2,99 €
Kuriosa besteht aus 11 außergewöhnlichen Kurzgeschichten, die sich teilweise nicht in eine Kategorie einordnen lassen. Doch macht es dies gerade umso lesenswerter, da es der Spannung keinen Abbruch tut. Um das Lesevergnügen nicht zu schmälern und eventuell die Überraschung zu zerstören, werde ich nichts weiter zum Inhalt sagen, sondern Ihnen so viel Spaß beim Lesen wünschen, wie ich es beim Schreiben hatte. 1 Die Unbekannte aus dem Freilichtmuseum 2 Keine Kohle 3 Eine Leiche zu viel auf dem Totenacker 4 Flüchtiges Familienglück 5 Steine - Ein paradiesischer Sommerjob 6 Zeitlose Liebe 7 Hexe – Die missverstandenen Monster 8 Der Schauspieler 9 Ein idyllischer Mord 10 Wasser 11 Mitten ins Herz
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Inhaltsverzeichnis
INHALT
Die Unbekannte aus dem Freilichtmuseum
Keine Kohle
Eine Leiche zu viel auf dem Totenacker
Flüchtiges Familienglück
Steine
Ein paradiesischer Sommerjob
Zeitlose Liebe
Hexen
Die missverstandenen Monster
Der Schauspieler
Ein idyllischer Mord
Wasser
Mitten ins Herz
ÜBER DIE AUTORIN
Impressum
Kuriosa
(Sammelband außergewöhnlicher Kurzgeschichten)
Kerstin McNichol
Impressum:
Autor: Kerstin McNichol, St. Neots, Cambridgeshire, PE19 7RR, Großbritannien
https://kerstinmcnichol.wixsite.com/kerstinmcnichol
Covergestaltung: Stuart McNichol
Copyright © 2022 Kerstin McNichol
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 9783754653753
»Wie lange willst du noch über dem Board brühten?«, erkundigte sich Alexander bei Sabine, die sein Eintreten entweder nicht bemerkt hatte, oder es schlichtweg ignorierte.
»Ich werde aus diesem Fall einfach nicht schlau«, gab sie zu, ohne den Blick zu heben. »Nichts ergibt einen Sinn.«
„Da muss ich dir Recht geben“, entgegnete er, während er ihr das mitgebrachte Frühstück auf den Schreibtisch stellte.
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht zwei belegte Brötchen und zwei Croissants von der gegenüberliegenden Bäckerei zu besorgen, wenn er morgens ins Büro kam. Kaffee brachte er nie mit, da er sichersein konnte, dass Sabine diesen bereits frisch aufgebrüht hatte.
„Ich verstehe nicht, wieso wir uns mit diesem Fall überhaupt beschäftigen“, gestand er und deutete auf die Wandtafel, an der sich Bilder vom Tatort und auch Zeitungsausschnitte befanden. Er biss kurz in sein Brötchen und sprach mit vollen Mund weiter, „Zumal uns niemand mit diesem Fall beauftragte.“
Nun war die Katze aus dem Sack.
Alex hielt große Stücke auf seine Kollegin und hatte sie vor zwei Jahren sogar zur Partnerin in seiner Detektei gemacht, da sie ein unleugbares Talent war. Und daher hatte er sie auch für eine Woche gewähren lassen, als sie auf diesen Fall durch die Nachrichten aufmerksam wurden.
Allerdings war es mittlerweile an der Zeit, sie daran zu erinnern, dass sie auf Klienten angewiesen waren, die zahlten und es sich die Detektei nicht lange leisten konnte kostenlos und ohne Auftraggeber zu arbeiten.
»Ich weiß nicht, aber der Fundort verursacht bei mir ein merkwürdiges Gefühl«, gestand sie und nippte nachdenklich an ihrem Kaffee.
Alex warf ihr einen prüfenden Blick herüber.
Sie arbeiteten nun schon seit zehn Jahren zusammen, daher alarmierte ihm diese Bemerkung. Sabine war, wie auch er, ein erfahrener Privatermittler. Arbeitete er rein nach dem Prinzip der Logik, besaß sie etwas, dass er nur mit dem sechsten Sinn bezeichnen konnte. Bekam Sabine eines ihrer »merkwürdigen Gefühle«, dann war meistens an der Sache mehr dran als man vermuten konnte. Alex wusste nicht, was es war oder wie sie es machte, doch besaß Sabine die Fähigkeit Fährten aufzunehmen, die sonst niemand wahrnehmen konnte. Aus diesem Grund waren sie auch ein so erfolgreiches Team und hatten in der Vergangenheit Fälle gelöst, die in einer Sackgasse geendet waren oder niemand anderes anfassen wollte. Und immer war es Sabine gewesen, die plötzlich einen ihrer »merkwürdigen Gefühle« bekam, denen sie dann nachgingen.
Alex stand auf und griff nach seiner Jacke. Auffordernd blickte er sie an.
»Na, dann komm! Wir fahren ins Freilichtmuseum. Mal schauen, was du dort aufspürst, was die Polizei übersehen hat.«
Der Kommentar war nicht sarkastisch gemeint.
Er bewunderte Sabine dafür, dass sie sich nicht abschrecken ließ auch auf ihre weibliche Intuition zu hören. Zumindest nannte er es so, wenn er darüber sprach. Innerlich hatte er dafür einen anderen Begriff. Einen mit denen er sich bei ihr oder anderen lächerlich machen würde. Seiner Meinung nach musste Sabine eine Hexe sein. Und dies sah er, als etwas positives an.
Damals, als ihm zum ersten Mal dieser Verdacht kam, glaubte er automatisch, dass es etwas Negatives und Gefährliches sein musste. Doch nach einer ausgiebigen Internetrecherche hatte Alex gelernt, dass Hexen tatsächlich existierten und sie nichts mit den düsteren Figuren aus Märchen, Sagen oder modernen Horrorfilmen zu tun hatten. Die ursprünglichen Hexen waren weise Frauen, oder Heilerinnen, die sich der Kräfte der Natur bedienten. Ihr Wissen und ihre Fähigkeiten hatten sie fürs Gute eingesetzt. Doch leider wurde dies im Mittelalter anders ausgelegt und es kam zu ihrer Verfolgung. Alex schauderte bei dem Gedanken, wie viele unschuldige Frauen zu Unrecht verurteilt und hingerichtet worden waren, nur weil man einer Hysterie folgte. Insbesondere, da er gelernt hatte, dass ihnen die erste Hexenregel sogar verbot Unheil anzurichten. Alles was eine weiße Hexe tun durfte, hatte einem guten Zweck zu dienen, anderenfalls würden die Konsequenzen sie um ein dreifaches Schädigen.
Alex glaubte nun schon seit Jahren, dass Sabine eine dieser weißen Hexen sein musste, doch hatte er weder den Mut noch die Gelegenheit gefunden, sie damit zu konfrontieren. Und ein wenig hatte er auch Angst davor, dass sie ihn auslachen könnte, sollte er sich irren. Alex wollte einfach warten, bis sie sich von selbst zu erkennen gab. Und war es so weit, dann würde er für sie da sein.
»Was denkst du, wer sie ist?«, wiederholte Sabine ihre Frage, nachdem ihr Partner beim ersten Mal nicht geantwortet hatte.
»Was?«, fragte Alex und sah irritiert zur Beifahrerseite herüber. Er war so in seinen Gedanken vertieft, dass er sie nicht gehört hatte.
»Aufwachen Dornröschen, schließlich fährst du«, foppte sie ihn und schenkte ihm eines ihrer strahlenden Lächeln, für das Alex sterben könnte. »Ich fragte dich, was du glaubst, wer sie ist?«
Alex konzentrierte sich nun wieder auf die Straße.
»Keine Ahnung. Fakt ist, dass man sie bewusstlos in einem Ausstellungsgebäude des Freilichtmuseums fand. Sie weder eine Museumsmitarbeiterin ist noch Papiere bei sich hatte. Sie war in Lumpen gekleidet und wies alte Verletzungen auf, die auf Misshandlungen hindeuten.«
»Ja«, seufzte sie.
»Hinzukommt, dass sie weder vernehmungsfähig noch in einer Datenbank aufgeführt ist. Wäre sie körperlich nicht vorhanden, erscheint es fast so, als würde sie überhaupt nicht existieren.«
»Ach was, jeder Mensch hinterlässt irgendwelche Spuren. Wir müssen einfach tiefergraben«, antwortete sie zuversichtlich.
Beim Erreichen des Freilichtmuseums zogen plötzlich dunkele Wolken auf und der Wind nahm an Stärke zu.
»Na, das wird ja wohl kein schlechtes Omen sein«, äußerte Alex sarkastisch und deutete gen Himmel.
Sabine schüttelte nur den Kopf und schritt auf die Kasse zu.
Alex folgte ihr und hatte mit einem Male den Eindruck, als würde sie irgendwie schweben. Irritiert wischte er über seine Augen und schaute noch einmal genauer hin.
Sabine lief wie immer.
Alex fühlte sich töricht.
Er sah, wie sie sich auswies und die Kassiererin nur in Richtung Verwaltungsgebäude deutete. Alex bemühte sich aufzuholen, um die Kollegin ins Gebäude zu begleiten.
Offenbar hatte die Mitarbeiterin telefonisch Bescheid gegeben, denn nach nicht einmal einer halben Minute öffnete sich die Tür und der Museumsdirektor kam ihnen entgegen.
»Haben Sie herausgefunden, wer die Unbekannte ist?«, erkundigte er sich sofort, ohne sich mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten, da er sie vermutlich für Mitarbeiter der Polizei hielt.
Alex sah ihm an, dass ihn das Auftauchen der Ermittler nicht behagte. Aus langjähriger Berufserfahrung wusste Alex, dass dies nicht unbedingt bedeuten musste, dass er in die Sache verwickelt war. Auch unbescholtene Bürger wurden nervös, wenn sie plötzlich in eine Ermittlung verwickelt wurden. Ob Herr Wichtelroth allerdings dazu zählte, würde sich erst noch zeigen müssen.
»Nein, die Dame liegt noch nach wie vor im Koma«, klärte Sabine auf und reichte ihm die Hand.
Beinah wäre es Alex entgangen, doch glaubte er nicht, sich geirrt zu haben. Kaum berührten sich die Hände zuckte der Mann ein wenig zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Allerdings benahm er sich als sein nichts geschehen.
Alex spürte rein gar nichts, als er ihm die Hand gab.
»Wir möchten uns gern am Fundort umsehen«, sagte sie und schaute Herrn Wichtelroth dabei in die Augen.
»Ja, selbstverständlich können sie dies. Ich führe sie hin. Ich habe das Haus immer noch für die Öffentlichkeit gesperrt, obwohl mir ihre Kollegen von der Spurensicherung versicherten, dass ich es wieder freigeben könnte. – Aber, ich hatte ein seltsames Gefühl dabei.«
»Manchmal sollte man auf seine Gefühle vertrauen«, bestätigte sie und sah ihn dabei tief in die Augen.
„Ja, da haben Sie recht“, antwortete er und deutete ihr mit einer Handbewegung die Richtung.
»Er also auch?«, dachte Alex und schaute ihn nachdenklich an. »Ist er auch einer von ihnen?«
Alex war sich nicht einmal sicher, wen er mit »ihnen« meinte. Allerdings behagte es ihn nicht, dass Sabine ihn nicht über die Verwechslung aufklären wollte. Doch vertraute er ihr und war sicher, dass sie einen guten Grund haben musste, den Mann in dessen Irrglauben belassen zu wollen.
Nach einem zehnminütigen Fußweg, der sich nicht abkürzen ließ, erreichten sie das Haus. Mittlerweile war auch der Himmel dunkler geworden und ein bedrohliches Donnern grollte aus der Ferne.
»Lassen Sie uns rasch eintreten, bevor es ein Gewitter gibt«, bemerkte Herr Wichtelroth und fingerte nach den Schlüsseln für die Vordertür.
Alex überkam ein ehrfurchtsvolles Gefühl, als er in die Eingangshalle des Herrenhauses trat. Er schob es allerdings darauf, dass dieses Gebäude im Prinzip nicht zu den anderen Häusern in diesem Museum zu passen schien. Es war um ein Vielfaches größer und eleganter.
»Was hat es mit diesem Haus auf sich? Können Sie uns etwas über dessen Herkunft sagen?«, wollte er von Herrn Wichtelroth erfahren.
»Nun, es stammt aus Hessen und gehörte zu einem großen Landgut. Wie sie anhand der Größe und der originalen Inneneinrichtung erkennen, handelte es sich um sehr wohlhabende Besitzer.«
Unbeirrt setzte Sabine ihren Weg in die Küche fort.
Hier war die mysteriöse junge Frau aufgefunden worden. Bewusstlos hatte sie auf dem Küchenboden gelegen und war nicht nur in zerschlissener Kleidung gehüllt, sondern auch mit Rus bedeckt gewesen. Die Besucher, die sie so aufgefunden hatten, hielten sie für eine der museumseigenen Akteure, die aufgrund einer besonderen Veranstaltung in vielen Häusern an jenem Tag das historische Leben darstellten.
Doch, wie sich später herausstellte war es keine Mitarbeiterin des Museums. Niemand hatte sie zuvor gesehen und konnte sich auch nicht erklären, wie sie hierher geraten war, zumal jemand in diesem Aufzug aufgefallen wäre. Insbesondere, da das Mitarbeiterpaar, dass an jenem Tag fürs Hessengut abgestellt war, in einer authentischen Tracht vom Leben und den Traditionen erzählten, doch keine physischen Aufgaben zu erledigen hatten. Diese Vorstellungen waren für die einfacheren Häuser vorgesehen.
Im Zuge einer Aktionswoche gab es auch jenem Tag einige öffentliche Demonstrationen, bei denen man mit den Schauspielern interagieren konnte. In der Dorfschule konnte man an einer Unterrichtsdemonstration teilnehmen, wobei es für die meisten Besucher schwierig war sich in die vorhandenen Schulbänke zu setzen. Und diejenigen, die es aufgrund ihres Körperbaus schafften, merkten schnell, dass diese Bänke nicht sehr bequem waren.
Auf dem Bauernhof wurden einige landwirtschaftliche Tätigkeiten vorgeführt, an denen man sich teilweise ebenfalls beteiligen konnte. Zur Zeitpunkt des Auffindens der Unbekannten, lief gerade eine professionelle Demonstration, die den Einsatz von Maschinen zeigte und daher befanden sich kaum Besucher in diesem Bereich des Hessenguts.
»Dort, genau vor dem Ofen war sie gefunden worden«, bestätigte Herr Wichtelroth als er mit dem Finger von der Tür aus auf den hinteren Bereich der Küche deutete.
Sabine ging zur Stelle und kniete sich hin. Sie berührte die Steine, auf denen die Frau gelegen hatte.
Interessiert beobachtete Alex sie dabei. Ihm kam es vor, als wollte sie die Schwingungen der Fundstelle aufnehmen. Auf keinen Fall wollte er, dass sie dabei gestört wurde, also ging er auf Herrn Wichtelroth zu und dirigierte ihn aus der Küche.
»Das hier arbeitende Paar gab an, dass sie die Frau in ihrer Montur nicht bemerkt hatten“, wiederholte Alex was er aus der Zeitung erfahren hatte.
»Ja, das stimmt«, bestätigte der Angesprochene und verwies sogar darauf, dass die Polizei später das Gebäude nochmals durchsucht hatte, weil man glaubte, sie hätte sich irgendwo umgezogen. Doch waren keine Kleidungsstücke gefunden worden.
»Meine Kollegin und ich, möchten uns hier noch einmal ungestört umsehen«, komplimentierte Alex Herrn Wichtelroth aus dem Herrenhaus. »Danach bringen wir den Schlüssel zu ihnen.«
»Vielleicht sind Sie diesem Vorschlag etwas aufgeschlossener gegenüber als ihre Kollegen, die vor einer Woche hierwaren. Ich könnte nämlich im Archiv nachsehen, ob wir weitere Informationen über das Gut haben«, bot sich Wichtelroth an, während er bereitwillig den Schlüssel übergab.
»Das wäre sehr hilfreich. Bitte, machen Sie das«, bestätigte Alex und sah seinem Gegenüber sofort an, wie sich dessen Ego geschmeichelt fühlte.
Nachdem der Mann die Hauspforte hinter sich zugezogen hatte, grollte ein gewaltiger Donner.
Alex fühlte sich in seinem Verdacht bestätigt, dass dies ein Omen sein musste.
Er nutzte die Gelegenheit sich ungestört im Gebäude umzusehen. Möglicherweise fiel ihm etwas auf, dass sachdienlich sein könnte.
Alex war nicht der Typ, der sich vor einem Gewitter fürchtete oder Probleme damit hatte in einem fremden Haus herumzustöbern. Letzteres war Bestandteil seiner beruflichen Tätigkeit. Allerdings hatte dieses Haus etwas, dass ihm schwerfiel zu beschreiben. Er wollte nicht so weit gehen, es als unheimliche Atmosphäre zu bezeichnen, doch hatte es etwas Beklemmendes, so als sei irgendwann alle Lebensfreude aus ihm gewichen und durch Furcht ersetzt worden.
Alex schüttelte über seine eigenen Gedanken den Kopf. Er schob den Grund für seine abstrusen Überlegungen darauf, dass er sich in einem uralten Haus befand, das in einem Freilichtmuseum stand. Folglich war es komplett an seinem Ursprungsort im Hessen abgebaut und hier auf dem Gelände wieder erneut errichtet worden. Unter diesen Vorzeichen fand es Alex nicht weiter verwunderlich, dass seine Vorstellungen nicht mehr rein professionell blieben. Amüsiert schmunzelte er über sich selbst und setzte die Suche in den oberen Räumen fort.
Wie er es nicht anders erwartet hatte, befanden sich in diesem Teil des Gebäudes die Schlafzimmer. Deren Ausmaße war als großzügig zu bezeichnen und die Einrichtung reflektierte den Reichtum der ehemaligen Besitzer wieder. Wer auch immer hier gelebt hatte, der hatte es sich gutgehen lassen. Zwar entsprachen die Gegenstände nicht seinem Geschmack, doch bewunderte er die Qualität der Möbel und der Materialien.
In dem größten Schlafgemach befand sich das überdimensionale Portrait einer Frau. Alex kannte sie nicht. Wenn, dies das Werk eines alten Meisters war, dann entstammte es hoffentlich aus dessen Gesellentagen oder aber die Dame war nicht sehr »photogen«. Sie strahlte eine eisige Kälte aus. Ihre Augen schienen ihn bei seinem Gang durch den Raum zu verfolgen. Alex wusste worauf dies zurückzuführen war, doch war ihm dieses Wissen in der gegenwärtigen Situation keine Beruhigung. Da er auch hier nichts Aufschlussreiches entdeckt hatte, machte er sich wieder auf den Weg zur Sabine in die Küche. Seinem Empfinden nach hatte sie Zeit genug gehabt, sich in den Raum einzufühlen, oder wie man das auch immer nennen sollte.
Alex rief ihren Namen, als er sie nach dem Eintritt in die Küche nicht ausmachen konnte.
»Hier bin ich«, kam es aus einem Nebenraum und der Aufforderung sich zu ihr zu gesellen.
Alex gehorchte und fand Sabine in der Speisekammer vor. Man hatte sich die Mühe gemacht, diese mit real wirkenden Attrappen zu bestücken. Unterhalb eines Regals, hinter einigen Säcken, lag eine Decke auf dem Boden.
»Hier hatte jemand sein Lager«, stellte sie fest.
»Glaubst du, dass die Unbekannte sich hier eingenistet hatte? – Wieso?«, fragte Alex verwundert.
Sollte Sabines Annahme korrekt sein, gab dies dem Fall eine weitere seltsame Komponente.
Bedrohlich grollte erneut ein Donner.
»Ich finde, wir haben genug gesehen und sollten zum Verwaltungsgebäude zurückgehen. Wichtelroth wird sich sicherlich schon fragen, was wir hier so lange suchen“, drängte Alex.
»Sei ehrlich, du willst nur vor dem Gewitter dort sein.«
»Du kennst mich einfach zu gut«, gab er zu und genoss das Lächeln, dass sie ihm zu warf.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Da sie ohne Rücksicht auf Herrn Wichtelroth nehmen zu müssen zügiger liefen, schafften sie den Weg in der Hälfte der Zeit. Und keinen Moment zu früh, wie sich beim Betreten des Gebäudes zeigte. Kaum hatte Alex die Tür hinter sich zugezogen, öffnete der Himmel seine Schleusen. Es regnete als sollten alle Sünden weggewaschen werden.
Wichtelroths Büro war leicht gefunden.
Er freute sich die beiden Ermittler mit seiner Recherche vertraut machen zu können. Aufgeregt bat er sie Platz zunehmen und bot ihnen einen Kaffee an. Nur Alex nahm das Angebot an, während Sabine höflich ablehnte.
»Was haben Sie herausgefunden?«, erkundigte sie sich neugierig.
»Das Anwesen gehörte der Familie Schellenberg. DEN Schellenbergs«, rief er aufgeregt, als hätte dies sofort eine Bedeutung für Sabine und Alex haben müssen. »Elisabeth Schellenberg«, fügte er enthusiastisch an und starrte in leere Gesichter.
»Entschuldigen Sie, aber Sie müssen schon konkreter werden, denn uns sagt dieser Name absolut nichts“, erklärte sich Alex.
»Ja, sicher, sicher …. Das ist auch nicht so bekannt… Entschuldigen Sie, aber auch ich hatte keine Ahnung, dass wir einen derartigen Schatz hier haben.«
Der Museumsdirektor wirkte, als hätte er den Bezug zur Realität verloren. Nur mühsam gelang es Sabine ihn zu beruhigen und ihn dazu zu bringen ihnen die Bewandtnis seiner Entdeckung zu erklären.
»Elisabeth Schellenberg gilt unter Kennern, als die wahre Quelle der Grimm’schen Märchen. Wilhelm Grimm fand sie verarmt in einem Siechenhaus in Marburg und brachte sie dazu, ihm alle ihre Geschichten zu erzählen. Das war 1810, als sie 64 Jahre alt war.«
»Es ist doch allgemein bekannt, dass die Gebrüder Grimm die Märchen nicht selbst verfassten, sondern lediglich altes mündlich überlieferte Volksgut aufschrieben und dann als Buch veröffentlichten«, gab Alex zu bedenken und konnte sich nur darüber wundern, weshalb Wichtelroth so heftig auf seine Entdeckung reagierte.
»Das stimmt schon, doch ist weniger bekannt, dass Elisabeth Schellenberg, als das wahre Aschenputtel gilt«, sagte Wichtelroth verschwörerisch und fügte aufgeregt hinzu: »Und wir haben hier im Museum ihr Elternhaus. Das Haus, in dem sie ihrer bösen Stiefmutter als Aschenputtel dienen musste.«
Sabines Körperhaltung änderte sich schlagartig. Sie wirkte, als wären plötzlich für sie alle Teile des Puzzles zusammengekommen.
Sie bedankte sich bei Wichtelroth für dessen Unterstützung und gab somit dem Kollegen das Zeichen zum Gehen.
Alex kam dem nach und obwohl es ihm auf der Zunge brannte den Grund des überstürzten Aufbruches zu erfahren, schwieg er. Sabine würde ihn schon einweihen, wenn die Zeit reif war.
Er machte sich darauf gefasst durch den strömenden Regen zum Auto hechten zu müssen, doch als er die Tür öffnete, fiel kein Tröpfchen mehr. Unbemerkt hatte sich das Gewitter verzogen.
Gemeinsam gingen sie zum Fahrzeug und setzten sich hinein. Erst als Alex den Motor startete, nahm Sabine das Gespräch wieder auf.
»Lass uns ins Krankenhaus fahren. Ich möchte mir die Unbekannte ansehen.«
»Sie liegt doch im Koma«, gab Alex zu Bedenken und wusste auch so, dass Sabine darauf bestehen würde dennoch dorthin zu fahren.
Die Fahrt verlief schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach.
»Alex, du vertraust mir doch?«
»Das weißt du doch, Sabine«, bestätigte Alex und wunderte sich über den vorsichtigen Ton in ihrer Stimme.
»Wir kennen uns schon viele Jahre und schätzen einander.«
»Selbstverständlich, Sabine.« Allmählich beunruhigte ihn ihr Verhalten. »Was ist los?«
»Bitte, lass mir mit der Antwort Zeit, bis wir sie im Krankenhaus gesehen haben. Denn, wenn ich recht mit meiner Vermutung habe, dann…” Sabine sprach nicht weiter.
Auch Alex sagte nichts mehr.
Seine Gedanken wirbelten in seinem Kopf. In den zehn Jahren, in denen sie sich kannten, hatte er Sabine noch nie so erlebt. Und auch die ganzen Andeutungen, die sie machte, waren ehr als mysteriös als professionell zu bezeichnen. Dennoch vertraute er ihr und war sich sicher, dass sie einen triftigen Grund für ihr Verhalten haben musste.
Sie hatten das Krankenhaus erreicht.
Nachdem Sabine unter vier Augen mit dem diensthabenden Arzt gesprochen hatte, war es keine Schwierigkeit für sie das Krankenzimmer zu betreten. Alex wunderte sich zwar darüber, denn schließlich hatten sie weder eine verwandtschaftliche Verbindung zur Ungekannten noch waren sie von der Polizei. Stattdessen nahm sich der Arzt sogar die Zeit sie zu begleiten und all ihre Fragen zu beantworten.
»Was ist mit den Verletzungen, die die Frau aufwies?«, erkundigte sich Sabine und blickte sie mitfühlend an.
»Ihr Rücken ist übersät mit Narben. Dies deutet darauf hin, dass sie mindestens dreimal in ihrem Leben ausgepeitscht worden war. Außerdem war sie unterernährt und harter körperlicher Arbeit ausgesetzt.« Der Doktor schwieg einem Moment. »Wir haben es hier mit einem modernen Sklaven zu tun.«
»Denken Sie, dass sie aus dem Koma aufwachen wird?«, wollte Sabine wissen und sah sie mitleidig an.
»Im Prinzip könnte sie jeden Moment aufwachen. Körperlich spricht nichts dagegen. Wir haben sie so weit aufgepäppelt, dass sie keine Mangelerscheinungen mehr hat. Medizinisch ist alles wieder in Ordnung mit ihr. Sie muss eigentlich nur wollen.«
»Das ist gut zu wissen. – Dürfen wir einen Moment allein mit ihr sein?«
»Ich habe nichts dagegen«, antwortete der Arzt. Bevor er allerdings das Zimmer verließ, erkundigte er sich ob, man ihre Identität mittlerweile festgestellt hätte.
»Nein, bedauere«, antwortete Alex.
Alex beobachtete Sabine, wie sie der Unbekannten wohlwollend über den Arm strich, als wollte sie ihr Trost spenden. Sie sah gedankenverloren aus und allmählich machte ihr Verhalten ihm Sorgen. So kannte er Sabine nicht.
»Bist du ok?«, erkundigte er sich fürsorglich bei ihr.
»Alex, du vertraust mir doch?«, fragte sie ihn nochmals, als der Arzt verschwunden war.
»Wieso fragst du dies andauernd? Sabine, du weißt, dass ich dir vertraue. Was muss ich tun, dass du es mir endlich glaubst?”
»Alex, du wirst glauben, dass ich verrückt bin«, gestand Sabine, »und ich habe Angst davor, wie du reagieren wirst, denn ich will dich nicht verlieren.«
»Sabine, du wirst mich nicht verlieren, denn ich liebe dich.«
Augenblicklich hielt Alex inne. Dieses Geständnis hatte er nicht machen wollen.
Nervös blickte er sie an.
Sabine schaute ihn verwundert an und begann zu strahlen.
»Ich liebe dich auch«, befreite sie ihn aus seiner Unsicherheit und setzte gleich einen Dämpfer nach. »Ich weiß, wer dies ist, doch will ich mit dir nicht hier darüber sprechen. Lass uns wohin gehen, wo wir ungestört sind.«
Verflogen war der kurze romantische Moment zwischen ihnen.
»Selbstverständlich« gab er nur von sich und war überzeugt, dass dies nicht der Augenblick war, das Liebesgeständnis näher zu diskutieren.
Ihm reichte es schon zu wissen, dass sie seine Gefühle erwiderte. Alles weitere würde sich finden. Sabine wusste offensichtlich etwas, das von entscheidender Wichtigkeit war und deshalb wollte er seine eigenen Bedürfnisse hintenanstellen.
Schweigend verließen sie das Krankenhaus und stiegen in den Wagen.
Sabine fuhr.
Alex warf immer wieder einen Blick zu ihr herüber und sah ihr an, dass sie in ihrem Inneren mit sich ringen musste. Was immer sie ihn auch zu sagen hatte, es musste etwas Besonderes sein, dass sie sich so verhielt. Eine erwartungsvolle Spannung hielt ihm umfangen, als sie den Wagen in einen abgelegenen Waldweg steuerte und erst anhielt, als sie an den Fluss gelangten. Sabine stellte den Motor ab und stieg aus.
Verwundert tat er es ihr nach und stellte sich neben sie, während beide auf das Wasser schauten.
»Alex, ich vertraue dir und liebe dich, daher muss ich es dir sagen, obwohl ich Angst vor deiner Reaktion habe«, flüsterte sie nervös als habe sie Furcht davor, dass ihre Worte in die Welt hinausgetragen werden könnten.
»Nichts, was du sagen wirst, kann mich … würde mich …«, stotterte Alex, da er wirklich nicht wusste, wie er seine Gefühle ausdrücken sollte.
Er wollte ihr die Sicherheit geben, dass er sie verstehen würde, doch schaffte er es einfach nicht, dies verständlich herüberzubringen. Stattdessen drehte er sich zu ihr herüber und küsste sie auf den Mund. Langsam zog er seinen Kopf fort und sah sie direkt an.
»Ich liebe dich und nichts, was du mir sagen wirst, wird etwas daran ändern. – Ich liebe dich seit Jahren.«
Sie lächelte ihn erleichtert an und erwiderte seinen Kuss. Dann ließ sie von ihm ab und blickte ihn ernst an.
»Alex, was ich dir sage, mag verrückt klingen, doch ist es die Wahrheit.« Sie atmete tief durch. »Ich weiß, definitiv wer die Unbekannte ist und woher sie stammt.”
»Woher, denn so plötzlich? Es gibt doch in den ganzen Datenbanken keine Angaben über sie?«
»Es werden auch keine zu finden sein, denn die Frau existiert in unserer Zeit nicht.«
»Was?!« Zu einer anderen Äußerung war Alex nicht im Stande.
»Die Unbekannte ist Elisabeth Schellenberg – das wahre Aschenputtel.«
»Was?!«, wiederholte er, diesmal sogar noch verwunderter als zuvor.
»Elisabeth muss durch ein Dimensionsportal gefallen und so in diese Gegenwart geraten sein.«
»Was?!« Alex war klar, dass er sich immer wiederholte, doch gelang es ihm nicht die vielen Gedanken zu ordnen, die durch sein Hirn schwirrten. Dann lächelte er und schüttelte den Zeigefinger. „Du schmierst mich an. Richtig?!«
Sabine schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist mein Ernst. Dimensionsportale gibt es ebenso, wie es Fabelwesen gibt.«
Alex hatte das Gefühl sich verhört zu haben. Er konnte nicht begreifen, was Sabine ihm gerade erzählt hatte. Er wollte ihr ja glauben, doch war dies wahnsinnig schwer.
»Ich weiß dies, da ich es auch erlebt habe. Ich bin nämlich eine Wasserfrau«, gestand sie und sah Alex verschüchtert an.
Alex starrte sie nur an. Alles drehte sich um ihn, so dass er sich an der Motorhaube abstützte.
»Alex … Alex … A-l-e-x …«, drang es wie aus der Ferne an sein Ohr. »Alex, bist du in Ordnung?«
»Was redest du da?«, fragte er irritiert und setzte sofort nach. »Was ist eine Wasserfrau?«
»Eine Wasserfrau ist eine Sagengestalt«, stellte sie fest, ohne dass es ihm einer Erklärung wäre.
»Behauptest du ernsthaft eine Nixe zu sein?«, hörte sich Alex sagen und konnte nicht glauben, dass er diese Frage gestellt hatte.
»Nein, um Gotteswillen«, Sabine schüttelte heftig den Kopf. »Nixen sind grausame und gefährliche Wesen, die zerstören wollen. – Wir Wasserfrauen sind den Menschen wohlgesonnen und wollen beschützen.«
»Aah«, gab Alex nur von sich und wusste nicht was er sonst hätte erwidern sollen.
Sabine griff nach seiner Hand und führte sie durch ihr Gesicht, über den linken Arm, doch erst als sie seine Hand unter ihren Rock führen wollte, schien er aus seiner Starre zu erwachen.
»Sabine, was machst du da?«
»Ich wollte dir nur beweisen, dass meine Haut nicht schuppig ist und auch sonst alles vorhanden ist«, sagte sie in einem derartigen unschuldigen Ton, dass Alex zurückzuckte.
Er schaute sie zunächst irritiert an. Doch begann er nach einem kurzen Moment leise zu lachen.
Er lachte sie nicht aus, sondern fühlte sich befreit. Irgendwas in seinem Inneren hatte Klick gemacht. Es interessierte ihn nicht, ob Sabine ein Fabelwesen war oder nicht. Er besann sich darauf, dass er sie seit zehn Jahren kannte und in dieser Zeit nie Zweifel an ihrer Menschlichkeit gehabt hatte. Was auch immer sie war, oder glaubte zu sein, änderte nichts an ihrem Charakter. Sie war die Person, der er am meisten in seinem Leben vertraute und sich immer auf sie verlassen konnte.
»Ich liebe dich«, wiederholte er ehrlich, da er an ihrem Blick erkannt hatte, dass sie offensichtlich nicht wusste, wie sie seinen Gefühlsausbruch deuten sollte.
Ihr Gesicht zeigte Erleichterung.
»Ich weiß, dass ich dir sehr viel zugemutet habe«, gestand sich schließlich, »doch sollten wir auch daran denken, was wir jetzt mit Elisabeth machen.«
»Du hast Recht. Einen Schritt nach dem anderen. Unsere Beziehung wird sich natürlich entwickeln. – Lass uns nun wieder professionell denken. Was machen wir mit Elisabeth?«
»Gegenwärtig haben wir den Vorteil, dass sie sich noch im Koma befindet. Doch, wenn sie aufwacht, wird sie unmöglich wissen, wo sie ist und was mit ihr geschieht. Für jemanden aus dem 19. Jahrhundert muss sich unsere Zeit, wie die Hölle anfühlen.«
»Sie wird mit Sicherheit in die Psychiatrie verlegt werden, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nach ihrem Erwachen die Welt um sich herum als positiv empfindet. Nur weiß ich nicht, wie wir ihr helfen sollten«, sagte Alex resignierend.
»Allerdings können wir auch nicht die Wahrheit über sie bekanntgeben. – Das würde mehr Schaden anrichten, als es Gutes tun würde.«
»Wir würden uns lächerlich machen«, warf Alex ein und schnippte gleichzeitig mit dem Fingern. »Dennoch könnten wir doch in Richtung Schellenberg ermitteln. Lass uns herausfinden, ob die Familiennline immer noch existiert und ob Elisabeth Nachkommen hatte. Eventuell könnten wir sie als eine verschollene Verwandte untermogeln, denn einen DNS-Test dürfte sie ja ohne Zweifel bestehen. Wir bringen Sie dann dazu zu behaupten, dass sie sich an diesem Veranstaltungstag nur unter die Besucher gemischt hatte, um in die Rolle ihrer Urahnin zu schlüpfen.«
Sabines Gesicht hellte auf. »Es ist zwar ziemlich dünn, doch durchaus plausibel.«
»Tja, damit wäre allerdings immer noch nicht geklärt, wieso sie keine Papiere hat und wo sie all die Jahre gesteckt hatte.«
»Nun, zumindest haben wir jetzt etwas auf dem wir aufbauen können«, kam es beruhigter von ihr.
»Du machst dir wirklich Sorgen um sie«, stellte Alex fest.
»Selbstverständlich. Ich weiß, wie es ist, wenn man plötzlich hier auftaucht und in der neuen Welt klarkommen muss. Das ist nicht einfach.«
»Ich traue mich fast nicht zu fragen, doch wie hast du es geschafft?«, erkundigte sich Alex vorsichtig, da er vermeiden wollte falsch verstanden zu werden.
»Manipulation«, antwortete sie knapp und warf damit bei ihm weitere Fragen auf.
»Manipulation?! – Wie soll ich das verstehen?«
»Das ist nicht so negativ, wie es sich vielleicht anhört«, erklärte sie sich. »Wir Wasserfrauen sind sanfte Wesen und wollen den Menschen helfen. So kam dies auch in dieser Welt nur in Frage. Um dies zu erreichen, wendete ich den Gesang an.«
»Du hast dir deine Existenz hier ersungen?”, fragte er verblüfft.
»Nein, natürlich nicht. Wir singen auch nicht wirklich. Unser Gesang, wird nur so beschrieben, da die Leute damals nicht erklären konnten, was sie erlebt hatten. Wir haben lediglich telepathische Fähigkeiten und können somit den Menschen alles suggerieren was wir wollen. So bin ich beispielsweise an meine Qualifikationen und Zeugnisse geraten.«
»Hast du mich jemals manipuliert? «, fragte er unsicher.
»Nein! – Das musst du mir glauben«, antwortete sie ernst. – Und Alex glaubte ihr tatsächlich.
»Momentmal«, rief er plötzlich laut und schnippte erneut mit den Fingern. »Wenn du noch deine Fähigkeiten hast, dann kannst du sie doch für beide Seiten benutzen. Du kannst Elisabeth, eine Lebensgeschichte einimpfen, die sie auch glaubt und den anderen machst du einfach klar, dass diese Angaben stimmen. Der Rest dürfte doch ein Kinderspiel sein.«
»Ich wollte meine Fähigkeiten allerdings nie wiedereinsetzen. – Und habe es auch seit damals nicht mehr gemacht«, wandte sie ein.
»Wenn nicht jetzt, wann wäre es denn gerechtfertigt deine Fähigkeiten einzusetzen? Du hilfst damit nicht nur Elisabeth, sondern auch vielen anderen. So kannst du auch die Fabelwesen schützen. Du weißt doch, dass es immer wieder Leute geben wird, die die Wahrheit zu einem anderen Extrem benutzen würden.«
»Was meinst du?«, fragte sie ersichtlich irritiert.
»Sie würden versuchen den Schleier zwischen der Fabelwelt und unserer zu zerreißen und die natürliche Ordnung stören.«
»Gut, dann lass uns nun zurück ins Büro fahren und mit der Nachforschung bezüglich der Schellenbergs anfangen. – Und, wenn wir dies erledigt haben, dann werden wir uns um den Rest kümmern.«
»Wie meinst du das, Sabine?«
»Dann fahren wir wieder ins Krankenhaus und ich singe für Elisabeth. Dies geht auch, während des Komas, da ich ihr Unterbewusstsein erreichen muss. Dafür braucht sie nicht bei Sinnen sein.«
Alex sah sie fasziniert an. Hatte Sabines Offenbarung vor einer halben Stunde noch seine Weltanschauung sprichwörtlich auf den Kopf gestellt, mochte er nun, dass er in ihr Geheimnis eingeweiht war. Ihm wurde immer bewusster, welch ein besonderes Geschenk sie ihm gemacht hatte. Es hatte sich für ihn lediglich bestätigt, dass sie wirklich so außergewöhnlich war, wie er immer angenommen hatte. Alex fühlte sich vervollständigt, so als habe er nun das letzte Puzzleteilchen in seinem eigenen Leben gefunden.
Zum ersten Mal fühlte er sich im Einklang mit sich selbst und der Welt. Sabine hatte ihm etwas gegeben, dass er all die Jahre vergebens gesucht hatte.
Verliebt schaute er sie an.
»Ist dein Name wirklich Sabine?«, fragte er neugierig.
Sie errötete für einen Moment und lächelte ihn an.
»Mein wahrer Name ist Loreley.«
„DIE Loreley?«, kam es erstaunt.
Peinlich berührt schlug sie die Augenlider nieder und nickte bestätigend.
»Ja, aber … die Loreley soll doch Schifffahrer durch ihren Gesang dazu gebracht haben in der Strömung umzukommen.«
»Das ist nichts weiter als Propaganda oder Fake News. Die Unglücke geschahen nicht, weil eine Wasserfrau sang, sondern aufgrund von Strömungsungleichheiten, die einen gefährlichen Strudel an dieser Rheinpassage bedingte. – Es ist nichts weiter als simple Physik und Unaufmerksamkeit, die für die Unglücke verantwortlich waren. Doch ließ sich damals die Welt leichter durch böse Sagengestalten erklären.«
Alex kam sich töricht vor.
Sie hatte Recht.
Es war reine Unwissenheit gewesen, die damals derartige Geschichten entstehen ließen. Zweifelsohne konnte ihn Sabine, oder Loreley, noch so einiges beibringen.
Sein Leben würde nie wieder so sein, wie bisher. – Und er freute sich darüber.
Erwartungsvoll blickte die Festgesellschaft im Residenzsaal des Schloss Borbeck auf Jörg.
Dessen Unbehagen wuchs immer mehr.
Nervös stieg er aufs Podium.
Derartige Veranstaltungen lagen ihm nicht. Er stand nicht gern im Rampenlicht. Eine postalische Zustellung der Auszeichnung wäre für ihn erstrebenswerter gewesen. Was hätte er alles darum gegeben, nicht hier sein zu müssen? Dummerweise teilten weder sein Chef noch seine Gattin diese Einstellung und so beugte er sich ihrem Druck.