L(i)eber Bruder - Katharina Georgi-Hellriegel - E-Book

L(i)eber Bruder E-Book

Katharina Georgi-Hellriegel

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Beschreibung

Dieses Buch schildert die insgesamt 15 Monate währende Kranken- und Leidensgeschichte meines an Leberzirrhose unbekannter Herkunft erkrankten Bruders. Da man auf Spenderorgane oft ein Jahr oder länger warten muss, entschloss ich mich, ihm mit einer sogenannten Leberlebendspende zu helfen. Eine unerwartete Dramatik kam auf, als nach erfolgreich bestandener Operation beider Beteiligter das verordnete Immunsuppressivum von meinem Bruder nicht vertragen wurde. Die dadurch hervorgerufenen Folgeprobleme hielten die gesamte Familie monatelang in Atem, bis endlich die Ursache erkannt und die Medikation geändert werden konnte. Die Buchidee entstand aus unserem eigenen Bedürfnis, im Vorfeld mehr über diese Möglichkeit zu erfahren, denn bisher gibt es in dieser Form nichts auf dem Markt.

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Katharina Georgi-Hellriegel

L(i)eber Bruder

Geschichte einer Leberlebendtransplantation

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

VORWORT

Der Sturz

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DAS WARTEN

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VOR DER OPERATION

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NACH DER OPERATION

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DIE NACHBARN

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DIE ÄRZTE

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FIKTIVES INTERVIEW MIT EINEM „VERRÜCKTEN“

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Statt eines Nachworts

Leistungsfähigkeit 1 (Empfänger)

Leistungsfähigkeit 2 (Spenderin)

ANHANG – Adressen und Informationen für Betroffene (Empfänger und Spender)

Impressum neobooks

VORWORT

Reinhard Georgi

Katharina Georgi-Hellriegel

L(i)eber Bruder!

Geschichte einer Leberlebendtransplantation

Transplantation, das ist: Warten auf ein Transplantat, eine große Operation, Leben mit einem fremden Organ. Wenn es sich um ein lebensnotwendiges Organ wie die Leber handelt, befinden sich die Patienten in jeder Phase ihrer terminalen Erkrankung unter medizinischen, vor allem aber unter extremen psychischen Ausnahmebedingungen. Der Mangel an Spenderorganen hat in Deutschland dazu geführt, dass jeder 5. Patient auf der Warteliste stirbt.

Lebendspende ist für die Leber – in anderen Ländern auch schon für die Lunge – ein Ausweg. Schwester und Bruder, die beiden Erzähler dieses Buches, haben diese Lösung einer Wartezeit mit ungewissem Ausgang vorgezogen. Sie schildern die Kette von tiefgreifenden Ereignissen auf unterschiedliche Weise: Locker und humoristisch er, der Patient, überlegt und reflektierend sie, die Spenderin. Die Probleme unseres Gesundheitswesens treten zutage, Abläufe im Krankenhaus lassen keinen Zweifel aufkommen, dass vieles verbesserungswürdig ist. Kritische Kommentare, auch Ärzten und Schwestern gegenüber, können wir allenfalls mit einem Hinweis auf die genannten Defizite im System ein bisschen zurechtrücken. Trotzdem kommt in dem Buch für mich klar zum Ausdruck: Die Transplantationsmedizin ist zwar verbesserungswürdig, trotzdem leistet sie Großartiges. Dieses Buch ist ein beredtes Zeugnis dafür. Der Transplantationsort Mainz kann dabei mit jedem beliebigen Zentrum ausgetauscht werden.

Ich wünsche mir, dass viele Menschen dieses Buch lesen und dabei Details der Schilderung nicht außer Acht lassen. Jeder kann betroffen sein!

Professor Dr. Gerd Otto

Transplantationschirurgie Universitätsklinik Mainz

Der Sturz

Das Jahr 2001 war kein gutes Jahr für mich. Es war das Jahr, in dem sich eine tückische Leberkrankheit bei mir bemerkbar machte, zunächst nur allmählich, dann aber wurde ich durch diese Krankheit binnen Kurzem zum schwerkranken Mann, und schließlich hätte sie es fast geschafft, mich vollständig zu überwältigen. Noch heute kenne ich nicht die Ursache dieser Krankheit, ich weiß nur, dass sie meine Leber zerstört hat, die dann am Ende dieses entscheidenden Jahres durch eine erfolgreiche Transplantation ersetzt worden ist.

Mittlerweile kann ich aber immerhin die Vorgeschichte zu dieser Leberkrankheit rekonstruieren, deren erster Teil sicherlich viele Jahre zurückreicht, ohne dass es mir zunächst bewusst geworden ist. Aber zu Beginn des Jahres 1999 gab es bereits deutliche Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. Ernst genommen habe ich diese Anzeichen damals zwar noch nicht, ich erinnere mich aber an sie und kann deshalb davon berichten.

Im Januar 1999 hatte ich, beraten von meiner Frau und nach mancher Diskussion mit gesundheitsbewussten Gleichaltrigen, den schönen Entschluss gefasst, mir zum ersten Mal in meinem Leben eine Vorsorgeuntersuchung zu gönnen. Einen konkreten Anlass dafür gab es nicht, und schon gar nicht hatte ich irgendwelche Beschwerden, die mich in die Sprechstunde des mir bisher nur flüchtig bekannten Familien-Hausarztes getrieben hätten. Es ging mir damals wohl hauptsächlich um die fachmännische Bestätigung, dass ich kerngesund sei, und wahrscheinlich habe ich sogar gehofft, für meine fast 50 Jahre einen überdurchschnittlich guten Gesundheitszustand bescheinigt zu bekommen; genau so fühlte ich mich nämlich in diesen Tagen.

Einige Zeit später fühlte ich mich bei Weitem nicht mehr so gut, denn als ich ein paar Tage nach der gründlichen Untersuchung wieder im Sprechzimmer Platz genommen hatte, nahm der freundliche Doktor mit eher nachdenklicher Miene das Papier zur Hand, welches die ausgedruckten Ergebnisse meiner Blutuntersuchung enthielt.

„Sie sind möglicherweise nicht ganz so gesund wie Sie aussehen“, begann der Heilkundige vorsichtig, denn die Resultate hatten ihn selbst überrascht. „Zwar ist das meiste soweit in Ordnung, aber Ihre Leberwerte lassen ein wenig zu wünschen übrig!“

Einigermaßen verblüfft ließ ich mir die Sache näher erklären und musste schließlich einsehen, dass es sich wohl nicht um den von mir zunächst vermuteten Messfehler handelte. Nicht nur eine Kennzahl tanzte aus der Reihe, nein, gleich mehrere Werte waren eindeutig zu hoch. Eine Katastrophe sei das nicht, beruhigte mich der Mediziner, aber zur Sicherheit und um die Sache abzuklären, sollte ich doch in den nächsten Tagen einen Internisten aufsuchen, und er gab mir eine Adresse.

Eine Woche später musste ich dort in aller Frühe antreten, eigentlich noch immer guten Mutes, weil ich mich ja nach wie vor alles andere als krank fühlte. Etwa eine Stunde später, als ich die Praxis dieses übrigens bemerkenswert unfreundlichen Mannes wieder verlassen hatte, war mein persönliches Gesundheitsgefühl um eine weitere Stufe nach unten gerutscht, denn es hatte sich Folgendes ereignet:

Nach einiger Wartezeit war ich von einer Helferin in einen Raum eingewiesen worden, der außer dem obligatorischen Computer lediglich eine Liege enthielt, auf der ich schon mal Platz nehmen sollte. Ich hatte mich gerade ausgestreckt, als der Arzt, ein vergleichsweise junger Mensch, grußlos hereinstürmte und mich barsch aufforderte, den Oberkörper frei zu machen. Dann hatte er auch schon eine Ultraschallsonde in der Hand und fuhr tastend damit auf meinem Bauch hin und her.

„Ihre Leber sieht aber schon ziemlich alt aus“, brummte er schließlich geringschätzig vor sich hin, so dass ich mich sogleich in die Defensive gedrängt sah.

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich auch nicht mehr der Jüngste bin“, entgegnete ich keck, aber er war nicht aufzuheitern. Stattdessen ließ er nach weiteren Suchbewegungen das hässliche Wort „Zirrhose“ fallen, und am Ende krönte er seine düsteren Ausführungen sogar noch damit, dass ich mich irgendwann einmal, ganz fern am Zukunftshorizont, mit dem Gedanken an eine neue Leber vertraut machen solle.

Die wenigen Worte, die wir darüber hinaus noch wechselten, verbesserten die Situation nicht wesentlich, und als ich kurz darauf seine Praxis verließ, war ich erst einmal wie vor den Kopf gestoßen. Auf dem Nachhauseweg verglich ich das Unheil verkündende Urteil dieses Arztes mit den positiven und vitalen Signalen, die mir mein Körper nach wie vor zukommen ließ. Auf der Suche nach einem Ausweg besann ich mich dann auf die mit Sicherheit wahre Feststellung, dass auch Ärzte sich irren können, und ich nahm mir vor, so gut es ging, auf dieses Pferd zu setzen.

Dabei war es durchaus eine Hilfe für mich, dass mir der ganze Kerl von Anfang an herzlich unsympathisch gewesen war, und von Antipathie zur Unglaubwürdigkeit, so fand ich, war es nur ein kleiner Schritt. Außerdem gelang es mir in den nächsten Tagen, medizinisch Gebildete in meinem weiteren Bekanntenkreis ausfindig zu machen, die die böse Zirrhose-Diagnose erfreulich relativierten und mich zudem in der Auffassung bestärkten, dass sich so etwas per Ultraschall nur mit großer Unsicherheit feststellen lasse.

So gelang es mir, die nächste Zeit zwar nicht völlig sorglos, aber doch mit akzeptabler Lebensqualität zu verbringen. Als einziges Zugeständnis an den pessimistischen Internisten vereinbarte ich mit meinem Hausarzt, in Zukunft ein- bis zweimal pro Jahr meine Leberwerte bestimmen zu lassen, ganz nach dem Motto: „Wenn diese mit der Zeit deutlich ansteigen sollten, dann können wir uns ja immer noch Sorgen machen.“

Sie stiegen nicht oder nur wenig an, und so verschwand die ganze Sache allmählich aus meinem Blickfeld, bis im Januar 2001 eine unangenehme körperliche Veränderung bei mir auftrat, die von nun an zwar mein Gesundheitsgefühl beeinträchtigte, in Zusammenhang mit dem Zustand meiner Leber brachte ich sie aber vorerst nicht.

Es begann recht harmlos und zeigte sich zunächst eher als kosmetisches Problem. Seit einiger Zeit störte mich trotz maßvoller Ernährung ein deutlich hervortretender Bauch, der zwar mein Gesamtgewicht nicht allzu sehr in die Höhe trieb, von mir aber vor allem seiner merkwürdigen Form wegen als lästig empfunden wurde. Obwohl er nicht besonders groß war, unterbrach er spitz und unnatürlich meine ansonsten eher schlanke Figur und wurde von mir deshalb als Fremdkörper empfunden. Wenn auch meine Frau immer wieder betonte, dass so etwas in meinem Alter ganz normal sei und ich auch als leicht Deformierter weiterhin mit ihrem liebevollen Wohlwollen rechnen könne, so war und blieb ich doch unzufrieden damit.

Natürlich hielt ich mich schon seit einiger Zeit mit dem Essen zurück, musste aber feststellen, dass dies meine Figur nur unwesentlich verbesserte. Deshalb entschied ich mich nach einiger Zeit dafür, nun endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Weil mir die ständigen kleinen Portionen auf die Nerven gingen, beschloss ich jetzt, für ein paar Tage mit dem Essen ganz aufzuhören, um während dieser Zeit in Ruhe meinen Bauch beobachten zu können. Dies gelang mir ohne große Schwierigkeiten drei Tage lang, und tatsächlich zeigten sich danach erste Erfolge. Allerdings merkte ich kurze Zeit später, dass ich mir dafür etwas eingehandelt hatte, was mir nun auch wieder nicht recht war: Meine Verdauung nämlich kam nach dieser Fastenzeit nicht mehr so richtig in Gang.

Zunächst fehlte tagelang der Stuhlgang völlig, und als er endlich doch wieder einsetzte, tat er das in Form eines kräftigen Durchfalls, der von nun an in wechselnder Intensität zu meinem ständigen Begleiter wurde. Dies galt nicht nur für die nächsten Wochen, sondern schien überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen. Mit meiner Figur hatte ich nun keine Probleme mehr, aber das ständige Klo-Gerenne ging mir dafür umso mehr auf die Nerven, und außerdem verlor ich in jener Zeit nicht nur an Gewicht, sondern zunehmend auch an Energie und Kraft.

Ich fühlte mich zwar nicht richtig krank und blieb auch weiterhin arbeitsfähig, aber sogar mir als erfolgreichem Verdränger wurde nach mehr als einem Monat klar, dass irgendetwas absolut nicht in Ordnung war. Also suchte ich von Neuem meinen Hausarzt auf, und diesmal konnte ich ihm von echten Beschwerden berichten.

„Da müssen wir wohl mal gründlich Ihren Verdauungsapparat untersuchen“, war sein einleuchtender Kommentar, und sogleich entwarf er ein maßgeschneidertes und gründliches Untersuchungsszenario, welches nach einigem Vorgeplänkel in einer ausgewachsenen Darmspiegelung gipfeln sollte. Überrascht davon, dass meine Behandlungsbedürftigkeit nun gleich derart umfangreich geworden sein sollte, erbat ich mir einige Tage Bedenkzeit und beließ es vorläufig bei der obligatorischen Blutprobe.

Als ich nach etwa einer Woche wieder auf dem Sprechzimmerstuhl saß, hatte ich Erfreuliches zu berichten: Mein Durchfall war nach mehr als zwei Monaten endlich zum Stillstand gekommen! Über die Ursache dieses verblüffenden Tatbestandes konnten wir beide nur rätseln, aber es war ja eigentlich auch egal. Bei positiven Überraschungen fragt man nicht lang nach Erklärungen, und so schieden wir in bestem Einvernehmen voneinander. Alle angekündigten Untersuchungen wurden abgeblasen, ich nahm lediglich noch die Ergebnisse der Blutentnahme mit nach Hause, deren Leberwerte im bisher bekannten Rahmen geblieben waren.

Nun konnte ich endlich daran gehen, die Leistungsfähigkeit meines Körpers wieder auf den alten Stand zu bringen, und ich tat dies auf mancherlei Weise. Neben meiner Lieblingsdisziplin, dem Schwimmen, wurde nun auch wieder mit dem Fahrrad gefahren, und sogar zwei Hanteln kaufte ich mir in jener Zeit, um meinem etwas verfallenen Oberkörper etwas Gutes antun zu können.

Die folgende Geschichte, die wenige Wochen später spielt und mit einem Schlag die eben geschilderte körperliche Aufbruchstimmung für lange Zeit zunichte machte, hat mit dem Fahrradfahren zu tun. Nachdem ich wieder damit angefangen hatte, betrieb ich es nicht nur tagsüber, sondern manchmal auch nachts, und deshalb geht es jetzt um die Nacht vom 25. auf den 26. Mai 2001.

Diese besondere Nacht hatte zu Beginn des Wochenendes mit einem Freitagabend gut angefangen, und so wäre es wohl auch weitergegangen, wenn ich nicht gegen Mitternacht beschlossen hätte, eine kleine Radtour anzuberaumen. Ein derart später Zeitpunkt für ein solches Vorhaben mag dem einen oder anderen vielleicht etwas merkwürdig vorkommen, in meiner Familie wundert sich aber niemand darüber, vorausgesetzt ich bitte nicht um Begleitung.

Nach kurzen Vorbereitungen verabschiedete ich mich also artig von meiner für heute bereits bettlägerigen Frau. Sie hat mit den Jahren gelernt, darauf zu vertrauen, dass ihr nachtaktiver Gatte solch späte Abwesenheiten nicht etwa dazu nutzt, das Schlafgemach einer heimlichen Geliebten zu betreten, sondern lediglich und ausschließlich in die Pedale seines Fahrrads zu steigen.

Entschlossen trat ich in die Nacht hinaus, deren Neumond die Szene in beträchtliche Dunkelheit tauchte. Dennoch gelang mir ein reibungsloser Start, und bald rollte ich, nur ab und zu als heller Fleck im Scheinwerferlicht der mich passierenden Autos aufblitzend, zufrieden und entspannt über die Landstraße dahin. Mein zu diesem Zeitpunkt nur schwach arbeitendes Gehirn wird wahrscheinlich versucht haben, das kommende Wochenende gedanklich vorwegzunehmen, und dabei, soweit erinnere ich mich noch genau, war von einer sich nähernden Katastrophe nicht die Rede.

Ganz im Gegenteil – absolut ereignislos kamen und gingen die Kilometer, und der emsige Dynamo war der Einzige, der sich hörbar dazu äußerte. Doch was war das? Hatte er nicht eben während der letzten Meter einen Tick tiefer, drohender als sonst gebrummt? War dieses kleine, scheinbar seelenlose Gerät am Ende in der Lage, großes Unheil vorauszuahnen, vielleicht sogar davor zu warnen?

Aber nein – es gab keinen Grund zur Beunruhigung und schon gar nicht zur Veranlassung; ich war nur eben, beim Befahren einer Steigung, etwas langsamer geworden. Schon konnte ich wieder, oben angekommen, die Kraft von den Pedalen nehmen, um mich im Leerlauf beschleunigt zu Tal rollen zu lassen, geradewegs auf zwei Unterführungen zu. Die unterqueren hier, im Randbereich der Stadt Rüsselsheim, zwei Äste einer Autobahnverzweigung.

Die Katastrophe, deren Folgen meinem damals 52-jährigen Leben eine nachhaltige Richtungsänderung aufzwingen sollten, war nun bis auf wenige Sekunden an mich herangekommen, aber noch fuhr ich unbeschwert dahin.

Vor der ersten Unterführung erschien jetzt eine Baustelle, ziemlich liederlich angerichtet mit einigen trüben Laternen und schief installierten rot-weißen Latten. Sie war im grellen Gegenlicht einer davor stehenden Ampel mehr zu erahnen als zu erkennen. Immerhin war dieses Gegenlicht grün – wie schön, freute ich mich und brauste daran vorbei, mit einem eleganten Schlenker nach links zur Straßenmitte, wohin mich das rot-weiße Baustellenholz abdrängte.

Die nächsten Sekunden befand ich mich wieder fast im Dunkeln, allein mit einer bescheidenen Fahrradlampe, die dem eben noch geblendeten Auge nicht allzu viel erhellen konnte. Noch immer blieb die Lage stabil, ich zehrte von dem eben erworbenen Bergabschwung und näherte mich flott und in gerader Linie dem Ende der Unterführung. Weil die Baustelle nun offensichtlich vorbei war, lenkte ich jetzt sanft nach rechts, um meinen vorschriftsmäßigen Platz am Straßenrand wieder einzunehmen. Es gab aber jemanden, der das nicht wollte. Ein Bordstein, der hier in der Straßenmitte auf mein in einem sehr spitzen Winkel auf ihn zurollendes Vorderrad wartete, war etwa 12 Zentimeter hoch und überschritt damit nicht das handelsübliche Maß. Dennoch waren die Folgen der Begegnung verheerend!

Der vordere Teil des Fahrrads wurde im nächsten Augenblick unsanft und schlagartig von der harten Barriere abgewiesen, und genauso schnell geriet der übrige Teil meines Fahrzeugs in heftiges Schleudern. Nur kurz noch wurde mir klar, dass ein Sturz unmittelbar bevorstand, und wenige Sekundenbruchteile später war es dann soweit. Leise klappernd flog mein Fahrrad ein kleines Stück durch die Luft, während ich die Gelegenheit nutzte, mich von meinem jetzt nutzlos gewordenen Transportmittel zu trennen.

Das Urteil darüber, wem von uns beiden schließlich die bessere Landung gelang, hängt sehr von der Betrachtungsweise ab. Nimmt man die Geräuschentwicklung als Entscheidungskriterium, so bin ich als der Leisere im Vorteil. Während mein treues Rad scheppernd und krachend einige Meter vor mir niederfiel, rollte ich annähernd geräuschlos auf dem harten Boden aus. Nimmt man allerdings Beweglichkeit und Verletzungsgrad als Maßstab, so kehrt sich die Reihenfolge um. In diesem Fall belegte ich wegen schmerzhafter Prellungen und mehrerer blutender Schürfwunden eindeutig den zweiten Platz, während mein Fahrrad noch weitgehend intakt zu sein schien. Ein vergleichender Beweglichkeitstest, der allerdings erst nach einigen Minuten stattfinden konnte, bestätigte diese Einschätzung. Ich war kaum in der Lage, mich von der Stelle zu rühren, mein Fahrrad aber hätte es, mit frei in den Lagern laufenden Pedalen und Rädern, jederzeit mit Leichtigkeit gekonnt.

Das war zwar schön, aber da es schlecht alleine nach Hause fahren konnte, musste ich mir nun doch Gedanken machen, wie es weitergehen sollte. Vorher aber bin ich wohl noch eine kurze Erklärung zum Thema „Bordstein in der Straßenmitte“ schuldig – sie erscheint mir notwendig, um die Glaubwürdigkeit dieses Berichts zu retten, denn mit Recht mag sich mancher fragen: „Gibt es denn so etwas überhaupt, und wenn ja, wo?“

Ich gebe zu, und mein Unfall beweist es ja, dass auch mir diese seltene straßenbauliche Variante neu war, aber am östlichen Rand der Autostadt Rüsselsheim gibt es tatsächlich so etwas. Im Bereich der beiden Unterführungen, die ich eben zu durchfahren versucht hatte, nimmt ein Radweg, der danach wieder rechts von der Straße verschwindet, aus Platzmangel die rechte Hälfte der Fahrbahn ein. Das allein wäre ja nicht so schlimm, aber die Trennung zwischen Radweg und Autospur in der Straßenmitte wird nicht durch eine weiße Linie vorgenommen, sondern eben durch diesen Bordstein. Auf eine derart pfiffige Lösung, die damals gerade per Baustelle ins Werk gesetzt wurde, war ich leider nicht vorbereitet gewesen und fiel ihr wahrscheinlich als Erster zum Opfer.

Nun aber wieder zurück zur Situation nach meinem Unfall. Ich saß also, nachdem ich eben so unsanft zu Boden gegangen war, am Straßenrand, leckte meine Wunden und machte Pläne für die Zukunft. Da mich die Nachtluft angenehm mild umwehte, war zunächst keine Eile geboten, vor allem auch deshalb nicht, weil es jetzt, etwa eine Stunde nach Mitternacht, bis zum Morgengrauen noch eine ganze Weile hin war.

Andererseits machte sich doch ein gewisses Heimweh bemerkbar, gerade weil es mir im Moment nicht so gut ging, und so überprüfte ich schon mal, ob mich meine Füße noch trugen. Ächzend stand ich auf und versuchte, ein paar Schritte zu gehen – na gut, das schien ja noch zu funktionieren. Aber wohl fühlte ich mich nicht auf meinen Beinen, und der Gedanke, den Rest des Heimwegs zu Fuß zurücklegen zu müssen, war mir angesichts der Entfernung von etwa 10 Kilometern doch sehr unangenehm.

Die Alternativen, die mir blieben, bestanden darin, entweder hier auf fremde Hilfe zu warten oder alles auf eine Karte und mich wieder auf mein Fahrrad zu setzen. So könnte ich vielleicht wenigstens langsam nach Hause rollen, immerhin waren nennenswerte Steigungen bis dorthin nicht zu überwinden.

Nun galt es also, nicht den Aufstand, sondern das Aufsitzen zu proben, und ich nahm diese Aufgabe mit Bedacht in Angriff. Nach ersten Versuchen wurde mir klar, dass das nicht ohne Weiteres gehen würde, denn auf ebener Straße gelang mir nicht, was für jeden Hund eine leichte Übung ist: mein Bein so weit anzuheben, dass es über die Stange meines Herrenfahrrades geschoben werden konnte.

Auf der Suche nach Hilfe, die die Umgebung mir anbieten könnte, fiel mein Blick auf eine Parkbank etwas abseits der Straße, die mir für mein Vorhaben geeignet erschien. Vorsichtig näherte ich mich ihr, lehnte mein Fahrrad an die Sitzfläche der Bank und bestieg auf allen Vieren dieselbe. Nun schob ich meinen lädierten Hintern vorsichtig auf den Sattel, mich dabei mit beiden Armen auf dem Lenker abstützend, und schließlich konnte ich mich behutsam von der rettenden Bank in Richtung Straße abstoßen.

Es war noch nicht drei Uhr, als ich zu Hause ankam, wo ich sogleich Veranlassung hatte, die auf genetischer Basis wirkende Fortpflanzung zu preisen. Mein fast volljähriger Sohn, der vor etwa 18 Jahren ein paar Nachtaktiv-Gene aufgeschnappt haben muss, war noch wach und bereit, erste Hilfe für seinen beschädigten Vater zu leisten. Meinen Zustand registrierte er eher gelassen, obwohl es noch nie vorgekommen war, dass ich von einer nächtlichen Radtour derart ramponiert nach Hause gekommen war.

Bald lag ich im Bett, und während ich einschlief, machte ich mir wahrscheinlich wenig Gedanken über meine Zukunft – zumindest können es kaum zutreffende gewesen sein. Wie hätte ich damals auch ahnen können, dass ich nicht nur den gerade begonnenen Sommer, sondern auch noch die darauf folgende Jahreszeit in verschiedenen Krankenhäusern würde zubringen müssen!

Schon zwei Tage später war ich in dieser Hinsicht wesentlich klüger, als ich der Sturzfolgen wegen in der Ambulanz des Kreiskrankenhauses in G. untersucht wurde. Sehr rasch wurde nun auch das Rätsel meines Spitzbauches gelöst, als der Arzt dort eine größere Menge Wasser vorfand, welches meine kranke Leber seit Monaten ausgeschieden und angesammelt hatte. Damals hörte ich zum ersten Mal den entsprechenden Fachausdruck „Aszites“, und genauso lautete denn auch das wichtigste Argument, mit dem mir nahe gelegt wurde, am besten gleich stationär dazubleiben.

Nach einer Bedenkzeit von zwei Tagen entschloss ich mich dazu schweren Herzens, auch jetzt noch nicht ahnend, dass es von nun an mehr als fünf Monate dauern würde, bis ich endlich wieder in die Freiheit entlassen wurde. Noch weniger konnte ich natürlich wissen, dass ich dann mit einer neuen Leber ausgerüstet in ein neues Leben würde starten können.

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Samstag, 26. Mai 2001

Reinhard hat uns seit Weihnachten nicht mehr besucht, und so spreche ich ihn bei unserem heutigen Telefonat darauf an. Allerdings hat er gerade ganz andere Sorgen, denn er ist bei einer nächtlichen Fahrradtour gestürzt und offensichtlich überall grün und blau. Auch sein rechter Arm ist sehr in Mitleidenschaft gezogen, und ich empfehle ihm dringend, am Montag einen Arzt aufzusuchen, denn falls tatsächlich etwas gebrochen ist, helfen Hausmittelchen nicht. Seltsam ist allerdings, was Reinhard mir sonst noch erzählt: Obwohl er sich beim Essen sehr zurückhält und viel Sport treibt (deswegen auch der Radausflug in der Dunkelheit), nimmt er zu und hat einen aufgeblähten dicken Bauch. Sehr merkwürdig, mir fällt dazu keine plausible Erklärung ein, aber der Arzt sollte sich das auch mal ansehen.

Mittwoch, 30. Mai 2001

Meine Schwägerin Gabriela ruft an, um mir mitzuteilen, dass Reinhard heute ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Nicht etwa wegen seiner Sturzverletzungen, sondern wegen des Wassers im Bauch. Damit kann ich nun gar nichts anfangen, weil ich noch nie davon gehört habe, aber das Ganze klingt sehr ernst, denn offensichtlich funktioniert die Leber nicht so, wie sie eigentlich sollte. Diagnose: Leberzirrhose. Meine Schwägerin hört sich auch sehr besorgt an und fragt, ob ich nicht kommen kann, denn Reinhard ist ziemlich deprimiert. Ich verspreche meinen Besuch für das nächste Wochenende.

Pfingstsonntag, 3. Juni 2001

Am Nachmittag fahre ich mit dem Zug gen Norden und bin um 18.00 Uhr bei Reinhard im Krankenhaus. Ich habe ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen und erschrecke über seine Veränderung, denn abgesehen von dem dicken Bauch wirkt er viel dünner, obwohl er noch 88 kg wiegt, und die blauen und violetten Flecken vom Fahrradsturz ziehen sich über den rechten Arm und die gesamte rechte Körperseite. Die Leberprobleme haben sich verschärft, und nun wollen die Ärzte meinen Bruder durch die große medizinische Untersuchungsmangel drehen. Neben zahlreichen Blutentnahmen hat er bereits eine harmlose Ultraschalluntersuchung und eine weitaus belastendere, da ohne Betäubung vorgenommene Magenspiegelung hinter sich. Für die kommende Woche steht ihm auch noch einiges bevor, was sehr unangenehm klingt, aber dann wissen wir hoffentlich, was es mit diesem ominösen Wasser im Bauch auf sich hat. Er bekommt Entwässerungstabletten, damit die ca. 6-8 Liter Bauchwasser als Urin auf schonende Art und Weise ausgeschieden werden, denn vorher sind keine weiteren gründlichen Untersuchungen möglich.

Außerdem wurden in seiner Speiseröhre Varizen festgestellt, offensichtlich so eine Art Krampfadern, die bei Nichtbehandlung jederzeit platzen können und somit hochgefährlich sind, weil der Patient in einem solchen Fall schnell verblutet. Aber auch diese kann man erst abbinden und somit veröden, wenn das Wasser im Bauch zumindest reduziert wurde.

Reinhard, der bis auf seinen großen Autounfall vor 25 Jahren eigentlich immer der Gesündeste von uns drei Geschwistern war, kann sich mit der Krankenhaussituation nur schlecht abfinden, sieht aber ein, dass es besser ist herauszufinden, was dahinter steckt, denn so kann es auf keinen Fall weitergehen.

Ich versuche, Frohsinn zu verbreiten, aber angesichts seines Äußeren fällt es mir schwer. Die restliche Zeit meines ausgiebigen Besuches unterhalten wir uns über andere Dinge, denn im Augenblick ist es am wichtigsten, ihn aufzuheitern und dazu zu bewegen, im Krankenhaus auszuhalten, bis die endgültige Ursache sowie die Diagnose feststehen. Leider zeigt er deutliche Fluchttendenzen, weil auch die Aussagen der Ärzte nicht eindeutig sind. Es ist von einer Autoimmunerkrankung die Rede, aber das ist bisher wohl mehr ein Verdacht, weil die Ärzte ansonsten keinerlei Anhaltspunkte haben.

Ich übernachte bei Gabriela, und wir unterhalten uns bis 2 Uhr morgens über die dramatische Entwicklung von Reinhards Gesundheitszustand, die auch meiner Schwägerin Angst macht. Ich versuche sie zu beruhigen, aber mir muss ich eingestehen, dass mir das Ganze überhaupt nicht gefällt und ich mir große Sorgen mache.

Pfingstmontag, 4. Juni 2001

Den Vormittag verbringe ich wieder bei Reinhard. Der Disc-Player, den ich ihm gestern mitgebracht habe, hat ihm nachts schon gute Dienste geleistet und ihn etwas ablenken können.

Auf der Rückfahrt überlege ich mir, Dr. H. anzurufen. Er ist Spezialist auf dem Gebiet von Hepatitis und Lebererkrankungen und ich hatte vor kurzem zufällig seine Bekanntschaft gemacht. Vielleicht kann er uns raten, was zu tun ist. Das Kreiskrankenhaus, in dem Reinhard liegt, erscheint mir trotz des neuen und tadellosen äußeren Zustands nicht das Richtige, wenn es über die üblichen und landläufigen Erkrankungen hinausgeht. Reinhard braucht einen Fachmann, der nicht nur blind im Nebel stochert, sondern weiß, was er tut und wo er ansetzen muss.

Dienstag, 5. Juni 2001

Dr. H. kann auf Grund der Blutwerte (Gabriela hat mich mit allen möglichen diesbezüglichen Unterlagen bestens ausgerüstet) und der Tatsachen, die ich ihm schildere, keine eindeutige und schlüssige Diagnose stellen, meint aber, es wäre sicher besser, wenn mein Bruder nach Mainz in die Uniklinik ginge, denn dort arbeiten anerkannte Leberspezialisten, die sich auskennen und sicher die Ursache der Erkrankung herausfinden werden. Auf jeden Fall handelt es sich wohl um eine ernsthafte Sache, denn ohne Grund bekommt man nicht Aszites, wie Bauchwasser medizinisch heißt.

Reinhard nimmt meine Informationen zur Kenntnis, strebt aber momentan nur eine Entlassung aus dem Krankenhaus an und will mit den gewonnenen Untersuchungserkenntnissen lieber zu einem niedergelassenen Spezialisten gehen, um das Ganze ambulant weiter abzuklären.

Freitag, 15. Juni 2001

Telefonat mit Reinhard. Inzwischen hat er weitere unangenehme Untersuchungen und Behandlungen hinter sich, so z.B. die Leberpunktion und die Varizenabbindung im Rahmen einer erneuten Magenspiegelung. Mir wird ganz schlecht, wenn ich an die geschilderten Prozeduren auch nur denke, und ich würde Reinhard so gerne helfen, weiß aber nicht, wie. Noch immer tappen die Ärzte im Kreiskrankenhaus im Dunkeln und haben keine Erklärung für diese dramatische Entwicklung!

Sonntag, 17. Juni 2001

Besuch von Conrad, mit dem ich natürlich auch wieder vor allem über die plötzliche Erkrankung unseres Bruders spreche. Während eines gemeinsamen Telefonanrufs bei Reinhard erzählt der davon, dass die Varizenabbindung vorgestern stattfinden soll, korrigiert sich dann auf übermorgen, aber natürlich meint er, dass sie bereits stattgefunden hat. Ich bin sehr beunruhigt über diese offensichtliche Verschlechterung seines Befindens nach einer so genannten Bewusstseinsstörung, die dazu führte, dass er nicht mehr richtig schreiben kann und offensichtlich auch Wortfindungsprobleme hat. Mit Conrad, der nach mir mit ihm spricht, verläuft die Unterhaltung etwas besser und ohne größere Ausfälle, aber auch er hält Reinhards Zustand für sehr ernst.

Beim anschließenden Gespräch mit Dr. H., den ich in meiner Verstörtheit trotz Wochenende anrufe, erfahre ich, dass Ammoniak, das bei Aszites freigesetzt wird, das Gehirn vergiftet und deshalb Aussetzer wie gerade bei Reinhard ganz normal sind. Aber Dr. H. macht mir Hoffnung, dass diese Bewusstseinsstörungen nach erfolgreicher Behandlung wieder vergehen und nichts zurückbleibt. Da er so gelassen bleibt, werde auch ich wieder etwas ruhiger.

Mittwoch, 20. Juni 2001

Reinhards 52. Geburtstag. Sein schönstes Geschenk ist wohl, dass er heute aus dem Krankenhaus entlassen wird. Wir alle hoffen natürlich, dass das Schlimmste hinter ihm liegt, aber irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl und glaube nicht, dass dies schon alles gewesen ist.

Montag, 25. Juni 2001

Reinhard ist sehr schwach und müde, liegt viel im Bett, darf kein Salz und keine Milchprodukte zu sich nehmen und nur wenig trinken. Er hat sehr abgenommen und wiegt nur noch 75 kg (bei einer Größe von immerhin 1,83 m), und doch werten wir dies als positive Nachricht, denn es bedeutet, dass das Bauchwasser besiegt ist. Fast täglich erfolgen Kontrollen beim Gastroenterologen, doch ich habe den Eindruck, dass nur wenig vorangeht. Das ist auf jeden Fall kein Zustand, der lange andauern kann, sondern bestenfalls eine Zwischenlösung.

Eine positive Nachricht gibt es jedoch, denn Gabriela hat die Bürokratie ausgetrickst, indem sie gegenüber dem obigen Arzt behauptet hat, bereits einen Termin für die Lebersprechstunde in Mainz erhalten zu haben – der wundert sich zwar, denn eigentlich ist dort kaum ein Termin zu kriegen, aber er schreibt eine Überweisung aus. Und in Mainz sagt sie, sie habe bereits die Überweisung vom Facharzt – und bekommt prompt einen Termin.

Mittwoch, 27. Juni 2001

Reinhard fährt mit Gabriela zur Lebersprechstunde nach Mainz, und sie kommen mit einem Termin für den 13. Juli zur stationären Aufnahme auf der NSK9 wieder raus. Hoffentlich finden sie dort endlich die Ursache für all die seltsamen Beschwerden und Vorkommnisse.

Montag, 9. Juli 2001

Brief von Dr. H. nach Übergabe der uns zur Verfügung stehenden Blutwerte Reinhards:

Sehr geehrte Frau Georgi-Hellriegel,

anbei einige Anmerkungen zu den Unterlagen bezüglich der Erkrankung Ihres Bruders, die Sie mir übersandt haben: Endgültige Schlüsse lassen sich allerdings nicht daraus ziehen. Insgesamt zeigen die Werte, dass die Leberfunktion beeinträchtigt ist. Das erhöhte Volumen (MCV) der roten Blutkörperchen ist ein Merkmal einer Reifungsstörung, der erniedrigte Gerinnungswert deutet ebenfalls in die selbe Richtung und auch der einmalig erhöhte und dann nicht wieder bestimmte Ammoniakwert zeigt, dass die Syntheseleistungen gestört sind. Den Gallenstau repräsentiert der erhöhte Bilirubinwert und die erhöhten Werte für Serum-Transaminasen (Enzyme, die in der Leber lokalisiert sind) sind Merkmale der Schädigung der Leberzellen. Die Tatsache, dass es hier vom 30.5. bis zum 6.6. zu einem deutlichen Rückgang gekommen ist, deutet auf eine Verbesserung der Situation auf Grund der Abnahme des Staus hin. Auf Grund der Gabe von entwässernden Medikamenten, die offensichtlich fortgeführt wird, ist die Leber insgesamt entlastet worden. Die feingewebliche Untersuchung der Leber deckt sich insgesamt mit den Laborwerten. Allerdings kann man aus den mir vorliegenden Befunden nicht endgültig auf eine Ursache der Lebererkrankung schließen. Telefonisch haben Sie mir gegenüber ja auf einige weitere Werte hingewiesen, so unter anderem auf Anti-HCV, Anti-HAV (an Hepatitis-B-Marker kann ich mich nicht erinnern). Ich denke, dass man hier ja noch weiter suchen wird.

Für heute Grüße aus Wuppertal

Professor Dr. Dr. F. H.

Dienstag, 10. Juli 2001

Als Gabriela vom Einkaufen zurückkehrt, findet sie Reinhard verwirrt und desorientiert und mit Sprechschwierigkeiten vor. Der von ihr benachrichtigte Notarzt schreibt sofort eine Einweisung für die Klinik. Dort wird eine Darmreinigung per Klistier vorgenommen, da wegen schlechten Stuhlgangs zu viele Gifte im Körper zurückbleiben, die für die erneute Störung des Gehirns verantwortlich sind.

Dank des Internets, das heutzutage viele Nachforschungen erleichtert, habe ich mich bereits vor Tagen schlau gemacht über die Leber, entsprechende Störungen, Leberzirrhose und deren Folgen bzw. Behandlungsmöglichkeiten. Es ist erstaunlich, welche wichtigen Aufgaben die Leber in unserem Körper leistet, aber leider ist ein Ausfall bzw. eine Beeinträchtigung dieses Organs dann auch sehr dramatisch und einschneidend.

Meine Freundin Angela, mit der ich am Abend über unsere Sorgen spreche, erzählt mir von einer Fernsehsendung über eine Leberlebendspende, die vor Kurzem gelaufen ist – leider habe ich sie verpasst. Aber über die Internetadresse, die sie mir gibt, erfahre ich Hochinteressantes:

Die erste Leberlebendspende bei einem Kind wurde 1989 in Australien vorgenommen, bei einem Erwachsenen 1994 in Japan. 1991 wurde in Hamburg die erste Leberlebendspende bei einem Kind in Europa durchgeführt und bis heute wurde 102 Kindern ein Leberteil lebender Spender, d.h. ihrer Eltern transplantiert. Jedoch ist die Leberlebendspende zwischen Erwachsenen offenbar ein relativ neuer Zweig der Transplantationschirurgie, zumindest bei uns in Deutschland, der erst an wenigen deutschen Kliniken durchgeführt wird, wodurch aber für den Empfänger die durchschnittliche Wartezeit von einem Jahr bei einem Spenderorgan auf herkömmlichem Weg verringert werden kann. Anfang dieses Jahres wurden in Hamburg erstmals Leberlebendtransplantationen zwischen Erwachsenen vorgenommen, und in beiden Fällen verliefen die Operationen für Empfänger wie Spender komplikationslos. Das Tolle an dieser Geschichte ist – und nur deshalb ist es überhaupt möglich – dass die Leber offenbar das einzige Organ im menschlichen Körper ist, das sich innerhalb weniger Wochen wieder vollständig regenerieren, also zu seiner ursprünglichen Größe heranwachsen kann. Transplantiert, d.h. vom Spender zum Empfänger übertragen wird dabei der rechte Leberlappen, da er den größeren Teil der Leber ausmacht und man so individuell den Anteil bestimmen kann, der je nach Größe und Gewicht des Empfängers variiert. Das Risiko für den Spender beträgt ungefähr 0,4 %, und als Spender kommen nur Personen in Frage, die erwachsen sind, keine ernsthaften Erkrankungen hatten und über eine gesunde Leber verfügen. Auch die genetische und emotionale Verwandtschaft ist offenbar sehr wichtig und natürlich die Freiwilligkeit der Spende, d.h. niemand darf den Spender unter Druck setzen, sondern er muss sich unabhängig und frei für diese Spende entscheiden. Wichtig für eine erfolgreiche Transplantation sind weiterhin:

Blutgruppenverträglichkeit,

ausgewogenes Größenverhältnis zwischen rechtem und linkem Leberlappen,

psychologische, morphologische und anatomische Eignung.

In einer anderen Publikation finde ich den Hinweis, dass „trotz ausgiebiger vorbereitender Untersuchungen die Lebendspende ein hohes Risiko für den Spender“ bedeutet – offensichtlich sind sich die Ärzte und Verantwortlichen noch nicht so recht einig darüber, denn die oben genannten 0,4 % finde ich nun nicht so rasend hoch.

In der Schweiz hat eine Frau ihrem Mann durch eine Leberlebendspende geholfen, und die Operation verlief trotz einer speziellen Komplikation erfolgreich. Obwohl sowohl Spenderin wie Empfänger bereits über 50 Jahre alt sind, geht es beiden gut.

Ich verbringe den Abend vor dem PC, staune über die heutigen medizinischen Möglichkeiten, drucke vieles aus, markiere das Wichtigste und schicke es Reinhard. Irgendwie tröstet es mich ein wenig, dass es noch eine Hilfsmöglichkeit gibt, wenn alle Stricke reißen und es zum Allerschlimmsten kommen sollte.

Donnerstag, 12. Juli 2001

Reinhard wird aus dem Krankenhaus entlassen – wir alle hoffen, dass dies die letzte Bewusstseinsstörung war, denn die Auswirkungen sind katastrophal. Aber morgen muss er sowieso in die Uniklinik Mainz, und dort sollten die Ärzte endlich die Ursache für das ganze Übel herausfinden!

Freitag, 13. Juli bis Samstag, 28. Juli 2001

Stationärer Aufenthalt Reinhards in der Uniklinik Mainz. Der Befund Leberzirrhose wird erhärtet. Die Ärzte untersuchen Reinhard noch einmal gründlich und kümmern sich um das Bauchwasser, das noch immer – wenn auch nicht mehr in den vorherigen Mengen – vorhanden ist. Doch nun scheint die Lage unter Kontrolle zu sein, die Leberwerte sind stabil und gut und es scheint besser zu gehen. Außerdem kontrollieren sie die in G. vorgenommene Verödung der Varizen, was offensichtlich gut geklappt hat.

Bei der Entlassung bekommt Reinhard Kortisontabletten, die er nehmen soll, um die diagnostizierte Autoimmunerkrankung in den Griff zu bekommen. Keine schöne Therapie, aber wenn sie hilft... Außerdem muss er sehr streng Diät halten und darf praktisch nichts mehr essen, was ihm schmeckt. Auch das eigenhändige Autofahren ist verboten – was keiner von uns versteht, denn er ist stabil und eine Bewusstseinsstörung ist zum Glück nicht mehr aufgetreten. Natürlich ist Reinhard von all den Ereignissen, die seit fast zwei Monaten ihn und die ganze Familie beunruhigen und auf Trab halten, ziemlich geschwächt. Er hat noch einmal Gewicht verloren und wiegt jetzt nur mehr 72 kg. Doch seine Willenskraft ist ungebrochen, und er ist wild entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Im Krankenhaus hat er täglich per Treppentraining – sein Krankenbett steht im 9. Stock! – seine Muskeln trainiert, und er ist stolz, dass er das trotz der belastenden Vorfälle schafft. Man bezeichnet ihn im Krankenhaus auch als „halbkrank“, was uns Hoffnung gibt, denn wenn die Ärzte das alles als nicht so dramatisch einschätzen, sollten auch wir uns keine zu großen Sorgen machen. Trotzdem sitzt das ungute Gefühl über die rasche Entwicklung tief in mir, doch ich will daran glauben, dass Reinhard bald wieder auf dem Damm ist!

Montag, 30. Juli 2001

Keine Reaktion auf meinen Brief mit den Informationen wegen der Lebertransplantation. Bei einem Telefonat mit Reinhard höre ich nur: „Nein, das kommt nicht in Frage!“ Gabriela erklärt mir später, sie habe mit ihm darüber gesprochen, und er habe die Materialien durchaus gelesen, aber er wolle weder mich noch sonst jemanden aus seiner Familie mit hineinziehen! Auch mir ist es natürlich viel lieber, wenn es überhaupt nicht so weit kommt, aber ich habe ein schlechtes Gefühl und mir wäre es Recht, wenn er sich mit diesem Thema wenigstens theoretisch auseinandersetzen würde!

Da Reinhard nicht Auto fahren darf, hat er seinen geleasten Vectra an Opel zurückgegeben und ist jetzt viel mit dem Fahrrad unterwegs. Außerdem geht er schwimmen und steigt Treppen und läuft spazieren, um bald wieder seine frühere Fitness zurückzuerlangen.

Mittwoch, 1. August 2001

Reinhard fühlt sich einigermaßen wohl, hält sich brav an seine Diätvorschriften, achtet auf regelmäßigen Stuhlgang, um eine neuerliche Vergiftung des Körpers und damit eine Bewusstseinsstörung zu vermeiden, und wir sind alle erleichtert, dass es den Ärzten offensichtlich gelungen ist, seine Erkrankung in den Griff zu kriegen. Ich habe diese Autoimmunerkrankung im Stillen zwar immer angezweifelt, aber ich hatte wohl Unrecht. Sie ist zwar sehr selten, aber dafür umso unangenehmer, doch mit Hilfe von Kortison kann man mit ihr fertig werden. Allerdings macht uns das auch nicht gerade froh, denn Kortison ist ein hochwirksames Medikament mit oft üblen Nebenwirkungen, und wir hoffen, dass es nicht auf Dauer genommen werden muss. Aber im Augenblick bleibt uns keine Wahl, denn die Alternative ist noch schlimmer.

Freitag, 3. August 2001

Heute Nachmittag wurde Reinhard zu Hause von einer neuerlichen Bewusstseinsstörung getroffen, die zwar im Vergleich zu den vorhergegangenen relativ harmlos mit einer leichten Desorientierung begann, sich aber furchtbar entwickelte. Gabriela fuhr Reinhard sofort nach Mainz, aber bereits auf der Fahrt dorthin verschlechterte sich sein Zustand dramatisch – wir alle haben große Angst um Reinhard.

Sonntag, 5. August 2001

Liebe Silvia,

mein Bruder liegt seit Freitag wieder im Krankenhaus in Mainz – diesmal wirklich schlimm! Er ist nicht mehr ansprechbar und sein Zustand sehr ernst. Die Ärztin hat meine Schwägerin getröstet, dass sie schon öfter Patienten in diesem Zustand hatten und dass er wieder in Ordnung kommt, aber eine Transplantation ist offenbar unvermeidlich. Das Problem ist, dass bis dahin mindestens ein halbes Jahr vergehen wird, und wir wissen bisher nicht, wie die Ärzte ihn so lange stabilisieren wollen und wie das Ganze überhaupt funktionieren soll. Wir können momentan nur warten und das Beste hoffen – ich mache mir große Sorgen!

Think of us!

Traurige Grüße von Deiner Katharina

Montag, 6. August 2001