Die Ewigkeit dauert ein Jahr - Kerstin McNichol - E-Book

Die Ewigkeit dauert ein Jahr E-Book

Kerstin McNichol

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Beschreibung

Liebe, Intrige und Mord sind immer Garanten für einen guten Thriller. Obwohl diese Elemente „Die Ewigkeit dauert ein Jahr“ (Lügenherz) ausmachen, ist es kein fiktiver Roman, sondern ein wahres Erlebnis. Selbstkritisch erzählt die Autorin ihre eigene Beziehungsgeschichte und hinterfragt, wann sie hätte merken müssen, dass nicht nur alles Lüge war, sondern es auch noch tödlich enden würde. Die Anzeichen dafür waren früh genug da ... oder etwa nicht? Entscheiden Sie selbst, ob Sie sein wahres Gesicht schon wesentlich früher erkannt und sich so aus den Gefahrenbereich gebracht hätten. Kerstin war vor Liebe blind, so dass es ihr erst viel zu spät gelang, ihn für das zu sehen, was er wirklich war. "Die Ewigkeit dauert ein Jahr“ ist nicht Kerstins aktuellste Veröffentlichung, dennoch bezeichnet sie es als ihr wichtigstes Buch. Besonders da es sich um ihre persönliche Geschichte handelt. Offen und ehrlich erzählt sie wie es ihr gelang, gerade noch lebendig aus einer sehr gewalttätigen Beziehung herauszukommen und die Scham, die sie darüber empfand, dass er sie so behandeln konnte, aber auch von der Angst vor ihm. Ungeschminkt berichte sie, wie damals die Behörden und auch Ärzte die Not einer jungen Frau ignorierten. Gerade das Alter dieses Buch macht es so wichtig, da es zeigt, dass das erlittene Trauma nicht das weitere Leben bestimmen muss. Natürlich war es auf für sie nicht einfach die Scherben ihrer Selbst zusammenzukehren und sich wieder daraus aufzubauen. Doch ist sie jetzt seit 25 Jahren glücklich verheiratet und ist Mutter.

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Kerstin McNichol

Die Ewigkeit dauert ein Jahr

Die Ewigkeit dauert ein JahrLügenherz vergeht - Angst besteht

Inhaltsverzeichnis

Die Ewigkeit

dauert

ein Jahr

INHALT

Vorbemerkung

September 1999, Dorsten - Deutschland

KAPITEL 1

1981 – 1986, Dorsten, Deutschland

KAPITEL 2

Juni 1993, Dorsten, Deutschland

KAPITEL 3

Juli 1993, Ludwigshafen am Rhein

KAPITEL 4

Juli 1993 Erste Asienreise / Aufenthalt in Malaysia

KAPITEL 5

Juli/August 1993 – Thailand

KAPITEL 6

Sommer/Winter 1993, Deutschland

KAPITEL 7

Winter 1993/Sommer1994, Deutschland

KAPITEL 8

Juli 1994 – Asien, Singapur/Hongkong

KAPITEL 9

Juli 1994, Malaysia

KAPITEL 10

Juli/August 1994, Thailand

KAPITEL 11

August 1994, Indonesien

KAPITEL 12

August 1994, Deutschland

KAPITEL 13

Juli 2000, Landgericht Frankenthal, Deutschland

KAPITEL 14

Anmerkung:

ÜBER DEN AUTOR

Impressum

Die Ewigkeit

dauert

ein Jahr

Kerstin McNichol

Copyright © 2022 Kerstin McNichol

Alle Rechte vorbehalten.

INHALT

VorbemerkungSeite1September 1999, Dorsten, Deutschland121981 – 1986, Dorsten, Deutschland153Juni 1993, Dorsten, Deutschland204Juli 1993, Ludwigshafen am Rhein275Juli 1993 Erste Asienreise / Aufenthalt in Malaysia416Juli/August 1993 – Thailand797Sommer/Winter 1993, Deutschland1108Winter 1993/Sommer1994, Deutschland1609Juli 1994 – Asien, Singapur/Hongkong22110Juli 1994, Malaysia25411Juli/August 1994, Thailand30212August 1994, Indonesien35413August 1994, Deutschland39514Juli 2000, Landgericht Frankenthal, Deutschland436Anmerkung440Über den Autor442

Vorbemerkung

Bei diesem Roman handelt es sich um eine Überarbeitung des Romantitels „Die Ewigkeit dauert ein Jahr“ erstveröffentlicht von 2013-2016 beim United P.C. Verlag, später dann in Eigenveröffentlichung unter demselben Titel und anschließend als „Lügenherz“. Doch, da ich diesen Titel als missverständlich empfand, entschloss ich mich es erneut unter dem Originaltitel zu veröffentlichen.

Das Manuskript wurde zwar vor dieser Wiederveröffentlichung überarbeitet, allerdings nicht professionell.

Inhaltlich wurde nichts geändert, da die Geschichte authentisch ist. Es wurden lediglich Rechtschreibfehler ausgebügelt. Es ist mir bewusst, dass der Text immer noch fehlerhaft ist und von einer professionellen Überarbeitung profitieren würde. Doch bin ich in dieser Beziehung ein gebranntes Kind, da ich bereits einigen Neppern in der Branche auf dem Leim ging und teureres Lehrgeld dafür zahlte. Daher bitte ich um Verständnis, für meine Entscheidung alles selbst zu machen. Schließlich war es mir wichtiger diese Geschichte zu erzählen, da ich bereits positive Reaktionen von Menschen bekam, die ähnliches erlebten.

Die im Buch beschriebenen Erlebnisse reflektieren meine Empfindungen und mein Zusammenleben mit dem Mann wieder, der mir als vierundzwanzigjährige ewige Liebe versprach und mir dennoch ein Jahr später mein Leben nehmen wollte.

Alle beschriebenen Ereignisse basieren auf wahre Begebenheiten. Vieles mag unwahrscheinlich klingen, doch verbürge ich mich dafür, dass Nichts fiktional ist, um mich in einem besseren Licht dastehen zu lassen. Im Gegenteil, ich erzähle auch Begebenheiten, die mir persönlich sehr peinlich waren und immer noch sind. Ich versuche ein möglichst ehrliches Bild dieser Beziehung aufzuzeigen. Dennoch musste ich mich allerdings aus rechtlichen Gründen absichern und änderte lediglich die Namen der beteiligten Personen, bis auf meinen eigenen und den meines Ehemanns. Sollten dennoch Ähnlichkeiten zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen erkennbar sein, die nichts mit den wirklichen Umständen zu tun haben, wäre dies rein zufälliger Natur und ist nicht beabsichtigt.

Diese Geschichte war von mir direkt nach der Trennung als selbsttherapeutische Maßnahme aufgeschrieben worden und entpuppte sich dadurch in mehrfacher Hinsicht als Segen. – Mehr dazu in der Anmerkung.

September 1999, Dorsten - Deutschland

KAPITEL 1

Da ich im Jahre 1969 geboren wurde fand der größte Teil meiner Kindheit in den siebziger Jahren statt. Obwohl ich eigentlich viel zu jung dafür war, hatte ich eine Vorliebe für die von Eduard Zimmermann moderierte Sendung „Aktenzeichen XY- ungelöst“. Damals verstand ich nicht, dass Herr Zimmermann nicht von einem realen Polizeibeamten sprach, wenn er sagte: „Hier hat Kommissar Zufall geholfen“.

Als Kind war ich davon überzeugt, dass Kommissar Zufall der genialste Ermittler Deutschlands sein musste. – Heute lächele ich über meine kindliche Naivität von damals, doch war es ausgerechnet diesem Kommissar Zufall zu verdanken, dass ich als Hauptzeugin in einem Kriminalfall auftauchte, bei dem sich der Angeklagte sicher war mit einer milden Strafe davonzukommen. Erst durch meine Zeugenaussage kam die wahre Komplexität einer simplen Anklage wegen Todschlags ans Licht.

Kommissar Zufall brachte die untersuchenden Kriminalbeamten aus Ludwigshafen am Rhein dazu, mich in dem vierhundert Kilometer entfernten Dorsten zu verhören. Und alles nur, weil ich einem Fernsehaufruf der Polizei bezüglich Brandstiftungen Speyer gefolgt war.

Ich hatte gezögert die angegebene Nummer anzurufen, da ich meine Hinweise als lächerlich empfand. Allerdings trieb mich mein Gewissen dennoch zum Telefonieren.

Ich möchte erst gar nicht wissen, wie absurd mein Gestammel auf den Beamten am anderen Ende der Leitung gewirkt hatte. Teilte ich ihm doch gerade mit, dass ich aus dem Ruhrgebiet anrief und zu der Person, die ich gerade anschwärzte, weder Kontakt hatte noch wusste, ob sie sich überhaupt noch in Deutschland aufhielt. Deutlich spürte ich, wie er Zweifel an der Sachdienlichkeit meiner Aussage hatte, doch tat er seine Pflicht und nahm sie dennoch zu Protokoll. Stur beharrte ich darauf, dass die von mir denunzierte Person, nicht über meinen aktuellen Nachnamen informiert werden durfte. Selbstverständlich wurde der Beamte misstrauisch und hakte nach. Bereitwillig erklärte ich, dass ich nach wie vor in Angst vor dieser Person lebe, da wir vor knapp sechs Jahren verlobt waren und er die Beziehung dadurch beenden wollte, indem er mich zu erwürgen versuchte.

Das Verhalten des Beamten änderte sich. Kam er mir bisher abweisend vor, schien ich nun sein Interesse geweckt zu haben. Rasch erklärte ich ihm, was damals passiert war und wieso ich glaubte mein Ex-Verlobter könnte der gesuchte Brandstifter sein.

So gab ich an, dass mir weder bekannt war, ob er nach wie vor in Ludwigshafen am Rhein lebte, oder bereits in sein Heimatland Malaysia zurückgekehrt war. Signifikant war für mich lediglich das Datum der Ausstrahlung. Es handelte sich um seinen Geburtstag. Während unserer Beziehung hatte er immer wieder damit gedroht, die umliegenden Wälder von Ludwigshafen niederzubrennen, sollte er Schwierigkeiten mit den deutschen Behörden bekommen. Sozusagen, als persönlichen Stempel, wollte er die Brände in der Woche seines Geburtstages legen.

Der Beamte versicherte mir, dass man meinem Hinweis nachgehen würde und sich gegebenenfalls bei mir meldete.

Kaum war das Gespräch beendet, bekam ich Zweifel, überhaupt das Richtige getan zu haben. Selbst, wenn sich mein Verdacht, als falsch herausstellte, erfuhr er, dass ich ihn angeschwärzt hatte. Ein Kerl, wie Wong, nahm dies nicht ungestraft hin. Meine aufkommende Panik versuchte ich damit zu beruhigen, dass ich vermutlich nur überreagierte und die Sache schlichtweg im Sande verlief; wie meine damalige Anzeige gegen ihn. – Dennoch verschwand mein ungutes Gefühl nicht. Schließlich hatte ich mich, wieder bei ihm in Erinnerung gerufen.

Damals hatte ich auch die Polizei eingeschaltet, doch war meine Anzeige gegen ihn nicht ernstgenommen worden. Dass allerdings seine Drohungen keine leeren Versprechungen waren, hatte ich auf die harte Tour gelernt. Während unserer Beziehung hatte er mir immer wieder gesagt, dass er mich lieber umbringen würde, als mich zu verlieren. Normalerweise hätten bei einer derartigen Aussage bei mir die Alarmglocken läuten müssen, doch in meiner Verliebtheit überhörte ich großzügig, die Gefährlichkeit dieser Bemerkung. Leichtfällig entschuldigte ich es mit seinen mangelnden deutschen Sprachkenntnissen und einer unkonventionellen Vorstellung von Romantik. Dass er es allerdings so meinte, wie er es immer behauptete, bemerkte ich erst, als ich mich wirklich von ihm trennen wollte. Er hielt Wort und versuchte mich zu erwürgen. Dies war vor fast sechs Jahren. Seither unternahm ich alles, um mich von ihm fernzuhalten. Mittlerweile war ich verheiratet und trug den Nachnamen meines Mannes.

Lediglich zwei Tage nach meinem Anruf, wurde ich von einem Beamten der Ludwigshafener Kriminalpolizei kontaktiert. Er informierte mich, dass man meinen Hinweisen nachgegangen war, doch Wong für die Brandstiftungen ein Alibi hatte. Nichtsdestotrotz benötigte man dennoch meine Aussage in einem anderen Fall Wong betreffend.

Ich fühlte mich überfallen, wollte sofort wissen, um was es ging. Doch der Kripobeamte teilte mir lediglich mit, dass er dies am Telefon nicht sagen kann und bestand stattdessen auf ein persönliches Treffen.

Das schreckliche Gefühl etwas ausgelöst zu haben, was ich nicht mehr kontrollieren konnte, wurde immer stärker. Unangenehm war auch, dass ich meinem neuen Arbeitgeber erklären musste, weshalb ich zwischenzeitlich für ein paar Stunden meinen Arbeitsplatz verlassen musste, da ich von der Kriminalpolizei aus Ludwigshafen am Rhein verhört werden sollte. Dieses Geständnis meinem Chef gegenüber, gab mir das Gefühl die Schuldige zu sein, obwohl mir nichts anzulasten war.

Stattdessen machte ich mir Vorwürfe, überhaupt den Stein ins Rollen gebracht zu haben. Wer wusste schon, was Wong angestellt hatte? Ich vermutete irgendwelche Betrügereien mit seinem Import und Export, oder möglicherweise hatte er das Tigerfell ins Land geschmuggelt und saß nun in Untersuchungshaft. Was auch immer der Grund dafür war, weshalb die Kripo mit mir sprechen wollte, ich würde es erst Ende der Woche erfahren.

Für mich wurde es eine lange Woche, denn es gelang mir nicht abzuschalten. Immer wieder zerbrach ich mir den Kopf darüber, welche Straftat Wong begannen haben konnte, die meine Aussage verlangte. Die Ungewissheit und Zusammenhanglosigkeit, vermittelte mir ein Gefühl von Kontrollverlust. Ich ahnte, dass man mich benutzen wollte. Doch wofür?

Meine Unruhe nahm auf dem Weg zum Verhör zu. Zeitgleich trafen die Kripobeamten und ich vor der Dorstener Wache ein. Wir machten uns auf dem Parkplatz miteinander bekannt. Im Gebäude überließ man den Kollegen aus Ludwigshafen ein Zimmer, um die Vernehmung ungestört durchzuführen. Obwohl ich nichts verbrochen hatte, fühlte ich mich angeklagt und schuldig. Die Herren aus Ludwigshafen verstärkten dieses Gefühl zusätzlich, da sie alles sehr geheimnisvoll hielten.

Beharrlich verheimlichten sie mir den Grund für die Befragung und überhäuften mich ihrerseits mit Fragen. So wurde ich danach befragt, ob ich über das Verhältnis zwischen Wong und seiner Frau Yeh informiert war.

Ich gab zu, dass ich Yeh nicht nur kannte, sondern wusste, dass sie mit Wong während unserer Beziehung verheiratet war. Das mir die beiden ein abgesprochenes Schmierentheater vorgespielt hatten, damit sich Wong mit mir verloben konnte.

Die Blicke, die sie mir zuwarfen, kannte ich noch von damals. Fand ich es damals normal, so gehandelt zu haben, fiel es mir heute schwer, Verständnis für meine damalige Entscheidung aufzubringen. Ich war verliebt und wollte mit dem Mann meines Lebens zusammen sein. Dass er in einer lieblosen Ehe gefangen war, hatte ich ja selbst erlebt, da wir alle zusammenlebten.

Erneut tauschten die Beamten einen raschen Blick aus und fragten mich anschließend, ob ich jemals Handgreiflichkeiten zwischen Wong und Yeh mit angesehen hatte.

Wahrheitsgemäß erzählte ich wie es in der beengten Wohnung zuging. Das Wong häufig die Geduld mit ihr verlor und ihr einmal während des Essens eine Reisschale gegen die Stirn warf, oder sie sogar mit einer Gaspistole bedrohte.

Nun waren sie selbstverständlich an meinem Verhältnis zu ihr interessiert. Ich gab zu, dass ich sehr wütend gewesen war, als das Schmierentheater aufflog und er gestehen musste, dass sie seine Frau war. Schnell warf ich ein, dass Deutsch in der Wohnung nur zwischen Wong und mir gesprochen wurde. Seine Frau war Vietnamesin und er Malaie, somit sprachen sie untereinander Kantonesisch. Auch die Kinder sprachen kein Deutsch. Ich war immer auf Übersetzungen von Wong angewiesen, daher konnten beide die Lüge so lange aufrechterhalten. Dass sie damals doch aufflogen, lag daran, dass ich die Anfeindungen seitens Yeh nicht mehr länger aushielt und darauf bestand, dass Wong ihren Ehemann herholte.

Nun wurde ich noch verwunderter angesehen, so dass ich sie aufklärte.

Wong hatte mir vorgespielt, dass Yeh seine bei ihm lebende Schwägerin sei. Er lediglich so lange auf sie und den drei kleinen Kindern aufpasste, während sein Bruder, Yehs Ehemann und Vater der Kinder, als Koch in einer anderen Stadt arbeitete. Da dies für Asiaten nicht ungewöhnlich war, glaubte ich ihnen.

Nun wollten sie von meinem Verhältnis zu ihr erfahren.

Ich fühlte mich unter Stress und wunderte mich, was sie mit dieser Fragerei erreichen wollten. Langsam bekam ich Angst.

„Wieso stellen Sie mir eigentlich die ganzen Fragen über Yeh? Wong hatte mir damals, nach unserer Trennung, geschrieben, dass sie sich scheiden ließen. Mit dieser Mitteilung hoffte er, mich zurückzugewinnen“, traute ich mich endlich zu sagen und hoffte auf eine Erklärung.

Beide Beamten blickten mich aufmerksam an, als wollten sie keine meiner Reaktionen verpassen.

„Sie waren immer noch verheiratet. Wong hat Yeh vor ein paar Tagen erwürgt.“

Mehr hörte ich nicht.

Mir wurde schlecht und schwindelig zugleich. Ich hatte das Gefühl zu fallen. Alles drehte sich. Mein Mund wurde trocken. Was hatte dieser Mann behauptet? Wong hat Yeh erwürgt! Ich war wie vor den Kopf gestoßen.

„Er hat sie tatsächlich umgebracht?“, presste ich ungläubig hervor.

„Ja, jetzt haben wir ihn“, sagte der Beamte, der mir die Fragen gestellt hatte und schüttelte dabei die geballte Faust vor seiner Brust.

Diese unbedachte Gefühlsäußerung verunsicherte mich so sehr, dass ich mich automatisch schuldig fühlte, obwohl meine Erinnerung und meine Behauptungen korrekt waren. Mehrfach hatte er während unserer Beziehung geäußert, dass er sie töten wollte. Doch nun kamen mir Zweifel, ob er es auch wirklich so gemeint hatte. Das Gefühl, das der Kriminalbeamte durch seine Reaktion bei mir ausgelöst hatte, mochte ich nicht. Ich brauchte Klarheit.

„Weiß man, wieso er sie umgebracht hatte?“, erkundigte ich mich immer noch unter Schock.

„Sie müssen verstehen, dass wir Ihnen nicht sehr viele Informationen geben dürfen. Aber vermutlich ging es, um die Kinder.“

Mehr erfuhr ich von den Beamten nicht. Doch mir reichte diese Information. Ich grinste bitter.

„Die Kinder waren ihm immer wichtig. Ständig kam es deswegen zu Reibereien zwischen Yeh und ihm. Mehrfach hatte er versucht, Pflegeeltern für die Kinder zu finden.“ Ich stutzte für einen Moment. „Wieso ist Wong eigentlich in Haft?“

Irritiert blickten sie mich an und ich sah mich gezwungen deutlicher zu werden.

„Wäre meine Großmutter vor circa sechs Jahren nicht mutig dazwischen gegangen, hätte er es geschafft mich zu erwürgen. Ich hing bereits bewusstlos in seinem Würgegriff, als sie mit dem Krückstock so lange auf ihn einschlug, bis er den Gürtel, den er mir um den Hals geworfen hatte, losließ. Als ich wieder zu mir kam rief ich die Polizei und musste mir anhören, dass man sich weigerte eine Streife vorbeizuschicken. Ich hatte den Fehler gemacht, ihn als meinen Verlobten zu bezeichnen. Daher wundere ich mich, wieso die Polizei in seine Wohnung kam. Yeh kann sie kaum angerufen haben!“

„Es ist kein Notruf abgesetzt worden. Herr Hsien kam auf die Wache und stellte sich selbst! Er berief sich auf eine Affekthandlung.“

Obwohl ich es nicht wollte, lachte ich verächtlich auf. Das war typisch für ihn. Damals hatte er mir auch die Schuld gegeben, dass er mich würgte.

„Hat ihnen Herr Hsien jemals gegenüber erwähnt, dass er Yeh töten wollte?“

Mit dieser Frage brachte er mich in einen Zwiespalt. Ich starrte den Beamten an. Automatisch sprang meine Erinnerung ungefähr sechs Jahre zurück. Es war kurz vor unserem Aufbruch zur zweiten geschäftlichen Asienreise. Vor meinem geistigen Auge spielte sich eine Situation am Rheinufer ab, die sich mir für immer ins Gedächtnis gebrannt hatte. Es war ein heißer Spätnachmittag im Juni. Meine Erinnerung an diesem Moment war so lebendig, dass ich sogar die Wärme der Sonne auf meiner Haut zu spüren glaubte. Dies behielt ich für mich. Den Beamten berichtete ich lediglich von den Ereignissen, die diesem Gespräch vorangegangen waren.

„Wir saßen am Rheinufer. Yeh hatte sich wieder eine Ungeheuerlichkeit geleistet. Was mich dazu brachte, die Polizei einzuschalten. Doch geschah nichts. Stattdessen begriff sie, dass sie über das Wohlergehen der Kinder, das ultimative Druckmittel besaß Wong ihren Willen aufzuzwingen. Wir konnten unsere Reise nicht mehr verschieben und versuchten einen Ausweg zu finden. Wong meinte, dass es die einfachste Lösung wäre Yeh zu töten.“ Ich atmete noch einmal tief durch, denn bisher hatte ich noch nie jemanden von diesem Tag und dessen Ereignissen erzählt. Hier plauderte ich intime Geheimnisse aus. „Wong verlangte von mir, dass ich sie zum Rheinufer herunterlockte, damit ich sie anschließend in den Fluss stoßen kann. Er wollte dabei zusehen, wie sie ertrank, da sie nicht schwimmen konnte. Damit die Tat unentdeckt blieb wollte Wong die Leiche mit Steinen beschweren und versenken. - Logischerweise, weigerte ich mich mitzumachen!“

Ich kam mir in diesem Augenblick schäbig vor, regelrecht ausgenutzt. Ich fühlte mich, wie ein Polizeispitzel und fragte mich, ob ich das soeben Behauptete auch wirklich beschwören konnte. War es nicht wahrscheinlicher, dass Wong seinen damaligen Vorschlag überhaupt nicht ernstgemeint hatte? Schließlich hatten wir alle mal davon gesprochen, jemanden umbringen zu können. - Ich wurde nervös und unsicher.

„Ich bin mir, aber nicht sicher, ob er es eventuell sarkastisch gemeint hatte, obwohl er es mehrfach wiederholte. Versetzen sie sich mal in meine Situation. Bis vor ein paar Minuten hatte ich gar nicht gewusst, um was es überhaupt ging. Nun verlangen sie von mir eine Aussage, die große Auswirkungen auf das Leben eines Menschen haben kann“, versuchte ich abzuschwächen.

Die Beamten hatten keinen Grund mich länger festzuhalten, schließlich hatten sie die Aussage, die sie brauchten. Sie ließen mich gehen.

„Es ist Ihnen sicherlich bewusst, dass Sie ihre Zeugenaussage vor Gericht wiederholen müssen?“, warf einer der Beamten sachlich ein.

„Vor Gericht? Aber was sollte ich, denn schon zu diesem Fall beitragen können? Alles was ich weiß, liegt fünf bis sechs Jahre zurück.“ Entsetzt sah ich ihn an.

„Ich sagte ja nicht, dass es so sein wird, aber möglich wäre es“, versuchte er mich zu beruhigen.

Bevor ich den Raum verließ, bat ich die Beamten nochmals darum, in den Akten nur meinen Mädchennamen zu führen. Bereitwillig versprachen sie es.

 

Trotz allem fuhr ich zurück zur Arbeit und wirkte nicht nur auf meine Arbeitskollegen geistesabwesend, sondern ebenfalls auf meinen Geschäftsführer. Besorgt bat er mich in sein Büro und ich erzählte ihm was sich auf der Polizeistation zugetragen hatte.

Erstaunt wollte er von mir wissen, wieso ich nach einem derartigen Erlebnis nicht einfach heimgefahren war. Irritiert sah ich ihn nach dieser Bemerkung an und erkannte, dass er es wohlwollend gemeint hatte. Mir wurde allerdings diesem Augenblick bewusst, wie sehr ich darauf gedrillt war einfach nur zu funktionieren ungeachtet dessen, was mir zugemutet wurde.

Nach unserem Gespräch befolgte ich den Wunsch meines Chefs und fuhr nachhause.

„Wie war dein Polizeiverhör?“, erkundigte sich David neugierig, als ich die Wohnung betrat.

„Es war furchtbar! Wir wussten schon, dass er mit der Brandstiftung nichts zu tun hatte. Dafür hat er allerdings etwas viel Schlimmeres getan; Er hat seine Frau erwürgt!“

Ich sah meinen Mann so traurig an, dass er mich sofort tröstend in den Arm schloss. Mehr brauchte ich ihm nicht erzählen, da er über meine problematische Vergangenheit mit Wong Bescheid wusste.

„Weißt du, was noch schlimmer ist?“, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf.

„Das ich meine Aussage eventuell vor Gericht wiederholen muss.“ Ich wurde hysterisch. „Ich will ihn, aber nicht sehen. Auf keinen Fall will ich ihn sehen. Was wird, wenn er meinen neuen Namen herausfindet? Ich bin nicht grundlos während der letzten Jahre so häufig umgezogen und habe mich in keinem Telefonbuch eintragen lassen. Meine ganzen Vorsichtsmaßnahmen sind damit hinfällig.“ Ich seufzte: „Ist dir eigentlich klar, dass selbst meine engsten Freunde seine Racheschwüre, nur als Wichtigtuerei abtaten? Glaub mir! Ich kenne den Kerl und weiß, wozu er fähig ist. Er hat mir Rache geschworen. Und jetzt habe ich ihn noch einen weiteren Grund geliefert, mich fertigzumachen.“

„Am besten wird es sein, wenn du dir einen Anwalt nimmst. Der kann zumindest dafür sorgen, dass Wong deinen neuen Namen nicht erfährt“, versuchte mich David zu beruhigen. 

Ich stimmte zu. Doch, da ich mir auch bewusst war, dass dadurch Kosten auf uns zukamen, wollte ich erst einmal abwarten. Dies schien eine gute Entscheidung gewesen zu sein, denn ich hörte nichts mehr von der Sache. Bis mir sechs Monate später ein Brief vom Landgericht Frankenthal zugestellt wurde. In drei Monaten sollte ich meine Aussage vor Gericht wiederholen. Augenblicklich bekam ich Panik. Ich hatte Angst davor Wong nach all diesen Jahren wiederzusehen. Schließlich hatte ich es geschafft, jedweden Kontakt abzubrechen. Ich wollte nicht gezwungen werden, ihn sehen zu müssen. Also suchte ich einen Anwalt auf und erklärte ihn die Situation.

Der schaffte es mich rasch zu beruhigen, indem er mir versicherte, dass er sich darum kümmern würde, dass der Angeklagte nicht nur vor meiner Aussage aus dem Gerichtssaal entfernt würde, sondern er wollte auch durchsetzen, dass in den Akten nur mein Geburtsname geführt wurde.

Ich ging, wartete seine Rechnung ab und fieberte dem Verhandlungstag entgegen. Ich hatte alles unternommen, um mich vor Wong zu schützen. Ich hatte sowohl die Zusage der Kripobeamten als auch das Versprechen meines Anwaltes, dass ich unter meinem Geburtsnamen geführt wurde. Wong sollte den Gerichtssaal verlassen, wenn ich eintrat. Eigentlich war alles in bester Ordnung. Trotzdem verschwand die innere Unruhe nicht.

David und ich fuhren nach Frankenthal.

Sichtlich nervös warteten wir vor dem Gerichtssaal. Es behagte mir nicht, die vielen Menschen zu beobachten, die in den Saal strömten. Erst wenige Minuten zuvor hatte ich erfahren, dass die Verhandlung öffentlich war. Der Gedanke, vor wildfremden Menschen intime Dinge auszusagen, verstärkte mein Unwohlsein. Am liebsten wäre ich sofort nachhause gefahren. Eine Dame im Talar kam auf uns zu.

„Sind Sie Zeugen in diesem Fall?“

Die Frage war an uns beide gerichtet. „Nur ich“, antwortete ich sofort.

„Wie ist ihr Name?“, erkundigte sie sich, während sie auf ihren Zettel blickte.

„Nun ja, das kommt darauf an. Ich soll hier unter meinem Mädchennamen aussagen.“

Erstaunt blickte sie mich an. „Das ist ja ungewöhnlich. Ich gebe Ihnen das Blatt und Sie sagen mir, wer Sie sind.“

Ich nahm den Zettel und bekam einen Schock. Dort stand mein jetziger Name: Kerstin McNichol.

Deutlich erinnerte ich mich, an die Beteuerung der Kriminalbeamten, meinen Mädchennamen zu benutzen. Vom ersten Anruf an, hatte ich es immer wieder zur Bedingung gemacht, dass Wong meinen neuen Namen nie erfuhr. Nur aus diesem Grund, verschwendete ich unser hart verdientes Geld an einen Anwalt. Die Realität holte mich ein und ich erkannte, dass man mich zum Narren gehalten hatte. Man hatte mich ausgenutzt. Plötzlich fand ich mich in einer Situation wieder, die ich nicht erwartet hatte. Von einem Moment zum anderen brach für mich eine ganze Welt zusammen. Bis vor ein paar Sekunden, hatte ich mich noch einigermaßen sicher gefühlt. Aber jetzt, hatte ich nur noch Angst. Mir war es egal, dass dies ein Gerichtsgebäude war, ich fürchtete nach wie vor Wongs Rache. Für mich stellte dieser Mann meinen schlimmsten Alptraum dar.

Ich gab der Dame den Zettel zurück. „Hören Sie, dass muss ein Missverständnis sein, mein Anwalt hat mir zugesichert, dass ich hier nur unter meinem Geburtsnamen geführt werde. Er hatte dem Gericht doch einen Brief geschrieben“, flehentlich sah ich sie an.

Sie erwiderte meinen Blick mit Verständnislosigkeit. „Wir haben keinen Brief erhalten. Sie werden, als zweite Zeugin aufgerufen. Sie sind direkt nach der Schwester des Opfers dran. Man wird Sie hereinrufen, wenn es so weit ist“, sagte sie gelassen, drehte sich um und verschwand.

Ich war fassungslos.

Was sollte ich denn jetzt machen? Sie war einfach gegangen und erwartete von mir, dass ich meine Pflicht tat. Aber was war mit mir? Ich war unschuldig in diesen Fall verwickelt worden und war dennoch bereit, meinen Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten, obwohl ich von den Ereignissen überrollt wurde. Ich fühlte mich überfordert. Wozu hatte ich mich, zuvor an Experten gewandt, wenn sowieso alles nach Schema F ablief?

„Schatz, stelle dich lieber seelisch darauf ein, dass Wong noch im Gerichtssaal sein wird.“

Davids Stimme hatte sanft geklungen, doch waren seine Worte vernichtend für mich. - Ich sollte mich darauf einstellen Wong zu sehen?

Eine quälende halbe Stunde verging, dann erschien die Dame von vorhin erneut und bat mich in den Saal.

Entschlossenen Schrittes folgte ich ihr, warf noch einen letzten Blick auf meinen Mann und versuchte so, ein wenig Kraft zu bekommen. Ich betrat den Saal und ging mutig auf den kleinen Tisch mit Stuhl zu, der unweit vor der Richterbank stand. Links von dem kleinen Tisch saß Wong mit seiner Anwältin und einer asiatischen Dolmetscherin.

Ich zwang mich dazu, mir äußerlich nichts von meinem inneren Kampf anmerken zu lassen. Ich fühlte mich allerdings, wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wurde. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre aus dem Saal gerannt. Dies war unmöglich, also trieb ich mich weiter an. Mein Blick traf Wong.

Wong war noch magerer geworden. Seine Kleidung hing an ihm herunter. Doch das Markanteste an ihm, war die Glatze. Sofort wusste ich, was dies zu bedeuten hatte. Er hatte so etwas schon einmal getan, nachdem er versucht hatte mich zu töten. Wong hatte mir damals geschrieben, dass er sich die Haare zur Buße abrasiert hatte. Eine billige Geste, dachte ich abfällig.

Ich blickte Wong in die Augen und innerhalb einer Sekunde schien ich noch einmal alle Stationen meines Lebens durchzumachen, in denen er mich gedemütigt hatte. Meiner Angst wich Verachtung.

Der Vorsitzende forderte mich auf Platz zunehmen. Ich musste meinen Namen und meine Adresse nennen. Tief atmete ich durch und nahm all meinem Mut zusammen, um meinen Einwand zu bekunden.

„Entschuldigen Sie, aber mein Anwalt sicherte mir zu, dass der Angeklagte bei meiner Aussage nicht zugegen sei.“

Verwundert sah mich der Vorsitzende an.

„Aber wieso sollte das so sein? Dies ist eine öffentliche Verhandlung, der Angeklagte hat ein Recht hier zu sein. Wieso, ist das ein Problem für Sie?“

Erneut fühlte ich mich verraten und ausgeliefert. Ich befand mich im Zwiespalt, denn gern hätte ich ihm gestanden, dass ich mich von Wong bedroht fühlte und ich mich immer noch davor fürchtete, dass er sich an mir rächen würde, wenn dies erst vorüber war. Allerdings hätte ich mit dieser Äußerung Wong Macht über mich gegeben und das wollte ich nicht. Er sollte nichts von meinen Ängsten wissen, deshalb wich ich ein wenig aus.

„Den Angeklagten habe ich seit seinem Tötungsversuch an meiner Person nicht mehr gesehen. Dies war sehr traumatisch für mich.“

„Sind Sie, denn mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert?“, stellte er die Gegenfrage, ohne auf meinen Einwand eingegangen zu sein.

„Nein, bin ich nicht.“

Seltsamerweise war dieser kleine Satz, eine Offenbarung für mich.

Mit einem Male war mir bewusst, dass ich mit Wong nichts mehr zu tun hatte. Ich unterhielt keine Verbindung mehr zu ihm. Plötzlich wusste ich, dass ich die Stärke hatte seine Anwesenheit zu ertragen.

Mit Genugtuung bemerkte ich, dass ihn meine Gegenwart quälte. Stets wich er meinem Augenkontakt aus. Diese Erkenntnis gab mir die Zuversicht, mit der Situation umgehen zu können. Zwar fühlte ich mich immer noch unbehaglich, aber erkannte meine Überlegenheit ihm gegenüber.

Der Vorsitzende bat mich, meine Beziehung zu Wong zu schildern. Zum zweiten Mal erzählte ich fremden Menschen von den unglaublichen Dingen, die mir Wong zugemutet hatte.

Ich holte weit aus. Ich berichtete davon, wie wir uns kennengelernt hatten.

1981 – 1986, Dorsten, Deutschland

KAPITEL 2

Im Prinzip fing diese Geschichte, wie die meisten Geschichten dieser Welt, ganz harmlos an. Es war 1981 und ich war zwölf Jahre alt. Ich hatte nichts anderes im Sinn als die Beatles und Pferde. Gut, ich war vielleicht etwas unkonventionell, was sich allerdings auch in einer großen Hilfsbereitschaft äußerte. Somit war es für mich Ehrensache, einer Freundin zu helfen, die wiederum mit einer anderen Freundin gewettet hatte, den niedlichen Kellner aus dem China-Restaurant in unserem Viertel näher kennenzulernen. Da man bekanntlich das Alter von Asiaten sehr schlecht schätzen kann, hatten wir uns auch prompt um ein paar Jährchen vertan. Wir waren davon ausgegangen, dass er maximal Sechzehn war. Was ihn wiederum für uns zwölfjährige Mädchen zu einem erwachsenen Mann machte.

Da wir nicht so plump mit der Tür ins Haus fallen wollten, klügelte ich einen Plan aus, zumal mir meine Freundin permanent damit in den Ohren lag, dass er wie Jackie Chan aussähe.

Damals hatte ich tatsächlich angenommen, sie kannte bereits seinen Namen.

„Wenn du doch schon seinen Namen weißt, warum redest du dann nicht einfach mit ihm?“

„Bist du irre? Das ist nicht Jackie Chan. Der Typ sieht ihm nur ähnlich.“

„Wenn er nicht Jackie Chan ist, wer ist er denn dann?“

„Das will ich doch unbedingt herausfinden. Und übrigens, Jackie Chan ist ein Schauspieler aus Hongkong.“

Damit war zumindest geklärt, wer er nicht war und dass wir wussten, dass wir rein gar nichts über ihn wussten. Aus diesem Grunde waren wir gezwungen, endlich etwas zu unternehmen, um diesen Mangel schnell zu beseitigen.

Ich entwarf einen Fragebogen, der angeblich unsere Hausaufgaben darstellte. Gemäß dessen, sollten wir Menschen anderer Kulturen kennenlernen. Mit diesem Fragebogen bewaffnet marschierten wir ins Restaurant und löcherten den armen Kellner mit unseren Fragen. Wir fielen aus allen Wolken, als wir erfuhren, dass er bereits vierundzwanzig Jahre alt war. Ich konnte es kaum fassen, dass er doppelt so alt war, wie ich und trotzdem so verdammt jung aussah. Von meiner damaligen Warte aus betrachtet war man mit vierundzwanzig ein Greis.

Unauffällig nahm ich ihn etwas genauer ins Visier. Wong Hsien war nicht besonders groß für einen erwachsenen Mann. Damals war er lediglich einen halben Kopf größer als ich. Für meinen Geschmack war er zu dünn. Mir gefielen seine Augen. Sie waren dunkelbraun und wirkten unglaublich wachsam. Ständig hatte ich das Gefühl, dass er bereits hinter unsere Lüge geschaut hatte, doch war dies wohl eher das Produkt meines schlechten Gewissens, da ich die Rädelsführerin war.

Meine Freundin hatte nun ihr Ziel erreicht und ihre Wette gewonnen. Meine Arbeit war getan. Dennoch übte Wong auf uns junge Mädchen eine unwiderstehliche Faszination aus. Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen Wong, meiner Freundin Lara und mir. Es kam immer häufiger vor, dass wir unsere Freizeit bei ihm verbrachten. So lernten wir, mit Stäbchen essen und auf Chinesisch bis zehn zu zählen und zu schreiben. Bei diesen vielen Treffen kamen wir auch bald auf persönliche Dinge zu sprechen. Wong berichtete von seiner Kindheit in Malaysia und von seiner Familie. 

„Mein Papa stammt aus Singapur und meine Mutter von Hokkaido, Japan. Ich bin in Singapur geboren, doch später sind wir nach Malaysia gezogen. Ich bin der Älteste und habe noch acht Geschwister.“

„Mann, dann haben deine Eltern ja neun Kinder“, staunte ich. „Meine haben fünf. Ich habe also vier Brüder, davon sind drei älter als ich. Dennoch bin ich irgendwie ein Einzelkind, denn ich lebe seit meiner Geburt bei meinen Großeltern. Angeblich war ich als Baby so krank, dass sich meine Großeltern, um mich kümmern mussten. Tja, meine Eltern zogen später mit meinen Brüdern nach Köln und ich blieb hier.“

„Oh, ich habe nicht erwartet, dass es so starke Familienbindungen in Europa gibt. Deine Großeltern möchte ich gern kennenlernen.“

Kurzentschlossen nahm ich ihn tatsächlich mit nach Hause. Meine Großeltern und er verstanden sich prächtig. Was mitunter auch daran lag, dass er ihnen riet mir hinundwieder mal ordentlich den Hintern zu versohlen, da ich einen ziemlichen Sturkopf besaß, den er nicht mochte. Ich fand diesen Ratschlag nicht witzig und wechselte schnell das Thema. Dies brachte Wong auf den Einfall, mir aus der Hand zu lesen. Keiner von uns verschwendete damals einen Gedanken daran, dass das, was er mir vorhersagte, zehn Jahre später tatsächlich eintreffen sollte.

Er sagte mir schlicht und ergreifend, dass ich ihn heiraten würde.

Natürlich glaubte ich nicht an diese Prophezeiung, schließlich war dieser Mann doppelt so alt wie ich. Ich nahm es eher gelassen auf, denn im Grunde genommen war ich geschmeichelt. Für mich war es etwas Abenteuerliches. Es gab mir das Gefühl etwas Besonderes zu sein. Ich wurde von einem Erwachsenen umschwärmt.

Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, verlor Wong seine Kellnerstelle. Und da er Logie im Restaurant hatte, stand er nun praktisch auf der Straße. Jetzt kam ihm allerdings mein Dickkopf zugute und ich setzte bei meinen Großeltern durch, dass wir ihn bei uns aufnahmen. Glücklicherweise mochten sie ihn, denn der vorübergehende Aufenthalt dehnte sich auf drei Monate aus, bis er endlich eine neue Stellung in Oberhausen angeboten bekam.

Wir versuchten, das Beste aus der Situation zu machen. Wong bekam mein Zimmer, während ich bei meiner Großmutter im Schlafzimmer übernachtete. Dies war kein Problem, da die Doppelbetthälfte immer frei war. Mein Großvater schlief seit Jahren in der Küche auf der Couch. Er schnarchte entsetzlich. In dieser Zeit benahmen Wong und ich uns als seien wir Bruder und Schwester. Häufig kollidierten unsere Auffassungen von Gastfreundschaft miteinander. An einem heißen Sommertag sonnten wir uns im Garten. Wong räkelte sich faul auf einem Liegestuhl und forderte mich unmissverständlich auf, ihm etwas zu trinken zu holen.

Meine Erwiderung, „Hol‘ dir doch selbst was“, hielt er mir noch Jahre später beleidigt vor.

Wong zog sofort bei uns aus, als er eine neue Stelle fand. Er arbeitete wieder, als Kellner in einem China-Restaurant in Oberhausen und bekam dort eine Wohnmöglichkeit geboten. Wong blieb allerdings nicht sehr lange dort beschäftigt, kurz darauf verschlug es ihn nach Köln. Dort erhielt er eine Stellung in einem wesentlich größeren China-Restaurant und wurde bald darauf Geschäftsführer. Der Kontakt zwischen uns blieb bestehen, bis ich sechzehn war. Doch besuchte ich ihn niemals an seinem Arbeitsplatz. Entweder kam er zu uns nach Dorsten, oder wir telefonierten miteinander. Dass wir uns doch aus den Augen verloren, lag hauptsächlich daran, dass mir Wong 1985 einen Heiratsantrag machte, den ich ablehnte. Er wollte mit mir eine Scheinehe eingehen, damit er eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung bekam. Nach zwei Jahren Ehe wollte er sich von mir scheiden lassen und mir als Entschädigung 10.000 DM bezahlen. Selbstverständlich wollte er für alle anderen Kosten aufkommen. Er gab mir zu verstehen, dass dies für ihn die einzige Möglichkeit war, in Deutschland zu bleiben. Mit sechzehn begriff ich nicht, worum es eigentlich ging. Für mich zählte nur, dass mich die Sachlichkeit seines Antrages störte und die Tatsache beleidigte, dass er zuerst Lara gefragt hatte. Ich wollte nicht als Mittel zum Zweck dienen und war wütend darüber, dass meine romantischen Vorstellungen aus Liebe und um meiner selbst willen geheiratet zu werden, übergangen worden waren. Nach diesem Vorfall telefonierten Wong und ich noch einige Male miteinander, doch brach der Kontakt rasch ab.

Juni 1993, Dorsten, Deutschland

KAPITEL 3

Erst im Juni 1993 kam es wieder zum Kontakt.

Ich hatte meine Hochschulreife bestanden, die ich nach meiner Ausbildung zur Fotografin, auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt hatte. Natürlich wurde dieses Ereignis gebührend gefeiert. An jenem Morgen kehrte ich gegen fünf Uhr früh von meiner Abiturfeier nach Hause zurück. Meine Großmutter noch wach anzutreffen, machte mich stutzig. Offensichtlich hatte sie auf mich gewartet. Sie sah aus, als hätte sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen, das keinen Aufschub duldete.

„Oma, was ist los?“, erkundigte ich mich besorgt und rechnete mit dem Schlimmsten.

„Weißt du, wer angerufen hat?“

„Wong!“, antwortete ich, ohne zu überlegen.

Eigentlich war es absurd, diesen Namen zu nennen, denn ich hatte seit acht Jahren kein Lebenszeichen von ihm erhalten. Ich konnte auch nicht erklären, woher ich diese Überzeugung nahm, dass er es war, der sich gemeldet hatte. Aber ich war mir sicher, und irgendwie war es für mich fast selbstverständlich. Meine Großmutter zeigte sich sehr überrascht, dass ich so gelassen darauf reagierte.

„Wong fragte, ob er heute vorbeikommen kann. Er ruft dich später noch mal an.“

Und an diesem Nachmittag stand er, nach acht Jahren Abwesenheit, tatsächlich vor mir. Er hatte sich kaum verändert. Etwas dünner vielleicht, aber ansonsten schien er keinen Tag älter geworden zu sein. Wong wirkte immer noch, wie sechzehn, obwohl er inzwischen fünfunddreißig war. Seine Kleidung war auffällig. Früher hatte er immer sehr auf sein äußeres Erscheinungsbild geachtet. Doch nun trug er eine schäbige Hose, die ein Zigarettenbrandloch an einer sehr bedenklichen Stelle aufwies. Sein Hemd befand sich in einem ähnlichen Zustand. Doch war dies nebensächlich. Ich freute mich, ihn nach all dieser Zeit wieder zu sehen. Noch bevor er mir einen „Guten Tag“ wünschen konnte, hatte ich ihn spontan in den Arm genommen und drückte ihn so fest an mich, dass ihm mit Sicherheit die Luft wegblieb. Es überraschte mich sehr, dass er sich in meiner Umarmung steif machte, denn dieses Verhalten kannte ich nur von Asiaten, die diese Form der Sympathiebekundung nicht gewohnt waren. Davon hatte ich mich bei meinem Hongkong-Urlaub im letzten Jahr überzeugen können, als ich meine chinesische Gastfamilie in den Arm nehmen wollte.

Zwischen uns entstand keine Verlegenheitspause. Wong redete sofort wie ein Wasserfall los. Es war unnötig ihn Fragen zu stellen. Alles was ich wissen und eigentlich auch nicht wissen wollte, teilte er mir bereitwillig mit. So erfuhr ich, warum er sich erst jetzt bei mir gemeldet hatte.

„Ich habe beim Aufräumen mein altes Adressbuch wiedergefunden. Rief einfach deine alte Telefonnummer an. Es wundert mich ein wenig, dass du immer noch hier wohnst.“

Ich lachte. „Bei meinem Verdienst wäre es ein Wunder gewesen, wenn ich mir eine eigene Wohnung hätte leisten können. Aufgrund meiner Kurzsichtigkeit konnte ich nicht Polizistin werden, wie ich es immer wollte. Stattdessen bin ich Fotografin geworden, aber die Bezahlung ist so schlecht, dass ich mich nach der Ausbildung dazu entschlossen hatte, mein Abitur nachzuholen. Gestern war die Abschlussfeier. Ich will Sinologie studieren. Nachdem ich letztes Jahr allein nach Hongkong und China geflogen bin, will ich unbedingt Chinesisch studieren.“

„Du bist allein dorthin geflogen? Sprichst du überhaupt Chinesisch? Bevor ich es vergesse, wo ist eigentlich dein Opa?“

„Opa ist im letzten Jahr plötzlich gestorben. Bist du immer noch Kellner?“

Wong machte eine verächtliche Handbewegung und verzog das Gesicht. „Kellner bin ich schon lange nicht mehr. Ich habe mich selbständig gemacht. Seit einigen Jahren betreibe ich einen eigenen Warenimport. Ich verkaufe asiatische Geschenkartikel auf Märkten und Messen. Das läuft so gut, dass ich zweimal jährlich nach Thailand fliege, um dort einzukaufen. Ich zeige euch mal meine Ware.“

Noch bevor wir ihn aufhalten konnten, baute Wong einige Artikel, die er in seinem VW-Transporter mitgebracht hatte, in unserem Wohnzimmer auf. Wir mussten uns seine handgemalten Seidenfächer ansehen und ihn regelrecht dazu zwingen, mit seiner Produktvorführung wieder aufzuhören. Nachdem wir ihm zum tausendsten Male bestätigt hatten, wie schön seine Fächer sind, zeigte er sich endlich bereit, diese wieder ins Auto zu packen. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, uns einen zu schenken. Ich fand diese Geste unheimlich nett. Ich wollte nicht unverschämt wirken und wählte daher nur ein kleines Modell aus. Ich hatte ganz vergessen, wie übereifrig er sein konnte.

Wong hatte Hunger. Sein Magen knurrte. Kurzentschlossen fuhr ich mit ihm Essen. Unterwegs machte ich ihm den Vorschlag, in ein chinesisches Restaurant zu gehen und erntete einen Blick von ihm, der Kochbuchbände sprach. Also gingen wir in ein griechisches Lokal. Auf unsere Fahrt in die Stadt, wurde ich von einem anderen Autofahrer darauf aufmerksam gemacht, dass mein Bremslicht nicht funktionierte. Um dieses Problem wollte ich mich nach dem Essen kümmern. Schließlich hatte ich einen Notfallpatienten in meinem Auto, der nach eigenem Bekunden verhungerte.

Im Restaurant reichte mir Wong unerwartet einen Zettel. Es war eine ärztliche Bestätigung über eine Vasektomie. Normalerweise war ich nicht schnell geschockt, aber mit einer derartigen Mitteilung hatte ich nicht gerechnet. Er nahm mir die Bescheinigung wieder aus der Hand und steckte sie ordentlich zusammengefaltet in sein Portemonnaie zurück. Dann grinste er mich verschmitzt an und sagte vollkommen selbstverständlich: „Siehst du, ich kann keine Kinder zeugen.“

Zu dieser Erkenntnis war ich auch schon gelangt. Mittlerweile war ich amüsiert und wollte eine Erklärung von ihm.

„Sag mal, hältst du eigentlich jedem diesen Wisch unter die Nase, den du so triffst? Ist doch irgendwie nicht normal...“

Wong grinste immer noch. „Na ja, ich zeige es natürlich nicht jedem. Aber bei dir ist das schon wichtig, denn wir werden ja bald heiraten.“

Ich war sprachlos.

Das war lächerlich. Dennoch wollte ich ihn schonend beibringen, dass er, meiner Meinung nach, wohl nicht richtig tickte. Dennoch war ich neugierig, ob es einen Grund für die Vasektomie gab.

 „Für mich war der Eingriff wichtig, um zusätzliche Energien für mein Kung-Fu Training zu bekommen. So kann mein Qi freier fließen, und ich bekomme mehr Kraft und Stärke.“

Verdutzt blickte ich ihn an. Eine derartige Begründung für eine Sterilisation hatte ich noch nie gehört. Ich drängte darauf, wieder zu mir zu fahren. Doch zuvor, wollte ich mich um meine defekte Bremsleuchte kümmern. Ich wusste, dass sie ein Wackelkontakt hatte. Dies ließ sich durch einen gezielten Hieb auf die Plastikverkleidung leicht beheben. Hatte ich bereits x-mal gemacht.

Lässig nahm ich meine erprobte Wackelkontakt-Ausschlagstellung ein, um mit dem Handballen gegen die Plastikverglasung zu schlagen. Unbewusst stellte ich mich, wie beim Karateunterricht hin, wenn ich Bretter durchschlug. Dass diese Technik nicht auf Bremslichter anwendbar war, merkte ich peinlicherweise zu spät.

„Du hast dich in all den Jahren kein bisschen verändert!“, bemerkte Wong anerkennend, während er mich überrascht ansah.

Ich versuchte den Vorfall herunterzuspielen, und zog meine Hand aus der Plastikverkleidung.

„Bei meinem alten Fiat, hat das immer wahre Wunder gewirkt!“

Erst jetzt erkannte ich, dass ich mich bei dieser absurden Aktion verletzt hatte. Mein Handballen blutete. Verständlicherweise war mir dies noch peinlicher.

Wong legte mir zur Stillung der Blutung ein Papiertaschentuch auf die Wunde.

Wir fuhren zurück.

Es war mir wichtig, dass er verstand, dass ich ihn nicht heiraten würde. Wir zogen uns auf mein Zimmer zurück und unterhielten uns. Ich kam gleich zum Wesentlichen.

„Glaubst du eigentlich immer noch an die Prophezeiung, die du mir als Jugendliche gemacht hast? Du erwartetest doch nicht allen Ernstes, dass ich dich heirate?“

Wong schaute mir ruhig in die Augen und widersprach, „Das ist mein voller Ernst. Auch mein Mönch prophezeite, dass ich im September 1993 heiraten werde. Er sagte, dass diese Frau alles für mich tun würde, auch Dinge, die ich nie für möglich gehalten hätte. Sie sei eher wie ein Mann. Du musst doch zugeben, dass deine Aktion vorhin, nicht sehr weiblich war. Hast du eigentlich im September schon etwas vor?“

„Sei nicht albern“, stöhnte ich. „Du kannst doch nicht nach acht Jahren hier auftauchen und mich fragen, ob ich dich im September heiraten werde! Vor allem nicht aus so einem verrückten Grund. Glaube mir, es besteht kein Zusammenhang zwischen der Prophezeiung deines Mönches und meinem demolierten Bremslicht. Abgesehen davon, woher soll ich denn wissen, ob du nicht bereits verheiratet bist und möglicherweise drei Kinder hast?“

„Ich bin Junggeselle“, empörte er sich. „Themawechsel! Kannst du mir zwischen dem 2. Juli und 6. Juli auf der Messe in Neustadt helfen? Ich brauche noch eine Verkäuferin. Du musst nichts anderes machen, als Fächer zu verkaufen.“

Da ich gerade die Schule abgeschlossen und auch sonst noch keine anderen Pläne oder Verpflichtungen hatte, stimmte ich zu. Ich wies aber darauf hin, dass ich im Kopfrechnen miserabel war.

„Du hast kein Licht!“, entgegnete er mir freundlich grinsend. Dies war Wongs Version der Volksweisheit, ’du sollst dein Licht nicht unter den Scheffel stellen‘.

Kaum hatte ich mein Einverständnis zur Mitarbeit gegeben, machte er mir ein weiteres Angebot.

„Ich muss nächsten Monat neue Waren einkaufen. Hättest du nicht Lust, mit mir nach Singapur und Thailand zu fliegen? Ich fliege nämlich nicht gern allein. Selbstverständlich komme ich für alle Kosten auf.“

Ich war sofort begeistert und stimmte zu, ohne um Bedenkzeit zu bitten. Für mich stellte es kein Problem dar, da ich die Zeit hatte. Unser Abflugtermin war bereits auf den 12. Juli festgelegt und Rückreisetermin war der 4. August. Wong zog eine Flasche Maxims Champagner aus seiner Reisetasche hervor. Damit war deutlich, dass er nicht mehr, wie geplant weiterfahren wollte. Er blieb über Nacht.

Wong bat mich darum, aus meiner Hand lesen zu dürfen. Ich hatte nichts dagegen. In meinen Linien fand er die Bestätigung. Ich war die Frau, die er nach Aussage seines Mönches, heiraten würde. Wong war vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen. Ich hingegen hielt die ganze Sache für eine fixe Idee und maß dieser Wahrsagerei keine Bedeutung bei. Mich interessierte, wann ich sterben würde. Ich bat ihm, um Antwort. Er war zwar überrascht, dass ich eine derartige Frage stellte. So erfuhr ich, dass mein Lebensende mit neunundzwanzig erreicht sein sollte. Ich nahm die Nachricht gelassen auf, schließlich hatte ich noch gut und gern meine fünf Jahre zu leben. In Anbetracht dessen, schien es mir eine kluge Entscheidung gewesen zu sein, die angebotene und kostenlose Asienreise anzunehmen.

Wong demonstrierte seine Fähigkeit, mich auf unserer Tour zu beschützen. Er machte eine kleine Kung Fu Vorführung. Er zeigte mir, dass er ein Plastikessstäbchen mit einem ordinären Stück Papier durchschlagen konnte. Mein Nachahmungsversuch scheiterte. Nichtsdestotrotz war ich mir sicher, dass sollte ich von einem Bremslicht in Asien angegriffen werden ich mich verteidigen konnte. Schließlich hatte ich dies eindrucksvoll demonstriert.

Es wurde spät. Wong schlief in meinem Zimmer. Doch zu seinem Leidwesen, weigerte ich mich, das Lager mit ihm zu teilen. Anstelle eines Gute-Nacht-Kusses schenkte er mir ein chinesisches Baumbusbild, auf dem er etwas auf Chinesisch schrieb. Zu seiner Verwunderung, konnte ich es lesen.

"Ich kleiner Japaner, liebe dich von ganzem Herzen.“

Mich irritierte, dass er sich als Japaner bezeichnete, schließlich war er doch in Singapur geboren worden. Ich hakte nach.

„Oohhhoo“, gab Wong theatralisch von sich. „Ich bin ein kleiner Japaner. Mein Papa kommt aus Singapur und meine Mama aus Hokkaido, Japan. Und da ich aus meiner Mama komme, bin ich Japaner.“

Interessante Philosophie dachte ich und ging aus dem Zimmer.

Am nächsten Morgen machte ich Frühstück, denn Kaffeekochen beherrschte ich und hatte es sogar ziemlich perfektioniert. Verblüfft beobachtete mich Wong dabei, wie ich mich mit meiner Kaffeetasse auf den Boden hockte. An seinem Blick erkannte ich, dass er ebenfalls mit dem Gedanken spielte, sich neben mich zu setzen. Er nahm an, dass ich meinen Morgenkaffee immer so einnahm. Weit gefehlt. Ich wollte ihm nur auf diese Art die weitere Fahrtroute zusammenstellen, denn auf dem Boden konnte ich problemlos die gesamte Straßenkarte ausbreiten. Dass ich dies für ihn tat, bestätigte ihm nur, dass ich die Frau fürs Leben war. Bei unserer Verabschiedung versicherte ich ihm nochmals, dass ich, wie versprochen am 1. Juli zu ihm nach Ludwigshafen kommen werde.

Juli 1993, Ludwigshafen am Rhein

KAPITEL 4

Wongs Prophezeiung war vergessen, als ich nach Ludwigshafen fuhr. Stattdessen genoss ich die Anreise. Der Himmel war klar, die Sonne schien, es war warm, und mir ging es einfach gut. Nichts ahnend, dass mein weiteres Leben durch diese Fahrt komplett auf den Kopf gestellt werden würde.

Ich hatte keine Schwierigkeiten, die angegebene Adresse zu finden. Es war ein Hochhaus. Zuerst nahm ich an, dass ich mich geirrt hatte, doch bei einer Überprüfung von Wongs Angaben, zeigte es sich, dass ich hier richtig war.

Nachdem, was er mir über seine Einkünfte erzählt hatte war ich davon ausgegangen, dass er ein Eigenheim besaß. Schließlich hatte er damit angegeben, dass er sich bald ein größeres Haus kaufen wollte. Mit stolzgeschwellter Brust hatte er erzählt, dass er in einer Nacht in einem Spielkasino über dreißigtausend Deutsche Mark verspielt, doch es für ihn keinen großen Verlust dargestellt hatte. Nun stand ich vor diesem heruntergekommenen Hochhaus und wunderte mich, wie seine Aussagen zusammenpassten.

Ich entschied, dass mich Wongs finanzielle Verhältnisse nichts angingen. Stattdessen parkte ich den Wagen und begab mich ins Innere des Hochhauses. Durch die Gegensprechanlage teilte mir Wong mit, dass ich in den zwölften Stock musste.

Er erwartete mich bereits an der Fahrstuhltür. Wir begrüßten uns, und ich folgte ihm in seine Wohnung. Nun stand ich inmitten seines Wohnzimmers und zeigte ein breites Lächeln, mit dem ich meine Abscheu überspielte, die ich beim Anblick dieses Raumes empfand.

Auf das, was ich sah, war ich nicht vorbereitet.

Ich stand in einem mit schäbigen Möbeln eingerichteten Raum. Vor mir befand sich eine schmutzige Couch aus abgewetztem Cord, die offensichtlich schon einiges mitgemacht hatte. Geteilt wurde der große Raum durch eine Schrankwand, die vermutlich älter als wir beide zusammen war. Hinter der Schrankwand war ein Doppelbett. Diese Bezeichnung war nicht nur übertrieben, sondern auch geschmeichelt. Es handelte sich vielmehr um zwei Matratzen, die durch die ehemalige Umrandung eines Bettes daran gehindert wurden zu verrutschen.

„Hier werden wir beide schlafen. Du auf der einen und ich auf der anderen Matratze. Wird bestimmt lustig“, quiekte er in seiner übertriebenen freundlichen Art.

„Ja, bestimmt...“, erwiderte ich geschockt.

Die Wohnungsbesichtigung wurde fortgeführt.

Ich bemerkte, dass ein weiterer Teil des Zimmers durch eine weitere Schrankwand abgeteilt war. Wong erklärte mir stolz, dass sich dahinter sein Lager befand. Als ich es begutachtete, musste ich mir eingestehen, dass ich von seiner Größe, wie auch von allem anderen in der Wohnung, sehr enttäuscht war. Vor einigen Tagen hatte mir Wong den Eindruck vermittelt, dass er Lagerräume besaß. Unter diesen Begriff stellte ich mir etwas anderes vor als einen etwa vier Quadratmeter großen abgeteilten Bereich in seiner Mietwohnung. Ein weiteres Zimmer war offensichtlich ein Kinderzimmer. Zwar war ich über diese Entdeckung ein wenig irritiert, schwieg aber. Wong zeigte mir noch das Badezimmer und die Küche. Der Zustand der Küche versetzte mir den endgültigen Dolchstoß. So wie es darin aussah, war schon seit Jahren nicht mehr gewischt worden. Erst jetzt gestand er mir, dass er die Wohnung nicht allein bewohnte, sondern sie mit seiner Schwägerin Yeh und ihren drei kleinen Kindern teilte. Er hatte sie weggeschickt, damit wir ungestört waren. Sie würden erst in einer Stunde zurückkehren.

So war es dann auch. Als erstes bekam ich die fast zweijährige Kumiko, zu Gesicht. Neugierig sah mich das kleine Mädchen aus ihren großen braunen Augen an. Wong war sehr erstaunt darüber, wie schnell ich ihr Vertrauen gewann. Normalerweise war sie immer sehr zurückhaltend Fremden gegenüber. Dass ich offenbar gut mit Kindern umgehen konnte, ermutigte ihn, den Rest der Bewohner hereinzurufen.

„Das sind Yakkun und Akiko, meine beiden Neffen. Yakkun ist vier, und Akiko ist drei.“ Beide Jungen verloren ebenfalls sehr schnell ihre Scheu. Leider konnte ich mich nicht mit ihnen unterhalten, denn sie sprachen ausschließlich Kantonesisch. Ich stutzte, als ich mir Yakkun näher ansah. Er war Wong, wie aus dem Gesicht geschnitten.

„Hey Wong, Yakkun sieht dir, aber sehr ähnlich. Bist du dir sicher, dass er nicht doch von dir ist?“, merkte ich scherzhaft an und musste lachen.

„Nein, das sind die Kinder meines Bruders und meiner Schwägerin“, empörte er sich. „Wir teilen uns die Wohnung, mein Bruder arbeitet in Bayern als Koch in einem China-Restaurant und hat keinen Platz für seine Familie. Die Wohnung war für mich allein zu groß. So arrangierten wir uns. Ich kümmere mich um Yeh, und sie kocht dafür für mich mit.“

Trotzdem gab mir diese Wohngemeinschaft immer noch einige Rätsel auf, doch war ich mit Wongs Erklärung zunächst zufrieden. Ich hatte keinen Grund an seiner Behauptung zu zweifeln. Außerdem ging es mich nichts an.

Nun trat Yeh ein. Sie war ebenso verschüchtert, wie die Kinder. Sie begrüßte mich zwar auf Deutsch, doch klang es sehr gebrochen und ungeschickt. Ich sah sie mir genauer an. Sie wirkte als achtete sie nicht besonders auf ihr Äußeres. Sie war sehr hellhäutig. Ihre Körperhaltung war gebeugt und sie vermied jedweden Augenkontakt.

Yeh und die Kinder schliefen in dem anderen Raum, den ich für das Kinderzimmer gehalten hatte, während Wong und ich tatsächlich in diesem Doppelbettimitat auf dem Boden schliefen. Ich nahm es hin, denn schließlich war es nur für eine Woche. Unmissverständlich machte ich Wong klar, dass sich in diesem Bett zwischen uns nichts abspielen würde. Den einzigen Körperkontakt, den ich ihm gestattete, bestand darin, dass er mich massieren durfte. Er bewies auf diesem Gebiet nicht nur eine ausgesprochene Geschicklichkeit, sondern ich musste auch feststellen, dass er sich auf die Kunst des Reiki verstand. Diese asiatische Heilmethode war auf den Energiefluss des Körpers basiert. Wong gelang es tatsächlich nach nur wenigen Tagen, meine verspannte Rückenmuskulatur zu lockern.

Er bemühte sich auch darum, meine restliche Muskulatur von Verspannungen zu lösen. Hierzu musste ich mich entspannt auf den Rücken legen, und er zog an jedem einzelnen Zeh. Als er allerdings an meinem kleinen linken Zeh zog, schrie ich augenblicklich auf. Ich hatte vollkommen vergessen, ihm mitzuteilen, dass ich mir den Zeh während des Karatetrainings gebrochen hatte. Wong versprach mir, dass er sich später darum kümmern würde; ließ aber offen, wie er das meinte.

Tagsüber waren wir damit beschäftigt, auf dem Neustädter Markt zu arbeiten. Wir verstanden uns ausgesprochen gut. Ich strengte mich an, ihm eine gute Hilfe zu sein, und verkaufte, was das Zeug hielt. Leider waren nicht sehr viele Kunden anwesend, denen ich etwas hätte verkaufen können. Doch das war für Wong kein Grund, die Geschäftsohren hängen zu lassen. Er betätigte sich nebenbei, als Großhändler und nahm Bestellungen seiner Marktkollegen auf. Für mich war es allerdings ein Rätsel, woher Wong die Waren bekommen wollte, die er den anderen zusagte. Schließlich hatte ich keine dieser Artikel in seinem Lager erspähen können. Doch, dass war nicht mein Problem. Selbstverständlich entging es mir nicht, dass er sich während dieser Woche sehr darum bemühte, mich zu umgarnen. Mit allen Mitteln versuchte er mein Herz zu erobern. Regelmäßig führte er mich zum Essen aus. Allerdings fand ich rasch heraus, dass er dafür nicht zahlte. Angeblich war der Besitzer des China-Restaurants ihm etwas schuldig.

Arbeiteten wir überhäufte mich Wong förmlich mit Geschenken. Einmal tauchte er mit einem überdimensionalen Lebkuchen-Herz auf, auf dem „Ich denke nur an dich“ stand.

Um ihn nicht zu beleidigen, nahm ich es an und bedankte mich selbstverständlich. Dennoch versuchte ich ihm zu erklären, dass aus uns niemals ein Paar werden konnte.

Ich erntete nur ein Lächeln. Ich vermutete, dass meine Rede erneut auf taube Ohren stieß, denn wenig später überreichte er mir ein violettes Plüschpony. Es war zwar schmeichelhaft so umworben zu werden, doch erkannte ich auch die Gefahr darin. Ich mochte den Mann und deshalb musste er damit aufhören. Ich wollte ihn nicht verletzen, da ich seine Gefühle für mich nicht erwidern konnte.

Ich hoffte, dass mein Geschenk die Fronten klären konnte. Er bekam von mir das kleinste Lebkuchen-Herz, das ich finden konnte. Es trug die Aufschrift „Ich mag dich“.

„Wong, ich habe dir absichtlich ein kleines Herz geschenkt. Du musst aufhören, mir Sachen zu schenken. Höre auf, dir einzureden, dass du mich liebst. Ich kann dir nur immer wieder sagen, dass ich dich nicht liebe und auch nicht heiraten werde. Ich respektiere, dass du an die Prophezeiung deines Mönches glauben willst, aber ich bin nicht die Frau, die er meinte.“

Schon wieder lächelte Wong so merkwürdig und sagte nur: „Du bist das Ying.“

Ich fragte erst gar nicht, was das bedeuten sollte, sondern ließ es einfach so zwischen uns stehen.

Mein Aufenthalt in Ludwigshafen näherte sich langsam seinem Ende. Doch bevor ich verschwand, wollte ich unbedingt das Heidelberger Schloss besichtigen. Wong erklärte sich sofort dazu bereit. Also fuhren wir an einem Abend dorthin. Ich hatte mir fest vorgenommen, ihn endgültig davon zu überzeugen, dass aus uns niemals ein Paar werden konnte.

Wir erreichten das Schloss sogar noch im Hellen, was nicht so selbstverständlich war, da Wong über die Gabe verfügte, sich trotz gut ausgeschilderter Straßen zu verfahren. Vermutlich gab es auch Parkplätze, die wesentlich näher am Schloss lagen, aber ich war schon sehr froh darüber, dass wir überhaupt angekommen waren.

Wir näherten uns dem Schloss von der oberen Seite her und bekamen so nicht nur einen atemberaubenden Blick über das Gelände, sondern konnten gleich, durch die Parkanlagen schlendern. Wir ließen uns Zeit und durchwanderten alles, was frei zugänglich war. Leider waren wir für die Führungen zu spät gekommen.

Wong wirkte auf mich herrlich entspannt und offen. Bisher hatte er nur Andeutungen gemacht, doch nun wurde er konkreter. Er berichtete davon, wie streng er von seinem Vater während seiner Kindheit und Jugend erzogen worden war. Mit schaudern hörte ich mir diverse Erinnerungen an und gab anschließend meine Ansicht darüber kund. Wong weigerte sich vehement meine Meinung bezüglich des väterlichen Verhaltens anzuerkennen und rechtfertigte die Prügel, die er von seinem Vater erhalten hatte, als normal. Für mich war seine Schilderung nicht das Produkt einer strengen Erziehung, sondern Kindesmisshandlung. Je mehr ich versuchte ihn von meinem Standpunkt zu überzeugen, umso mehr verteidigte er die brutalen Prügel seines Vaters als gerechtfertigte Disziplinierungsmaßnahme. Ich bekam Mitleid mit ihm, doch behielt ich es allerdings für mich.

Er wechselte das Thema und berichtete stolz davon, wie es seine Eltern unter großen Entbehrungen schafften ein großes Familienheim zu bauen.

„Weißt du, meine Eltern hatten nicht nur ihre leiblichen Kinder, sondern auch adoptierte. Sie konnten sich dies leisten, da meine Mutter Hebamme und damit sehr angesehen war. Ihre Position brachte uns Wohlstand. Mutter hatte sogar eine eigene Klinik in der Stadt.“

„Wieso denn Klinik? Ich dachte, sie ist Hebamme. Hebammen haben doch keine Kliniken“, stellte ich verwirrt fest.

„Du denkst zu europäisch. In Malaysia ist das etwas anders. Außerdem ist es jetzt fast dreißig Jahre her.“

Ich war von seinen Erzählungen fasziniert. Wir gelangten während unseres Gespräches auf den Balkon des Schlosses, und Wong erklärte mir, dass das Gebäude aus der Sicht eines Asiaten ausgesprochen günstig lag.

„Weißt du, dieses Haus hat ein gutes Feng-Shui. Es ist auf einem Berg errichtet und hat noch einen im Rücken, das bedeutet Stärke und Schutz. Vor dem Haus fließt ein Fluss, das bedeutet Reichtum. Später, wenn ich mal unser Haus baue, dann soll es auch an so einer Stelle stehen.“

Seine Kenntnisse beeindruckten mich. Es störte mich noch nicht einmal, dass er von unserem Haus gesprochen hatte. Irgendwas hatte sich zwischen uns verändert. Unsere Gespräche verliefen für mich auf einer anderen Gefühlsebene. Ich bemerkte, wie mir bei jedem Wort, das er sprach, und bei jedem Blick, den er mir zuwarf, immer wärmer ums Herz wurde. Mir wurde bewusst, dass ich mich in diesen Mann ernsthaft verliebt hatte. Aber das durfte ich nicht zu lassen, schließlich war mein Standpunkt unumstößlich.

Es kam, wie es kommen musste; die Sonne ging unter, der Mond ging auf, und ich fiel von meinem unumstößlichen Sockel: Ich war verliebt.

Zwar konnte ich es nicht erklären, aber ich fühlte es. Dennoch traute ich mich nicht, über meine Gefühle zu sprechen. Nach wie vor drehten sich alle unsere Gespräche, um unsere Kindheit, Schule, Beruf, Familie und andere unverfängliche Themen. Schließlich hielt ich es nicht länger aus und machte den ersten Schritt.

Ich weiß nicht, wieso ich es ihm unbedingt sagen wollte, aber ich musste es tun, sonst wäre ich vermutlich geplatzt. Am Fuße des Schlosses unter einer Straßenlaterne, die von einer Vielzahl von Mücken umschwärmt wurde, gestand ich Wong meine Liebe. Merkwürdigerweise brauchten wir eine halbe Ewigkeit, bis wir uns küssten. Wir sahen uns lange in die Augen, ganz langsam näherten sich unsere Lippen, berührten sich unsagbar zart und vorsichtig und lösten sich nach dieser kurzen Berührung wieder voneinander, um sich sofort erneut zu suchen. Mit halb geöffnetem Mund vereinigten sich unsere Lippen wieder, und unsere Zungen begannen einen schier endlosen Tanz. Ich fühlte mich so wohl, wie noch nie zuvor in meinem Leben, und ein seltsamer Frieden erfüllte mich. Am liebsten hätte ich diesen Moment immer und immer wieder durchlebt.

In der Zwischenzeit war es schon sehr dunkel geworden, und wir machten uns an den Aufstieg zum Parkplatz. Diesmal gingen wir nicht nur nebeneinanderher, sondern Arm in Arm den Weg hinauf. Alles um uns herum war ruhig, die Stille wurde nur durch unsere Gespräche unterbrochen. Grinsend musste ich feststellen, dass Wong noch nicht einmal in dieser romantischen Stimmung den Mund halten konnte. Wir hatten Wongs Auto erreicht. Vom Parkplatz aus, hatten wir einen guten Blick auf das beleuchtete Schloss. Es wurde für mich in diesem Augenblick zum Symbol unserer Liebe. Selbst mir kam es ein wenig kitschig vor, doch teilte ich Wong dennoch meine Gedanken mit. Wong nahm mich in den Arm und gab mir zur Antwort einen langen, intensiven Kuss. Wir blickten ein letztes Mal aufs Schloss und fuhren los.

Wongs Schwägerin wartete bereits mit dem Essen. Sie bemerkte sofort, dass sich was verändert hatte.

„Was ist los mit dir, du siehst anders aus“ fragte sie mich in ihrer direkten und neugierigen Art.

„Yeh, du kannst dich für uns freuen. Wong und ich haben uns ineinander verliebt.“

„Oh, das ist schön...“

Sie schien sich tatsächlich für uns zu freuen, nur mussten wir ihr mit Nachdruck klar machen, dass wir jetzt gern allein sein wollten. Es dauerte etwas, bis sie das begriff und mit den Kindern unter Protest verschwand. Wong und ich blieben im Wohnzimmer, und er schloss sicherheitshalber die Verbindungstür ab.

Nach dem Essen sahen wir noch etwas fern und begaben uns dann ins Bett, da wir am nächsten Tag noch ein enormes Arbeitspensum hatten. Wir mussten nicht nur auf dem Markt arbeiten, sondern zuvor noch nach Rodgau fahren, um dort beim Großhändler die Bestellungen der Marktkollegen abholen.

Wir kuschelten uns in unserem Doppelbettimitat eng aneinander.

„Wong, du erwartest doch hoffentlich nicht, dass wir jetzt miteinander schlafen werden. Meine Gefühle haben sich zwar schlagartig für dich geändert, aber ich bin noch nicht so weit, dass ich auch mit dir schlafen will. Kannst du das verstehen?“