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Sie saß in einem Boulevard-Café in Paris und zeigte ihre hübschen Beine...
Der Mann mit dem Regenschirm nahm den Köder an - und die Falle schnappte zu.
Es war ein Mord, den sie von ihm verlangte. Und sie war daran gewöhnt, dass sie bekam, was sie wollte...
Der Roman Man töte dieses Weib! der britischen Schriftstellerin Joan M. Fleming (* 27. März 1908; † 15. November 1980) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im Jahr 1979.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
JOAN M. FLEMING
Man töte dieses Weib
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
MAN TÖTE DIESES WEIB!
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Sie saß in einem Boulevard-Café in Paris und zeigte ihre hübschen Beine...
Der Mann mit dem Regenschirm nahm den Köder an - und die Falle schnappte zu.
Es war ein Mord, den sie von ihm verlangte. Und sie war daran gewöhnt, dass sie bekam, was sie wollte...
Der Roman Man töte dieses Weib! der britischen Schriftstellerin Joan M. Fleming (* 27. März 1908; † 15. November 1980) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im Jahr 1979.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Es war ein Sonntagmorgen in Paris, frühlingshaft, aber trüb. Die Glasverschalungen vor den Straßencafés, die den Gästen während der Winterzeit ein Gefühl von Wärme vermitteln sollten, waren bei Frühlingsanfang abgebaut worden. Es war nicht übel, an einem Tischchen im Freien zu sitzen und etwas zu trinken, aber geradezu verlockend war es nicht.
Der Boulevard St. Germain ist eine sehr lange Straße. In der Gegend des Hôtel des Invalides, wo er anfängt, wirkt er noch sehr förmlich, wegen der Nähe des Quai d’Orsay, von wo aus Frankreich regiert wird, aber weiter östlich führt er ungeniert mitten durch die historische Place Maubert mit ihrem kleinen Markt und wird freundlich und nett.
Im ersten Café, zu dem man - noch in den nüchternen Gefilden - ostwärts schlendernd gelangt, saßen zwei Personen an verschiedenen Tischen, jede in ihre - beziehungsweise: seine - Gedanken versunken, die mit dem tristen Wetter im Einklang zu stehen schienen.
Der Mann trank Cognac, und zwar pur; eine Sodawasserflasche stand auf dem Tisch, aber sie war unberührt. Er war relativ klein, mit spitzen Luchsohren, und trug einen gutgeschnittenen, neu aussehenden Tweedanzug, dazu glänzend polierte Schuhe und champagnerfarbene Socken. Auf dem leeren Stuhl neben ihm stand eine Luftreisetasche der BEA aus Segeltuch, und über der Lehne hing ein Regenschirm.
Der Mann betrachtete die Beine des zweiten Gastes, eines Mädchens, versteht sich, aber nicht etwa gierig, sondern eher geistesabwesend, als dächte er an etwas ganz anderes.
Sie war kein ausgesprochen hübsches Mädchen, eher eine jolie-laide, was wörtlich übersetzt hübsch-hässlich bedeutet, eine Beschreibung, die sich auf manche Französinnen gut anwenden lässt. Sie hatte glänzend braunes Haar, das in riesigen Kommas zu beiden Seiten ihres Gesichts herabhing; wenn sie sich vorbeugte, berührten die beiden Spitzen einander vor ihrem Mund. Diese Frisur betonte die hochgelegenen Backenknochen und die schrägen, leicht slawischen Augen. Ihr großer Mund war momentan zu einem Schmollen verzogen, was auf schlechte Laune hindeutete.
Das Mädchen war zuerst dort gewesen. Sie hatte eine Segeltuchtasche der Air France bei sich. Sie war an der Gare des Invalides aus dem Zubringerbus gestiegen und durch die Straßen geschlendert, bis sie ein zu dieser Tageszeit schon geöffnetes Café gefunden hatte. Der Mann war später gekommen, aber beide befanden sich schon fast zwei Stunden dort. Das Mädchen hatte ein Glas mit Grenadine und Wasser vor sich auf dem Tisch stehen, aber während der letzten Stunde hatte sie etwa alle zehn Minuten einen grünen Chartreuse bestellt und getrunken. Mit jedem Glas hatte der Kellner einen neuen Kassenbon gebracht, und nun klemmte schon eine nette kleine Kollektion davon unter der Untertasse neben dem Glas.
Es war nun schon nach zehn Uhr, und die Straße wurde zusehends belebter; bald würden sich die Tische mit Gästen füllen, die sich einen morgendlichen Aperitif genehmigen wollten.
Wenn der junge Kellner sich nicht plötzlich des Mädchens bewusst geworden wäre, dem er eben zum sechsten Mal einen grünen Chartreuse serviert hatte, und sich prüfend nach ihr umgedreht hätte, dann hätten die beiden Gäste, der Mann und das Mädchen, das Terrassencafé bald verlassen und wären ihre eigenen Wege gegangen.
Wegen eines Nagels von einem Schuh, sagt man, wurden schon Schlachten verloren. Unsere Geschichte wurde durch einen weggeworfenen Knochen im Mülleimer der Küche hinter dem Café in Gang gebracht, einem Kotelett-Knochen, den ein ziemlich großer gelber Hund erwischte. Der Köter wetzte damit über die Terrasse. Da der Kellner sich umgedreht hatte und das trinkende Mädchen verwirrt musterte, bemerkte er den Hund nicht, und die beiden stießen zusammen. Der Kellner schlug der Länge nach zwischen den Tischen hin und riss ein paar Stühle mit um. Der Hund jaulte zwerchfellerschütternd, ließ den Knochen fallen, schnappte ihn wieder und sauste unter Lebensgefahr über die Straße.
Instinktiv sprangen beide Gäste auf und halfen dem daliegenden Kellner wieder auf die Beine.
»Mais voyons!«, rief das Mädchen aufgebracht.
»Na so was! Sind Sie verletzt?«, erkundigte sich der Mann.
Der Kellner hockte auf dem Stuhl, auf den sie ihn deponiert hatten, und strich sich durchs Haar, als wolle er es glätten. Nach ein paar Augenblicken gelangte er zu der Überzeugung, dass er nicht verletzt war. Während der Hilfeleistungen war der Rock des Mädchens immer höher hinaufgerutscht, und das lenkte den Kellner zunächst einmal von seinem Missgeschick ab. Dann erschien der Besitzer des Lokals an der Tür, um nachzusehen, was geschehen war, und der Kellner rappelte sich mit einem Wortschwall hoch und schwankte ins Innere. Der Besitzer folgte ihm und reichte ihm zur Kräftigung etwas zu trinken, während er ihn gleichzeitig ausschimpfte.
Der Mann warf dem Mädchen einen grämlichen Blick zu und sagte: »So ein Tölpel.« Es war eine von tausend Möglichkeiten, ein Gespräch anzuknüpfen.
Man mag so unglücklich sein, wie man will, selbst dem Elendsten fällt es nicht leicht, inmitten freundlicher Fremder schweigsam zu bleiben. Im Gegenteil, es ist ganz natürlich, dass man mit jemandem spricht, der nichts von einem weiß und den man vermutlich nie wiedersehen wird.
Sie bestätigten einander, welches Glück der Hund gehabt habe, dass er nicht unter den stürzenden Kellner geraten war, und jetzt, da er auf ihrem Gesicht den Anflug eines Lächelns gesehen hatte, fiel ihm erst auf, wie jung sie war, und er fragte, warum in aller Welt sie dieses klebrige Gesöff trank.
»Weil ich einmal gelesen habe, grüner Chartreuse ist das alkoholhaltigste Getränk, das es gibt«, antwortete sie auf Englisch, aber mit einem starken, reizvollen französischen Akzent.
»Ihnen wird übel werden«, warnte er.
»Das ist mir egal«, fauchte sie und trank ihr Glas leer.
Ein längeres Schweigen folgte, aber diesmal war es ein freundliches Schweigen. Zwei Männer setzten sich an einen der Tische, und der komplett wiederhergestellte Kellner kam in einer sauberen Schürze heraus und nahm ihre Bestellung entgegen.
Der Vorfall hatte zwischen dem Kellner, dem Mädchen und dem Mann eine Gemeinsamkeit hergestellt, so dass sie einander beinahe anlächelten. Der Mann bestellte noch zwei Drinks, um alles wieder in ein normales Gleis zu bringen; noch einmal dasselbe für das Mädchen und noch einen Cognac wie gehabt für sich selbst. Er holte Reisetasche und Regenschirm herüber und setzte sich neben das Mädchen.
»Aus England oder aus Frankreich?«, fragte er.
»Beides.«
»Ich bin so penetrant englisch... Man sieht es mir auf eine Meile an.«
»Gar nicht. Sie könnten Amerikaner sein. Oder Skandinavier. Oder Schweizer oder Deutscher oder - Belgier.«
»Aber Franzose bestimmt nicht.«
Sie sprachen über den Hund, über das triste Wetter, über den Ersten Mai und darüber, dass man auf den Straßen als Glücksbringer Maiglöckchen verkaufte.
Und dann fing das Mädchen zu weinen an.
»Da, trinken Sie«, sagte der Mann unvorsichtigerweise, denn es war bereits der siebente Chartreuse.
Sie weinte und weinte; der Mann lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Er blickte sich nervös um, ob jemand etwas bemerkte, und fragte sich, ob die bitteren Tränen, die da vergossen wurden, etwa gar etwas mit ihm zu tun hatten. Schließlich zog er sein bestes, unbenütztes Taschentuch aus der Brusttasche und reichte es über den Tisch.
»Da, nehmen Sie das. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich jemals zu einer solchen Geste aufschwingen würde.«
»Es ist meine Stiefmutter«, sagte sie, während sie sich das Gesicht abwischte. Obwohl sie perfekt englisch sprach, ließ sich der französische Akzent doch nicht verleugnen: sie betonte manchmal die falsche Silbe, hob manchmal das falsche Wort hervor. Er fand es unwiderstehlich.
»Ach, du meine Güte«, lachte er ungläubig. »Doch nicht etwa eine böse Stiefmutter?«
»Warum nicht?« Die Überraschung brachte endlich ihren Tränenfluss zum Stocken.
»Viel zu trivial, finden Sie nicht? Abgedroschen.« Er lächelte. »Sagen Sie mal, wie alt sind Sie?«
Sie starrte ihn kalt an.
»Ach was, unwichtig«, winkte er schnell ab. »Sie würden mir ja sowieso nicht die Wahrheit sagen.«
Sie wandte den Blick ab, schniefte beleidigt.
»Wie alt sind denn Sie?«, konterte sie.
»Mon dieu, Sie müssen ja ganz krank sein«, sagte er, um seinen Lapsus wiedergutzumachen. Mon dieu sprach er wie mong djuh aus.
Er fürchtete, sie würde vielleicht nicht weitersprechen. Vielleicht war das für sie der Moment, die Rechnung zu verlangen, die Reisetasche zu ergreifen, ihm kühl zuzunicken und ihn hier sitzen zu lassen... Verzweifelt und noch einsamer, als er sich schon gefühlt hatte, bevor der Kellner hingefallen war. Er zählte die Sekunden, und volle zwanzig kamen zusammen, bevor sie wieder sprach.
»Sie ist keine böse Stiefmutter in dem Sinne, wie Sie vielleicht denken. Im Gegenteil, sie ist sehr nett. Sie war seit jeher nichts anderes als nett. Nett, nett, nett, die Leute sind immerzu nett, aber sie verstehen einen nicht!« Sie schlug mit der Faust auf die Marmortischplatte, dass es wehtat, und das Haar fiel ihr übers Gesicht; sie starrte ihn an wie durch eine Hecke. »Der einzige Mensch, der mich je verstanden hat, ein bisschen wenigstens, war mein Vater, und der war sehr alt, als er starb. Er war schon sehr alt, als ich auf die Welt kam, und seine erste Frau auch; meine eigene Mutter war eigentlich zu alt, um mich zur Welt zu bringen, haben die Ärzte gesagt. Es ist ein Wunder, dass ich nicht geistig zurückgeblieben bin!« Der Gedanke schien sie zu faszinieren; sie dachte eine Weile nach und sagte dann: »Das ist es vermutlich, was mit mir los ist. Ich bin ein - wie heißt das - ein Menopausen-Kind...« Und auf einmal lachte sie wild und hysterisch und keuchend, und er blickte in höchster Verlegenheit um sich, denn die Caféterrasse füllte sich allmählich.
»Nun, wenigstens haben Sie Ihren Zustand diagnostiziert. Immerhin etwas.« Er machte eine Pause. »Pst... Pst!«, warnte er dann. »Sie fallen auf. Großer Gott, sind Sie betrunken!«
»Ich will nicht nach Hause zurück«, erklärte sie. »Ich gehe nicht zurück.« Und nach einer Pause: »Ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil Papa tot ist. Ich bin seither noch nicht zu Hause gewesen. Im vergangenen Oktober ist er gestorben. Zu Weihnachten war ich nicht daheim, ich war bei einer englischen Freundin. Ich bin - ich meine - ich gehe noch zur Schule.«
Er sagte: »Das habe ich mir gedacht.« In Wirklichkeit hatte er sich nichts dergleichen gedacht und war äußerst überrascht. »Wo ist das - zu Hause?«, fragte er rasch, bevor sie Zeit hatte, zu reagieren.
Sie machte eine Kopfbewegung. »Auf dem anderen Flussufer in einer Straße in der Nähe der amerikanischen Botschaft, aber die Gegend sieht schon ziemlich heruntergekommen aus. Wir haben eines von diesen alten Häusern, nicht sehr groß, aber imposant, mit einem Hof und einem zweiflügeligen Tor an der Straße. Ich bin buchstäblich eine Gefangene, ich komme nicht hinaus, ohne dass die Concierge es merkt, denn sie muss einen Hebel bedienen, der eine kleine Pforte im großen Tor öffnet. Niemand kommt herein oder hinaus, ohne dass sie es weiß. Ich liebe sie, aber sie hat schrecklich altmodische Ideen. Sie glaubt, Mädchen müssen in einem Verlies eingesperrt werden, bis ein Ritter auf einem Schimmel ankommt und sie befreit...« Und grundlos begann sie wieder zu weinen.
»Wäre es in diesem Fall nicht besser, in nüchternem Zustand zu Hause anzukommen?«
Trotz all der Tränen und des aufgelösten Haares kicherte sie. »Noch dazu aus der Schule!«
»Ich werde Sie begleiten«, erklärte er fest, »denn ich bezweifle, dass Sie es allein schaffen.«
Sie protestierte heftig.
»Sie werden schon sehen, wie Sie schwanken, sobald Sie zu laufen anfangen. Also, und jetzt bezahlen Sie brav die Rechnung...«
Er bedeutete dem Kellner, die Kassenzettel für seine eigenen Drinks ebenfalls einzusammeln und alles zusammenzuzählen. Das Mädchen fummelte in ihrer Handtasche zwischen englischen und französischen Banknoten herum. Schließlich bezahlte sie und gab dem Kellner ein unverhältnismäßig großes Trinkgeld.
»Schönen Dank, dass Sie für mich mitbezahlt haben«, sagte der Mann.
Er hängte sich den Regenschirm sorgfältig über den Arm, ergriff seine Luftreisetasche und führte das Mädchen auf die Straße hinaus.
Aber die Wirkung von sieben Glas Chartreuse lässt nach einem Spaziergang von zehn Minuten nicht nach. Das Mädchen stützte sich noch immer schwer auf seinen Arm, als sie den Quai d’Orsay erreichten. Er trug beide Reisetaschen, und ihre Handtasche hing ihr an einem langen Riemen von der Schulter. Ihr Heimweg schien geradeaus weiterzuführen, aber als sie die Straße überquert hatten und er das Mädchen auf die Brücke zu lotste, schüttelte sie den Kopf.
»Noch nicht, noch nicht! Mir ist so schlecht, so schlecht!«, stöhnte sie.
Sie gingen sehr langsam den Kai entlang in Richtung Hôtel des Invalides, und als sie die nächste Brücke erreichten, wusste er ein bisschen mehr von ihr. Er könne sich nicht vorstellen, erzählte sie, wie einsam ein französisches Mädchen sich in Paris vorkomme, wenn es nicht eine Schule oder Universität besucht; für sie gebe es kein gesellschaftliches Leben.
»Und das ist nicht der Fall«, sagte sie, »wegen der Anglomanie meines Vaters. Sobald er glaubte, ich sei alt genug - und das war ich gar nicht, denn ich war gerade zehn musste ich zu meiner sogenannten englischen Oma nach London übersiedeln und dort zur Schule gehen. Und als Oma starb, kam ich in dieses Internat.«
Sie schlurfte über das Pflaster in der Art eines schmollenden Kindes, das herumliegende Kieselsteine kickt.
»Wenn ich also während der Ferien nach Hause komme, dann habe ich überhaupt keine Freunde. Wenn man ein Mädchen nach England in die Schule schickt, macht man noch keine Engländerin aus ihr. Mein Vater schwärmte so für alles Englische, das können Sie sich nicht vorstellen!«
»Weiß Gott nicht«, sagte er grimmig. »Wir waren bei den Franzosen nie besonders populär.«
»Es kommt daher, dass viele Russen von englischen Gouvernanten erzogen wurden, in den oberen Schichten, heißt das, da hielt man das für schick. Entsetzlich, finden Sie nicht? Steifgestärkte Jungfrauen im ganzen Haus, die den Kindern Manieren beibringen? Mein Vater war jedenfalls anglophil, geradezu ein Anglomane, wie gesagt.«
»Erstaunlich für einen Franzosen.«
Sie rüttelte ihn am Arm. »Sie haben nicht zugehört, er war kein Franzose, er war Russe; mein Vater war einer von diesen russischen Emigranten, die in Paris Taxichauffeure wurden. Aber mein Vater war anders, er wollte wissen, was in einem Motor vorgeht, er war ein Autonarr; er lag lieber unter dem Wagen und reparierte ihn, als dass er den ganzen Tag lang damit herumfuhr. Er erfand irgendein Zusatzgerät für Automotoren und machte damit ein Vermögen. Aber er erzählte mir immer, dass er sich jahrelang abrackern musste, bevor er Erfolg hatte. Ob Sie’s glauben oder nicht: Mit dreiundsechzig hat er zum ersten Mal geheiratet! Kein Wunder also, wenn ich verkorkst bin, wie man so schön sagt. Und jetzt, glaube ich, muss ich kotzen.«
»Hoffentlich! Sie müssen das Zeug wieder loswerden, erst dann fühlen Sie sich wohl.«
Er führte sie auf die Brücke, die ihm ein dazu besser geeigneter Ort zu sein schien. Sie stützten die Ellbogen aufs Geländer und blickten flussaufwärts in Richtung Notre-Dame und hinunter auf das vorüberfließende Wasser.
»Irgendwie ist es ein Trost, dass andere Leute auch Sorgen haben«, sagte er schließlich. »Ich habe nämlich eine Vielzahl von eigenen.«
»Vielzahl«, wiederholte sie gedankenvoll, »was für ein Wort! Wer sind Sie?«
»Wer bin ich?«, wiederholte nun er. »Das frage ich mich selbst oft.«
»Sind Sie auch so unglücklich?«, murmelte sie desinteressiert; es wäre ihr nicht aufgefallen, wenn er nicht geantwortet hätte.
Er sagte: »Geben Sie acht, Sie machen die Ärmel Ihres Wildledermantels schmutzig auf dem Stein.«
»Das macht nichts«, murmelte sie, zog jedoch den Mantel aus und legte ihn neben sich aufs Geländer. Die Tasche hängte sie sich wieder über die Schulter.
»Unglücklich«, sagte er. »Oder auch glücklich! Wie naiv! Ich weiß nicht, was glücklich sein bedeutet.«
Sie schien nicht zugehört zu haben. Es entstand eine lange Pause, die sie mit der Bemerkung unterbrach, sie habe immer geglaubt, Alkohol heitere einen auf, sie aber fühle sich elender denn je. Ob er nicht weiterzugehen gedenke? Sie wolle allein sein. Er möge bitte machen, dass er fortkomme.
Später fragte er sich dann, wieso er zugelassen hatte, dass sie ihren Pass in den Fluss warf; im Moment des Geschehens sah er ihr einfach zu mit der Distanziertheit eines Kinobesuchers. Er sah, wie sie ihre Tasche öffnete, einen französischen Pass herauszog und ihn mit ausgestrecktem Arm fallen ließ. Er fiel nur langsam, aber er fiel, geradewegs und ungestört in der Windstille, landete sanft auf dem Fluss, wie ein Vogel, und trieb dort unten schnell davon. Normalerweise hätte er jetzt sagen müssen: Warum haben Sie das getan? Aber die ganze Episode hatte etwas Traumhaftes; er hatte vor kurzem das Gleiche getan, auf der Herrentoilette im Gare des Invalides, er hatte hinter der verriegelten Tür den harten Einband seines britischen Passes losgerissen und sorgfältig in kleine Teile zerfetzt und dann zugeschaut, wie alles verschwand, nacheinander, während er immer wieder die Wasserspülung betätigte. Auch sein Pass würde letzten Endes in die Seine gelangen. Es war weder komisch noch seltsam noch ein Zufall, heute war schlicht und einfach der Tag, an dem man seinen Pass wegwarf.
Es kam ihm vor wie eine Art Ritual, an dem sie beide wortlos teilhatten; das erste Glied in einer schrecklichen Kette der Gemeinsamkeit, viel zerstörerischer als das Joch, dem er gerade entronnen war.
»Und wenn es meine letzte gute Tat ist«, sagte er, »ich werde dafür sorgen, dass Sie sicher nach Hause gelangen. Übrigens wäre es, glaube ich, auch meine erste gute Tat, also warum soll ich nicht endlich mit den guten Taten anfangen.«
»Sie reden, als wollten Sie jeden Moment Selbstmord begehen.« Und sie lachte hysterisch, wie vorhin im Café; ein hysterisches, schrilles, freudloses Lachen. »Sie brauchen sich nicht einzureden, dass es eine gute Tat ist, wenn Sie mich nach Hause begleiten; ausgerechnet nach Hause! Meine Stiefmutter ist eine sexbesessene Großfürstin.«
Er drückte vorwurfsvoll ihren Arm. »Jetzt geben Sie an, das heißt, Sie fühlen sich wohler, Sie Enfant terrible!«
»Es ist wahr!«, rief sie und lachte noch immer. »Eine Großfürstin nur deshalb, weil sie meinen Vater geheiratet hat, und sexbesessen auch deshalb, weil er sie nämlich nicht aus den Augen gelassen hat! Vorher hatte sie in einem Pudelsalon gearbeitet...« Und sie brach ab und krümmte sich vor Lachen.
»Gleich werde ich Ihnen eine Ohrfeige geben«, drohte er. Offenbar war die Wirkung des Alkohols noch nicht abgeklungen, sondern hatte eben erst ihren Höhepunkt erreicht.
»Sehen Sie doch die beiden Gendarmen!«, quiekte sie und deutete auf zwei ganz gewöhnliche Polizeibeamte mit Schirmmütze und Cape, die sich übers Geländer des Quai d’Orsay beugten.
Er starrte ihr ängstlich und besorgt ins verquollene Gesicht. »Ich werde Sie den beiden übergeben«, sagte er, halb im Ernst. »Die werden Sie nach Hause geleiten.«
»Schon gut, schon gut, Sie blöder Engländer!«, rief sie, dann drehte sie sich ganz herum und deutete flussabwärts. »Schauen Sie! Schauen Sie doch!«
Er drehte sich ebenfalls um und blickte in die angedeutete Richtung, nämlich auf den Himmel über dem Eiffelturm, einen grauen Himmel voller niedrig hängender Wolken.
Noch während er nach Südwest schaute, gewahrte er ihre Bewegungen, aber es ging alles so schnell vor sich, dass er nicht eingreifen konnte. Die Schrecksekunde zwischen Wahrnehmung und Reaktion war zu lang, wie immer bei ihm.
Der Pont Alexandre III, benannt nach einem russischen Zaren, ist eine für Selbstmörder gut geeignete Brücke, denn sie bietet einen durch keinerlei Steinvorsprünge gebremsten Sturz in den Fluss. Der Vorgang kann unauffällig, reibungslos und mit dem gewünschten Resultat erfolgen, es sei denn, er wird aus der Nähe von zwei Polizeibeamten beobachtet, zumal französischen Polizeibeamten, die sehr auf Draht sind.
Kaum hatte sie die Wasseroberfläche berührt, schrillte auch schon eine Trillerpfeife. Andere Polizeibeamte tauchten von irgendwoher auf. Der neblige graue Morgen war auf einmal voll von Schlagstöcken, flatternden Capes, lustigen Mützen und einem gallischen Übermaß an Geschrei und Pfeifengeschrill, wie man es nur in Frankreich erleben kann.
»Sie ist eine Exhibitionistin!«, rief der Engländer verärgert, weil er sich irgendwie betrogen vorkam. »Sie hat es nur getan, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie hat es nur gewagt, weil sie wusste, dass zwei Polizisten Zusehen! Nein, ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Ich habe keine Ahnung, wo sie wohnt. Sie bedeutet mir nichts. Ich kenne sie kaum eine Stunde lang. Ich habe sie nie zuvor gesehen, das kann ich beschwören.«
»Vous parlez français?«
»Nein, zum Teufel, nein!«
Wie ein Torpedo flitzte unten auf dem Fluss ein kleines Motorboot los, aber der Engländer hielt es nicht für nötig, zuzusehen, was sich ereignete. Es war ihm egal, ob sie ertrank oder gerettet wurde. Er war wütend, ohne recht zu wissen, warum. Automatisch ergriff er die beiden Segeltuchtaschen und den Mantel und ging davon, ließ den Tumult und das Geschrei hinter sich.
Unbemerkt überquerte er die Brücke und bog auf den Quai de la Conference ein. Er marschierte an der Flussmauer entlang, weil er zu verdrossen war, um auf die andere Straßenseite zu gehen, und überhaupt hatte er keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte.
Nach einer Weile überquerte er die Straße dann doch, weil sich auf der anderen Seite Bäume und Klappstühle befanden. Er setzte sich. Das ist es, sich mit Cognac Mut antrinken, dachte er bitter. Womit verdienst du deinen Lebensunterhalt, mein sehr Verehrter? murmelte er. Mit Köpfchen. Na und, Verehrtester? Es rostet langsam ein, das ist es. Ich habe es satt. Da murmelst du vor dich hin wie ein alter Landstreicher, da sitzt du auf einem Gartenstuhl an einem kühlen Morgen.
Aber seine Schuhe waren noch sauber und glänzten wie frischgefallene Kastanien.
»Aber meine Schuhe sind sauber«, sagte er laut und blickte sich um, ob jemand ihn gehört hatte. Aber es gab keine Fußgänger in der Nähe, nur Verkehr, der glatt und gefügig vorüberrollte.
Noch war er also nicht ganz unten angelangt: seine Schuhe glänzten noch. Vielleicht war das mit dem Selbstmord nur so eine Schnapsidee gewesen. Selbstmord begehen kann jeder Pennäler, dachte er, es ist abgedroschen; und wenn es etwas gab, was er - wenn auch ohne Erfolg - zu vermeiden trachtete, dann war es das Gewöhnliche. Er beugte sich vor, als hätte er Magenschmerzen, und starrte auf seine Schuhe hinab, die ihm Stärke verliehen, Mut.
Er langte in die Tasche und zog die Pillen heraus, die er sich verschafft hatte, fünfundzwanzig Stück, rund und flach und gelb. Er hielt die Glasröhre knapp über den Boden, schüttete alles auf einen kleinen Haufen und zermalmte ihn mit dem Schuhabsatz zu Pulver. Eine alte Frau mit einem verstaubten Hund näherte sich, er lehnte sich zurück, blickte hin. Der Hund rannte schnüffelnd hin und her; er wetzte heran, schnüffelte an dem gelben Pulver, hob das Bein und rannte weiter. Der junge Mann ertappte sich dabei, wie er lachte; die alte Frau drehte sich erschrocken um, und sein Lachen gefror zu einem Lächeln. Er schaute zum Pont Alexandre III hinüber, sah eine kleine Menschenansammlung, und eine andere weiter unten auf dem Kai.
Er sprang auf und lief zurück.
Als er atemlos ankam, schlossen sie gerade die Tür des Krankenwagens.
»Ah, Monsieur! Vous etais avec Mademoiselle, n’est-ce pas?«Sie nahmen seine Anwesenheit wie selbstverständlich hin, nahmen offenbar an, er gehöre zu dem Mädchen, und öffneten die Tür des Sanitätsautos. Er stieg ein, noch immer bepackt mit den beiden Reisetaschen, dem Schirm, dem Wildledermantel und der Damenhandtasche mit Schulterriemen.
Im Wagen befanden sich zwei Krankenpfleger in Hemdsärmeln und bewachten die Patientin, die sie sicherlich künstlich beatmet hatten, vermutlich von Mund zu Mund. Das hat ihnen bestimmt Spaß gemacht, dachte er verdrossen. Sie redeten überschwenglich und aufgeregt auf ihn ein.
»Moment mal, Moment!« wehrte er sich gereizt. »Ich spreche kein Französisch, verstanden? Nix parlez-vous!«
Sie lag da wie eine Leiche, das weiße Gesicht ragte unter der groben Decke hervor, von feuchten Haarsträhnen umgeben, die Augen waren nicht einfach geschlossen, sondern krampfhaft zusammengepresst, wie mit Absicht.
»Il est anglais!«, rief sie schließlich, noch immer mit geschlossenen Augen.
Das brachte die Männer zum Schweigen. Anglais, das klang ziemlich roh, wenn man es so hörte.
Im Wartezimmer der Notaufnahme des Hotel Dieu saßen zwei ältere Frauen und strickten. Direkte Nachfahren der tricoteuses, die weiland Tag für Tag, Woche für Woche unter der Guillotine saßen und strickten und zusahen, wie den Aristokraten die Köpfe abgeschlagen wurden.
Hier eine Probe ihres Dialogs:
»Ah, meine liebe Didi! Das war ein hübscher junger Mann!«
»Findest du? Ich nicht, mir hat der vorherige besser gefallen. Ein bisschen klein zwar, aber...«
»Aber Didi, weißt du denn nicht, dass die zu kurz geratenen Männer die potentesten sind?«
Diese obszöne Bemerkung findet den Beifall ihrer Freundin, und beide lachen schallend.
Fast zweihundert Jahre später saßen ihre Nachfahren gar nicht so weit von dem Platz entfernt, wo die Guillotine gestanden hatte, in der gleichen Gemütsverfassung und strickten und beobachteten, was um sie herum vorging.
»Ah, meine liebe Didi! Das Mädchen hat versucht, sich vor den Augen ihres Geliebten zu ertränken. Sieh mal, er tut so, als ginge ihn das gar nichts an.«
»Schade, dass es ihr nicht gelungen ist!«
»Voyons, Didi! Du bist doch nicht eifersüchtig auf den da? Unmöglich. Schau ihn dir bloß an!«
»Ein hübscher junger Mann, mit seinen hellen Socken und den glänzenden Schuhen!«
»Findest du? Ich - nein, ich nicht. Du musst genauer hinsehen. Vorzeitig schütteres Haar, zu wenig Selbstsicherheit in den Bewegungen - siehst du, wie er nervös hierhin und dorthin blickt?«
»Mit Recht, wir starren ihn ja beide an.«
»Für mich ist das ein jungfräulicher Knabe in den sozusagen besten Jahren.«
Die Freundin prustete heraus, der Wollknäuel entglitt ihr und rollte eine weite Strecke über den glänzenden Krankenhausboden. Umständlich holte sie ihn ein, wickelte ihn auf und lachte immer noch, als sie sich wieder niederließ.
»Was für eine überspitzte Ansicht!«
»Un anglais!«, sagte die andere und schnaubte verächtlich.
»Ganz klar.«
»Hörst du, Didi? Sie ist niemand, hat keine Familie, keine Adresse. Ihr Freund hat sie nach Paris gebracht. Den Sprung in den Fluss hat sie anscheinend gut überstanden. Schau, jetzt richtet sie sich auf, in ihrer Krankenhauskleidung, und sagt ihm ihre Meinung! Ich frage mich, was für eine seltsame Geschichte verbirgt sich wohl hinter diesem unbedeutenden Vorfall?«
Die alte Didi glotzte durch ihre metalleingefasste Brille. Zweifellos besaß sie eine vorzügliche Zahnprothese und trug sie auch, wenn sie morgens in die Kirche ging. Hier jedoch, in der Ambulanz des Krankenhauses, wohin sie ihre Freundin begleitete, die sich jeden Sonntagmorgen zur Behandlung einfand, hier war sie zum Vergnügen, und also hatte Didi das Gebiss zu Hause gelassen. Daher wirkte ihr breites, verzücktes Lächeln weniger erfreulich als vielmehr haarsträubend.
»Schau, schau doch, wer es ist!« Sie bohrte ihren säbelgleichen Ellbogen in die Rippen der Freundin, deren Schmerz durch das Erstaunen über das, was sie sah, sogleich gelindert wurde. Sie stieß einen ellenlangen französischen Fluch aus.
Die alte Didi rückte ihre Brille zurecht und glotzte wieder. »Tatsächlich! Elphines Sprössling! Oh, was ist sie doch für eine feine Dame!«
Fasziniert verfolgten sie jede Einzelheit, um sie in Bälde mit sämtlichen denkbaren Anspielungen wiederkäuen zu können.
»Er wird sie nicht verlassen können, seine Geliebte, darüber scheint er sich im Klaren zu sein!«
»Sein Regenschirm, er hält ihn die ganze Zeit wie ein Kreuzritter sein Schwert. Gleich wird er den Aufnahmearzt damit niederstechen!«
»Der Provinztrottel!«
Trotz aller Menschenkenntnis war sie offenbar nicht weitgereist, denn sie verstand nicht den Unterschied zwischen einem provençalischen Bauern, der immerzu mit einem Regenschirm herumläuft, und einem Großstadtmenschen, für den der Regenschirm gewissermaßen zur Uniform gehört.
Die fahrbare Liege mit dem Mädchen unter der roten Krankenhausdecke entschwand, gefolgt von dem Regenschirmträger, ihren Blicken.
Zum ersten Mal, seit sie sich allsonntäglich im Hotel Dieu einfanden, warteten sie ungeduldig, dass die Nicht-Didi zur Behandlung aufgerufen wurde. Sie wollten es endlich hinter sich haben, um ihre Freundin Elphine mit der Neuigkeit überfallen zu können.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er heiser, als sie sich allein im Vorzimmer befanden und darauf warteten, dass die Kleider des Mädchens trockneten.
»Es kratzt mich im Hals, und die Brust tut mir weh. Ich habe eine Menge Flusswasser von mir gegeben. Es tut mir weh, wo sie mich mit dem Gesicht nach unten aufs Pflaster gedrückt haben.«
»Können Sie nicht schwimmen?«, fragte er verärgert.
»Doch.«
»Warum sind Sie dann nicht geschwommen?«
»Weil ich ertrinken wollte, natürlich«, antwortete sie mit einer gewissen stolzen Genugtuung.
»Warum?«
»Weil das Weiterleben so ein Problem ist. Ich bin faul, wirklich, ich habe keine Lust, nachzudenken, was ich als nächstes tun soll. Ich habe schon alles getan.« Seit ihr Gesichtsausdruck sich verändert hatte, war sie nicht mehr hübsch-hässlich, sondern eindeutig hübsch. Sie warf den Kopf von einer Seite auf die andere, und er sah die Linie von Hals, Kinn, Wange und Schläfe vor dem zurückgestrichenen Haar. Sie war beinahe schön. Jetzt, da sie das Äußerste versucht hatte, nämlich sich umzubringen, hoben sich ihre Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns. »Setzen Sie sich«, krächzte sie. »Gleich wird es mir besser gehen, und dann können wir uns aus dem Staub machen.«
Er folgte ihrer Aufforderung, stellte die Reisetaschen ab, saß da, den Regenschirm zwischen den Knien, und starrte sie lange Zeit an. Schließlich wusste er nicht mehr, wo er sich befand, starrte traumverloren und lutschte am Griff des Regenschirms.
Arm in Arm verließen sie das Hotel Dieu, Freunde, verbunden durch eine emotionelle Erfahrung; beinahe schon alte Freunde.
»Wie, um alles in der Welt, haben Sie es geschafft, dass Sie weder Ihren Namen noch Ihre Adresse angeben mussten?«
»Oh, Georges, wie schlecht ist doch Ihr Französisch!«
»So schlecht ist es gar nicht«, entgegnete er steif. »Ich hatte in der Schule immer gute Noten.«
»Typisch! Sie verstehen kein Wort, aber das ist ganz gut so. Ich habe einen falschen Namen angegeben und gesagt, ich bin mit Ihnen
aus England gekommen. Sie haben nichts davon verstanden, stimmt’s?«
Er schüttelte den Kopf.
»Oh, Georges!«
Sie schritten aus, als hätten sie ein Ziel, und schwiegen eine Weile. Sie blickte ihn von der Seite an: Sein Gesicht war hochrot, die Lippen waren missbilligend zusammengepresst.
»Sie haben gedacht, wir hatten Krach miteinander, wie bei Verliebten üblich.« Sie schüttelte seinen Arm. »Was ist los?« Und dann noch einmal: »Was ist los? Was haben Sie denn?«
»Warum nennen Sie mich Georges?«
»Weil Sie so aussehen. Was ist los?« Sie blieb stehen und lachte ihm übermütig ins Gesicht. »Sie heißen Georges! Es stimmt doch, oder nicht? Sagen Sie schon, stimmt es?«
Endlich nickte er, mit dem Anflug eines widerstrebenden Lächelns, und nachdem sie zu lachen aufgehört hatte, nahm sie wieder seinen Arm. »Nun ja, warum nicht, die meisten Engländer heißen Georges, oder? Es ist gar nichts Besonderes, wenn man es errät, es ist nur lustig.«
Um die Ecke, in einem Terrassencafé zu Füßen von Notre-Dame, nahmen sie Platz und bestellten Kaffee, Semmeln und Butter. Die Sonne setzte sich allmählich durch, schluckte den Dunst über dem Fluss, und es wurde warm.
»Also Georges - und wie noch?« Ihr Haar war jetzt trocken und hatte zu beiden Seiten ihres Gesichtes wieder die Form eines großen, schwungvollen Kommas angenommen.
»Da kommen Sie nie drauf«, sagte er fest, »und ich werde es Ihnen nie verraten.«
»Ich werde in Ihrem Pass nachsehen!«
»Das werden Sie nicht. Diese alten Klamotten habe ich endgültig abgestreift.«
»Sie meinen - Ihren alten Namen? Das ist sehr gescheit, Georges. Auch ich habe das Gefühl, mein Name ist wie ein Haufen alter Kleider, die ich nicht mehr anziehen will.«
Er schaute sie gequält an, sagte jedoch nichts.
»Aber irgendwie müssen Sie mich nennen, nicht wahr?« Sie knabberte nachdenklich an ihrem Zeigefinger. »Sie könnten meinen alten Namen bestimmt nicht aussprechen. Und außerdem war ich sehr, sehr unglücklich damit.«
Die tiefen, etwas falsch klingenden Glocken von Notre-Dame ertönten und riefen die Frommen zum Mittagsgebet.
»Wie alt sind Sie, Georges?«
»Warum sollte ich Ihnen das verraten?«
»Warum nicht?«
»Es ist nicht wichtig.«
»Mein Name ist auch nicht wichtig.«
»Stimmt«, lenkte er endlich ein. »Aber, wie gesagt, irgendwie muss ich Sie nennen.«
»Euer Held Robängsong...«
»Robinson?«