LADY BIS ZUM LETZTEN - Joan M. Fleming - E-Book

LADY BIS ZUM LETZTEN E-Book

Joan M. Fleming

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Beschreibung

Jeder hat Mitleid mit der hübschen Witwe des ermordeten Reeder-Sohns York Cragg. Aber der Tod ihres Mannes ist nicht das einzige Unglück, welches die junge Frau trifft: Bei der Untersuchung des Mordes stellt sich heraus, dass York schon in den wenigen Monaten seiner Ehe eine Geliebte hatte. Und Sir Jason Cragg, der den Mörder seines Sohns sucht, findet ebenfalls ein jähes Ende...

 

Der Roman Lady bis zum Letzten der britischen Schriftstellerin Joan M. Fleming (* 27. März 1908; † 15. November 1980) erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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JOAN M. FLEMING

 

 

Lady bis zum Letzten

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

LADY BIS ZUM LETZTEN 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Jeder hat Mitleid mit der hübschen Witwe des ermordeten Reeder-Sohns York Cragg. Aber der Tod ihres Mannes ist nicht das einzige Unglück, welches die junge Frau trifft: Bei der Untersuchung des Mordes stellt sich heraus, dass York schon in den wenigen Monaten seiner Ehe eine Geliebte hatte. Und Sir Jason Cragg, der den Mörder seines Sohns sucht, findet ebenfalls ein jähes Ende...

 

Der Roman Lady bis zum Letzten der britischen Schriftstellerin Joan M. Fleming (* 27. März 1908; † 15. November 1980) erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  LADY BIS ZUM LETZTEN

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Was für ein Leben!« Police Constable Bacon blies nachdenklich auf seinen Tee und seufzte schwer. Er hatte seiner Frau schon in etwas gereiztem Ton gesagt, sie sollte den Fernseher ausstellen; sie blickte ihn durchdringend an. »Das Leben ist kein Spaß!«, sagte er ein paar Minuten später düster.

Als vor ihm ein Teller mit gebratenem Fisch und Chips auftauchte, wurde er in seinen tiefsinnigen Gedankengängen unterbrochen; er warf einen angeekelten Blick auf den Teller, schob ihn beiseite und bat um mehr Tee.

»Es ist nicht meine Art, aus den Latschen zu kippen«, bemerkte er, »aber es ist ein scheußlicher Tag gewesen. Ein ganz scheußlicher. Ich glaube, ich hätte nie Polizist werden sollen«, sinnierte er.

»Was ist nur los mit dir, Sam Bacon?«

»Ich werde auf meine alten Tage wohl noch ein Weichling.« Bacon lächelte über diese absurde Vorstellung. »Ich habe schon einiges in meinem Leben gesehen, aber ich habe noch nie etwas erlebt, was mich so umgeworfen hat wie dieser Job heute.« Er trank einen tüchtigen Schluck Tee. »Die Abendzeitungen sind voll davon. Und es wird morgen die Sensation des Tages, so verrate ich kein Geheimnis, wenn ich dir erzähle, dass es einen piekfeinen, todschicken Mord gegeben hat in einem von diesen noblen neuen Häusern am Rand der Heide. So was hat Putney noch nie erlebt, jedenfalls nicht zu meinen Lebzeiten. Was für ein Job!«

Mrs. Bacon missbilligte derartige Gespräche über dienstliche Probleme; sie war stolz auf die Unantastbarkeit ihres Heims und hatte gern das Gefühl, dass Sam seine Arbeit hinter sich ließ, wenn er nach Hause kam. Aber jetzt spürte sie, dass dies der Augenblick war, wo eine Ehefrau Mitgefühl und Verständnis zeigen musste. Sie schob den Teller mit Fisch und Chips in den Herd zurück, stellte das Gas auf klein und setzte sich mit einem Ausdruck bereitwilligen Interesses an den Tisch.

»Das Leben ist schrecklich«, sagte er zu ihr. »Warum sollten ihnen solche Sachen eher passieren als dir und mir? Oh, ich weiß, sie sind reich und dergleichen, aber die ganze Zeit, als ich dort auf Posten stand, dachte ich: Das ist ein Ehepaar wie Doris und ich! Sie sind noch nicht lange verheiratet gewesen; die junge Frau ist fast noch ein Kind, und ein nettes dazu. Es griff mir ans Herz, als ich sie sah, ja wirklich, es griff mir ans Herz. Inmitten des Lebens sind wir im Tod, amen.«

Während der folgenden Pause unternahm Mrs. Bacon einen zweiten, diesmal erfolgreicheren Versuch mit dem Fisch und den Chips. Aber als die Mahlzeit vorüber war, war die Stimmung ihres Mannes immer noch sehr trübe.

»Er ist brutal ermordet worden«, sagte er schließlich, »sein ganzer Rücken ist von Messerstichen übersät. Er sieht aus wie ein Nadelkissen, aus dem die Füllung herausquillt«, fügte er hinzu und schien über seine eigene Beschreibung entsetzt.

»Sam Bacon!«, schrie seine Frau. »Ich will in diesem Haus so was nicht hören, wirklich nicht!«

»Du bist eine komische Person«, sagte Sam gutmütig. »Du verbringst Stunden über Stunden damit, diese furchtbaren Mordgeschichten zu lesen, und wenn man dir dann ein Stück wirkliches Leben auftischt, kriegst du kalte Füße. Auf mein Wort, als ich so dastand und auf die entsetzliche Szene blickte, dachte ich: Das ist wie einer von Doris’ Romanen. Tod eines fetten Mannes, wollen wir diesen nennen.«

»Aber die Geschichten, die ich lese, sind doch alle nicht ernst zu nehmen. Solche Sachen passieren im wirklichen Leben nicht.«

»Oh, sie passieren nicht!« Sam rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Klar, sie passieren nicht! Außer dass gestern Nacht keine paar Meilen von hier entfernt so was passiert ist!«

Interesse überwog jetzt die Vorurteile seiner Frau, und sie fragte: »Raub mit Gewaltanwendung? Bewaffneter Raubüberfall oder was?«

»Kein Raub. Nur Gewalt. Kein Raub, wenigstens soweit wir sehen konnten. Kein gewaltsames Eindringen, soweit wir feststellten. Nichts entwendet, soweit seine Frau sagen konnte. Es war folgendermaßen: Sie waren seit sechs Monaten verheiratet, dieses junge Ehepaar; Ehemann ungefähr zweiunddreißig; Ehefrau, sagen wir, vierundzwanzig. Sie luden ein anderes Ehepaar zum Cocktail ein, als sie merkten, dass sie auf den Tag sechs Monate verheiratet waren. Sie hatten vor, nachdem Cocktail zum Essen ins West End zu fahren. Zu viert. Dann kniff der junge Ehemann, er sagte, er wäre zu müde, hätte vielleicht ein bisschen viel getrunken, er hätte keine Lust, so verschwindet er, wahrscheinlich ins Bett, und die drei anderen sagen tja, da kann man nichts machen, und fahren ins West End, gehen zum Dinner und dann ins Theater. Die Freunde bringen die junge Frau in ihrem Wagen nach Flause und verabschieden sich vor der Haustür von ihr; sie sagt, kommt noch auf einen Drink rein, sie sagen, nein danke, es ist schon spät. Die junge Frau geht nach oben – sie haben übrigens keine Hausangestellten –, wirft einen Blick in das Zimmer ihres Mannes...«

»In das Zimmer ihres Mannes! Schlafen sie nicht zusammen?«

»Vornehme Leute tun das nicht: jedenfalls nicht die ganze Nacht. Der Ehemann hat ein sogenanntes Ankleidezimmer mit einem Bett darin, in dem er schläft, nehme ich an«, sagte Bacon geziert. »Lach nicht, Doris, das ist nicht zum Lachen. Die junge Frau lauscht an der Tür ihres Mannes, alles still, sie öffnet sie einen Spaltbreit, Licht aus, Stille, alles in Butter, sie geht ins Bett und ist so leise wie möglich, um ihren Mann nicht zu stören. Die junge Frau schläft lange. Ihr Mann weckt sie für gewöhnlich mit einer Tasse Tee, aber heute weckt sie niemand, so schläft sie weiter. Um neun Uhr kommt Mrs. Sowieso, die Zugehfrau, die einen Hausschlüssel besitzt. Keine Frühstücksreste, kein Geschirr zum Abwaschen. Mrs. Sowieso denkt, dass sie verschlafen haben, geht nach oben, weckt die junge Frau, zieht die Vorhänge zurück, et cetera. Geht in das Zimmer des Mannes, und was findet sie vor? Dunkelheit, zugezogene Vorhänge. Sie macht die Vorhänge auf und fällt beinah in Ohnmacht. Als wir hinkamen, hatte sie tatsächlich einen hysterischen Anfall.«

»Tot?«, flüsterte Mrs. Bacon.

»Tot! Aber nicht nur tot... er lag mit dem Kopf in einem offenen Schrank, in einem von diesen großen, eingebauten Dingern, die sie in den modernen Häusern haben; er war halb in den Schrank gefallen, als ob er von hinten angegriffen worden war, als er sich gerade bückte, um was rauszuholen. Unter ihm lag eine Reisetasche, als wir ihn umdrehten, und es sieht so aus, als ob er sie gerade rausgenommen hatte. Aber sein Rücken, Doris! Eine Stichwunde neben der andern, durch den Stoff seines Anzugs. Er ist ein großer, kräftiger Bursche, fünfundneunzig Kilo schwer oder noch mehr; wir mussten ihn zu viert hochheben, als sie mit fotographieren fertig waren. Und dann fanden wir unter ihm die Leinentasche, blutdurchtränkt. Doch das war es nicht, was mich so fertiggemacht hat, oh nein«, erklärte Bacon. »Ich bin an den Anblick von Blut gewöhnt, das hab ich längst überwunden. Es war die junge Frau, und dass ich dauernd denken musste, dass es wie du und ich war und wie du weitermachen würdest, wenn man mich ermordet aufgefunden hätte. Sie ist nur ein zartes, kleines Ding, Doris, kaum mehr als ein Kind. Sie war so tapfer, ich wäre stolz auf sie gewesen, wenn sie meine Frau wäre. Was sie nicht ist«, fügte er hastig hinzu. »Man konnte ihr ansehen, dass ihr fast das Herz brach, aber sie hielt sich wunderbar: Ja, Inspektor, nein, Inspektor. Sie war kreidebleich; es hätte dich umgeworfen, wenn du gesehen hättest, wie sie versuchte, sich zu beherrschen. Und dann tauchte der Schwiegervater auf, in einem tollen, großen, altmodischen Rolls-Royce. Ich hab noch nie einen Menschen gesehen, der sich so aufgeregt hat. Er ist ein reicher Reeder, hab ich gehört, und dieser Bursche hier war sein einziger Sohn. Er führte sich wie ein Wahnsinniger auf. Machte einen Höllenspektakel. Sir Jason Cragg, heißt er, und er ist noch nicht so alt, um der Vater eines Sohns von Anfang Dreißig zu sein. Ein gutaussehender Kerl übrigens, wenn er normal ist.«

»Wer, glaubt ihr, hat es getan?«

»Keine blasse Ahnung. Im Vertrauen gesagt, Doris, ich konnte sehen, dass der Alte verwirrt war, obwohl er so tat, als ob er eine Menge privater Informationen auf Lager hätte. Sie liefen geschäftig hin und her, nahmen Fingerabdrücke an Türklinken, an Handläufen von Treppen et cetera. Aber ich hätte gelacht, wenn ich nicht so erschüttert gewesen wäre. Sie werden nichts erreichen. Wer immer.es getan hat, betrat das Haus mit der vollen Absicht, es zu tun. Es gab keinen Streit oder Kampf oder sonst was. Dieser Kerl ging hinein mit einem Paar Glacéhandschuhen und einem scharfen Messer, erledigte seine Arbeit und verschwand schleunigst.«

»Aber du hast doch gesagt, dass es keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens gab.«

»Ich habe gesagt, soweit wir sehen konnten. Im Vertrauen, ich finde, es sieht so aus, als ob ein Kerl, den er kannte, vorbeikam, nachdem die andern zum West End gefahren waren. Vielleicht lag er draußen vor dem Haus im Dunkeln auf der Lauer, bis er wusste, dass der junge Cragg allein war, klingelte dann an der Haustür und wurde ganz normal eingelassen. Vielleicht erwartete ihn der junge Cragg. Das ist jedenfalls meine Meinung, und warum wohl? Weil er, Doris, mein Schatz, vollständig angezogen war. Er sagte, er wollte zu Hause bleiben, um ins Bett zu gehen, aber tat er das? Nein, er nicht.«

»Kann man feststellen, wie lange er schon tot war?«

»Nur ungefähr, sehr ungefähr. Die Zentralheizung war an, und das ganze Haus ist wie ein Backofen. Das macht es schwierig, genau abzuschätzen, wie lange ein Körper schon eine Leiche ist, wenn du mich verstehst.«

»Ach, du meine Güte«, murmelte Mrs. Bacon nachdenklich.

»Da ist eine ganze Reihe von diesen neuen Häusern, eins wie das andere, aber sehr exklusiv; sie stehen auf dem früheren Grundstück dieses riesigen Herrensitzes Silbertal, das so ungefähr vor einem Jahr abgerissen worden ist, erinnerst du dich? Sie heißen Silbertal Nummer eins, zwei, drei und vier. Und dann gibt es da noch einen Block mit Etagenwohnungen, Nerohof, sehr modern, von dem aus man die Rückseite des Cragg-Hauses überblicken kann. Heute sind sie in den anderen Häusern gewesen und haben Fragen gestellt, und morgen, glaube ich, gehen wir mit einem feinen Staubkamm durch diesen Wohnblock, fragen, ob jemand das Ehepaar kannte, irgendein ungewöhnliches Geräusch hörte, irgendwas Komisches sah. Wir werden die üblichen Geschaftlhuber antreffen, die behaupten, dies und das gesehen und gehört zu haben, wir werden Stunden damit verbringen, Hunderte zu vernehmen, und du wirst sehen, es kommt nichts dabei raus. Eine dunkle Nacht, alle saßen drin vorm Fernseher. Was haben wir also für eine Hoffnung, den Mörder der zu finden? Überhaupt keine, wenn es auch nicht gut wäre, wenn mich jemand das sagen hörte. Fortschrittlich sollen wir sein, mit Polizeiwagen, die mit Funkgeräten ausgestattet sind, damit wir an Ort und Stelle sein können, bevor man bis sechzig zählen kann. Aber der Job ist bis dahin längst erledigt. Nichts kommt an den alten Bobby ran, der auf Streife geht, das kannst du mir glauben. Fortschritt...«

Sam Bacon hatte sich in einen tröstlichen Zustand hineingeredet. Mrs. Bacon ging abwaschen und ließ ihn über die Schrecken des Fortschritts nachgrübeln.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett und lauschte den Geräuschen von Polizistenfüßen, die die gebohnerten Treppen hinauf- und hinuntertrampelten, von Autos, die bremsten und starteten, dem Geräusch von gesenkten Stimmen draußen an der Tür, wo ein Polizeibeamter mit den Reportern sprach. Die Polizistin war freundlich, sie brachte ihr von Zeit zu Zeit eine Tasse Tee und führte kleine, nette Gespräche über nichts. »Jetzt müssen Sie versuchen, nicht dran zu denken, meine Liebe. Ihr Mann ist erlöst. Sie müssen tapfer sein. Versuchen Sie, um seinetwillen durchzuhalten.«

Der kurze Wintertag ging um fünf Uhr zur Neige, und die Dunkelheit beendete die Arbeiten der Polizei im Freien; die Polizeiwagen fuhren weg, und es blieben zwei Wachtmeister in dem vom Unglück heimgesuchten Haus zurück.

Sir Jason, der unter dem Einfluss der starken Beruhigungstabletten stand, die er in kurzen Zeitabständen eingenommen hatte, klopfte an die Tür.

»Darf ich reinkommen, Easter?«

Sie hob den Kopf und drehte sich um, ihr Gesicht war rotgefleckt von dem Druck gegen ihre Arme.

»Mein armes, liebes Mädchen«, sagte er zärtlich, »pack dein Nachtzeug zusammen und lass uns fahren.«

»Fahren?«

»Ja, du kommst mit zu mir in die Arlington Street; ich habe alles arrangiert.«

Easter schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

»Sei vernünftig, Kind. Natürlich kommst du mit.«

»Nein, ich will nicht, wirklich nicht. Ich danke dir, aber... dies ist mein Zuhause; trotz allem betrachte ich es immer noch als mein Zuhause. Ich möchte nicht hier weg, Jason, ehrlich.«

»Du kannst unmöglich hierbleiben nach dem, was passiert ist«, sagte er in scharfem Ton.

»Sie lassen einen Polizisten hier, der das Haus bewachen soll, nicht wahr?«

Er nickte, nahe daran, die Geduld zu verlieren.

»Nun, dann werde ich hier gut aufgehoben sein«, sagte Easter vernünftig. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen.«

»Na hör mal, ich kann dich hier doch unmöglich allein lassen...«

»Oh, mach bitte nicht so viel Aufhebens«, sagte sie gereizt.

Er blickte forschend in ihr verwüstetes junges Gesicht. »Also gut, wenn du so darüber denkst... werde ich mir einen von Yorks Pyjamas holen und im Gästezimmer schlafen, das heißt, schlafen werde ich wohl kaum.«

»Das ist nicht nötig«, protestierte Easter.

Er setzte sich auf die Kante ihres Betts und nahm ihre schlaffe Hand. »Schau, du und ich haben jetzt nur uns beide; du hast keine anderen Verwandten auf der Welt, nicht wahr?«

Sie antwortete nicht, blickte aber weg.

»Nicht wahr?«, drang er in sie und schüttelte ihre Hand.

»Und ich habe nur meine Clubfreunde, Geschäftsfreunde und Bekannte; in einer Zeit wie dieser zählen nur die Blutsverwandten, und du bist die nächste Verwandte, die ich habe. Außerdem habe ich das Gefühl... dass von meinem armen Jungen nichts übriggeblieben ist als du. Wir müssen zusammenhalten, Easter, es ist der einzige Trost, den wir haben werden; das und... denjenigen, der es getan hat, vor den Richter zu bringen.« Er ging zum Fenster hinüber, zog den schweren, gefütterten Vorhang zur Seite und blickte eine Minute in die Dunkelheit hinaus. Sir Jason Cragg hatte dieselbe Figur wie einst sein Sohn York; er war zwar nicht groß, aber kräftig gebaut und gut gepolstert, so dass nicht viel fehlte, um ihn zu einem fetten Mann zu machen. Die Tatsache, dass er gut gekleidet und tadellos gepflegt war, gewährte ihm in der Regel Schutz vor einer solchen Beschreibung, aber an diesem besonderen Abend bestand kein Zweifel, dass er wie ein heftig erregter fetter Mann aussah. Er spähte hierhin und dorthin in der Dunkelheit. »Wer weiß? Er kann das Haus beobachten wie der sprichwörtliche Hund, der zu seinem Erbrochenen zurückkehrt. Er kann jetzt da draußen in den Büschen auf der Lauer liegen, oder er kann bei seiner Arbeit gestört worden sein, als du zurückkamst, Easter. Oder vielleicht hielt er sich irgendwo in der Dunkelheit im Haus versteckt und wartete auf eine Gelegenheit, um sich umsehen zu können. Oder vielleicht hat er sich zur Haustür hinausgelassen, als er merkte, dass es hoffnungslos war, ohne dich mit Geräuschen und Lichtern zu wecken, und nahm sich vor, zu einer anderen Zeit zurückzukommen, wenn das Haus verlassen war.«

»Oh, hör endlich auf!«, schrie sie. »Versuchst du mir Angst zu machen, oder was?«

»Aber wenn er zurückkommt«, fuhr Sir Jason fort und schweifte vom Thema ab, »werde ich ihn töten; dann bin ich an der Reihe.«

Er ließ den Vorhang zurückfallen und nahm die Fotographie seines Sohnes vom Toilettentisch. Er starrte sie lange an. Dann ging er ohne ein weiteres Wort langsam aus dem Zimmer.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

John Ramsgate war mit York Cragg in Cambridge gewesen. Sowohl er als auch seine Frau Jill konnten eine lückenlose und freimütige Beschreibung des vergangenen Abends geben. Die Ramsgates hatten zwei kleine Kinder, von denen eins Keuchhusten hatte; an dem Abend des Mordes hatte dieses Kind einige schlimme Hustenkrämpfe gehabt, und das Kindermädchen war aufgeblieben, um mit den Eltern bei ihrer Rückkehr über die Notwendigkeit zu sprechen, zu dieser späten Stunde den Arzt zu rufen, damit er dem Kind ein Beruhigungsmittel gab und so jedem im Haus ermöglichte, etwas Schlaf zu bekommen. Es stand daher außer Frage, wann das junge Ehepaar nach Hause gekommen war; der Arzt wurde ein paar Minuten nach ihrer Rückkehr telefonisch gerufen, er kam sofort, und das Kind wurde in Gegenwart seiner Eltern behandelt.

Da das Tun und Lassen eines jeden, der in irgendeiner Weise in den Mord verwickelt war, überprüft werden musste, konnten die Ramsgates ein paar Bekannte beibringen, die die Tatsache bestätigten, dass sie die Ramsgates und Easter Cragg getroffen hatten, als sie kurz nach elf zusammen aus dem St James’s Theatre gekommen waren.

Gegen 19.15 Uhr hatte York Cragg seinen Vater angerufen, also ein paar Minuten, nachdem seine Frau und die Ramsgates das Haus verlassen hatten. Er hatte mit seinem Vater ausgemacht, am nächsten Morgen zur Ankunft der Queen Elizabeth, die mit einem wichtigen Kunden der Goldenen Vlies Reederei an Bord aus New York kam, nach Southampton zu fahren. Sein Vater war hinsichtlich der Zeit, zu der sein Sohn angerufen hatte, nicht im Zweifel; er hatte um 19.15 Uhr einen Freund in der Arlington Street zum Essen erwartet und die Uhr im Auge gehabt, während er mit seinem Sohn am Telefon sprach.

Die Angestellten eines ungarischen Restaurants im West End hatten nicht die geringsten Schwierigkeiten, sich an das Ehepaar zu erinnern, das dort in Gesellschaft einer zweiten jungen Frau gespeist hatte, bevor sie ins Theater gegangen waren.

York Cragg war also um 19.15 Uhr noch am Leben gewesen, etwa fünfzehn Minuten, nachdem seine Frau und seine Freunde das Haus verlassen hatten; irgendwann zwischen diesem Zeitpunkt und neun Uhr am nächsten Morgen war er ermordet worden. Die Polizei rechnete nicht mit der Möglichkeit, dass er innerhalb der letzten vier Stunden, bevor seine Leiche gefunden wurde, ermordet worden war. Da Mrs. Cragg ab Mitternacht zu Hause gewesen war und jedes ungewöhnliche Geräusch gehört hätte, konnte man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass Cragg irgendwann zwischen der Zeit des Telefonanrufs um 19.15 Uhr und der Rückkehr seiner Frau um Mitternacht ermordet worden war.

Unter diesen Voraussetzungen begann also die Polizei am folgenden Morgen mit ihren gründlicheren Befragungen.

»Ich möchte Ihnen begreiflich machen, Mrs. Cragg, dass wir noch mehr als Sie daran interessiert sind, diesen Verbrecher vor Gericht zu bringen, und dass alles, was Sie uns möglicherweise über das Privatleben Ihres Mannes sagen können, von Bedeutung sein kann. Sir Jason wird uns sicher alle Informationen geben können, die sein Berufsleben betreffen, aber in allem andern muss ich mich auf Sie verlassen.«

»Ich fürchte, da gibt es sehr wenig, was ich Ihnen sagen kann, Inspector. Ich versichere Ihnen«, sie lächelte ganz schwach, »dass mein Mann kein Doppelleben führte. Ich glaube, ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich alles über ihn wusste.«

»Ah, ja.« Der Inspector blickte nachdenklich auf seinen Assistenten, der eifrig in seinem Notizheft kritzelte.

»Wir gingen von Zeit zu Zeit zum Pferderennen, aber denken Sie nur nicht, dass wir uns übermäßig engagierten; es war nur zum Vergnügen. Sie werden aus seinen Bankauszügen ersehen, dass alles in Ordnung war. Mein Schwiegervater, Sir Jason, zahlte meinem Mann für seine Dienste in der Reederei ein großzügiges Gehalt.«

»Wie steht es mit Freunden?«

»John Ramsgate war sein bester Freund. Was die anderen betrifft... nun... er hatte den üblichen Freundeskreis, meistens junge Leute. Wenn Sie wollen, kann ich die Liste der Leute raussuchen, die wir zu unserer Weihnachtsparty eingeladen haben; es waren ungefähr dreißig Personen. Aber ich glaube nicht, dass Sie unter ihnen einen möglichen Mörder finden werden, Inspector.«

»Jeder, meine liebe, junge Dame, ist ein möglicher Mörder; und jemand«, sagte er dunkel, »ist bestimmt einer. Wie Sie sehen, ist Ihr Mann ermordet worden; deshalb gibt es auch einen Mörder. So einfach ist das.«

»Einfach!«, wiederholte sie nachdenklich. »Ich glaube, Sie werden feststellen, Inspector, dass es sich hier um ein Verbrechen ohne Motiv handelt. Mein Mann erpresste niemanden, er besaß keine kostbaren Juwelen oder wertvollen Dokumente, er war kein reicher Erbe, er War nicht der Vater eines illegitimen, ungeborenen Kindes, er war kein Homosexueller, er war nicht einmal«, sagte sie mit dem Schatten eines Lächelns, »ein eineiiger Zwilling. Und Verbrechen ohne Motiv sind alles andere als einfach aufzuklären, nicht wahr?«

Der Inspector blieb ungerührt. »Sie haben etwas ausgelassen«, erinnerte er sie liebenswürdig, »den Freund, der für ein Verbrechen ins Gefängnis geschickt worden ist, das er nicht begangen hat, und der sich nach seiner Entlassung beeilt, an dem wirklich Schuldigen Rache zu nehmen, so wie er es während der Jahre der Haft geschworen hat.«

»Auch den werden Sie nicht finden«, antwortete sie ebenso liebenswürdig; »er war ehrlich und unbestechlich.«

»Ja, Mrs. Cragg. Aber Sie erwarten doch sicher nicht von mir, dass mir Ihr Wort genügt, oder? Ich werde alle Möglichkeiten, die Sie vorgeschlagen haben, überprüfen, denn, wie ich Sie eben erinnert habe, ist er wirklich ermordet worden, also muss es ein Motiv gegeben haben.«

Sie zuckte nur die Schultern und wartete geduldig auf weitere Fragen.

Später sagte der Inspector: »Sie ist eine bemerkenswerte junge Frau, diese Mrs. Cragg. Wie man mir erzählt hat, war sie früher Stewardess; wenn ich in einem brennenden Flugzeug vom Himmel stürzen würde und ihre Hand halten könnte, würde mir das helfen, glauben Sie mir, es würde mir helfen.«

 

 

 

Viertes Kapitel

 

 

»Mein Sohn und seine Frau haben sich angebetet«, sagte Sir Jason der Polizei. »Von dem Augenblick, wo sie sich beim Skilaufen in Österreich kennenlernten, waren sie ein Herz und eine Seele.« Er presste seine Hände zusammen, um zu zeigen, wie nahe sich das junge Paar gestanden hatte. »Ich wusste, dass York nicht heiraten würde, bis er das Gefühl

hatte, das richtige Mädchen gefunden zu haben. Hübsche Mädchen und ihre vernarrten Mamas sind immer en masse hinter ihm hergelaufen. Ein- oder zweimal sah es so aus, als ob er fallen würde, aber es wurde nie was draus. Mir lag natürlich sehr daran, dass er heiratete, ich will... ich wollte einen Enkel haben. Ich fragte York mehr als einmal, wann er heiraten würde, und er antwortete mir immer: Wenn ich das richtige Mädchen treffe, Dad! Schließlich begegnete er meiner Schwiegertochter, im letzten Frühling in Sankt Anton, wo sie, wie man mir erzählte, im Schnee herumstolperte. Sie war nie eine gute Skiläuferin, während mein Sohn trotz seiner Figur große Klasse war. Nun, da war es geschehen. Sie kannten sich da drüben ungefähr zwei Wochen. York stellte sie mir vor, sobald sie zurück waren; wohl kaum, um mich um Erlaubnis zu bitten, sie heiraten zu dürfen, aber es war eine Geste, die ich zu schätzen wusste. Ich gewann sie sofort lieb, wer würde das nicht tun? Sie ist ein prächtiges Mädchen; sie hat alles, was man sich wünscht: Sie ist hübsch, hat einen guten Charakter und glänzende Fähigkeiten. Natürlich hatte sie kein Geld, aber Gott sei Dank spielte das keine Rolle. Und ich bin ganz sicher, dass sie York nicht wegen seines Geldes geheiratet hat; sie ist nicht so.«

»Sie heirateten kurz danach?«

»Nein, meine Schwiegertochter arbeitete bei einer Fluggesellschaft als Stewardess; sie musste erst termingerecht kündigen. Und dann musste natürlich ein Haus oder eine Wohnung gefunden und eingerichtet werden. Insgesamt waren sie ungefähr sechs Monate verlobt, und während dieser Zeit, in der ich sie näher kennenlernte, wurde mir klar, dass mein Sohn ein feines Mädchen gewählt hatte. Ich war begeistert. Ich kaufte ihnen dieses Haus als Hochzeitsgeschenk. Sie heirateten, Moment, ja, es war Ende Juli; sie flogen nach Südfrankreich, wo sie die Flitterwochen verbrachten. Von da an hatte man allen Grund anzunehmen, dass es eine glückliche Ehe war. Ich meine, es gab keinen Zweifel, dass die beiden ganz ineinander aufgingen. Ich zweifle nicht daran, Inspector, dass Ihnen die Frage durch den Kopf gegangen ist, ob mein Sohn ein Doppelleben geführt hat; aber glauben Sie mir, das hat er nicht getan. Er war einer der ehrlichsten, offensten, ja, unkompliziertesten Menschen, die man sich vorstellen kann.«

Der Inspector nickte nachdenklich. »Ja, den Eindruck hat man von Ihrem Sohn«, stimmte er zu, »aber...«

»Aber er wurde ermordet!«

 

 

 

Fünftes Kapitel

 

 

Gefangen in jedem fetten Mann, so heißt es, ist ein dünner, der wilde Zeichen gibt, dass er hinausgelassen werden will. Aber der dünne Mann in Sir Jason Cragg, Direktor der Reederei Z.um Goldenen Vlies, der vom wilden Zeichengeben erschöpft war, war in den letzten Jahren ein schlappes, geschwächtes Wesen geworden, das kraftlos wirkte und keine Hoffnung mehr hatte. Sir Jason, der wahnsinnig erfolgreich war, hatte in dem frühen Alter von vierzig Jahren die Spitze seines ureigensten Baums oder Mastes erreicht; danach hatte er nichts mehr, was er erstreben konnte, und nichts, worauf er sich freuen konnte, als die Aussicht, vielleicht dreißig Jahre ein schwerreicher, vom Erfolg verwöhnter Mann zu sein. Obwohl er eine hektische Betriebsamkeit entfaltete, mit PANAM nach Amerika und zurückflog, mit BEA durch Europa sauste, Golf in Gleneagles spielte, fühlte sich der dünne Mann in ihm vereinsamt und enttäuscht. In seinem großen, heiteren und ganz und gar erfolgreichen Gesicht waren zwei hellbraune, traurige Augen, die an die Augen eines kleinen Hundes mit einem liebenswerten Wesen, aber einem – nicht durch eigene Schuld – missgebildeten Körper erinnerten.

Nach dem Naturgesetz des Wie die Dinge nun einmal sind hätte Sir Jasons Sohn ein Taugenichts, ein zweitklassiger Dichter oder ein erfolgloser Künstler werden müssen; aber nichts dergleichen geschah. York schien ein so vollkommener Sohn zu sein, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Er studierte Jura in Cambridge, machte ein gutes Examen und trat sofort in die Firma ein, wo er mit seinem überaus liebenswürdigen Wesen einen blendenden Stellvertreter abgab.

Sein Sohn entwickelte sich so gut, dass Sir Jason, beinah unbewusst, ein wenig Langeweile zu verspüren begann; er sehnte sich danach, dass sein Sohn heiratete und einen eigenen Sohn in die Welt setzte. Insgeheim sah sich Sir Jason schon in der Rolle des gütigen Großvaters, der seinem Enkel aus unzähligen Klemmen heraushalf, seine Schulden zahlte und ihm für den Umgang mit Frauen verstohlene Ratschläge erteilte.

Aber was war aus alldem geworden, fragte sich Sir Jason, während er sich in die bequemen Polster einer gemieteten Limousine zurücksinken ließ, die vom Krematorium zurücksurrte. Begräbnis im engsten Familienkreis, bitte keine Blumen und keine Briefe.