einfach ein Finger ist, sondern etwas be-deutet, nämlich das, was man findet, wenn man seine Richtung als vorgestellte Linie weiterverfolgt (Fuchs 2000). Zur gleichen Zeit beginnt das Kind auch, der Mutter Dinge zu zeigen, und vergewissert sich durch einen kurzen Blick zurück, ob die Mutter auch den gleichen Gegenstand sieht wie es selbst. Diese Fähigkeit der »gemeinsamen Aufmerksamkeit« (joint attention), wie es die Entwicklungspsychologie nennt, ist der eigentliche Beginn der Interpersonalität. Kinder beginnen nun zu begreifen, welche Dinge ein anderer aus seiner Warte sehen kann und welche nicht, so als ob sie an seiner Stelle wären. Eine Person zu sein, heißt im Kern, die Intentionen anderer nachvollziehen zu können, also mit ihnen »in die gleiche Richtung zu blicken«.1
Die Fähigkeit, etwas als etwas anderes zu nehmen, wie etwa den gestreckten Finger als Zeigefinger, ist also untrennbar verknüpft mit der Fähigkeit, es aus der Sicht der anderen zu sehen und ihre Perspektive mitzudenken. Auf dieser zentralen personalen Fähigkeit beruhen nun alle Darstellungs- und Symbolfunktionen, die sich in der Folge entwickeln, etwa zunächst die Fähigkeit des Kindes, im Spiel bestimmte Rollen und Haltungen von Erwachsenen einzunehmen und dabei so zu tun, als ob ein Holzknopf ein Stück Brot oder ein Pappkarton ein Schiff sei, dann die Fähigkeit, beim Malen einen wirklichen Gegenstand im Bild darzustellen, und schließlich die Fähigkeit, einen Gegenstand mit einem Wort zu bezeichnen. All dies sind Vermögen, in deren Ausübung die anderen als Teilnehmende immer mitenthalten und mitgedacht sind, selbst wenn dies dann auch ohne ihre Anwesenheit geschieht. Der mögliche Betrachter oder Hörer ist Teil der kreativen Äußerung; seine innerlich vorweggenommenen oder auch tatsächlichen Antworten wirken bei jedem künstlerischen Akt mit.
Das Bild ist also, wie Hans Jonas (1973) sagt, das Phänomen, an dem wir den Menschen erkennen können, denn in ihm manifestiert sich sein Vermögen der Fiktionalität, das immer ein gemeinsames, intersubjektiv begründetes Vermögen ist. Doch noch eine andere Fähigkeit liegt der Bildproduktion zugrunde, die freilich mit der Fiktionalität eng verwandt ist, nämlich die Vorstellungs- oder Einbildungskraft, die Imagination. Wie das Bild selbst, so vergegenwärtigt auch die Einbildung etwas Abwesendes, sie operiert mit Nicht-Physischem, nur Vorgestelltem, und so ist das Bild nichts anderes als die nach außen gesetzte Einbildung; die Darstellung ist die materialisierte Vorstellung. Die menschliche Fantasie hat die Macht über die Bilder der Dinge und kann sie daher auch beliebig fingieren, verwandeln, umformen und neu kombinieren.
Mit der Fähigkeit zur Imagination und zur Fiktion ist eine ungeheure Freiheit gewonnen, ein unbegrenztes Reich des Möglichen eröffnet. Für Schiller (1795/1966) ist der Mensch dort frei, wo »alles Wirkliche seinen Ernst (verliert)« (S. 480), also seinen unmittelbar nötigenden Charakter, und wo er mit den Möglichkeiten spielen kann. Im Spiel und in der Kunst betritt er eine Welt des Als-ob, eine Welt des Scheins, nicht im illusionär-täuschenden Sinn, sondern im Sinne der Freiheit von unmittelbarem Realitätsdruck. Der Wirklichkeitssinn erweitert sich um einen »Möglichkeitssinn«, wie Musil (1930/2013) es nannte. Wir sehen nicht nur das Faktische, sondern zugleich immer auch das Mögliche im Faktischen. Die bildnerische und überhaupt künstlerische Produktion ist die Veräußerlichung dieser inneren Freiheit, die Rückübertragung der Imagination in die stoffliche und sichtbare Welt – ein Handeln, das dabei doch immer ein »Probehandeln« bleibt, da es sich im Rahmen der Kunst bewegt.
In dieser Verwandlung von vorgestellter Form in Stoff betätigt sich zugleich eine weitere Freiheit des Menschen, nämlich die, welche ihm die Beherrschung seines Körpers ermöglicht. Erst die freie Verfügung über die Motorik erlaubt es, die Glieder nicht nach einem festen Reiz-Reaktions-Schema zu bewegen, sondern gemäß einer geistig entworfenen Form. Auch dies ist ja ein Vermögen, das wir am Künstler bewundern: seine Glieder gemäß den innerlich vorgebildeten Gestalten zu deren Ausführung zu leiten und so eine nur vage vorgestellte in eine reale, stoffliche und bestimmt geformte Gestalt zu überführen. Dieses Gestaltungsvermögen, in dem etwas zu etwas anderem gemacht, verwandelt und geformt wird, nannten die Griechen »poiesis«, und darin ist impliziert, dass der menschliche Leib als Gestaltender selbst »poietisch«, künstlerisch verfasst ist.
Damit ist freilich zunächst eher die klassische, die Form betonende Auffassung der Kunst bezeichnet. In jedem künstlerischen Prozess liegt aber weiter die Möglichkeit, gefühlsmäßig Erlebtes auszudrücken, und das heißt ganz wörtlich: nach draußen zu bringen, es sich äußerlich gegenüberzustellen, es in die Distanz des sichtbaren Bildes zu rücken. Denn im Bild kehren nicht nur innere Bilder wieder, sondern auch die Ausdrucksgestalten und Gefühlstöne des Erlebens, die sich in den Farben, Formen und Motiven des Bildes niederschlagen. Das Bild hat die Eigenschaft, die Empfindungen seines Schöpfers widerspiegeln zu können, mag dies nun in sehr sublimierter oder in spontan-expressiver Weise geschehen. Und zugleich bedeutet jedes Gestalten eines empfundenen Gefühls auch einen Prozess des Ordnens, Feststellens und damit Zur-Ruhe-Bringens von Bedrängendem oder Aufwühlendem im eigenen Inneren.
Die Wirkung, die das so entstandene Bild nun auf den Betrachter ausübt, ergibt sich wesentlich daraus, dass er seinerseits an ihm seine Einbildungskraft betätigen kann – weshalb die Kunst ja oft gerade im Andeuten und Weglassen besteht, das der Imagination Raum lässt. Die Wirkung entsteht weiter aus den Leib- und Gefühlsempfindungen, die das Bild auch im Betrachter wachruft – seit der Entdeckung des neuronalen Spiegelsystems lässt sich dies auch auf neurobiologischer Ebene nachweisen (Freedberg und Gallese 2007). Wir spüren das Beklemmende in Edvard Munchs Bild »Der Schrei«, weil wir die gesehene Gestalt in entsprechende leibliche Bewegungsimpulse übersetzen, weil wir uns selbst unwillkürlich ein wenig so fühlen, als seien wir selbst die Person, der sich der Schrei entringt. Wir nehmen den Schwung des Pinsels oder die feinen Tüpfelchen auf dem Bild unterschwellig so wahr, als hätten wir den Pinsel selbst in der Hand. Die besondere, über das Bild vermittelte Kommunikation zwischen Künstlerin und Betrachter liegt also darin, dass das ursprünglich von der Künstlerin Imaginierte, Empfundene und Erlebte im Bildbetrachter seinerseits ähnliche oder verwandte Imaginationen und Empfindungen auslöst.
Diese Überlegungen zur Anthropologie des Bildes und seiner Entstehung vermitteln eine andere Konzeption, als es die romantische Vorstellung einer Schöpfung aus den unbewussten Tiefen der Seele nahelegt. Künstlerische Tätigkeit ist nicht reiner Akt der Spontaneität. Jedes Bild setzt schon im Betrachten, erst recht aber im Schaffensprozess die Fähigkeit der Fiktionalität, die Erfassung des Als-ob voraus. Es entsteht in einem Möglichkeitsraum, der durch die Kraft der Vorstellung und Imagination eröffnet wird und der dem Menschen die Freiheit des Als-ob, des Spiels und einer vom unmittelbaren Realitätsdruck befreiten Kreativität gibt. Das Bild entspringt unserem Möglichkeitssinn. Zugleich ist jedes Bild bereits intersubjektiver Natur, denn es enthält im Entstehen wie im Betrachten implizit die gemeinsame Aufmerksamkeit (joint attention) auf das Dargestellte. Jedes Bild ist ein Kommunikationsangebot an den Betrachter, der mit dem Bildschöpfer – selbst wenn er nicht anwesend ist – »in die gleiche Richtung blickt« und dabei nicht nur die geschaffenen Gestalten und Motive wiedererkennt, sondern auch ihren Ausdruck mimetisch in sich nachbildet und nachempfindet.
Diese Überlegungen geben uns Hinweise auf die Rolle des künstlerischen Ausdrucks für psychisch kranke Menschen. Namentlich psychotische Patienten werden von inneren Bildern, wuchernden Assoziationen und intensiven äußeren Eindrücken überschwemmt, für die unsere alltägliche Sprache keine geeigneten Worte zur Verfügung stellt. In dieser Lage eröffnet ihnen das Bild eine abgegrenzte Sonderwelt, in der sie ihren bedrängenden, namenlosen Erlebnissen eine nicht-verbale Form und Gestalt geben können. Es ist gerade die eigentümliche Stellung des Bildes zwischen Sein und Nicht-Sein, die es zu einem Raum für das sonst Unsagbare, das Unwirkliche und das Schreckliche macht; zu einem Spiegel, in dem sich der Patient in seinem Erleben und Erleiden doch selbst wiedererkennen kann.
Psychisch kranke Menschen sind andererseits nur eingeschränkt in der Lage, auf ihre Umgebung aktiv Einfluss zu nehmen und in der gemeinsamen sozialen Realität zu agieren. Ihre Handlungsfreiheit ist mehr oder minder schwer beeinträchtigt. Nun bedeutet die künstlerische Gestaltung, wie wir sahen, zunächst die Freiheit, über den eigenen Körper und das Material zu verfügen und einen inneren Entwurf auch zu einer sichtbaren Ausführung zu bringen. Unabhängig davon, wie gut dies gelingt – den Raum des Bildes kann der Kranke oft leichter gestalten als die bedrohliche äußere Realität. So vermittelt die bildnerische Tätigkeit auf einfache Weise ein Erlebnis von Selbstwirksamkeit: Entwurf, Aktion und sichtbares Ergebnis schließen sich zu einem Kreis.
Statt sich mit der oft bedrohlichen Alltagsrealität direkt zu konfrontieren, kann der Kranke im bildnerischen Gestalten eine andere Wirklichkeit betreten, zu der er durch seine Imagination Zugang hat – das eigentümliche Zwischenreich der Kunst, des Als-ob. Wenn der Mensch dort frei wird, wo das Wirkliche seinen Ernst verliert, wie Schiller (1795/1967) sagt, wo wir uns also im Spiel, in der Kunst vom unmittelbaren Realitätsdruck emanzipieren können, dann liegt darin auch für psychisch Kranke ein Weg, die Freiheit des Spiels mit den eigenen Möglichkeiten wiederzugewinnen.
Zugleich wird das Bild zu einem – wenn auch indirekten – Signal und einem Kommunikationsangebot für die anderen. Denn die präverbale Welt des Ausdrucks, der Farben und Formen ist uns allen gemeinsam, selbst wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen. Gerade die indirekte Weise der Mitteilung ist für psychisch kranke Menschen oft die Möglichkeit, in einer geschützten Weise mit anderen in Kontakt zu treten. Statt der häufig belastenden unmittelbaren Konfrontation der Blicke ausgesetzt zu sein, erlaubt es das Bild, die Blicke zu parallelisieren, in die gleiche Richtung zu blicken und damit die personale Grundsituation der frühen Kindheit als sichere Basis wiederzufinden. So stellt das Bild eine einzigartige Brücke zur Welt des Kranken dar, die allerdings nicht einfach von vorneherein offensteht: Es kommt darauf an, die Möglichkeit dieser Brücke zu erkennen, ihre Entstehung zu fördern und zu begleiten. Dies ist die Aufgabe der künstlerischen Therapien.
Ihre wohl wichtigste Grundlage ist der innere Zusammenhang von Kreativität und Emotionalität: Sowohl der kreative als auch der emotionale Ausdruck stellen eine verbindende Beziehung zwischen Innen und Außen, Selbst und Anderem her. Gefühle enthalten eine Erlebnis- und eine Ausdruckskomponente: Ihre leibliche Resonanz in Form von Psychomotorik, Muskelspannung, Herz-, Atemrhythmus usw. wirkt nach innen und nach außen zugleich. In Gefühlen nehmen wir eine persönlich bedeutsame Situation leiblich, ganzheitlich und bewertend wahr. Zugleich sind Gefühle immer auch interpersonale Signale, die leiblich-empathisch verstanden werden. Ihr Ausdruck wird zum Eindruck, den sie im Anderen auslösen. Gefühle sind die primäre Sprache der menschlichen Kommunikation.
So betrachtet setzt sich im kreativen Akt fort, was in der mimischen und gestischen Expressivität begonnen hat: Die Gestaltung intensiviert die im Gefühlsausdruck erlebte Resonanz nach innen und nach außen hin. Künstlerische Therapien sprechen nicht nur die sensorische und atmosphärische Wahrnehmung an, sondern auch das propriozeptive Leibempfinden, das unmittelbar mit dem emotionalen Erleben verknüpft ist. Damit fördern sie die Selbstwahrnehmung, den intuitiven Selbstsinn. Gerade dort, wo der unmittelbare Ausdruck gehemmt ist, stellt das künstlerische Medium einen über den Leib hinausreichenden Ausdrucksraum zur Verfügung. Zugleich richten sich die kreativen Gestaltungen indirekt an andere, seien es Therapeuten oder andere Beteiligte. Der potenzielle Betrachter ist Teil der kreativen Äußerung; seine innerlich vorweggenommenen oder auch tatsächlichen Antworten wirken bei der Entstehung jedes Bildes oder anderer Gestaltungen mit. So werden die Strukturen, Bewegungen und Farben des Bildes zu Trägern eines emotionalen Erlebens, das Künstler und Betrachtende, Patienten und Therapeuten miteinander verbindet. Die Kunsttherapie vermag dieses Erleben ins Bewusstsein zu heben und die Bilder schließlich auch als Basis für die verbale Kommunikation zu nutzen. Sie eröffnet damit einen Zugang zu verborgenen Erlebnissen und Anteilen der Patienten, und ihre Botschaften bleiben nicht ungehört.
Boehm G (1994). Die Wiederkehr der Bilder. In: G Boehm G (Hg), Was ist ein Bild? München: Fink; S. 11–38.
Freedberg D, Gallese V (2007). Motion, emotion and empathy in esthetic experience. Trends in Cognitive Sciences, 11(5): 197–203.
Fuchs T (2000). Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart: Klett-Cotta.
Fuchs T (2002). Der Begriff der Person in der Psychiatrie. Nervenarzt, 73: 239–246. Wiederabgedruckt unter dem Titel: Maske, Selbst, Selbstentfremdung. Zur Anthropologie und Psychopathologie der Person. In: T Fuchs (2002). Zeit-Diagnosen. Philosophisch-psychiatrische Essays. Kusterdingen: Die Graue Edition; S. 135–163.
Fuchs T (2008). Das Bild als Spiegel. In: P Martius, F von Spreti, P Henningsen (Hg), Kunsttherapie bei psychosomatischen Störungen. München: Urban & Fischer bei Elsevier; S. 27–32.
Jonas H (1973). Homo pictor. Von der Freiheit des Bildens. In: H Jonas (Hg), Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; S. 226–257.
Musil R (1930/2013). Der Mann ohne Eigenschaften. München: Anaconda.
Schiller F (1795/1966). Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief. München: Hanser.
Spaemann R (1996). Personen: Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«. Stuttgart: Klett-Cotta.
Thomas Hellinger
Bei der Konferenz »The Big Question: Art/Not Art?«, die am 27. Februar 1978 in der University of Minneapolis stattfand, sagte der Künstler Philip Guston (2013) in seinem Vortrag im Jahr 1978:
»Ich denke, das zu sehen, ist der wahrscheinlich mächtigste Wunsch eines Malers, eines Bildermachers. Zu sehen, was der Kopf denken und sich vorstellen kann, dies für sich selbst zu realisieren, durch sich selbst, so konkret wie nur möglich. Ich denke, das ist das stärkste und gleichzeitig auch archaischste Verlangen, das es schon seit fünfundzwanzigtausend Jahren gibt, ununterbrochen.« (S. 58)
Guston beschreibt die Triebkraft künstlerischen Handelns: das Sichtbarmachen dessen, was wir uns vorstellen, was wir denken, und letztendlich was wir mit all unseren Sinnen wahrnehmen. Und er spricht vom Bildermachen. Als bildender Künstler, genauer als Maler und »Bildermacher«, werde ich die Prozesse untersuchen, die mir dabei wesentlich erscheinen. Mein Fokus gilt den gezeichneten und gemalten Bildern, die auf einem zweidimensionalen materiellen Träger entstehen.
Die Vielzahl künstlerischer Ansätze in der heutigen Zeit, deren Ausdruck sich – neben den klassischen Disziplinen – der Medien bedient, die unsere heutige Industrie- und Mediengesellschaft hervorgebracht hat, erscheint unüberschaubar. Gleichwohl sehe ich, dass bei aller Unterschiedlichkeit die Frage der Sichtbarkeit, des Sichtbarmachens und der daraus resultierenden Erkenntnis im Mittelpunkt künstlerischen Handelns steht. Selbst die Konzeptkunst, die in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Vorherrschaft des Visuellen infrage stellte und die damit die Objekte in der Kunst entmaterialisierte, verweigerte sich nicht der Vorstellung, dass eine schriftlich formulierte Idee auch realisiert werden kann. Dies mussten jedoch nicht zwangsläufig die Ideengebenden ausführen, sondern sie konnten ebenso von den Rezipienten bewerkstelligt werden. Dabei weisen die Kunstschaffenden dem Publikum eine neue, aktivere Rolle zu, die heute mit dem Phänomen des Partizipatorischen in der Kunst häufig in Erscheinung tritt.
Eine Parallele und in gewisser Weise eine Fortführung findet die Konzeptkunst der 1960er-Jahre in der digitalen Netzkunst heute. Für diese stellt die Partizipation eine Grundvoraussetzung dar. Denn das Medium »Internet« muss in seiner Beschaffenheit als körperlos bezeichnet werden. Die Künstlerinnen, die mit diesem Medium arbeiten, haben demnach gar nicht mehr die Wahl, ihre Vorstellung in ein haptisches Material zu übersetzen. Die Bedeutung des Netzes basiert auf der möglichen weltumspannenden Kommunikation und ist ohne die Partizipation unterschiedlicher sozialer Gruppen nicht denkbar. Das Kunstwerk existiert nur dann, wenn der Rezipient »online« ist.
Inzwischen versuchen Hightech-Unternehmen mithilfe von Künstlicher Intelligenz Kunstwerke zu generieren. Der Ehrgeiz besteht darin, dass Algorithmen Kreativität entwickeln. In seinem Buch »Die Kunst der Zukunft« schreibt Hanno Rauterberg (2021): »Ein künstlich intelligentes System wäre erst dann in einem umfassenden Sinne kreativ, wenn es sich selbst als schöpferisch wahrnehmen und auch so beschreiben könnte« (S. 35 f.). Um »Kunstwerke« errechnen zu können, muss der Computer allerdings von Menschen mit einer großen Datenmenge gespeist werden. Diese werden dann von Algorithmen verarbeitet, die ebenfalls von Menschen programmiert wurden. Dabei stellt sich die Frage, ob ein künstlich-intelligentes System überhaupt seine eigenen kreativen Prozesse wahrnehmen und beurteilen kann. Interessant ist, dass die errechneten Ergebnisse wiederum durch Drucke auf Leinwand materialisiert werden oder als »digitale Originale« auf dem Kunstmarkt hohe Preise erzielen. Dies zeigt die Sehnsucht der Menschen nach dem materiellen Bild und dem Original.
In meinen Ausführungen komme ich deshalb wieder auf die lange Tradition des Bildermachens zurück, die von Philip Guston als »archaisches Verlangen« bezeichnet wird. Dabei werde ich, neben der kulturellen bzw. kunstgeschichtlichen Einbindung und den darauf basierenden Sehgewohnheiten, besonders auf die Struktur bildnerischen Arbeitens eingehen. Der Blick der Betrachtenden auf das Bild ist dabei ebenso wichtig wie der Blick der Künstler. Der Raum im Bild, das Bild als Medium, die Form als Inhaltsträger, das Verhältnis von Bildidee und Material und der Prozess der Formfindung werden in den einzelnen Kapiteln untersucht.
Kunstwerke sind immer Träger von Zeichen. Die gestaltete Form und der kulturelle Kontext bestimmen deren Lesbarkeit. Beim Betrachten verknüpfen sich gesellschaftliche Prägungen mit persönlichen Seherfahrungen. So können wir Kunstwerke lesen und durch sie kommunizieren. Die Kunst verschiebt oder unterläuft jedoch immer wieder die tradierten Zeichensysteme und schafft so neue Bilder, die unsere Wahrnehmung irritieren sowie letztendlich verändern.