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Zwei Jahre nach dem tragischen Verkehrsunfall kehrt Ingrid endlich heim. Das Haus ist voller Erinnerung, die es ihr zusätzlich schwer machen mit den Schuldgefühlen fertigzuwerden. Sie war nicht nur die einzige Überlebende, sondern auch die Fahrerin, die den Unfalltod ihrer Familie verursacht hatte. Sie spürt eine Präsenz in dem Haus und ist sich sicher, dass ihr geliebter Mann Kontakt aus dem Jenseits zu ihr aufnehmen will. Das halb so alte Medium Andrea will ihr dabei behilflich sein, doch stößt Ingrid mit dieser Offenbarung bei ihren Schwiegereltern auf Ablehnung. Ingrid erkennt, dass sie sich entscheiden muss. Entweder lebt sie nach wie vor mit der Schuld oder sie nimmt Andreas Hilfe an und verliert dadurch die Familie ihres Mannes. Ingrid glaubt daran, dass sie ein Seelenbinder ist und nimmt das Angebot einer paranormalen Gruppe an, eine Geisterjagd in ihrem Haus durchzuführen, um endlich Antworten zu bekommen. Dies ist nicht nur ein tragischer Liebesroman, der sich vor allem darauf konzentriert mit der Trauer umzugehen, wenn man den geliebten Partner verliert, sondern auch wie schwer es für den Überlebenden ist mit dem Verlust zurechtzukommen.
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Inhaltsverzeichnis
SEELENBINDER
ÜBER
DEN
TOD
HINAUS
INHALT
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
Ende
ÜBER DEN AUTOR
Impressum
Kerstin McNichol
Copyright © 2022 Kerstin McNichol
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-1709088667
„Kommt endlich, sonst fahre ich allein“, hallte die Ermahnung nun schon zum dritten Male laut durch den Flur.
Ungeduldig hielt Ingrid bereits die Türklinke in der Hand und blickte erwartungsvoll die Treppe hinauf. Nochimmer machte keiner der Adressaten Anstalten diese lärmend herunterzupoltern. Stattdessen fasste man ihre ungeduldige Aufforderung so auf als handelte es ich um ein Angebot sie mit Fragen bombardieren zu können.
„Schatz, die gepunktete Krawatte ist doch sicherlich in Ordnung?“
„Wo ist meine Hose, Mama?“
„Mama, wo sind meine Schuhe?“
„Nein, ist sie nicht. - Und, Jungs, eure Sachen sind dort, wo ihr sie ausgezogen habt!“, kam es genervt zurück.
Die Antwort war ebenso unnötig wie hilfreich, doch Ingrid hatte es einfach satt. So war es immer.
Nie schafften sie es als Familie das Haus pünktlich zu verlassen. Immer wurde alles auf den letzten Drücker erledigt und dabei kam niemand ohne ihre Hilfe aus. Ingrid fühlte sich nicht nur wie das Mädchen für alles, sondern kam sich vor wie ein wandelndes Informationsbüro. Offensichtlich glaubte jeder, dass Ingrid nichts Besseres zu tun hatte als über den genauen Verbleib jedes noch so kleinen Gegenstands im Haus bescheid zu wissen und mental Buch darüberzuführen.
„Schatz, soll ich die gestreifte Krawatte nehmen?“, rief Jens verunsichert in den Flur hinein und offenbarte mit der Aussage, dass er immer noch nicht ausgehfertig war.
In dieser Beziehung stand er seinen Söhnen in nichts nach. Allmählich kam sie sich in ihrem Cocktailkleid albern vor. Sie, die alleinige Frau in diesem Haushalt, war das einzige Familienmitglied, dass seit einer Stunde gespornt und gestiefelt war, obwohl man Frauen im Allgemeinen nachsagte, dass sie eine Ewigkeit zum Anziehen brauchten.
Ingrid verkniff den Mund und stapfte die Stufen undamenhaft hinauf. Ein äußeres Zeichen dafür, dass sie die Sache endgültig vorantreiben wollte. Die Zeit drängte wollten sie rechtzeitig zur Trauung erscheinen und nicht das alles Entscheidende, „Ja, ich will“, verpassen. Ingrid sah sich gezwungen ihren Lieben bei der Suche behilflich zu sein.
Auf den Weg zum elterlichen Schlafzimmer musste sie zunächst an dem gemeinsamen Zimmer ihrer beiden Söhne vorbei. Mit einem kurzen Blick löste sie das Rätsel der unauffindbaren Schuhe. Diese lagen unter dem Bett.
Dem Ort, an dem der achtjährige Nikolas alles Mögliche zu verstauen schien. Sie machte ihn auf ihre Entdeckung aufmerksam und bekam die erwartungsgemäße Beteuerung, dass er dort bereits erfolglos nachgeschaut hatte. Ingrid rang dies nur ein müdes Lächeln ab. So war es immer.
Währenddessen stolzierte ihr Daniel aus dem Badezimmer entgegen. Offenkundig fühlte er sich mit seiner neuen Frisur sehr wohl. Die Haare standen in allen Richtungen vom Haupt ab.
Entgeistert blickte sie ihn an.
„Haargel“, erwiderte Daniel knapp und schob sich an seiner Mutter vorbei.
Ingrid schloss für einen Moment die Augen. Sie beschloss die Sache auf sich beruhen zu lassen, da keine Zeit mehr zum Haarewaschen blieb. Der dreizehnjährige musste mit seiner Eigenkreation leben. In spätestens fünf Jahren, würde er beim Betrachten der Partybilder bemerken, wie albern er aussah.
„Sieh mal, was ich gefunden habe“, gab Jens stolz von sich und deutete dabei auf seinen Hals, als er seine Frau durch die geöffnete Schlafzimmertür im Flur entdeckte.
„Bist du verrückt geworden?“, fragte sie mit einem aggressiven Unterton und schüttelte energisch den Kopf.
„Wieso? Fliegen kommen wieder in Mode“, verteidigte Jens seine Wahl und erntete nur einen genervten Blick.
„Möglicherweise in zehn Jahren, doch nicht heute. Also mache dich nicht zum Gespött und binde dir diese Krawatte um“, bestimmte sie, während sie zum Schrank eilte und mit zielsicherem Griff den entsprechenden Schlips herausnahm. Auffordernd hielt sie ihn ihm entgegen.
Jens gab kommentarlos nach.
Ingrid beobachtete ihn und dachte darüber nach, was die Familie nur ohne sie machen würde. Sie taten alle so, als hätten sie unendlich Zeit. Diese notorische Trödelei war ihr schon immer auf die Nerven gegangen. Es war schon fast ein Ritual, dass sie ein Stoßgebet mit dem Wunsch, man möge sie doch endlich davon befreien, gen Himmel schickte.
„Jens, beeile dich endlich. Wir schaffen es nicht mehr, wenn du nicht endlich Gas gibst.“
„Was bist du, denn so ungeduldig? Wäre doch auch kein Beinbruch, wenn wir etwas später kommen, schließlich sind wir nicht die Trauzeugen“, versuchte er sie zu beruhigen.
„Beeile dich! Ich warte mit den Kindern im Auto auf dich.“
Das ihr Jens durch den Schlafzimmerspiegel nachschaute, bekam sie nicht mit. Sie sammelte die Söhne ein und scheuchte diese die Treppe hinunter, damit sie im Wagen auf ihren Vater warten konnten. Ungeduldig wartete sie auf ihren Mann.
Ingrid stöhnte auf, als sich Jens endlich blicken ließ und für ihren Geschmack die Tür zu langsam abschloss. Sein sportlich federnder Schritt, wirkte auf sie wie eine Provokation.
Ingrid saß bereits hinterm Steuer.
„Willst du nicht lieber, dass ich fahre?“, erkundigte sich Jens verwundert, als er in das verbissene Gesicht seiner Frau blickte.
„Nein, Danke! Wir haben schon genug Zeit verschwendet“, antwortet Ingrid in einem bissigen Ton und las an seinem Gesichtsausdruck ab, dass er die eigentliche Aussage verstanden hatte.
„Ich meinte ja nur, wegen deiner Schuhe“, versuchte Jens einzulenken und hoffte, dass die Jungs nichts von dem sich anbahnenden Streit mitbekamen.
„Wäre nicht das erste Mal, dass ich in hochhackigen Schuhen fahren muss“, gab sie zurück und spielte dabei auf die Tatsache an, dass Jens auf Feiern gern mal etwas zu viel trank.
Ihr Mann schien begriffen zu haben und setzte sich schweigend auf den Beifahrersitz. Ingrid fühlte ein wenig Genugtuung in sich aufsteigen und gab Gas. Die Reifen quietschten für einen kurzen Moment in der Einfahrt auf und veranlassten die Jungs zum Jubeln, während sie sich einen missbilligenden Seitenblick von Jens einhandelte.
Rasant lenkte sie den Wagen auf die Straße und brauste davon.
Ingrid hoffte nur, dass sie nicht in einen Stau gerieten. Ohnehin spürte sie bereits den Zeitdruck. Hatte sie Pech, würden alle Parkplätze vor dem Standesamt belegt sein und sie gezwungen sein sich auf die Suche nach einer alternativen Abstellmöglichkeit zu machen. Ingrid malte sich alle möglichen Problemsituationen aus und setzte sich dadurch zusätzlich unter Druck. Sie hatte das Gefühl es nicht rechtzeitig zu schaffen. Unbewusst trat sie das Gaspedal weiter durch. Sie versuchte die vermeidlich verlorene Zeit aufzuholen. Empfindlich überschritt sie dabei die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung.
„Schatz, du liegst bereits zwanzig Stundenkilometer über dem Limit“, versuchte Jens dezent anzumerken, doch erreichte damit nur, dass sich Ingrid angegriffen fühlte.
„Hättest du nicht so getrödelt, dann brauchte ich mich jetzt nicht so beeilen“, presste sie gereizt hervor, wobei sie ihn dabei strafend von der Seite ansah. Sie wollte vermeiden, dass die Kinder etwas von den Spannungen zwischen ihnen mitbekamen.
„Was bist du, denn so aggressiv?“, wollte Jens wissen.
„Ich habe einfach genug davon, dass du mich permanent belehrst“, platzte sie hervor.
„Ich belehre dich?“, fragte er verwundert. „Wie kommst du, denn auf diesen Unsinn?“, hakte er verwundert nach.
„So Unsinn, ist es also für dich! Was bin ich eigentlich für dich, außer deine Dienstmagd?“
Für einen kurzen Moment sahen sie sich an und Ingrid konnte in seinem Blick erkennen, dass er wirklich keine Ahnung hatte, worüber sie sich so aufregte.
„Pass auf!“, schrie Jens, der seinen Blick wieder auf die Straße richtete und gleichzeitig mit dem Finger durch die Windschutzscheibe deutete.
Ingrid schaute in die angewiesene Richtung und riss zeitgleich das Lenkrad heftig herum, während der Fuß das Bremspedal bis in die Bodenplatte durchdrücken zu schien.
Die Reifen quietschten.
Die Familie schrie.
Der Wagen geriet außer Kontrolle.
Ingrid hatte die Gewalt über das Fahrzeug verloren und bekam nur noch am Rande mit, dass sie eine Kollision mit dem auf der Straße befindlichem Hund vermieden hatte. Ob das Tier verängstigt davonlief oder den weiteren Verlauf beobachtete, konnte Ingrid nicht sagen, da sie es aus den Augen verlor. Nichts interessierte sie in diesem Moment weniger als das Wohl des Hundes.
Das eigentlich als sicher empfundene Familiengefährt verwandelte sich zum Geschoss. Sie spürte nur, wie der Gurt sie fest in den Sitz zurrte und ihr nahezu den Atem raubte. Ingrid realisierte eine Gefangene in ihrem eigenen Wagen zu sein und nicht gegen die Naturgesetze anzukommen. Sie konnte nicht erkennen, was mit ihrer Familie war, zu schnell lief die Zeit ab. Unbeweglich an ihren Sitz gefesselt konnte sie nicht unterscheiden, ob die Schreie, die sie vernahm, ihre eigenen oder die ihrer Kinder waren.
Ein erneuter harter Ruck ging durchs Fahrzeug und danach umfing Ingrid Dunkelheit und Stille.
Mit entsetzten beobachteten Passanten den Unfall.
Diejenigen, die die rasante Fahrt des PKW nicht verfolgt hatten, wurden durch das unverkennbare Geräusch quietschender Reifen auf trockenen Asphalt dazu gebracht, in die Richtung zu blicken. Offenbar hatte der Fahrer des Fahrzeuges den auf die Straße gelaufenen Hund zu spät bemerkt und setzte nun alles dran, dass Tier nicht zu überfahren.
Alle vermutlich intuitiv eingeleiteten Maßnahmen entpuppten sich als falsch und hatten zur Folge, dass der Wagen unkontrollierbar wurde. Durch das zeitgleiche Herumreißen des Lenkrades während der Vollbremsung wurde der Wagen komplett aus der Bahn geworfen und entwickelte sich zu einer Kanonenkugel, der sich zunächst überschlug und dann in eine Straßenlaterne krachte. Trotz des Lärms, der diese Szene mit sich brachte, war das panische Geschrei aus dem Innenraum nicht zu überhören und ließ jeden Beobachter einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Unweigerlich wurde man daran erinnert, dass hier nicht nur eine Maschine gegen eine Straßenlaterne prallte, sondern dass das Fahrzeug voller Insassen war die Hilfe brauchten.
Einige Passanten setzten sofort, nachdem sie die Schrecksekunde überwunden hatten, Notrufe ab; während andere direkt aufs Fahrzeug zu rannten. Dass die Schreie verstummten, ließ nichts Gutes vermuten.
Die Karosserie war so verbogen, dass es unmöglich war, ohne den Einsatz von technischem Gerät ins Wageninnere zu gelangen. Versuche in diese Richtung blieben erfolglos.
Ein jeder ging mit seiner Hilflosigkeit anders um. Einige versuchten es dennoch und sprachen unentwegt auf den Schrotthaufen ein, in der Hoffnung den Menschen in dessen Mitte so die Gewissheit zugeben, nicht allein zu sein und die Bestätigung zu geben, dass Hilfe unterwegs sei. Andere starrten nur stumm auf das ehemalige Fahrzeug, während wieder andere das Ganze auf ihren Handys filmten.
Der Pulk wurde allmählich größer als Sirenen aus der Ferne immer lauter wurden. Als erstes traf ein Polizeiwagen ein, direkt gefolgt von der Feuerwehr und einer Ambulanz. Der Unfallort wurde sofort abgesichert und die Schaulustigen hinter die Absperrung gedrängt. Die Einsatzkräfte waren eingespielt und jeder erfüllte routiniert seine Aufgabe.
Der Wagen hatte sich dermaßen verkeilt, dass die Feuerwehrleute ihn nur mit schwerem Bergungswerkzeug aufbekamen. Unverzüglich begann man mit der Befreiung der Opfer. Den Schaulustigen bot sich ein Spektakel. Aufgrund der Schwere des Unfalles, waren mehrere Ambulanzen angefordert worden, so dass sich mittlerweile mehrere Rettungsfahrzeuge vor Ort befanden. Es war kein gutes Zeichen, dass der erste Krankenwagen ohne Sirene losfuhr. Vermutlich kam für den Verunfallten jede Hilfe zu spät. Die nachfolgende Ambulanz hingegen raste mit Blaulicht und Sirene los, ebenso wie der Krankenwagen, der als nächstes losfuhr. Der letzte Wagen, allerdings verzichtete ebenfalls auf einen Einsatz der Sirenen.
Die Arbeit der Rettungssanitäter und Feuerwehrleute war geleistet. Am Unfallort verblieb nur noch die Polizei. Neugierig wurden sie dabei beobachtet, wie Beamte Zeugenaussagen aufnahmen, Aufnahmen vom Unfallort anfertigten, Spuren vermaßen und alles anschließend aufräumten.
Nach nur vier Stunden deutete, außer der verbogenen Straßenlaterne, nichts mehr auf diesen tragischen Vorfall hin. Alles wirkte normal und konnte seinen gewohnten Gang nehmen.
*
Langsam schlug Ingrid die Augen auf.
Das Licht tat ihr weh.
Vorsichtig versuchte sie sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Zunächst machte sie verschwommene Umrisse aus. Es brauchte seine Zeit, bis sie erkannte, dass das weiße Gebilde über ihr eine Zimmerdecke war. Bedächtig wandte sie den Kopf zur Seite, damit sie sich umsehen konnte.
Neben ihrem Bett stand ein Monitor, der ihren Herzschlag und Puls überwachte. Für einen kurzen Moment schloss sie wieder die Augen und berührte mit der Hand ihren Kopf. Sie stöhnte.
Ingrid empfand keine Schmerzen. Sie musste herausfinden, wo sie war. Erneut öffnete sie die Lider. Diesmal gelang es ihr sich etwas länger umzusehen. Dies war definitiv nicht ihr Schlafzimmer. Allem Anschein nach, war sie in einem Krankenhaus. Doch warum?
Die Ungewissheit setzte sie unter Stress. Unweigerlich erhöhte sich der Herzschlag; worauf der Monitor ein Signal auslöste, dass eine Schwester in den Raum lockte.
Ingrid bemerkte die Überraschung im Gesichtsausdruck der Schwester, als diese auf sie zugelaufen kam, nachdem sie zuvor in den Flur rief: „Schnell einen Arzt in Zimmer 17!“
Ingrid war sehr durcheinander und versuchte die Situation zu verstehen. Sie bewegte den Mund, versuchte zu sprechen, doch kein Wort drang über ihre Lippen.
„Sch… sch…! Sie müssen es langsam angehen lassen“, mahnte die Schwester und sah sie dabei neugierig an. „Nicken Sie bitte, wenn Sie mich verstehen.“
Ingrid nickte und schluckte. Ihr Mund fühlte sich so trocken und gleichzeitig pelzig an. Obwohl es ihr unendliche Mühe bereitete, wollte und musste Ingrid sprechen. Sie hatte so viele Fragen. Sie verstand nicht, was vor sich ging. Die Situation machte ihr Angst. Ingrid begriff nicht, weshalb sie hier war. Wusste die Familie, wo man sie hingebracht hatte?
„Wo bin ich? Wo sind mein Mann und die Kinder?“, krächzte sie kaum vernehmbar und schaute dabei die Schwester an.
Das diese sie nur unverbindlich anlächelte und dann an ihr vorbei auf den Monitor schaute, steigerte Ingrids Angst.
„Wo sind meine Kinder?“, krächzte sie aufs Neue.
Beruhigend schüttelte die Krankenschwester den Kopf.
„Das wird Ihnen der Arzt sagen. Keine Sorge, es ist alles in Ordnung!“
Ingrid mochte die Antwort nicht.
Solche Antworten, waren nicht gut. Solche Antworten, waren Ausflüchte. Ingrids Angst verstärkte sich und verlieh ihr einen kleinen Adrenalinstoß. Bevor sie allerdings noch etwas erwidern konnte, erschien ein Arzt auf der Bildfläche.
Freudig überrascht blickte er seine Patientin an.
„Na, da sind Sie ja wieder!“, begrüßte er sie, als wäre sie weg gewesen. „Wir haben uns schon langsam Sorgen, um Sie gemacht. Aber jetzt kommt alles wieder in Ordnung!“ Ohne Umschweife begann er mit der Untersuchung.
Ihr wurde es zu viel. Ihr eigener Gesundheitszustand, war das letzte was sie interessierte. Sie musste wissen, wo ihre Familie war.
Ingrid zuckte zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde, waren Bilder in ihrem Kopf aufgeblitzt. Trotz des schnellen Ablaufes waren sie deutlich gewesen. Sie hatte die Familie und sich im Auto gesehen. Sie waren festlich angezogen, wie auf der Fahrt zu einer Feier.
Plötzlich erinnerte sich Ingrid wieder. Sie waren auf den Weg zur Hochzeit als wie aus dem Nichts ein Hund auf die Straße gesprungen war und sie das Lenkrad herumriss, um ihn auszuweichen… dann war alles dunkel.
Ingrid erschrak, als ihr bewusst wurde, dass sie einen Unfall gehabt hatten. Offensichtlich war das Fahrzeug irgendwo gegen geprallt und hatte bei ihr eine Gehirnerschütterung verursacht.
Mit einem Male war sie hellwach. Die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Familie, machte ihre eigne Verletzung zur Nebensache. Die Sorge um ihre Kinder verlieh ihr neue Energie. Sie spürte, dass ihre Familie sie brauchte. Ingrid wollte zu ihnen.
Sie bekam den Arm des Arztes zu fassen und hielt ihn, trotz ihres Zustandes, kraftvoll fest. Diesmal wollte sie sich nicht mit Ausflüchten abspeisen lassen. Entschlossen blickte sie ihn an und verlangte klar und deutlich: „Was ist mit meiner Familie geschähen? Sind sie auch hier im Krankenhaus?“
Verlegen lächelte der Doktor sie an und versuchte seinen Arm zu befreien. Zu seiner Verwunderung war der Griff unnachgiebig.
Ingrid wollte die Wahrheit wissen. Ihr Blick wurde fordernder und die Stimme energischer.
„Wo ist meine Familie?“, wiederholte sie.
Der Arzt räusperte sich.
„Das wird Ihnen der Chefarzt sagen. Sein Sie bitte vernünftig und beruhigen Sie sich wieder.“
Ingrid missfiel sein Verhalten. Es war zu offenkundig, dass er ihr etwas verheimlichte. Ein ungutes Gefühl beschlich sie und sie begann zu schreien.
„Was ist mit meiner Familie?“
„Bitte beruhigen Sie sich wieder“, flehte er sie an, während er sich rasch der Schwester zu wandte und ihr eine kurze Anweisung bezüglich eines Medikamentes gab.
„Der Chefarzt wird alle Ihre Fragen beantworten. Ich bin nicht befugt Ihnen Auskunft zu erteilen. Bitte seien Sie vernünftig!“
Ingrid hatte genug, von diesem Theater. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu, dass spürte sie ganz deutlich. Man hielt sie hin und gegen ihren Willen fest. Das konnte sie sich nicht gefallen lassen. Sie hatte Rechte. Wenn er sich weigerte, mit ihr darüber zu reden, dann wollte sie jemanden finden, der es tat.
Die Wut, die sie verspürte verlieh ihr unerwartete Kräfte. Zornig ließ sie den Kittel des Arztes los und schlug energisch die Bettdecke fort.
Es fiel ihr zwar nicht leicht sich aufzurichten, doch schaffte sie es unter enormer Kraftanstrengung. Sofort erfasste sie ein Schwindel, als sich ihr Oberkörper in die vertikale Position bewegte. Offenbar hatte sie lange gelegen. Der Kreislauf musste sich an derartige Aktionen erst wieder gewöhnen. Das Aufrichten fiel ihr schwerer, als erwartet. Unwirsch strampelte sie sich frei, um aufzustehen und dieses Zimmer zu verlassen. Sie würde schon irgendwen finden, der ihr Auskunft gab; selbst, wenn sie gezwungen war, bei der Suche das gesamte Krankenhaus auf den Kopf zu stellen.
Die bonierte Art des Arztes, wollte sich Ingrid nicht gefallen lassen. Was bildete er sich ein, sie so zu behandeln? Aber ihm würde sie schon zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Offensichtlich hatte er bereits seinen Fehler erkannt, da er sie nicht zurückhielt.
Endlich schaffte sie es sich im Bett aufzusetzen. Ihr Blick fiel dabei ans Fußende. Augenblicklich hielt sie inne.
Stumm starrte sie auf ihre Beine als seien sie ihr unbekannt.
Wie nicht anders erwartet steckten sie in Thrombose Strümpfe. Doch war ihr Anblick nicht, wie gewohnt. Etwas stimmte nicht und das konnte unmöglich an den Strümpfen liegen. Das linke Bein war kürzer. Vom Unterschenkel abwärts, fehlte etwas.
Ingrid hyperventilierte.
Dies musste eine Sinnestäuschung sein. Dies konnte nicht real sein. Sie musste sich irren. Unmöglich konnte sie auf einen Stumpf starren. Ein schleichendes Gift gleich, drang allmählich in Ingrids Bewusstsein, dass man ihr den Fuß amputiert hatte. Der Schock saß tief.
Für einen Moment war die Familie vergessen.
Sie konnte nicht begreifen, weshalb man ihr das angetan hatte.
Ingrid schrie gellend auf.
Der Schrei drückte den Horror aus, den sie in diesem Augenblick der Realisierung durchlebte. Ingrid konnte sich nicht beruhigen. Sie glaubte an eine Täuschung und versuchte sich nach vorn zu beugen, um die Körperstelle zu berühren; doch es gelang ihr nicht. Panisch blickte sie den Arzt an.
„Was haben Sie getan?“
„Beruhigen Sie sich. Alles wird wieder in Ordnung kommen. Sie hatten einen Unfall!“, versuchte er sie mit sanfter Stimme zu beruhigen.
Ingrid war weit davon entfernt sich zu beruhigen.
„Was haben Sie getan?“, schrie sie hysterisch, wobei sich die Stimme überschlug.
In diesem Moment kehrte die Schwester zurück ins Zimmer. Sie beeilte sich dem Doktor, die aufgezogene Spritze zu überreichen. In Windeseile half sie ihm die Patientin ins Bett niederzudrücken und festzuhalten, damit er ihr das Medikament verabreichen konnte.
Trotz ihrer langen Ruhezeit hatte der Schock Ingrid übermenschliche Kräfte verliehen. Das Adrenalin, das durch ihren Körper pumpte, ermöglichte es ihr, sich gegen die beiden Helfer aufzulehnen. Gemeinsam gelangte es ihnen, die renitente Patientin zu überwältigen.
Ingrid spürte einen scharfen Einstich und im Anschluss, wie die Injektion warm durch ihren Arm rann. Die Stimme des Arztes schien mittlerweile aus der Ferne zu kommen.
„Dies wird Ihnen helfen, sich zu entspannen. Der Chefarzt wird Ihnen alles erklären. Alles wird wieder in Ordnung kommen!“
Ingrids Lider wurden immer schwerer. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an, dass sie sich schlossen, doch schaffte sie es nicht. Das Beruhigungsmittel war stärker als sie. Allmählich driftete sie ab und schlief ein. Dass man ihren Körper wieder vorsichtig bettete, bekam sie gar nicht mehr mit.
Mitfühlend strich ihr der Arzt über die Stirn.
„Arme Frau! Ich bin nur froh, dass ich ihr nicht die Nachricht überbringen muss!“, sagte er zur Schwester, wobei er die Patientin ansah. Das bestätigende Nicken, der Helferin bekam er nicht mit. „Arme Frau“, wiederholte er nochmals und verließ das Zimmer.
Es war an der Zeit, den Chefarzt davon zu unterrichten, dass die Patientin aus Zimmer 17 endlich erwacht war.
Nach einer halben Stunde deutete ein lang gezogenes Stöhnen an, dass die Patientin wieder zu sich kam. Als sie die Augen aufschlug, erkannte sie, dass ein älterer Herr mit weißem Bart neben ihr stand.
„Bin ich im Himmel?“, fragte Ingrid orientierungslos und meinte es keineswegs ironisch.
„Nein! Sie sind im St Elisabeth Krankenhaus“, antwortete die Stimme sachlich. „Ich bin Dr. Otto, der Chefarzt.“
„Welche Ehre“, stöhnte sie sarkastisch und versuchte sich aufzusetzen, doch der Mediziner hielt sie davon ab. Erklärte ihr, dass es ratsamer war, liegen zu bleiben. Ingrid gehorchte und blickte ihn fragend an. „Was ist passiert?“
Dr. Otto zog den Stuhl ans Bett und setzte sich.
Ihm war die Schwere seiner Aufgabe bewusst. Dennoch war es ihm klar, dass es der Patientin nichts half, wenn er um den heißen Brei herumredete. Sie brauchte Gewissheit und wollte sie vollständig heilen, musste sie die Wahrheit erfahren.
„Sie hatten einen schweren Unfall gehabt“, fing er vorsichtig an und schaute sie dabei aufmerksam an.
Augenblicklich atmete Ingrid heftiger. Sie erinnerte sich.
„Was ist mit meiner Familie? Sind sie auch hier im Krankenhaus?“
„Nein“, entgegnete er ruhig und bemerkte, dass sie für einen Moment aufatmete. „Sie haben es leider nicht geschafft.“
Ingrid blickte ihn entgeistert an.
„Was?“, krächzte sie und spürte, wie ihre Augen anfingen zu brennen. Augenblicklich schoss das Tränenwasser ein, als sie die Nachricht verstand. „Meine Familie ist tot?“
Der Chefarzt nickte mitfühlend.
„Ihr Mann und ihr jüngster Sohn, waren auf der Stelle verstorben. Ihr ältester Sohn verstarb auf den Weg ins Krankenhaus. Es tut mir leid!“
Ingrid weinte.
Sie lag im Bett und schlug die Hände vors Gesicht. Die Nachricht hatte sie unvorbereitet und hart getroffen. Sie hatte mit einer derartigen Antwort nicht gerechnet. Der Chefarzt ließ ihr Zeit. Er bedrängte sie weder, noch teilte er ihr weitere Informationen mit.
„Kann ich sie sehen?“, flehte Ingrid mühevoll.
Bedauernd schüttelte der Arzt den Kopf.
„Das geht leider nicht. Sie sind bereits beigesetzt worden!“
Ingrid fühlte einen scharfen Stich im Herzen.
Erneut heulte sie auf. Es fiel ihr schwer eine Frage zu formulieren. Doktor Otto kam ihr zuvor.
„Ihr Schwiegervater hatte alles Notwendige in die Wege geleitet, schließlich war er in ihrem Testament als Bevollmächtigter genannt. Da wir keine Angaben darüber machen konnten, wann sie wiedererwachen würden, gaben wir unser Einverständnis.“
Obwohl eine Flut unangenehmer Neuigkeiten auf sie einströmte, fand Ingrid für einen Augenblick ihre Sachlichkeit wieder.
„Was meinen Sie damit, dass Sie nicht sagen konnten, wann ich wiedererwachen würde? Der Unfall, ist doch erst gerade passiert!“
Scharf zog Doktor Otto die Luft durch die Nase ein, bevor er antwortete.
„Der Unfall liegt bereits etwas länger zurück. Sie befanden sich in einem sehr kritischen Zustand. Noch am Unfallort, musste der Fuß abgenommen werden, anderenfalls hätte man sie nicht aus dem Fahrzeug befreien können. Nach der anschließenden Notoperation verbrachten sie die ersten beiden Wochen auf der Intensivstation. Es kam zu Komplikationen und wir mussten nochmals operieren. Für Ihren Körper war dies zu viel und sie fielen ins Koma.“
„Wie lange“, erkundigte sie sich mit zitternder Stimme.
„Sieben Monate“, antwortete er sachlich und sah sie aufmerksam an.
Ingrid starrte gegen die Zimmerdecke.
Viele Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, doch nur einer kristallisierte sich heraus, den sie laut aussprach.
„Ich bin schuld. Ich habe meine Familie umgebracht!“
„Das dürfen Sie nicht sagen. Es war ein Unfall. Es trifft sie keine Schuld!“
Er griff nach ihrer Hand, um ihr das Gefühl von Nähe zu vermitteln.
Ingrid schüttelte den Kopf.
„Wäre ich diesem Hund nicht ausgewichen, dann würden sie noch alle leben.“ Ingrid weinte bitterlich und fügte hinzu: „Ich habe das Leben meiner Familie für einen Hund geopfert.“
Der Arzt ließ sie weinen und hielt einfach nur ihre Hand.
Ingrid musste mit der ReHa beginnen. Antriebslos ließ sie alle Anwendungen über sich ergehen. Alles was sie machte war lustlos und gezwungen. Für sie gab es keinen Ansporn die Klink zu verlassen, um in ihr altes Leben zurückzukehren; so wie es ihr die Physio-Therapeutin immer wieder voller Enthusiasmus schmackhaft machte. Offensichtlich schien diese nicht zu begreifen, dass dieses Leben nicht mehr existierte.
Ingrid war allein.
Niemand war da, für den es sich zu Leben lohnte. Sie hatte ihre Familie aus Leichtsinn verloren und würde sie nie wiedersehen. Ihr Leben war zu Ende. Für alle Beteiligten wäre es besser gewesen, wenn auch sie den Unfall nicht überlebt hätte. Wozu sollte sie sich also anstrengen? Sie würde nichts davon haben, wenn sie wieder in der Lage war zu laufen. Wohin sollte sie auch gehen? Die einzigen Spaziergänge, die sie unternehmen würde, wären die zum Friedhof, einfach um ihren Kindern und Mann nahe zu sein.
Die Erinnerungen an den Unfall und deren Begleitumstände waren wieder in Ingrids Bewusstsein getreten. Nichts hatte sie vergessen. Keine gnädige Amnesie, die ihre Scham und Schuld vertuschte. Deutlich erinnerte sie sich daran, wie wütend sie auf ihre Lieben war, da diese getrödelt hatten und sie dazu brachten schneller zu fahren. Das sie auf Jens böse war, weil er sie für ihre Raserei gescholten hatte. Die letzten Gefühle, die sie ihrer Familie entgegengebracht hatte, war Wut und Enttäuschung.
Damit wollte sie nicht leben. Ihrer Meinung nach verdiente sie es auch nicht. In ihren Augen hatte sie ihre Familie verraten und ungerecht behandelt. Hatte sie für selbstverständlich hingenommen und nicht gesagt, wie sehr sie sie liebte. Sie hatte das Gefühl von Grund auf schlecht zu sein. Die Hilfe und Unterstützung, die ihr seitens der Klinik zuteilwurde, verstärkte nur ihr Schuldgefühl. Ihrem Gerechtigkeitsempfinden nach, sollte man sie rausschmeissen und ihrem Schicksal überlassen. Sie fühlte sich wertlos. Und dass man sich so um sie bemühte, beschämte sie aufs Tiefste. Jede Minute, die sie hier verbringen musste, war wie eine stumme Anklage. Jeder wusste von ihrer Schuld, doch zeigte man es nicht. Alle taten so, als wäre alles wieder in Ordnung und sie ein guter Mensch. Diese aufgesetzte Nettigkeit machte Ingrid krank. Sie fand, dass es ehrlicher wäre, wenn man offen seine Gefühle ihr gegenüber zeigte und sie für das büßen ließe, was sie getan hatte. Sie war eine dreifache Mörderin. Ingrid ertrug diese falsche Freundlichkeit nicht mehr länger. Am liebsten würde sie diesem unwürdigen Dasein ein Ende setzen.
Doch dieses war einfacher gesagt als getan.
Man hielt sie unter Beobachtung und passte auf, dass sie keine Gelegenheit bekam, an scharfe oder spitze Gegenstände zu kommen. Ebenso wurde auf die Medikation geachtet. Ingrid musste immer beweisen, dass sie ihre Pillen brav schluckte und sie nicht heimlich hortete. In diesem Krankenhaus war man sehr auf der Hut und hatte Erfahrungen mit Patienten, wie Ingrid gesammelt. Neben einem ausgedehnten Physio-Programm hatte man ihr auch eine Psycho-Therapie verordnet. Sie nahm sowohl an Einzel- als auch Gruppensitzungen teil. Sie war dazu angehalten Bilder zu malen und über ihre Gefühle zu sprechen.
Ingrid sperrte sich gegen diesen Blödsinn.
Es ging niemand etwas an, wie sie sich fühlte! Sie spürte, dass sie sowieso jeder heimlich für ihre Tat verurteilte. Es war sinnlos, der Welt mitzuteilen, dass sie sich schuldig fühlte, da dies ohnehin jeder wusste. Sollte sie jedem auf die Nase binden, dass die letzten Worte, die sie mit ihrem Mann gewechselt hatte, im Zorn waren? Das es rückwirkend betrachtet eine Banalität war, die das Leben ihrer Familie gekostet hatte.
Etwas, dass nur sie zu verantworten hatte? Schließlich war es ihre Entscheidung gewesen, pünktlich zur Trauung zu erscheinen. Zur Familienfeier mit Verwandten, die ihr im Grunde genommen gleichgültig waren. Wie sollte man einer solchen Frau verzeihen können, wenn sie es schon selbst nicht konnte?
Sie verdiente keine Gnade. Nun war sie dazu verdammt, in ihrer selbst geschaffenen Hölle zu leiden. Ingrid war davon überzeugt, dass jeder der Mitleid bekundete, log. Aus diesem Grund verweigerte sie ihre Mitarbeit in den Psycho-Therapiesitzungen. Sie brauchte niemand der ihr aufzeigte, dass die alleinige Schuld bei ihr lag und sie das Leben vieler zerstört hatte. Dass wusste sie von selbst.
Ingrid Zustand verschlechterte sich rapide.
Sie weigerte sich zu essen und auf ihre Hygiene zu achten. Eine Zwangsernährung wurde unausweichlich. Die Ärzte und Schwestern taten ihr Bestes, um die Patientin wieder aufzupäppeln und bei Kräften zu halten. Doch da der innere Antrieb fehlte, waren die Aussichten auf Erfolg gering.
Dies verleitete die Psychologin zu einem Experiment.
Seit ihrem Unfall hatte Ingrid keinen Kontakt zu ihrer Familie. Recherchen hatten ergeben, dass ihre eigenen Eltern bereits verstorben waren und sie ein Einzelkind war.
Somit kamen Besuche seitens ihrer leiblichen Eltern nicht in Betracht. Dennoch gab es da noch die Schwiegereltern, zu denen sie laut Aussagen, von Freunden und Bekannten ein gutes Verhältnis unterhielt. Es war nicht auszuschließen, dass ein Wiedersehen mit den Eltern ihres Mannes ihren Selbsterhaltungstrieb erwecken und sie dazu bringen konnte die Therapien anzunehmen. Obwohl es schon seltsam anmutete, dass die Schwiegereltern noch nie auf der Besucherliste zu finden waren. Nach einer langen Diskussion mit dem Chefarzt zeigte sich dieser bereit, den Vorschlag der Psychologin nachzugeben. Man nahm Kontakt zu den Schwiegereltern auf und lud sie ein in die Klinik zu kommen.
Dennoch ließ man sie nicht unvorbereitet in Ingrids Zimmer. Ein kurzes Gespräch brachte sie auf den aktuellen Stand. Es wurde ihnen mitgeteilt, wie sehr die Patientin unter den Folgen des Unfalls litt.
Immer wieder unterstrich Doktor Otto, wie wichtig es für Ingrid war, dass sie Halt bekam. Die einzigen Menschen, denen es möglich war, saßen nun vor ihm. Die Psychologin verwies auf die Wichtigkeit, dass man Ingrid keine Schuldzuweisungen machen durfte. Sie befand sich sowieso bereits am Abgrund und jede noch so kleine oder unbedachte negative Äußerung, konnten sie abstürzen lassen.
Michael und Claudia bestätigten, dass sie sich der Verantwortung bewusst und, trotz des enormen Drucks, bereit waren ihr Bestes zu tun. Der Chefarzt und die Psychologin begleitenden sie in Ingrids Zimmer und hielten sich im Hintergrund.
Die Schwiegereltern erschraken über Ingrids Anblick.
Von der einst üppigen Frau, war nur noch ein Gerippe übriggeblieben. Die sonst so vollen und rosigen Wangen, waren eingefallen und zeigten einen gelblichen Ton. Die Augen wirkten leblos und müde. Es kostete ihnen Überwindung ein Lächeln aufzusetzen und sich dem Bett zu nähern.
„Schön dich zu sehen“, sagte Michael und hauchte der Schwiegertochter in gewohnter Manier einen Kuss auf die Wange.
Verschämt drehte Ingrid den Kopf weg.
Sie wollte nicht, dass er sie so sah. Ihr war bewusst, dass er nicht nur von ihrer Tat angewidert war, sondern es auch von ihrem Äußeren sein musste. Warum musste er sie auch noch demütigen? Seine Gegenwart war eine Ermahnung, dass sie seinen Sohn und seine Enkelkinder auf dem Gewissen hatte. Sicherlich war er nur hierhergekommen, um sie zu quälen.
„Wie geht es dir?“, hörte sie ihn fragen.
Ingrid seufzte nur und Tränen bildeten sich in ihren Augen.
Wie konnte er es wagen, diese Frage zu stellen?
Michael griff nach ihrer Hand und streichelte sie sanft.
Es fiel ihr schwer die Beherrschung zu bewahren. Angespannt kaute sie auf ihrer Lippe. Sie wollte ihm sagen, wie leid es ihr tat, doch konnte sie es nicht.
„Ich möchte, dass du weißt, dass dich keine Schuld trifft!“, stellte er mit ruhiger Stimme fest. Die Überzeugung war eindeutig herauszuhören.
Zögerlich drehte Ingrid den Kopf in seine Richtung, um ihn anzuschauen. Sie verstand nicht, wieso er etwas Derartiges behaupten konnte.
„Das ist nicht wahr!“, protestierte sie leise.
Michael schüttelte den Kopf.
„Es war ein Unfall. Solche Sachen passieren.“ Zur Unterstützung seiner Worte drückte er ihre Hand.
„Ich habe meinen Mann und meine Kinder getötet!“, keuchte sie.
„Du hast sie nicht umgebracht. Sie sind an den Folgen eines Unfalles gestorben. Nicht mehr und nicht weniger. Sicherlich ist es tragisch, doch kannst du die Vergangenheit nicht ändern. Höre auf, dir die Verantwortung zu geben!“, flehte Michael.
„Ich habe die Verantwortung. Ich bin zu schnell gefahren und habe zu spät reagiert, als der Hund auf die Straße rannte“, rechtfertigte sie sich.
„Da sagst du es doch. Der Hund rannte auf die Straße. Damit war er der Auslöser für den Unfall. – Hast du ihn jemals die Schuld dafür gegeben?“, stellte er fest und sah sie ernst an. „Nein, natürlich hast du das nicht. Da das Tier nichts dafürkonnte. Genauso wenig, wie du etwas für die Folgen deines Ausweichmanövers konntest.“
„Das ist doch etwas ganz anderes!“
„Wieso? Weil es nicht in dein Büßerkonzept passt? Weil du die Verantwortung nicht abgeben willst und die Schuld jemanden anderen zuschanzen möchtest? Ingrid, sei bitte vernünftig und siehe ein, dass du keine Schuld an dem Tod deiner Familie trägst.“
Michael war bewusst, wie provokant seine Behauptungen waren. Doch wollte er seiner Schwiegertochter helfen, dann musste er etwas härter zu ihr sein.
„Du verstehst das nicht“, weinte sie.
„Ganz recht! Ich verstehe das nicht. Ich verstehe nicht, wie du dich derartig in Selbstmitleid vergräbst. Das ist nicht die Ingrid, die ich kenne. Die Ingrid, die ich kannte war stark, umsichtig und -“, weiter kam Michael nicht, denn sie fiel ihm ins Wort.
„Ich hatte einen Streit mit Jens angefangen, kurz bevor es passiert ist… Die letzten Worte, die ich zum meinem Mann sagte, waren im Zorn gesprochen worden!“, rief sie und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Überrascht schauten sich der Chefarzt und die Psychologin an.
Trotz aller intensiven Bemühungen war es ihnen nie gelungen, die Patientin zum Reden zu bewegen. Was Michael mit wenigen Aufwand aus ihr heraus bekam, war ihnen trotz moderner Therapiemethoden nicht geglückt.
„Das ändert doch nichts daran, wer du bist! Ich kenne dich seit Jahren. Mein Sohn war nie glücklicher in seinem Leben als mit dir. Du hast sein Leben nicht nur bereichert, sondern ihm erst Sinn gegeben. Ich weiß, wie sehr ihr euch geliebt habt. Was ist gegen all diese herrlichen Jahre miteinander, schon so ein dummer Satz? Reduziere doch eine wundervolle Ehe nicht auf eine unbedacht hin gesprochene Äußerung!“
Er beugte sich vor und streichelte beruhigend über ihre Wange.
„Ich habe ihm nicht sagen können, wie sehr ich ihn liebe!“, weinte sie.
„Das wusste er. Deine Kinder wussten ebenfalls, wie sehr du sie geliebt hast. Was meinst du, wie sie sich fühlen würden, wenn sie sähen, wie sehr du dich selbst bestrafst? Denkst du, sie möchten, dass du unglücklich bist?“
Ingrid konnte nicht antworten.
Ihre Kehle brannte und fühlte sich, wie zugeschnürt an. Michaels Worte trafen sie mitten ins Herz. Es war ebenso schmerzhaft, wie wohltuend diese Sätze aus seinem Munde zu hören. Insbesondere, da sie wusste, dass sie keine Worthülsen waren. Michael hatte sie noch nie angelogen. Sie konnte sich darauf verlassen, dass er ihr immer die Wahrheit sagte.
„Weißt du, wir haben zwar unseren Sohn und die Enkelkinder verloren, doch sind wir unendlich dankbar dafür, dass wir wenigstens dich noch haben. Es wäre um ein vieles schlimmer, wenn keiner von euch mehr da wäre. Bitte, bleib bei uns!“
„Aber… ich… ich…“, stotterte Ingrid bei dem Versuch ihre Gefühle zu äußern.
„Kein, aber! Es gibt Nichts, für das du dich schämen musst. Wir wollen nur, dass du wieder gesund wirst. Du bist uns wichtig, denn du bist unsere Tochter. Das hast du immer gewusst und daran hat sich nichts geändert.“ Michael stand auf und nahm die vollkommen ausgelöste Frau in den Arm.
Trotz ihrer Schwäche legte sie alle Kraft in die Umarmung.
Sie wollte Michael spüren lassen und ihm demonstrieren, wie sehr sie ihn brauchte. Die Erkenntnis, dass er ihr verzieh, ließ sich von ihr nicht mit Worten umschreiben. Die einzige bescheidene Möglichkeit ihre Dankbarkeit auszudrücken, erfolgte über einen zarten Kuss, den sie ihn auf die Wange drückte. Allmählich ließ Michael sie los und setzte sich wieder. Auch in seinen Augen schimmerte die Tränenflüssigkeit.
„Ich bin kein gebildeter Mensch und kenne mich nicht in der Psychologie aus, doch selbst ich erkenne, wie schwer es für dich sein muss. Du bist vor vollendeten Tatsachen gestellt worden, während wir Zeit hatten in Ruhe zu trauern und die schlimmen Dinge verarbeiten konnten. Du wurdest geballt mit den Ereignissen konfrontiert und musst auch noch damit klarkommen, dass du ein Körperteil verloren hast. Doch möchte ich dich bitten, nicht aufzugeben. Kämpfe! Und sei es nur zum Andenken deiner Kinder und deines Mannes!“
Michaels eindringliche Worte hatten Ingrid zutiefst berührt.
„Verspricht mir, dass du kämpfen wirst!“
Ingrid nickte.
„Du sollst es mir versprechen. Ich will es aus deinem Munde hören“, forderte Michael.
„Ich werde kämpfen“, antwortete Ingrid zögerlich.
„Sag es so, dass ich es auch glauben kann“, verlangte er.
„Ich werde kämpfen“, wiederholte sie energischer.
„So ist gut. Denke dran, du hast mir soeben ein Versprechen gegeben“, sagte Michael ernst und hielt ihr die Hand entgegen.
Ingrid verstand und schlug ein.
Sie hielt sich an ihr Versprechen.
Direkt nach dem Besuch, schien ein echter Sinneswandel in ihr vorzugehen.
Ingrid brachte sich ins Programm ein. Sie zeigte zwar zunächst nur eine zögerliche Verbesserung, doch war eine stetige Steigerung ihrer Mitarbeit zu erkennen. Sie erlaubte es sich sogar aktiv an den Psychotherapiesitzungen teilzunehmen und teilte ihre Gefühle mit. Zwar war Ingrid immer noch keine Musterpatientin, doch reichte ihre Mitarbeit aus, um sie nach ein paar Monaten zu entlassen und nach Hause zu schicken.
Ingrids Herzschlag erhöhte sich, als das Taxi in ihre Straße einbog. Damit einhergehend nahmen die innere Spannung und das Unwohlsein zu.
Obwohl sie nach so langer Zeit, endlich wieder heimkehrte, fühlte es sich nicht so an. Die Angst vor dem leeren Haus und die Erinnerungen, die es wachriefen, ließen ihr die Tränen in die Augen schießen. Sie wusste, dass die glücklichen Tage, die sie mit ihrer Familie in diesem Haus verbracht hatte, unwiederbringlich vorüber waren. Das fröhliche Gelächter, das einst durch die Räume halte, war verstummt. Nichts würde jemals wieder so sein, wie es einst war. Es blieb nur noch die Erinnerung.
Ingrid hielt den Atem an, als der Fahrer in der Einfahrt anhielt. Nichts hatte sich verändert. Das Haus wirkte von außen genauso, wie immer. Sogar die Büsche waren geschnitten und der Rasen gemäht. Nichts deutete darauf hin, dass seit fast zwei Jahren niemand in diesem Haus mehr wohnte.
Ingrid wurde aus ihren Gedanken gerissen, als der Fahrer ihr zum dritten Mal den Preis nannte. Er musste sich wohl darüber wundern, dass sein ungesprächiger Fahrgast sehr blass geworden war.
Geistesabwesend reichte sie ihm einen fünfzig Euroschein und verzichtete, sehr zu seinem Gefallen, aufs Wechselgeld. Ingrid interessierte es nicht, dass dadurch sein Trinkgeld höher war als der Fahrpreis.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte er schließlich misstrauisch, nachdem sie keinerlei Anstalten machte auszusteigen.
„Nein, alles in Ordnung… Es ist nur, dass meine Familie“, stotterte Ingrid und brach mitten im Satz ab, da ihr bewusstwurde, dass es ihn nichts anging.
„Hören Sie, es geht mich ja nichts an, doch glauben Sie mir; egal was zwischen Ihnen und der Familie vorgefallen ist, es lässt sich alles kitten. Man muss nur reden.“
Augenblicklich schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie konnte es nicht vermeiden, dass eine von Ihnen herunterlief. Hastig wischte sie sie fort und versuchte Haltung zu bewahren.
„Vermutlich haben Sie recht“, log sie.
Ingrid ließ sich die kleine Reisetasche aus dem Kofferraum reichen und schritt schweren Schrittes auf das Haus zu.
Der Fahrer nahm sich die Zeit sie einen Moment zu beobachten. Auf ihn wirkte es, als wollte sie das Wiedersehen so lange wie möglich hinausschieben. Er wusste, dass dies ihr Zuhause war. Schließlich hatte sie es ihm am Bahnhof mitgeteilt. Offensichtlich fürchtete sie sich vor dem, was sie hinter der verschlossenen Tür erwartete. Es konnte nichts Gutes sein, da sich niemand die Mühe machte sie zu begrüßen.
Der Taxifahrer stieg wieder ein und fuhr davon.
Ingrid war allein.
Seit nahezu zwei Jahren war sie nicht mehr hier gewesen. Es war ihr bekannt, dass die Schwiegereltern dafür gesorgt hatten, dass die Möbel abgedeckt wurden und man das Haus und den Garten instandgehalten hatte. Dennoch traf sie der Anblick überraschend. Direkt hinter der Eingangstür befand sich das Wohnzimmer.
Die Möbel wirkten unter den weißen Tüchern unwirklich und gespenstisch. Obwohl dies ihr Haus war, schien alles befremdlich. Ingrid atmete tief durch. Sie wusste, dass es ihr gelingen musste, den ersten Schock zu überwinden. Es war nur natürlich, dass sie so empfand. Noch deutlich hatte sie das letzte Therapiegespräch in Erinnerung. Es war ihr bewusst, dass sie die innere Sperre überwinden musste, wollte sie in ihrer Heilung vorankommen.
Vorsichtig schob sie sich immer weiter in den Raum. Zögerlich griff sie eines der weißen Laken und zog es von der Couch. Augenblicklich schossen ihr die Tränen in die Augen, als sie das Möbelstück sah.
Alles war, wie sie es verlassen hatte. Ingrid hatte das Gefühl nicht mehr atmen zu können. Dies rührte nicht daher, dass Staub aufgewirbelt, sondern, dass sie von ihren Erinnerungen übermannt wurde. Hörbar atmete sie ein paar Mal tief durch. Sie versuchte ihren Fokus zu finden und zog mit einem Ruck das Laken vom gegenüberliegenden Sofa. Der Luftzug stieß dabei einen Bilderrahmen auf dem kleinen Beistelltischchen um. Ohne nachzudenken, griff Ingrid nach dem Bild und hielt es vor sich. Es war ein Familienfoto, aus längst vergangenen glücklichen Tagen.
Der Anblick war zu viel für sie.
Ingrid setzte sich aufs Sofa und drückte das Bild fest an sich. Hemmungslos weinte sie ihre Trauer heraus. Sie war so vertieft, dass sie das Klopfen an der Tür nicht hörte. Erst, als ihre Nachbarin sie ansprach, blickte sie mit verquollenen Augen auf und sah sie durch einen Schleier an.
„Die Tür war offen“, erklärte Christine und war sich gleichsam bewusst, wie nebensächlich diese Information war. Sie ging in die Knie und nahm die Nachbarin in die Arme. „Weine dich ruhig aus. Ist schon gut. Bernd kann die Laken entfernen.“
Sie holte erst gar nicht sein Einverständnis ein, sondern gab ihren Mann ein Zeichen, die übrigen Laken im Hause zu entfernen. Mit sanfter Stimme überredete sie Ingrid mit ihr rüberzukommen, um einen Kaffee zu trinken. Obwohl Ingrid wusste, wie wichtig es für sie war, sich im Haus aufzuhalten und sich ihrer Vergangenheit zu stellen, gab sie der Einladung den Vorzug.
Normalerweise war Christine um kein Thema verlegen, doch verunsicherte sie die gegenwärtige Situation. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Somit wartete sie darauf, dass Ingrid das Gespräch anfing.
„Warst du auf der Beerdigung?“, kam die erste scheue Frage.
Christine nickte. Es fiel ihr nicht leicht darauf einzugehen, doch war ihr die Wichtigkeit bewusst. „Ja, war ich. Es war eine würdevolle Beisetzung im engsten Rahmen.“ Christine schluckte und kämpfte gegen die Tränen. „Deine Schwiegereltern ließen die Beerdigung filmen.“
Ingrids entsetzter Blick ließ sie hinzufügen: „Das war nur gut gemeint. Für den Fall, das du aus dem Koma erwachst. Sie wollten, dass du Abschied nehmen kannst.“
Ingrid wollte antworten, doch schaffte sie es nicht. Die Gefühle, die sie überrollten, machten es ihr schwer klar zu denken. Das Gehörte war schmerzhaft. Sie fühlte sich schwindelig.
Christine bot ihr rasch ein Glas Wasser an.
„Es tut mir so leid, dass sie in Jens Heimatstadt beigesetzt wurden. Doch war damals nicht klar, ob du durchkommst.“ Verlegen lächelte Christine sie an. „Es musste eine Entscheidung getroffen werden. Wenn du möchtest, fahre ich dich jeder Zeit rüber.“
Ingrid nickte dankbar. Die Beweggründe waren ihr bereits in der ReHa mitgeteilt worden, daher wusste sie, dass ihre Familie nicht auf dem hiesigen Friedhof lag. Wollte sie die Gräber besuchen, war sie gezwungen die zweihundert Kilometer weite Anreise zu unternehmen, oder dort hinzuziehen. Obwohl sie einen innerlichen Drang verspürte die Gräber mit eigenen Augen zu sehen, war Ingrid nicht sicher, ob sie jemals die Kraft dazu aufbrachte. Im Augenblick war es wichtig, dass sie einen Schritt nach dem anderen machte.
„Ich bin fertig“, hörte sie Bernd zu seiner Frau sagen. „Alles ist abgedeckt und die Laken feinsäuberlich in der Garage verstaut.“
Christine bedankte sich und gab ihn ein Zeichen zu verschwinden. Er ließ die beiden Frauen allein. Er erkannte, wie störend seine Anwesenheit war. Ihm war es ebenfalls recht, dass er nicht hierbleiben musste. Schließlich wusste er nicht, was er zu Ingrid sagen, oder wie er auf ihren Verlust reagieren sollte.
„Danke für den Kaffee“, sagte Ingrid höflich. „Ich will dir nicht länger zur Last fallen und werde hinüber gehen.“
„Du bist keine Last. Und das weißt du auch!“, stellte Christine richtig. „Sag mir bescheid, wenn du etwas brauchst.“
Dankbar nickte Ingrid und ging langsam in ihr eigenes Haus hinüber. Erneut atmete sie tief durch, bevor sie über die Schwelle trat.
Bernd hatte ganze Arbeit geleistet. Die Laken waren verschwunden und verliehen den Raum, den einst gewohnten Anblick. Zögerlich trat sie ein und sah sich um. Unabhängig in welche Ecke sie schaute, die Erinnerungen übermannten sie. Machten es ihr schwer, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Erst jetzt bemerkte sie, wie groß das Haus war, obwohl sie früher immer darüber geschimpft hatte, wie beengt es war.
Wie ein Geist schlich sie durch ihre eigenen Räume. Sie schaute in jedes Zimmer und ließ sich Zeit, die Eindrücke zu verarbeiten. Allmählich legte sich das Gefühl eine Fremde im eigenen Hause zu sein. Als letztes betrat sie ihr Schlafzimmer. Das Bett hatte immer noch dieselbe Bettwäsche, wie an dem Tag ihres Aufbruches. Ingrid konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob sie sich tatsächlich die Zeit genommen hatte, das Bett an jenem Morgen zu machen. Sie stand nur da und starrte auf das verwaiste Bett.
Mit einem Male drehte sie sich zum Kleiderschrank. Ingrid konnte den Drang die Türen zu öffnen nicht mehr länger unterdrücken. Sie wusste nicht, ob man Jens Sachen fortgeschafft, oder sie im Schrank belassen hatte. Zwischen Hoffen und Bangen, riss sie die Tür auf. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie die feinsäuberlich zusammengelegte Kleidung ihres Mannes erblickte. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wusste nicht, ob sie glücklich über diese Entdeckung sein sollte oder nicht. Es tat weh, seine Sachen zu sehen, doch gleichsam gut, dass sie nicht weggeworfen worden waren.
Ingrid griff ein Hemd aus dem Regal und setzte sich damit aufs Bett. Mit dem Ärmel streichelte sie über ihre Wange. Sie liebkoste das Kleidungsstück und legte sich langsam hin. Fest presste sie das Hemd an sich, als könnte sie auf diese Weise Jens noch einmal körperlich spüren.
Allmählich schlief Ingrid vor Erschöpfung ein.
Es war ein oberflächlicher und unruhiger Schlaf, der sie umfangen hielt. Sie träumte von der Zeit mit ihrer Familie. Das Haus hatte ihr alles abverlangt. Ingrid konnte keinen Schritt unternehmen, ohne dass sie an irgendwas erinnert wurde. Entsprechend war ihr Traum. Eine Mischung aus Erinnerungen und Wunschdenken. Ein Geräusch riss sie aus dem Schlaf. Erschrocken setzte sie sich im Bett auf und starrte durch die geöffnete Schlafzimmertür.
„Jens?!“, rief sie verunsichert.
Eine Erwiderung blieb aus. Dennoch konnte sie sich nicht zurückhalten, einem zweiten Mal nach ihn zu rufen.
Stille folgte.
Es war so unheimlich still im Haus.
Früher hatte sie sich gewünscht, dass die Kinder für einen Tag ihren Lärmpegel einschränken konnten. Nun war es ruhig und Ingrid ersehnte das Gegenteil. Das Geräusch hatte so gar nicht in diese Stille gepasst, daher ließ es ihr keine Ruhe. Sie fühlte sich gezwungen der Sache nachzugehen. Vorsichtig stand sie auf und schlich bedacht die Stufen herunter. Sie glaubte nicht, es mit einem Einbrecher zu tun zu haben; schließlich war es noch hell draußen.
Ingrid hatte alle Türen und Fenster verschlossen, somit gab es keine Zugluft, dennoch hatte es sich angehört, als sei etwas umgefallen. Vom Ton ausgehend, konnte es kein großer oder schwerer Gegenstand gewesen sein.
Es hatte geklungen, als fiel Holz auf Holz. Es war nahezu unmöglich die Quelle zu eruieren, da das Geräusch nur einmal kurz zu hören war und sie geweckt hatte. Dennoch war Ingrid entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Endlich hatte sie den unteren Treppenansatz erreicht und sah sich im Wohnzimmer um. Nichts war verändert. Alles an seinem Platz und so, wie sie es verlassen hatte. Die Augen schweiften prüfender durchs Zimmer und Ingrid erschrak. Der kleine Bilderrahmen neben dem Sofa war umgefallen.
Genau derselbe, den sie vor ungefähr zwei Stunden versehentlich umgestoßen hatte.
Die Frau wurde blass. Konnte sich nicht erklären, wie dies möglich war. Vor allem, da sie sicher war, ihn wieder aufgestellt zu haben. Selbst, wenn sie sich irrte und ihn nicht aufgestellt hatte, erklärte es noch lange nicht, weshalb sie das Geräusch vernommen hatte, dass sie außerdem noch aufschrecken ließ.
Ingrid beschlich ein eigenartiges Gefühl. Suchend blickte sie sich um, doch erkannte sie nichts, dass darauf hindeutete, dass sie nicht allein im Raum war. Dennoch glaubte sie die Anwesenheit von jemand zu spüren.
Sie fröstelte.
Weigerte sich, es auf ihr angespanntes Nervenkostüm zu schieben. Die Antwort war ihr zu billig. Stattdessen kam ihr ein Artikel in den Sinn, denn sie gelesen hatte. Es war darum gegangen, dass man die Geister Verstorbener spüren konnte. Waren diese in der Nähe, dann wurde es um einen herum kälter.
Testweise hauchte Ingrid in den Raum. Versuchte sich davon zu überzeugen, dass sie ihren Atem sehen konnte. Doch dies blieb aus. Dennoch wollte sie nicht aufgeben. Sie brauchte die Bestätigung, dass sie sich nicht irrte. Zu deutlich konnte sie die Gegenwart von jemand spüren. Dafür konnte es nur eine logische Erklärung geben.
„Jens…?! Nikolas…?! Daniel…?! Seid ihr hier?“, flüsterte sie in den Raum und sah sich fieberhaft um.
Keine Reaktion.
„Bitte… zeigt euch, oder gebt mir zumindest ein Zeichen…“, flehte sie mit weinerlicher Stimme. „Bitte… lasst mich nicht allein!“
Nichts geschah.
Keine weiteren Geräusche oder Stimmen.
Nichts.
Ingrid war enttäuscht.
Wieso zeigten sich ihre Lieben nicht? Hatten sie nicht einen besonderen Bund zueinander unterhalten? Ein Bund, von dem sie immer angenommen hatte, dass er über den Tod hinausging. Erneut versuchte sie es.
„Bitte, gebt mir ein Zeichen, dass ihr mich nicht verlassen habt!“
Angestrengt lauschte sie in die Stille und schrie hysterisch auf, als sie ein lautes Klopfen vernahm.
Ihr Herz raste und für den Bruchteil einer Sekunde, fühlte sie sich mit ihrer Familie verbunden – bis sie realisierte, dass es an der Tür geklopft hatte. Christine war hinübergekommen, um nach ihr zu sehen.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich die Nachbarin besorgt. „Du siehst ein wenig mitgenommen aus!“
„Es ist nichts“, wiegelte ab Ingrid und wollte nichts von ihrem Erlebnis preisgeben. Sie wollte nicht riskieren, dass Christine sie für töricht hielt. Ingrid wollte ihr Geheimnis, dass die Familie einen Kommunikationsversuch unternommen hatte für sich behalten.
„Ich bin nur rübergekommen, um dich zu fragen, ob du mit zum Einkaufen willst. Deine Schränke dürften leer sein!“, auffordernd blickte Christine sie an.
Ingrid wollte zunächst ablehnen, doch besann sie sich eines Besseren. Die Nachbarin hatte Recht. Sie hatte nichts im Haus. Es wäre ratsam zunächst das Notwendigste mit Christine Hilfe zu besorgen und später einen ausgiebigen Online-Einkauf zu machen. Früher hatte sie sich häufiger Lebensmittel liefern lassen. Doch wurde erst am darauffolgenden Tag geliefert. So lange konnte Ingrid nicht warten.
„Warte bitte einen Moment, ich hole nur schnell meine Handtasche!“, bat Ingrid und folgte anschließend der Nachbarin zum Auto.
Zunächst herrschte peinliches Schweigen zwischen ihnen. Keine der beiden wusste, wie sie ein Gespräch anfangen sollte und ob sie es wagen konnte, ein banales Thema anzuschneiden.
Christine war zwar bewusst, dass sich nicht immer alles um den Unfall und dessen Folgen drehen konnte, doch wollte sie auch nicht gefühllos erscheinen, in dem sie das Thema mied.
Glücklicherweise spielte ihr Ingrid endlich den Ball zu, indem sie sich bei ihr erkundigte in welchen Supermarkt sie fuhr. Christine nannte den Namen und verwies darauf, dass sie heute großartige Sonderangebote anpriesen. Zu ihrer Erleichterung sprang Ingrid darauf an und unterhielt sich unverfänglich über gewisse Marken. Christines Anspannung ließ langsam nach. Inzwischen hatte sie das Gefühl ihre alte Nachbarin zurückzuhaben. Sie bot ihr an, sie immer zum Einkaufen mitzunehmen, solange diese kein Auto hatte. Zu spät bemerkte Christine in welches Fettnäpfchen sie mit der letzten Bemerkung getreten war. Ihr war klar, dass dies alte Wunden aufreißen musste, da Ingrid seit dem Unfall nicht mehr Auto gefahren war. Unweigerlich musste sie sich daran erinnern, dass ihre letzte Fahrt den Tod der Familie zur Folge hatte. Christine hätte sich für ihre Gedankenlosigkeit ohrfeigen können.
Den Einkauf erledigten sie wieder schweigend.
Christine war Ingrid selbstverständlich dabei behilflich die Taschen ins Haus zu tragen.
Ingrid fühlte sich verpflichte der Nachbarin eine Tasse Kaffee anzubieten. Obwohl es ihr etwas unangenehm war, nahm Christine die Einladung an. Sie brühte den Kaffee auf, während Ingrid die Einkäufe wegräumte. Anschließend setzten sie sich gemeinsam hin und tranken ihren Kaffee.
Das Gespräch drehte sich zunächst um die günstigen Angebote, die sie erstanden hatten. Doch Ingrid hatte etwas anderes auf dem Herzen. Es kostete Überwindung, die Nachbarin danach zu fragen.
„Hast du eine Filmkopie von der Beerdigung!?“, fragte sie knapp und wagte es nicht Christine dabei anzusehen.
„Ja, ich habe eine! Michael war der Meinung, es sein pietätvoller, wenn ich sie aufbewahre und sie bei Bedarf aushändige, als sie einfach in deinem Haus zu lassen!“, entgegnete die Nachbarin und fürchtete sich vor der nächsten Frage.
„Kann ich sie haben?“
„Selbstverständlich“ lautete die verständnisvolle Antwort, obwohl sie der Meinung war, dass eine Herausgabe der DVD übereilt war. Allerdings war sie auch der Ansicht, dass Ingrid den Zeitpunkt selbst entscheiden musste. Christine begriff, warum sie es wollte, doch hatte sie Angst, dass gerade dies den Heilungsprozess umkehren konnte.
„Möchtest du, dass ich bei dir bleibe, während du sie anschaust?“, erkundigte sie sich mitfühlend.
Ingrid schüttelte den Kopf.
Sie war sich noch nicht einmal sicher, wann sie sich den Film ansehen wollte. Sie wusste nicht, ob sie die Kraft hatte es sofort zu tun oder erst in ein paar Tagen. Im Augenblick schwankten ihre Gefühle, insbesondere, da sie fest daran glaubte, dass die Familie versuchte mit ihr Kontakt aufzunehmen. Doch davon durfte sie Christine nichts erzählen. Sie wollte nicht, dass man sie für verrückt hielt, oder ihre Empfindungen auf das Durchlaufen der verschiedenen Stufen der Trauer reduzierte.
Egal welches Argument Christine anführen würde, konnte es nichts an der Tatsache ändern, dass Ingrid die Anwesenheit ihrer Lieben deutlich gespürt hatte. Sie wusste, was sie gehört, gesehen und gefühlt hatte. Sie wollte sich nicht mit bequemen Erklärungen abspeisen lassen, nur weil es für ihre Mitmenschen angenehmer war. Es gab Dinge zwischen Himmel und Erde, die man nicht so einfach erklären konnte. Ingrid machte sich zur Aufgabe, ihrer Familie dabei entgegenzukommen die Grenze zu überwinden und mit ihr zu kommunizieren. Zwar war sie ahnungslos, wie es ihr gelingen sollte, doch wollte sie dazu den Rat aus dem Internet holten. Irgendetwas oder irgendjemanden würde sich schon finden, der ihr half.
Christine trank aus und versprach, die DVD sofort herüberzubringen.
Ingrid bedankte sich bei ihr und blieb noch einen Moment sitzen.
Ihre Emotionen waren hochgeschaukelt. Die Vorstellung gleich eine Aufzeichnung über die Beisetzung ihrer Familie im Hause zu haben, war eine unheimliche Belastung. Auf Christine Rückkehr zu warten, ließ fiel ihr schwer. Die Frau seufzte. Sie stieß den Atem stoßweise aus und erhob sich. Sie war zu unruhig, um sitzen zu bleiben. Sie musste etwas tun. Also beschloss sie, die beiden Tassen abzuspülen. Diese war keine schwierige Aufgabe und diente nur der Ablenkung. Ingrid ließ Wasser in die kleine Spüle ein und überdosierte ihr Abwaschmittel. Die Tassen waren sehr schlüpfrig und die Erste glitt versehentlich aus der Hand. Mit lautem Scheppern zersprang sie in tausend Teile auf dem Küchenboden. Ingrid erschrak und fluchte automatisch. Sie nahm das Kehrblech, um ihre Ungeschicklichkeit zu beseitigen, bevor Christine wiederauftauchte. Ingrid wollte nicht, dass sie ihren wahren Gefühlszustand bemerkte. Sie wollte ruhig und abgeklärt auf die Nachbarin wirken.
Während ihres Klinikaufenthaltes, war sie zu häufig damit konfrontiert worden, dass Leute sich zu sehr um sie kümmerten. Sie wollte endlich wieder ihr eigenes Leben führen. Und dazu gehörte auch, dass sie die Kommunikation mit ihrer Familie wieder aufnahm. Zu lange hatte diese auf sie warten müssen. Ingrid hatte die Zeichen richtig gedeutet und wollte entsprechend handeln. Sie wollte die Familie kein zweites Mal im Stich lassen.
Sie war dankbar dafür, dass sie ihr eine zweite Chance gaben.
Ungeduldig hatte sie auf Christine Rückkehr gewartet. Höflich, aber bestimmt bat sie darum, allein gelassen zu werden. Ingrid wollte sich die DVD in Ruhe ansehen.
Sie wollte nicht, dass man sie dabei beobachtete, wie sie der Anblick der Särge erschütterte. Ihr war klar, dass ein gewaltiger Unterschied darin bestand, sich nur die Beerdigung vorzustellen oder sie mit eigenen Augen zu sehen. Der Effekt würde, um ein Vielfaches stärker sein und warf sie wohlmöglich zurück. Doch Ingrid musste dieses Risiko eingehen. Momentan befand sie sich im Zwiespalt. Auf der einen Seite konnte sie es nicht abwarten endlich den Inhalt zu sehen und sich davon zu überzeugen, dass der Tod ihrer Familienmitglieder Realität war. Doch auf der anderen Seite, war sie nicht bereit dieses zu akzeptieren.
Schaute sie sich den Film an, bestätigte es nur ihre tiefsten Befürchtungen. Sie hatte Angst davor, dass sie dadurch den Zauber brach und ihre Familie aufgab. Wohlmöglich zerstörte ein Betrachten des Films, die Chance auf einen Kommunikationsversuch.
Das Risiko erschien ihr einfach zu hoch.
Wie gern wollte sie noch einmal mit ihnen sprechen! Ihnen sagen, wie leid es ihr tat und wie sehr sie sie liebte. Konnte sie es wirklich wagen, auf eine derartige Chance zu verzichten? Ingrid war nicht dazu bereit, ihre Familie aufzugeben. Sie hatten sie immer gebraucht und taten es nun umso mehr.
Vor allem ihre Kinder mussten durch ihren plötzlichen und unerwarteten Tod, verwirrt sein. Sicherlich befanden sie sich in diesem Haus und konnten ihre Mama sehen und waren verängstigt darüber, dass diese nicht auf sie regierte. Ingrid schnürte es bei diesem Gedanken den Hals zu. Tränen stiegen in ihre Augen. Sie fühlte sich elend und glaubte, als Mutter versagt zu haben.
Sie konnte es nicht zulassen, dass sich ihre Kinder allein fühlten. Sie brauchten die Liebe ihrer Mutter. Ingrid hatte ihnen diese zu ihren Lebzeiten nicht verweigert und somit würde sie nicht damit anfangen, es nach ihrem Tod zu tun.
Unentschlossen blickte sie auf die DVD. Sie fühlte sich unter Druck gesetzt, eine Entscheidung zu treffen.
Zu viel stand für sie auf dem Spiel. Hier ging es nicht darum sich einen Film anzusehen. Dieser Mitschnitt würde ihr Leben beeinflussen und eine nachhaltige Wirkung auf sie haben. Stur starrte sie auf die silbrig glänzende Scheibe, die so unscheinbar vor ihr auf der Tischplatte lag. Je nachdem wie sie den Kopf bewegte, brach sich das Licht. Obwohl Ingrid wusste, dass das Licht nur gemäß seiner Wellenlänge in die entsprechende Farbe des Spektrums gespalten wurde, kam ihr diesmal der Anblick des Regenbogens unpassend fröhlich vor. Normalerweise konnte sich Ingrid an dieses natürliche Naturschauspiel nicht satt sehen. Nun fühlte sie sich verspottet. Die bunten Farben passten nicht zu dem düsteren Inhalt. Für sie wirkte es pietätlos und ließ den Respekt vor ihrer Trauer vermissen. Sie fühlte sich von einer unbekannten Macht verhöhnt; als wollte sich diese an ihrem Elend ergötzen.
Ingrid konnte nicht sagen, wie lange sie die kleine Scheibe angestarrt hatte. Letztendlich hob sie sie auf und schob sie ins Abspielgerät.
Schwer ließ sich die Frau auf die Couch fallen und schaute gebannt auf den Bildschirm.
Das Herz klopfte schneller, als die Disc automatisch abgespielt wurde.
Ingrid hatte sich innerlich darauf eingestellt, sofort mit dem Anblick der drei Särge konfrontiert zu werden. Erleichtert erkannte sie, dass man sich beim Zusammenschnitt des Filmes Mühe gegeben und dies einen Profi überlassen hatte. Die Kameraführung war ruhig. Abrupten Bewegungen und verwackelte Bilder wurden vermieden. Nichts wirkte abgehackt. Ingrid vergaß, dass sie ein Ereignis aus der Vergangenheit beobachtete. Es kam ihr so vor, als erlebte es sie in diesem Moment hautnahe mit.