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Die ganze Wahrheit über Dornröschen, Schneewittchen & Co: der zweite Band von Chris Colfers großer internationaler Bestsellerserie! Das magische Land der Geschichten wird von einer düsteren Bedrohung heimgesucht: Die böse Zauberin ist zurück und hat die Mutter der Zwillinge entführt, um sie alle zu erpressen. Alex und ihr Bruder Conners müssen erneut über in das magische Land reisen, sonst sehen sie ihre Mutter womöglich nie wieder! Bald schon sind sie auf der Suche nach einem seltenen Artefakt, dem sogenannten »Stab des Staunens«. Um seine Kraft nutzen zu können, begeben sich die Geschwister an die am meisten gefürchteten Orte im ganzen magischen Land – denn nur so können sie der Zauberin Einhalt gebieten!
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Seitenzahl: 682
Chris Colfer
Die Rückkehr der Zauberin
Das magische Land der Geschichten wird von einer düsteren Bedrohung heimgesucht: Die böse Zauberin ist zurück, und sie hat die Mutter der Zwillinge entführt, um deren Großmutter zu erpressen. Alex und ihr Bruder Conner müssen erneut in das magische Land reisen, sonst sehen sie ihre Mutter womöglich nie wieder! Bald schon sind sie auf der Suche nach einem seltenen Artefakt, das sie vielleicht retten kann – doch dafür müssen sie sich zu den grauenvollsten Orten im ganzen magischen Land begeben ...
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Chris Colfer ist Schauspieler und Autor. Bekannt wurde er vor allem durch die Rolle des Kurt Hummel in »Glee«, für die er unter anderem 2011 mit dem Golden Globe Award ausgezeichnet wurde. Alle »Land of Stories«-Bände erschienen auf der New York Times-Bestsellerliste.
Für Hannah.
Dafür, dass Du der mutigste, stärkste
und ehrlichste Mensch bist, den ich kenne.
Und weil Du mir gezeigt hast, dass man unmöglich »verflucht« sein kann,
wenn man ein so tapferes Herz wie Deines besitzt.
Außerdem habe ich Dir mein erstes blaues Auge zu verdanken –
Du warst vier, ich war neun.
Es tut immer noch weh.
Bubba hat Dich lieb.
»Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.«
Albert Einstein
Der Osten feierte das größte Freudenfest aller Zeiten: Jeden Tag zogen Paraden durch die Dorfstraßen, Häuser und Läden waren mit bunten Bannern und Kränzen geschmückt, und die Leute am Wegrand warfen fröhlich Blütenblätter in die Luft, die sanft zu Boden schwebten. Alle Bürger trugen ein Lächeln im Gesicht, so stolz waren sie auf das, was sie kürzlich erreicht hatten.
Über ein Jahrzehnt hatte das Schlafende Königreich dafür gebraucht, sich vollends von dem schrecklichen Fluch zu erholen, mit dem es einst belegt worden war – doch nun war es wieder zu jenem blühenden und wohlhabenden Land erstarkt, das es einst gewesen war. Die Menschen im Osten hatten große Pläne für ihre Zukunft, und so gaben sie ihrer Heimat auch den früheren Namen zurück: Östliches Königreich.
Höhepunkt und Abschluss der Festwoche bildete eine Feier im großen Saal von Königin Dornröschens Schloss. Es schien, als wäre das gesamte Königreich angereist, so viele waren gekommen, und teilweise mussten die Besucher stehen oder auf Fenstersimsen Platz nehmen. Die Königin selbst, ihr Ehemann König Chase und der königliche Berater saßen an einem hohen Tisch am Kopfende des Raums.
In der Mitte des Saals fand eine kleine Aufführung statt: Eine Theatergruppe spielte Dornröschens Leben nach – die Schauspieler verkörperten die Feen, die das Baby gesegnet hatten, und auch die böse Zauberin, deren Fluch die Prinzessin hatte töten sollen, sobald sie sich mit der Spindel eines Spinnrades in den Finger stäche. Zum Glück war es einer anderen Fee gelungen, diesen Fluch so zu verändern, dass er nach dem schicksalhaften Stich die Prinzessin und das gesamte Königreich einfach in einen hundertjährigen Schlaf hatte fallen lassen. Besonders an der Szene, in der König Chase Dornröschen schließlich geküsst und alle wieder aufgeweckt hatte, hatten die Darsteller sichtlich ihre Freude.
»Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir uns alle von den kleinen Geschenken trennen, die die Königin uns gemacht hat«, rief eine Frau aus dem hinteren Teil des Raums. Sie kletterte auf einen Tisch und deutete fröhlich auf ihr Handgelenk.
Sämtliche Bürger des Königreichs trugen Gummibänder aus Baumharz am Arm. In den vergangenen Monaten hatte Königin Dornröschen sie angewiesen, die Bänder schnalzen zu lassen, wann immer sie sich am Tage müde fühlten. Dieser Kniff hatte den Menschen geholfen, wach zu bleiben und auch die letzten Nachwirkungen des Fluchs zu überwinden.
Inzwischen jedoch waren die Bänder glücklicherweise überflüssig. Alle Gäste im Saal rissen sie sich gleichzeitig von den Handgelenken und warfen sie freudig in die Höhe.
»Euer Majestät, wollt Ihr uns nicht noch einmal erzählen, wie Ihr auf solch einen Trick gekommen seid?«, wandte ein Mann sich an die Königin.
»Ihr werdet mich für sonderbar halten, wenn ich es Euch verrate«, meinte Dornröschen. »Ein Junge hat mir den Tipp gegeben. Vor einem Jahr haben er und seine Schwester das Schloss besucht; er hat mir berichtet, dass er in der Schule ein solches Band verwendet, um sich wach zu halten, und vorgeschlagen, ich solle es in meinem Königreich ebenfalls ausprobieren.«
»Bemerkenswert!«, staunte der Mann und lachte mit ihr.
»Faszinierend, nicht wahr? Ich finde, Kinder haben immer die außergewöhnlichsten und großartigsten Ideen«, gestand die Königin. »Wenn wir doch alle so scharfsinnig und aufmerksam durch die Welt gehen würden – dann würden wir feststellen, dass die einfachsten Lösungen für die größten Probleme manchmal direkt vor unserer Nase liegen.«
Dornröschen schlug behutsam einen Löffel gegen ihr Glas. Dann erhob sie sich und sprach zu ihren erwartungsvollen Untertanen.
»Freunde«, rief sie und hob ihr Glas. »Heute ist ein ganz besonderer Tag in unserer Geschichte – und ein noch wunderbarerer Tag für unsere Zukunft. Mit dem heutigen Morgen befinden sich die Handelsbeziehungen, die landwirtschaftlichen Erträge und der generelle Wachheitsgrad unseres Königreichs nicht nur auf demselben, sondern sogar auf einem besseren Stand als vor dem Schlaffluch!«
Ihr Volk jubelte so laut, dass das ganze Schloss von dem Freudentaumel erbebte. Dornröschen warf einen Blick zur Seite und schenkte ihrem Ehemann ein warmes Lächeln, das dieser erwiderte.
»Wir dürfen den furchtbaren Fluch, der hinter uns liegt, nicht vergessen – doch wenn wir auf diese finstere Zeit zurückschauen, dann lasst uns vor allem daran denken, wie wir sie überwunden haben«, fuhr Dornröschen fort. Ein paar Tränen hatten sich in ihren Augenwinkeln gesammelt. »Dieser Triumph soll all jenen, die uns schaden wollen, eine Warnung sein: Das Östliche Königreich ist zurück, es ist stark und steht zusammen gegen alle dunklen Mächte, die sich ihm in den Weg stellen!«
Begeisterter Beifall ertönte und erschütterte den Saal so heftig, dass ein Mann tatsächlich von seinem Fenstersims fiel.
»Nie habe ich größeren Stolz dabei empfunden, in Eurer Mitte zu stehen, als heute Abend! Ein Hoch auf Euch alle!«, prostete die überglückliche Königin, und der ganze Raum führte geschlossen die Gläser zum Mund.
»Ein Hoch auf Königin Dornröschen!«, rief ein Mann in der Mitte des Saals.
»Ein Hoch auf die Königin!«, tönte es aus der Menge zurück. »Sie lebe hoch! Hoch! Hoch!«
Dornröschen winkte ihnen anmutig zu und nahm dann Platz. Die Feierlichkeiten erstreckten sich noch über viele Stunden, doch um kurz vor Mitternacht überkam die Königin ein seltsames Gefühl – eines, das sie schon seit Jahren nicht mehr verspürt hatte.
»Na, so was, das ist ja merkwürdig«, murmelte sie leise vor sich hin und starrte ein wenig gedankenverloren und mit einem Lächeln auf den Lippen in die Ferne.
»Stimmt etwas nicht, Liebes?«, erkundigte sich König Chase.
Dornröschen stand auf und wandte sich zur Treppe hinter den Thronsesseln.
»Du musst mich entschuldigen, mein Liebster«, raunte sie ihrem Ehemann zu. »Ich bin wirklich müde.«
Das überraschte sie selbst ebenso wie ihn, denn seit Jahren schon hatte Dornröschen nicht mehr geschlafen. Die Königin hatte ihren Untertanen geschworen, dass sie erst wieder ruhen wolle, wenn das Reich gänzlich wiederhergestellt sei; nun sagte ein Blick auf all die fröhlichen Gesichter im Saal dem Königspaar, dass Dornröschen ihr Versprechen erfüllt hatte.
»Gute Nacht, Liebes, schlaf gut«, sagte König Chase und küsste ihre Hand.
In ihren Gemächern zog die Königin ihr liebstes Nachthemd an und schlüpfte zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren in ihr Bett. Es fühlte sich an wie ein Wiedersehen mit einem guten Freund. Sie hatte ganz vergessen gehabt, wie herrlich es war, die kühlen Laken an den Armen und Beinen und das weiche Kissen unter ihrem Kopf zu spüren, und wie wunderbar, sich in die Matratze sinken zu lassen.
Der Lärm des Fests drang bis in Dornröschens Kammern, doch er störte sie nicht im Geringsten; vielmehr empfand sie die Geräusche als beruhigend. Die Königin atmete tief durch und fiel in einen sehr tiefen Schlaf – beinahe so tief wie jener während des hundertjährigen Fluchs. Diesmal allerdings wusste sie, dass sie jederzeit wieder daraus erwachen konnte.
Als König Chase sich später zu ihr gesellte, huschte ihm beim Anblick seiner friedlich schlummernden Frau unwillkürlich ein Lächeln über das Gesicht. Seit jenem Tag, an dem er sie zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte, hatte er sie so nicht mehr gesehen.
Im großen Saal ging die Feier schließlich zu Ende. Die Lampen und auch die Feuer in sämtlichen Kaminen des Schlosses wurden gelöscht, und die Bediensteten zogen sich in ihre Unterkünfte zurück, nachdem sie die letzten Spuren des ausgelassenen Abends beseitigt hatten.
Endlich kehrte Ruhe im Schloss ein. Einige Stunden vor Sonnenaufgang jedoch wurde die Stille jäh durchbrochen. Ein donnerndes Klopfen an der Tür ihrer Gemächer ließ Dornröschen und König Chase aus dem Schlaf fahren.
»Majestäten!«, rief ein Mann von der anderen Seite der Tür. »Vergebt mir, aber wir müssen hineinkommen!«
Die Tür wurde aufgerissen, und der königliche Berater stürmte in den Raum, gefolgt von einem Dutzend Soldaten in Uniform. Sie sammelten sich im Halbkreis um das Bett.
»Was um alles in der Welt soll das?!«, brüllte König Chase. »Wie könnt Ihr es wagen, in unsere privaten –«
»Es tut mir so leid, Euer Majestät, doch wir müssen die Königin unverzüglich in Sicherheit bringen«, keuchte der Berater.
»In Sicherheit?«, fragte Dornröschen entgeistert.
»Wir erklären Euch alles unterwegs, Euer Majestät«, sagte der Berater. »Nun allerdings müsst Ihr schnellstmöglich in die Kutsche steigen – Ihr allein. So nämlich wird es weitaus weniger auffallen, als wenn Ihr zusammen mit dem König aufbrechen würdet.«
Im flehenden Blick des Beraters lag höchste Verzweiflung. Die Königin erstarrte.
»Chase?!«, wandte Dornröschen sich an ihren Ehemann – sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Auch dem König hatte es die Sprache verschlagen. »Wenn sie sagen, dass du gehen musst, dann musst du gehen«, war alles, was er herausbrachte.
»Ich kann mein Volk nicht im Stich lassen«, beharrte Dornröschen.
»Bei allem gebührenden Respekt, Euer Majestät: Tot seid Ihr niemandem von Nutzen«, gab der Berater zu bedenken.
Dornröschen spürte, wie ihr der Magen in die Kniekehlen rutschte. Wie meinte er das – tot?
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatten die Wachen sie aus dem Bett gehoben und auf die Füße gestellt. Rasch führten die Männer sie und den Berater aus der Tür. Ihr blieb nicht einmal Zeit, sich zu verabschieden.
Die Gruppe hastete auf einer gewundenen Treppe mehrere Stockwerke abwärts. Unter den bloßen Füßen der Königin fühlten sich die steinernen Stufen rau und kalt an.
»Bitte – sagt mir, was hier vor sich geht!«, drängte Dornröschen.
»Wir müssen Euch aus dem Königreich schaffen, und das so schnell wie möglich«, erklärte der Berater.
»Wieso?«, wollte sie wissen und wand sich aus dem Griff der Wachposten, die ihr Geleit gaben. Niemand antwortete ihr, bis sie stocksteif mitten auf der Treppe stehen blieb. »Keinen Schritt gehe ich weiter, ehe jemand mich in Kenntnis gesetzt hat! Ich bin die Königin! Es ist mein Recht, Bescheid zu wissen!«
Der königliche Berater erbleichte.
»Ich möchte Euch nicht noch mehr beunruhigen, Euer Majestät«, flüsterte er mit zitternder Stimme. »Aber um kurz nach Mitternacht, als alle Gäste nach Hause gegangen waren, haben zwei Soldaten nahe dem Eingangsportal des Schlosses einen hellen Lichtblitz gesehen, und aus dem Nichts ist ein Spinnrad erschienen.«
Dornröschens Augen wurden groß, und alle Farbe wich ihr aus dem Gesicht.
»Zunächst haben sie nicht geglaubt, dass es ein Anlass zu ernstlicher Sorge sein könnte – eher vielleicht ein alberner Streich, um die Feierlichkeiten heute Abend zu stören«, fuhr der Berater fort. »Als sie jedoch das Spinnrad genauer untersuchen wollten, ist es in Flammen aufgegangen. Und in diesem Moment ist noch etwas anderes passiert.«
»Und was?«, hakte Dornröschen sofort nach.
»Die Ranken und Dornensträucher, die während des Schlafzaubers das Schloss überwuchert hatten – all jene Pflanzen, die fortgeschafft und in der Dornengrube versenkt wurden –, haben wieder zu wachsen begonnen«, gestand er. »Nie im Leben habe ich etwas so schnell wuchern sehen; inzwischen ist beinahe das halbe Schloss davon bedeckt. Die Gewächse verschlingen noch das gesamte Königreich.«
»Wollt Ihr mir damit sagen, dass der Fluch, der über der Dornengrube liegt, sich im ganzen Reich ausbreitet?«, fragte die Königin.
»Nein, Euer Majestät«, meinte der Berater und schluckte hörbar. »Diesen Fluch hat ja lediglich eine alte Hexe ausgesprochen. Hier haben wir es mit dunkler Magie zu tun – mit sehr mächtiger dunkler Magie! Einer Magie, wie ihr unser Königreich bisher nur einmal ausgesetzt war.«
»Nein«, keuchte Dornröschen und schlug sich eine Hand auf den Mund. »Ihr glaubt doch nicht etwa –«
»Doch, ich fürchte schon«, sagte der Berater. »Und nun widersetzt Euch bitte nicht länger – wir müssen Euch schnellstmöglich außer Landes bringen.«
Die Wachen packten die Königin wieder am Arm und eilten mit ihr tiefer ins Schloss hinab; diesmal wehrte sie sich nicht. Gemeinsam rannten alle die Stufen hinunter, bis sie im Erdgeschoss des Gebäudes angelangt waren. Sie stürzten durch ein paar hölzerner Doppeltüren, und mit einem Mal fand sich Dornröschen in den Stallungen wieder.
Vor ihr waren vier Kutschen aufgereiht. Um jede hatte sich ein Dutzend berittener Soldaten gruppiert, bereit zum sofortigen Aufbruch. Drei der Gefährte leuchteten golden; sie stammten aus der privaten Sammlung der Königin. Nun allerdings wurde Dornröschen zur vierten Kutsche geführt – einer kleinen, tristen und unscheinbaren. Die Soldaten, die sie umstanden, trugen keine Rüstung wie die übrigen, sondern waren als Farmer und gewöhnliche Bürger aus der Stadt verkleidet.
Die Wachen hoben die Königin hinein; im Innern hatte sie kaum genügend Platz, sich bequem hinzusetzen.
»Was ist mit meinem Mann?«, wollte Dornröschen wissen und streckte eine Hand aus, um zu verhindern, dass der Wagenschlag sich hinter ihr schloss.
»Ihm wird nichts zustoßen, Euer Majestät«, versicherte ihr der königliche Berater. »Der König und ich werden ebenfalls abreisen, sobald wir die weiteren Kutschen zur Täuschung losgeschickt haben. Das alles war bereits geplant – für den Fall, dass das Schloss jemals angegriffen werden sollte. Vertraut mir, es ist die sicherste Vorgehensweise.«
»Solche Pläne habe ich nie in Auftrag gegeben!«, empörte sich Dornröschen.
»Nein, sie sind noch auf Anweisung Eurer Eltern entworfen worden«, bestätigte der Berater. »Eine der letzten Anordnungen, die sie vor ihrem Tod gemacht haben.«
Diese Offenbarung ließ das Herz der Königin noch heftiger pochen. Ihre Eltern hatten den Großteil ihres Lebens dem Versuch verschrieben, Dornröschen zu schützen, und selbst im Tod bemühten sie sich noch immer darum.
»Wohin bringt Ihr mich?«, fragte Dornröschen.
»Fürs Erste ins Königreich der Feen«, erklärte der Berater. »Beim Rat der Feen seid Ihr derzeit am sichersten. Die übrigen Kutschen werden zur Ablenkung in andere Richtungen fahren. Nun aber müsst Ihr Euch beeilen.«
Sanft schob er sie vollends ins Wageninnere und schloss mit Nachdruck hinter ihr die Tür. Selbst das Dutzend berittener Wachen, das sich um ihre kleine Kutsche scharte, konnte die Königin nur wenig beruhigen. Sie wusste, dass niemand ihr in der gegenwärtigen Situation wirklich Schutz bieten konnte.
Der königliche Berater nickte den anderen Gefährten zu, und sie setzten sich in Bewegung. Einige Augenblicke später gab er auch Dornröschens Kutscher ein Zeichen, und wie eine Kanonenkugel schoss ihr Wagen in die Nacht hinaus, wobei die Hufe der Pferde nur so donnerten.
Durch das winzige Kutschenfenster sah Dornröschen nun das ganze Ausmaß des Schreckens, den der Berater ihr beschrieben hatte.
Überall auf dem Schlossgelände tummelten sich Soldaten und Dienstpersonal, die den wildwuchernden Dornensträuchern und Ranken zu Leibe rückten. Die Pflanzen wuchsen direkt aus dem Boden und griffen ihre Widersacher an wie Schlangen, die sich um ihre Beute winden. Die Ranken krochen an der Fassade des Schlosses empor, barsten durch Fenster und zogen Menschen ins Freie, ließen sie Hunderte Meter hoch in der Luft baumeln.
Dornen und Ranken schossen nun auch aus der Erde auf Dornröschens Wagen zu, doch die Soldaten hackten sie schnell und geschickt mit ihren Schwertern zurück.
Nie zuvor in ihrem Leben hatte Königin Dornröschen sich derart hilflos gefühlt. Sie erspähte Leute aus dem Dorf, die – zum Teil in Rufweite ihrer Kutsche – den blättrigen Ungeheuern zum Opfer fielen, und sie konnte nur tatenlos zusehen und hoffen, dass sie im Königreich der Feen Hilfe finden würde. Dass sie ihren Ehemann und ihr Königreich zurückließ, lastete als schwere Schuld auf ihr, doch der Berater hatte recht: Tot wäre sie niemandem von Nutzen.
In ihrem Rücken wurde das Schloss kleiner und kleiner, während ihr Wagen all die Verwüstung hinter sich ließ. Bald schon rumpelte die Kutsche durch einen Wald, und rundum drängten sich Bäume, so weit das Auge reichte.
Selbst nach Stunden hatte Dornröschens Furcht noch nicht nachgelassen. Immer wieder flüsterte sie »Wir sind fast da … wir sind fast da …« vor sich hin, obwohl sie keinerlei Ahnung hatte, wie weit der Weg noch sein mochte.
Plötzlich erklang aus den Bäumen ein schriller Pfeifton. Dornröschen drückte gerade rechtzeitig die Nase ans Fenster, um zu sehen, wie ein Soldat und sein Pferd in hohem Bogen in den Wald neben dem Pfad geschleudert wurden. Ein weiteres Zischen schallte auf die Reisegruppe zu, und noch eine berittene Wache katapultierte es samt Pferd auf der anderen Seite des Weges ins Gestrüpp. Sie waren entdeckt worden!
Nun folgten die panischen Schreie der Soldaten und Pferde im Sekundentakt, während immer mehr von ihnen durch die Luft flogen. Was auch immer dort draußen war, es erledigte ein Gespann nach dem anderen.
Dornröschen duckte sich zitternd auf die Holzbohlen des Kutschenbodens. Sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis alle Soldaten außer Gefecht gesetzt wären.
Ein letzter Angriff schaltete die verbliebenen Pferde und Reiter aus; ihre Klagelaute hallten durch die Nacht. Da kippte der Wagen um und krachte zu Boden, wo er weiterrutschte und erst nach einigen Metern zum Liegen kam. Nun war es totenstill im Wald. Kein Laut von den verletzten Männern und Tieren war zu hören. Die Königin war vollkommen allein.
Dornröschen kletterte durch die Tür der Kutsche ins Freie. Sie humpelte und hielt sich das linke Handgelenk, doch sie war von ihrer Angst noch so überwältigt, dass sie die Verletzungen kaum spürte.
War die Attacke vorüber? Konnte sie gefahrlos um Hilfe rufen oder nach Überlebenden suchen? Gewiss hätte doch das, was sich irgendwo im Dickicht verbergen musste, sie längst erledigt, wenn es sie hätte tot sehen wollen.
Gerade wollte die Königin sich bemerkbar machen, als ein blendender violetter Blitz den Wald erhellte. Dornröschen schrie auf, warf sich auf den Waldboden und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen – doch das grelle Licht hielt sich nur eine Sekunde. Dann roch die junge Frau Rauch, kam auf die Füße und blickte sich um. Um sie herum stand alles in Flammen, und jeder einzelne Baum hatte sich in ein Spinnrad verwandelt.
Nun ließ es sich nicht mehr leugnen: Die größte Furcht des Königreichs hatte sich bewahrheitet.
»Die Zauberin«, flüsterte Dornröschen. »Sie ist zurück.«
Das sanfte Ruckeln des Zuges schaukelte Alex Bailey wach. Sie blickte sich im leeren Abteil um, während die Erinnerung daran, wo sie sich befand, langsam zu ihr zurückkehrte. Das dreizehnjährige Mädchen stieß einen langen Seufzer aus und schob eine rotblonde Haarsträhne, die sich gelöst hatte, zurück unter ihren Haarreif.
»Nicht schon wieder«, murmelte sie leise vor sich hin.
Alex hasste es, in der Öffentlichkeit einzunicken. Sie war ein ausgesprochen intelligentes und ehrgeiziges Mädchen und wollte niemandem einen falschen Eindruck von sich vermitteln. Zum Glück waren außer ihr nur wenige Leute im Fünf-Uhr-Zug zurück in die Stadt unterwegs, so dass ihr kleiner Patzer unbemerkt geblieben war.
Alex war schon immer eine außergewöhnlich begabte Schülerin gewesen. Tatsächlich überflügelte sie ihre Klassenkameraden derart, dass sie für ein Förderprogramm ausgewählt worden war und nun am College im Nachbarort einen zusätzlichen Kurs belegen durfte.
Weil ihre Mutter den größten Teil des Tages bei der Arbeit im Kinderkrankenhaus verbrachte und ihre Tochter nicht mit dem Auto bringen konnte, radelte Alex jeden Donnerstag nach der Schule mit dem Fahrrad zum Bahnhof und fuhr die kurze Strecke in die nächste Stadt von dort mit den Zug. Zwar hatte ihre Mutter anfangs Bedenken gehabt, Alex den Weg alleine zurücklegen zu lassen – doch sie wusste, dass ihre Tochter gut zurechtkommen würde. Diese kurze Reise war schließlich nichts im Vergleich zu gewissen Dingen, die Alex in der Vergangenheit bereits bewältigt hatte.
Alex liebte den Kurs des Förderprogramms. Zum ersten Mal überhaupt bot sich ihr die Gelegenheit, etwas über Kunst und Geschichte und fremde Sprachen zu lernen, noch dazu in einem Umfeld, in dem auch alle anderen lernen wollten. Wann immer ihre Lehrer Fragen stellten, war Alex nun eine von vielen, die ihre Hände hoben, um die richtige Antwort zu geben.
Außerdem verschaffte die wöchentliche Zugfahrt Alex eine kleine Auszeit. Sie konnte aus dem Fenster schauen und die Gedanken schweifen lassen, während der Zug durch die Landschaft ratterte. So wurde die Zeit im Zug zur entspannendsten ihres ganzen Tages, und dass Alex ein wenig schläfrig wurde, kam häufiger vor, auch wenn sie nur selten so wie heute komplett einnickte.
Normalerweise war ihr das beim Aufwachen stets ein wenig peinlich, doch diesmal empfand sie zusätzlich eine Spur Ärger. Denn der bedrückende Traum, aus dem sie soeben geschreckt war, hatte sie im vergangenen Jahr schon oft gequält.
Alex hatte geträumt, dass sie zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Conner barfuß durch einen wunderschönen Wald gerannt war.
»Wer zuerst an der Hütte ist!«, hatte Conner mit breitem Grinsen gerufen. Er sah seiner Schwester enorm ähnlich, war jedoch dank seines jüngsten Wachstumsschubs inzwischen gute zehn Zentimeter größer als sie.
»Los geht’s!«, hatte Alex lachend erwidert, und beide waren losgerast.
Völlig sorglos jagten sie einander durch die Bäume und über saftig grüne Wiesen. Um Trolle, Wölfe oder böse Königinnen mussten sie sich keinerlei Gedanken machen, denn wo immer Alex und Conner im Traum auch waren: Sie wussten, dass ihnen nicht das Geringste zustoßen konnte.
Schließlich kam eine kleine Hütte in Sicht. Die Zwillinge stürmten darauf zu und legten all ihre Energie in den Endspurt.
»Erste!«, rief Alex, als ihre Handflächen eine Millisekunde vor denen ihres Bruders an der Haustür anschlugen.
»Das ist unfair!«, protestierte Conner. »Meine Füße sind platter als deine!«
Alex kicherte und versuchte, die Tür zu öffnen, doch die Hütte war verschlossen. Alex klopfte, doch niemand ließ die Kinder herein.
»Das ist komisch«, sagte Alex. »Grandma wusste doch, dass wir zu Besuch kommen; ich frage mich, wieso sie abgeschlossen hat.«
Zusammen mit ihrem Bruder spähte sie durch das Fenster. Im Innern konnten die beiden ihre Großmutter erkennen: Sie saß in einem Schaukelstuhl vor dem Kamin, wippte langsam vor und zurück und wirkte traurig.
»Grandma, wir sind da!«, rief Alex und klopfte fröhlich an die Scheibe. »Mach die Tür auf!«
Ihre Großmutter rührte sich nicht.
»Grandma?«, wiederholte Alex und pochte nun etwas fester gegen das Fenster. »Grandma, wir sind’s! Wir wollen dich besuchen!«
Erst jetzt hob Grandma leicht den Kopf und erwiderte den Blick der Kinder, blieb jedoch sitzen.
»Lass uns rein!«, drängte Alex und hämmerte dabei regelrecht gegen das Glas.
Conner schüttelte den Kopf. »Das hat keinen Zweck, Alex. Wir kommen nicht rein.« Er wandte sich ab und machte in jene Richtung kehrt, aus der er und seine Schwester gekommen waren.
»Conner, geh nicht weg!«, rief Alex ihm nach.
»Was soll das?«, entgegnete er über die Schulter. »Sie will uns ganz eindeutig nicht bei sich haben.«
Daraufhin begann Alex, mit aller Kraft an die Scheibe zu trommeln – so fest, dass sie beinahe zersprungen wäre. »Grandma, lass uns herein! Wir wollen reinkommen! Bitte!«
Aber Grandma starrte nur mit leerem Blick zu ihr hoch.
»Grandma, ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, aber was es auch gewesen ist: Es tut mir leid! Bitte lass mich wieder rein!«, flehte Alex, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Ich will reinkommen! Ich will zu dir rein!«
Grandmas ausdruckslose Miene verzog sich zu einem Stirnrunzeln, und dann schüttelte sie den Kopf. In diesem Moment wurde Alex endgültig klar, dass ihre Großmutter sie nicht hereinlassen würde – und jedes Mal, wenn sie im Traum zu dieser Erkenntnis kam, wurde sie wach.
Auch diesmal war es also kein angenehmer Traum gewesen, doch es hatte sich so gut angefühlt, wieder einmal in einem Wald zu sein und das Gesicht ihrer Großmutter zu sehen … Wofür der Traum stand, wusste Alex ganz genau, schon seit sie ihn zum ersten Mal geträumt hatte.
Dennoch hatte es sich diesmal anders angefühlt, als sie aus der vertrauten Szene erwacht war: Alex wurde den Eindruck nicht los, dass jemand sie beim Schlafen beobachtet hatte.
Im ersten Moment, nachdem sie aus dem Schlummer hochgefahren war, hatte sie zwar nicht genau darauf geachtet – doch jetzt hätte sie schwören können, dass sie am anderen Ende des Zugabteils kurz ihre Großmutter wahrgenommen hatte.
Konnte das wirklich und wahrhaftig sein, oder spielte ihre Phantasie ihr lediglich einen Streich? Dass Grandma tatsächlich dort gesessen hatte, schien Alex nicht vollkommen unmöglich. Ihre Großmutter war zu einer ganzen Menge Dinge fähig …
Über ein Jahr war es nun her, dass die Geschwister Alex und Conner Bailey das größte Geheimnis ihrer Familie aufgedeckt hatten. Als ihre Großmutter den beiden ein altes Geschichtenbuch geschenkt hatte, hätten die Kinder niemals erwartet, dass dieses Buch sie auf magische Weise in die Märchenwelt befördern würde – und nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätten sie sich vorstellen können, dass ihre Großmutter und auch ihr verstorbener Vater ursprünglich aus dieser Welt stammten.
Alex und Conner waren anschließend durch die Königreiche des sogenannten magischen Landes gereist und hatten sich mit all den Figuren angefreundet, von denen sie in ihrer Kindheit gelesen hatten; es war das großartigste Abenteuer ihres Lebens gewesen. Die allergrößte Überraschung aber hatte am Ende auf sie gewartet: Da nämlich hatten die Zwillinge erfahren, dass ihre eigene Großmutter Aschenputtels gute Fee war.
Grandma hatte die beiden schließlich gefunden und wieder nach Hause zu ihrer besorgten Mutter gebracht.
»Ich musste euren Lehrern erzählen, ihr wärt an Windpocken erkrankt«, hatte Charlotte, die Mutter der beiden, gesagt. »Ich musste mir eine gute Begründung dafür einfallen lassen, dass ihr zwei Wochen lang verschwunden wart, und dachte, dass mir wohl kaum jemand glauben würde, wenn ich behaupte, ihr reist gerade durch eine andere Dimension.«
»Windpocken?«, jammerte Conner nur. »Mom, hättest du dir nicht irgendetwas Cooleres ausdenken können? Zum Beispiel einen Spinnenbiss oder eine Lebensmittelvergiftung?«
»Wusstest du die ganze Zeit über, wo wir waren?«, fragte Alex.
»Das auszuknobeln war nicht allzu schwer«, meinte Charlotte. »Als ich von der Arbeit nach Hause gekommen war, bin ich in dein Zimmer gegangen und habe das Buch – Das magische Land – auf dem Boden liegen sehen. Es hat immer noch geleuchtet.«
Sie warf einen Blick auf das große, smaragdgrüne Märchenbuch, das Grandma nun in Händen hielt.
»Hast du dir Sorgen gemacht?«, fragte Conner.
»Natürlich«, antwortete seine Mutter. »Nicht unbedingt, dass euch etwas zustößt, sondern, dass ihr das alles nicht verkraftet. Ich hatte Angst, dass euch dieses Erlebnis verstören würde, deshalb habe ich sofort eure Großmutter angerufen. Zum Glück war sie gerade in unserer Welt und mit ihren Freunden unterwegs. Doch als dann zwei Wochen vergangen waren und ich noch immer keine Ahnung hatte, wo ihr wart … na, sagen wir einfach, ich hoffe, so etwas muss ich nie wieder durchmachen.«
»Dann wusstest du also über alles Bescheid?«, bohrte Alex nach.
»Ja«, gab ihre Mutter zu. »Euer Dad wollte es euch eines Tages erzählen; leider hat er nie die Möglichkeit dazu bekommen.«
»Wie hast du es herausgefunden?«, fragte Conner. »Wann hat Dad es dir gesagt? Hast du ihm direkt geglaubt?«
Charlotte lächelte, als sie sich daran erinnerte. »Vom ersten Moment an, da ich euren Vater gesehen hatte, war mir klar, dass etwas an ihm anders war«, gestand sie. »Damals hatte ich gerade meine erste Arbeitswoche als Krankenschwester in der Kinderklinik begonnen, und eure Großmutter kam mit ein paar Freunden vorbei, um den kleinen Patienten Geschichten vorzulesen. Völlig hingerissen war ich allerdings von dem gutaussehenden jungen Mann, der sie begleitete. Er schien mir so sonderbar; immerzu blickte er sich völlig erstaunt um. Als er den Fernseher entdeckt hatte, dachte ich, er würde in Ohnmacht fallen.«
»Das war Johns erster Ausflug in diese Welt«, fügte Grandma mit einem Lächeln hinzu.
»Er bat mich, ihn in der Klinik herumzuführen, und das habe ich getan«, schilderte Charlotte weiter. »Er war so fasziniert von allem, was ich ihm erklärte: von den Operationen, die wir durchführten, den Medikamenten, die wir verwendeten, und den Patienten, die bei uns in Behandlung waren. Er fragte, ob wir uns später, nach dem Ende meiner Schicht, noch einmal treffen wollten, damit ich ihm noch mehr erzählen könnte. Letztlich haben wir uns zwei Monate lang regelmäßig verabredet und allmählich ineinander verliebt. Bis er plötzlich ohne jede Vorwarnung verschwand. Drei ganze Jahre lang habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Die Zwillinge spähten zu ihrer Großmutter hinüber, da sie einen Teil der Geschichte schon kannten.
»Ich habe ihn gezwungen, mit mir in die Märchenwelt zurückzukehren, und ihm verboten, eure Mutter wiederzusehen«, räumte Grandma ein wenig zerknirscht ein. »Ich hatte meine Gründe, wie ihr wisst, und trotzdem war es ganz und gar falsch von mir.«
»Und dann hat er den Wunschzauber entdeckt und angefangen, genau wie wir die Gegenstände dafür zusammenzutragen, damit er auf anderem Weg zu dir zurückkommen konnte«, wandte Alex sich ganz aufgeregt an ihre Mutter.
»Und er hat in Wirklichkeit gar nicht so lange dafür gebraucht; so schien es nur, weil wir noch nicht geboren waren und vorher eine Zeitverschiebung zwischen den beiden Welten bestand«, ergänzte Conner.
Charlotte und Grandma nickten beide.
»Eines Tages bin ich ihm im Krankenhaus wiederbegegnet«, setzte Charlotte ihre Erzählung fort. »Er sah so erschöpft und schmutzig aus, als wäre er gerade aus dem Krieg heimgekehrt. Er hat mich angesehen und gesagt: ›Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, um dich wiedersehen zu können.‹ Einen Monat später haben wir geheiratet, und im Jahr darauf sind wir Eltern geworden. Um also eure Frage zu beantworten: Nein, es ist mir nicht schwergefallen, zu glauben, dass euer Vater aus einer anderen Welt stammte – denn irgendwie hatte ich es von Beginn an gewusst.«
Alex griff in ihre Tasche und zog das alte Tagebuch ihres Vaters hervor, das er auf seiner Suche nach den Utensilien für den Wunschzauber geführt hatte. Es war dasselbe Tagebuch, dem sie und ihr Bruder auf ihrer eigenen Suche gefolgt waren.
»Hier, Mom«, sagte Alex. »Jetzt kannst du genau nachlesen, wie sehr Dad dich geliebt hat.«
Charlotte starrte auf das Tagebuch hinunter und wagte kaum, es entgegenzunehmen. Schließlich aber schlug sie es auf. Als sie die Schrift ihres verstorbenen Ehemannes erkannte, stiegen ihr Tränen in die Augen.
»Danke, mein Schatz«, flüsterte sie.
»Nur, damit du es weißt«, mischte Conner sich ein, »Alex und ich haben das alles auch geschafft. Wir sind ebenfalls ziemlich großartig. Vergiss das nicht, falls du in Zukunft mal das Bedürfnis verspürst, uns Taschengeld zu geben.«
Charlotte warf ihrem Sohn im Spaß einen bösen Blick zu. Alle wussten, dass sie es sich nicht leisten konnte, ihren Kindern Taschengeld zu zahlen. Seit dem Tod ihres Mannes hatte die Mutter der Zwillinge ihre liebe Mühe, die Familie über die Runden zu bringen und die Schulden von seiner Beerdigung abzustottern. Nun allerdings wurde Alex nachdenklich: Wenn ihre Familie doch so viele Beziehungen in der Märchenwelt hatte, wieso genau war ihr Leben dann im vergangenen Jahr so hart und schwierig gewesen?
»Mom«, sagte Alex, »warum müssen wir so sehr kämpfen, wenn doch Grandma einfach ihren Zauberstab schwingen und alles besser machen könnte?«
Conner sah zu seiner Mutter hinüber und dachte heimlich dasselbe. Die Großmutter der Zwillinge schwieg – diese Frage musste ihre Schwiegertochter selbst beantworten.
»Weil euer Vater das nicht gewollt hätte«, sagte Charlotte nach einem Augenblick. »Er hat unsere Welt so sehr geliebt. Hier haben wir uns kennengelernt, hier seid ihr beiden geboren, und hier wollte er euch großziehen. Er stammte aus einer Welt voller Könige und Königinnen und Magie; einer Welt voller Geburtsrechte und Ruhm und unverdientem Reichtum – Dinge, von denen er glaubte, dass sie den Charakter der Menschen ruinierten. Er wollte, dass ihr zwei an einem Ort aufwachst, an dem ihr alles, was ihr euch nur wünscht, bekommen könnt, wenn ihr nur hart genug dafür arbeitet. Und auch, wenn uns hin und wieder ein klein wenig Magie viel geholfen hätte, habe ich versucht, seinen Willen zu respektieren.«
Alex und Conner sahen einander an. Vielleicht hatte ihr Dad recht. Hätten sie das, was sie in den vergangenen Wochen geschafft hatten, auch bewältigen können, wenn sie anders erzogen worden wären? Wäre es ihnen gelungen, alle Gegenstände für den Wunschzauber zu sammeln oder der bösen Königin die Stirn zu bieten, wenn ihr Vater ihnen nicht beigebracht hätte, an sich selbst zu glauben?
»Und wie geht es jetzt weiter?«, wollte Conner wissen.
»Was meinst du damit, Conner?«, fragte Grandma zurück.
»Na ja – unser Leben wird doch jetzt mit Sicherheit vollkommen anders«, erklärte Conner mit leuchtenden Augen. »Nachdem wir zwei Wochen lang am laufenden Band nur ganz knapp Trollen, Wölfen, Kobolden, Hexen und bösen Königinnen entkommen sind, kann gewiss niemand von uns verlangen, nun wieder ganz normal zur Schule zu gehen. Dafür sind wir eindeutig zu traumatisiert, stimmt’s, Alex?«
Charlotte und Grandma sahen einander an und brachen in Gelächter aus.
»Das heißt dann wohl, wir müssen doch wieder in die Schule?«, murrte Conner. Das Leuchten in seinen Augen verblasste.
»Netter Versuch«, antwortete seine Mutter zwinkernd. »Jede Familie hat ihr Päckchen zu tragen, aber das heißt nicht, dass ihr deswegen die Schule vernachlässigen könnt.«
»So ein Glück!«, seufzte Alex erleichtert. »Ich hatte schon Sorge, ihr könntet wirklich ernsthaft über Conners Vorschlag nachdenken.«
Grandma warf einen Blick auf die Uhr. »Die Sonne geht bald auf«, sagte sie. »Wir haben die ganze Nacht durchgeplaudert. Nun muss ich aber los.«
»Wann sehen wir dich wieder?«, fragte Alex. »Wann können wir zurück ins magische Land?« Diese Frage hatte Alex stellen wollen, seit sie und ihr Bruder die Märchenwelt verlassen hatten. Grandma sah auf ihre Füße hinunter und dachte einen Augenblick nach, bevor sie antwortete.
»Ihr habt ein ganz furchtbar großes Abenteuer erlebt«, entgegnete sie. »Und jetzt ist es erst einmal wichtig, dass ihr euch auf euer Leben als Zwölfjährige in dieser Welt konzentriert. Genießt eure Kindheit, solange ihr es noch könnt, Kinder. Aber eines Tages – das verspreche ich euch – werde ich euch wieder mit zurücknehmen.«
Das war nicht die Antwort, die Alex sich erhofft hatte; dennoch nickte sie. Doch eine weitere Frage lag ihr seit der vergangenen Nacht auf der Zunge.
»Bringst du uns irgendwann Magie bei, Grandma?«, bettelte Alex mit großen Augen. »Ich meine, da Conner und ich immerhin zu einem Teil Feen sind, wäre es sicher gut, das eine oder andere zu beherrschen.«
»Das habe ich ja vollkommen vergessen!«, rief Conner und schlug sich eine Hand gegen die Stirn. »Bitte, haltet mich da raus. Ich will keine Fee sein – das kann ich gar nicht genug betonen.«
Grandma war plötzlich ganz still. Sie schielte zu Charlotte hinüber, die nur mit den Schultern zuckte.
»Zum rechten Zeitpunkt, mein Schatz, nichts lieber als das«, sagte Grandma an Alex gewandt. »Im Augenblick allerdings muss ich mit dem Rat der Feen erst einige Dinge klären, die ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen – aber darüber braucht ihr beiden euch keine Gedanken zu machen. Sobald wir alles abgearbeitet haben, würde ich euch gern ein wenig Magie beibringen.«
Grandma nahm ihre Enkel in den Arm und drückte Alex und Conner jeweils einen Kuss auf den Scheitel.
»Ich glaube, es wird am besten sein, wenn ich das hier mitnehme«, sagte sie schmunzelnd und deutete auf das Märchenbuch. »Wir wollen schließlich nicht, dass die Geschichte sich wiederholt.«
Dann machte sie sich auf den Weg zur Haustür. Ihre Hand lag bereits auf dem Türknauf, als sie innehielt und sich noch einmal umdrehte.
»Da fällt mir ein: Ich bin ja gar nicht mit dem Auto hier«, sagte sie verschmitzt lächelnd. »Sieht ganz so aus, als müsste ich auf altmodische Feenart abreisen. Auf Wiedersehen, Kinder, ich liebe euch von ganzem Herzen.«
Und langsam verschwanden die Umrisse ihrer Großmutter – sie hatte sich zu einer weichen, schillernden Wolke verflüchtigt.
»Wow, das ist mal etwas, das ich schon gern lernen würde«, räumte Conner ein. Er fuhr mit den Händen durch die glitzernden Funken. »Für diese Lektion könnt ihr mich eintragen.«
Alex gähnte und steckte damit ihren Bruder an
»Ihr zwei müsst vollkommen erschöpft sein«, hatte ihre Mutter bemerkt. »Warum geht ihr nicht zu Bett? Ich nehme mir morgen frei, damit ich für euch da sein kann, falls ihr noch Fragen habt. Und auch schlicht und einfach, weil ich euch vermisst habe.«
»Wenn das so ist, dann habe ich noch eine wichtige Frage«, hatte Conner eingeworfen. »Was gibt’s zum Frühstück? Ich bin am Verhungern.«
Endlich fuhr Alex’ Zug in den Bahnhof ein. Sie hievte ihr Fahrrad auf den Bahnsteig, und während sie nach Hause radelte, kreisten ihre Gedanken immer noch um ihre Großmutter.
Nachdem sie und ihr Bruder das magische Land entdeckt hatten, hatte Alex erwartet, künftig ein Leben in zwei Welten zu führen und die Sommer und sämtliche Ferien mit Conner im Königreich der Feen oder bei ihrer Großmutter in Cinderellas Palast zu verbringen. Sie hatte auf ein völlig neues Leben voller Magie und Abenteuer gehofft. Leider jedoch war sie enttäuscht worden.
Mehr als ein Jahr war seit jener Nacht vergangen, in der die Großmutter der Zwillinge sich von den beiden verabschiedet hatte. Seither hatten Alex und Conner nicht einen einzigen Brief oder Anruf erhalten – keinerlei Erklärung, weshalb sie so lange fortblieb. Sämtliche Feiertage und auch den Geburtstag der Geschwister hatte Grandma versäumt – Tage, die sie noch nie einfach vergessen hatte. Und, was die ganze Sache noch schlimmer machte: In all dieser Zeit waren Alex und Conner kein einziges Mal wieder im magischen Land gewesen.
Obwohl sie eigentlich nicht böse auf ihre Großmutter sein wollten, nahmen Alex und Conner ihr das doch ein wenig übel. Wie konnte sie einfach verschwinden und sich überhaupt nicht mehr melden? Wie konnte sie ihre Enkel zuerst an einen Ort mitnehmen, von dem sie von klein auf geträumt hatten, und sie dann nie wieder dort hinlassen?
Grandma hatte es schließlich selbst gesagt: Ein Teil des magischen Landes lebte in ihnen – für wen hielt sie sich also, dass sie glaubte, die Zwillinge davon fernhalten zu dürfen?
»Eure Großmutter ist eine sehr beschäftigte Frau«, gab Charlotte Alex jedes Mal, wenn sie das Thema ansprach, zu bedenken. »Sie liebt euch von Herzen. Wahrscheinlich hat sie im Augenblick bloß alle Hände voll zu tun. Wir hören sicher schon bald wieder von ihr.«
Das aber genügte nicht, um Alex zu beruhigen. Je mehr Zeit verging, desto stärker sorgte sie sich, ob es ihrer Großmutter wohl gutging – und manchmal sogar, ob sie noch am Leben war.
Ohne ihren Vater auszukommen war das Schwierigste, was die Zwillinge je hatten bewältigen müssen. Doch ein Leben ohne ihren Dad und ohne ihre Großmutter schien ihnen beinahe unerträglich.
»Was glaubst du, was da los ist?«, hatte Alex Conner einmal gefragt.
»Keine Ahnung«, hatte er mit einem schweren Seufzer geantwortet. »Das Letzte, was Grandma zu uns gesagt hat, war, dass sie und die anderen Feen etwas klären müssten. Vielleicht dauert das einfach länger als erwartet?«
»Kann sein«, erwiderte Alex. »Allerdings habe ich so ein Gefühl, dass es sich bei dieser Angelegenheit um ein wesentlich schwierigeres Problem handelt, als sie zugeben wollte. Was sonst würde sie so lange davon abhalten, uns einmal anzurufen oder vorbeizukommen?«
Conner zuckte lediglich mit den Schultern. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Grandma uns jemals absichtlich aus dem Weg gehen oder von irgendetwas ausschließen würde«, sagte er.
»Ich mache mir bloß Sorgen um sie«, rechtfertigte Alex sich.
»Alex«, fragte Conner mit einer hochgezogenen Augenbraue, »die Frau kann zaubern und ist schon Hunderte von Jahren alt. Worüber machst du dir da denn Sorgen?«
Alex seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht. Dann sollte sie besser eine extrem gute Entschuldigung parat haben, wenn sie uns das nächste Mal besucht.«
Doch dieses nächste Mal ließ auf sich warten.
Natürlich war es kein Wunder, dass die ganze Situation Alex schlecht schlafen ließ und sich auf ihre Träume auswirkte, doch mittlerweile war Alex regelrecht deprimiert. Seit ihrer Rückkehr aus dem magischen Land hatte sie das Gefühl, als würde ein Teil von ihr schlicht fehlen. Die Märchenwelt hatte jene Leere in ihr ausgefüllt, die sie nach dem Verlust ihres Vaters verspürt hatte – und mit jedem Tag, den sie nicht dorthin zurückkehren konnte, wuchs ebendiese Leere nun aufs Neue.
Auf ihren wöchentlichen Fahrten zum College wurde Alex das immer ganz besonders deutlich bewusst. Auch wenn Alex von einem richtigen Studium noch viele Jahre entfernt war, so gefiel ihr doch der Gedanke überhaupt nicht, eine Zukunft planen zu müssen, in der das magische Land keinen Platz hatte. Wie sollte sie ein normales Leben führen können, nun, da sie Beweise dafür hatte, dass sie selbst eben ganz und gar nicht normal war?
Alex träumte davon, eines Tages komplett ins magische Land zu ziehen. Würde ihre Großmutter ihr genügend Magie beibringen können, dass Alex offiziell zur Fee werden könnte? Bestand für Alex vielleicht sogar die Möglichkeit, ein Mitglied des Rats der Feen zu werden, oder – noch besser – des Märchenrats?
Heimlich versuchte Alex bereits, allein zaubern zu üben, doch das funktionierte nie. Nur ein einziges Mal hatte sie etwas Magisches vollbracht – damals, als es ihr versehentlich gelungen war, Grandmas Märchenbuch zu aktivieren, das sie und Conner ins magische Land transportiert hatte. Da es sich bei dem dicken Wälzer aber schließlich um das Buch ihrer Großmutter handelte, fragte Alex sich, ob sie auch ohne Hilfe irgendetwas zustande brächte.
Manchmal, wenn sie besonders verzweifelt war, ging Alex in die Schulbibliothek und stöberte wahllos nach irgendwelchen Märchenbüchern. Wenn sie fündig wurde, drückte sie sich die Bücher an die Brust und dachte fest daran, wie sehr sie die Märchenwelt wiedersehen wollte – genau so, wie sie sich am Abend ihres zwölften Geburtstags dorthin gewünscht hatte. Mehr, als dass sie ungewollt die Aufmerksamkeit und seltsame Blicke anderer Schüler auf sich zog, passierte allerdings niemals.
»Wieso kuschelt sie mit einem Buch?«, hatte einmal ein beliebtes Mädchen zu seiner versnobten Clique gesagt.
»Vielleicht will sie damit auch zum Abschlussball gehen!«, hatte eine der Freundinnen gekichert, und alle hatten über Alex gelacht.
Am liebsten hätte Alex sie angeschrien: »Hey! Meine Großmutter ist Aschenputtels gute Fee, und sobald sie mir ein bisschen Magie beigebracht hat, verwandele ich euch alle in das Lipgloss, das ihr euch viel zu dick auftragt!« Doch solche Gedanken behielt sie letztlich immer für sich.
Während Alex auf dem Fahrrad die restliche Strecke vom Bahnhof nach Hause düste, schloss sie für ein paar Sekunden die Augen und stellte sich vor, sie wäre auf Däumelinchens Bach im Königreich der Feen unterwegs – links von ihr eine Herde Einhörner, rechts eine Traube schwebender Feen – und mit ihrer Großmutter verabredet, die ihr beibringen wollte, wie man Lumpen in ein wunderschönes Ballkleid verzauberte.
Paradiesisch, dachte sie sehnsüchtig.
Alex schlug die Augen wieder auf – und krachte im nächsten Moment frontal und schmerzhaft in eine Reihe Mülltonnen. Zum Glück hatte außer einem Gartenzwerg auf der anderen Straßenseite niemand den Unfall mitbekommen, doch selbst der Zwerg schien ihr missbilligende Blicke zuzuwerfen.
Nachdem Alex sich hochgerappelt und abgeklopft hatte, beschloss sie, ihr Fahrrad den Rest des Weges nach Hause zu schieben. Der Zusammenprall hatte sie brutal in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Die Baileys wohnten noch immer im selben gemieteten Haus mit flachem Dach und wenigen Fenstern, doch insgesamt sahen ihre Lebensumstände inzwischen viel rosiger aus. Alex’ und Conners Mutter war es endlich gelungen, einen großen Berg ihrer Schulden zu begleichen, so dass sie bei weitem nicht mehr so viel arbeiten musste wie zuvor. Seit kurzem allerdings beschäftigte Charlotte Bailey etwas ganz anderes, und das hatte nichts mit ihrer Arbeit als Krankenschwester zu tun.
Alex stellte ihr Rad auf der Veranda ab. Sie wollte gerade die Haustür öffnen, als diese auch schon aufgerissen wurde und Conner im Türrahmen erschien. Er wirkte aufgebracht und aus irgendeinem Grund zutiefst beunruhigt.
»Was ist denn mit dir los?«, wollte Alex wissen.
»Ach, ich dachte, du bist Mom«, antwortete Conner.
»Brauchst du sie für irgendwas?«, erkundigte sich Alex.
»Nein«, gab Conner zurück. »Mom ist bloß normalerweise abends immer um sechs zu Hause.«
»Es ist gerade sechs«, meinte Alex und musterte ihn, als wäre er verrückt.
»Es ist viertel nach sechs, Alex«, entgegnete Conner mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Und?«
»Na – wo ist sie? Siehst du sie? Steht etwa ein Auto in der Hofeinfahrt?«, fragte Conner.
»Vielleicht ist viel Verkehr«, gab Alex zu bedenken.
»Oder etwas anderes«, raunte Conner. »Etwas, das sie auf der Arbeit festhält.«
»Willst du auf irgendwas Bestimmtes hinaus?«, erwiderte Alex. Sie wurde allmählich ein wenig ärgerlich.
»Ich muss dir was zeigen«, gab Conner endlich zu. »Aber sei gewarnt: Es wird dir nicht gefallen.«
»Ähm … okay«, sagte Alex zögernd und folgte ihrem Bruder ins Haus.
Aus dem Innern ertönte aufgeregtes Bellen und Winseln, als sie durch die Tür trat.
»Buster! Runter, Junge! Das ist nur Alex!«, rief Conner. »Wieso benimmt sich dieser blöde Hund, als würde jeder, der dieses Haus betritt, einen Sprengstoffgürtel tragen? Wir wohnen auch hier!«
»Verrätst du mir jetzt endlich, was los ist, Conner?«, drängte Alex, der langsam aber sicher die Geduld ausging.
»Ich zeig’s dir. Komm mit in die Küche«, meinte Conner. »Es gibt da gewisse neue Entwicklungen.«
Einige Monate zuvor war Buster, der Border Collie, aus dem örtlichen Tierheim adoptiert und zu den Baileys gebracht worden – ein Geschenk von Dr. Robert Gordon, mit dem die Mutter der Zwillinge im Krankenhaus arbeitete, und der zum engen Freund der Familie geworden war.
»Dr. Bob« – wie die Zwillinge ihn nannten, wenn er gelegentlich zum Abendessen vorbeikam – hatte sich schnell als warmherziger Mann erwiesen, der beinahe immer ein ungezwungenes Lächeln im Gesicht trug. Er hatte schütteres Haar und war eher klein, doch seine großen, gütigen Augen nahmen jeden sofort für ihn ein.
»Oh, Bob! Das wäre doch nicht nötig gewesen!«, hatte Charlotte Bailey gerufen, als er sie mit dem Hund überrascht hatte.
»Was macht denn das Fellknäuel hier?«, fragte Conner, als er hereinkam, um zu sehen, woher der Radau rührte.
»Er gehört euch!«, strahlte Bob. »Eure Mom erzählt immerzu von dem Border Collie, den sie als kleines Mädchen hatte, und neulich hat sie gemeint, dass sie sich insgeheim schon ewig einen neuen wünscht. Ich habe im Tierheim ausgeholfen, und als ich diesen kleinen Kerl hier entdeckt habe, war mir sofort klar, dass ich ihn für euch da herausholen muss.«
»Wir haben einen Hund?!«, schrie Conner. Obwohl die Worte aus seinem eigenen Mund kamen, konnte er es noch nicht vollends begreifen.
»Ich schätze schon«, antwortete Charlotte.
Conner warf sich sofort zu Boden und schmuste mit seinem neuen Haustier. »Wir haben einen Hund! Wir haben einen Hund!«, jubelte er immer wieder. »Endlich ist unser Vorstadtleben komplett! Danke, Dr. Bob!«
»Gern geschehen!«, schmunzelte Dr. Bob.
»Wie heißt du, mein Junge?«, wollte Conner von dem Border Collie wissen.
»Buster«, erwiderte Bob. »So zumindest haben sie ihn im Tierheim gerufen.«
Der schwarzweiße Hund war absurd fröhlich und hatte leuchtend grüne Augen, von denen eines ein wenig größer war als das andere. Bob hatte ihm ein rotes Tuch an das Halsband geknotet.
Conner umarmte den Hund und weinte vor Freude beinahe. »Ich weiß, wir haben uns gerade erst kennengelernt, Buster, aber es fühlt sich an, als würde ich dich schon mein ganzes Leben lang lieben!«, seufzte er.
»Wer ist das?«, fragte Alex, als sie dazustieß – neugierig, was der ganze Trubel sollte.
»Das ist mein Hund, Buster!«, verkündete Conner und zog eine seiner Socken aus, um mit Buster Tauziehen zu spielen.
»Er gehört euch allen«, verbesserte Bob ihn.
»Conner, nimm nicht die guten Socken!«, ermahnte Charlotte ihn.
Alex rutschte unwillkürlich ein hohes Quietschen heraus, und die Kinnlade fiel ihr herunter. »Wir haben einen Hund?!«, keuchte nun auch sie ungläubig und sprang auf und ab. Buster hatte etwas an sich, das die Zwillinge zu Begeisterungsstürmen hinriss, als wären sie wieder zehn.
»Ja, wir haben einen Hund«, bekräftigte Charlotte und lächelte ebenfalls.
»Sei nicht enttäuscht, wenn er mich lieber mag als dich, Alex«, merkte Conner ganz sachlich an. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass Hunde ihr Herz eher an Jungs hängen. Ich glaube, das ist sogar wissenschaftlich erwiesen.«
»Buster, hierher!«, rief Alex. Sofort erschien Buster an ihrer Seite und winselte glücklich zu ihr hoch.
»Ist ja auch egal«, murmelte Conner ein wenig enttäuscht.
In ihrer Begeisterung über den Hund hatten die Zwillinge das Geschenk keine Sekunde lang hinterfragt, und beim Herumtollen mit dem neuesten Familienmitglied waren sie zu abgelenkt gewesen, um die innige, dankbare Umarmung zu bemerken, in die Charlotte Bob geschlossen hatte – eine Umarmung, die für eine freundschaftliche Geste viel zu lange gedauert hatte.
Doch im Laufe der Zeit hatten die Zwillinge Bob immer häufiger zu Gesicht bekommen, bis ihnen die Anzeichen dafür, dass ihre Mutter und der Arzt mehr als nur Freunde waren, nicht mehr entgehen konnten …
Als Alex jetzt die Küche betrat, wies Conner sie an, am Tisch Platz zu nehmen. Obwohl Buster die Zwillinge jeden Tag sah, konnte er sich vor Begeisterung darüber, dass die Kinder nun beide zu Hause waren, kaum einkriegen. Er hüpfte wie ein Gummiball und drehte sich in der Küche wild im Kreis.
»Buster, beruhig dich!«, befahl Conner. »Ich schwöre, dieser Hund braucht Pillen.«
»Was ist denn los, Conner?«, wollte Alex endlich wissen. »Du liebst diesen Hund doch genauso sehr, wie er dich liebt.«
»Nicht mehr – seit ich herausgefunden habe, dass er ein Bestechungsgeschenk gewesen ist!«, erklärte Conner hitzig. »Schau dir das an!«
Conner schnappte sich einen Strauß aus einem Dutzend langstieliger roter Rosen von der Küchentheke und donnerte ihn samt Vase direkt vor Alex auf den Tisch.
»Die sind ja wunderschön! Wo kommen die her?«, fragte Alex begeistert.
»Sie sind geliefert worden, als ich gerade aus der Schule nach Hause gekommen war«, grollte Conner. »Blumen für Mom … von Bob!«
Alex’ Augen weiteten sich. »Ach du liebe Güte«, flüsterte sie und schluckte. »Tja, das ist unheimlich süß von ihm.«
»Süß?!«, empörte Conner sich lautstark. »Das ist nicht süß, Alex! Das ist geradezu romantisch!«
»Conner, du weißt doch gar nicht sicher, ob er es so gemeint hat«, versuchte Alex ihn zu beschwichtigen. »Leute schicken sich ständig gegenseitig Blumen.«
Conner durchstöberte den Strauß. »Freunden schenkt man Gänseblümchen oder Sonnenblumen oder eine fleischfressende Venusfliegenfalle – aber rote Rosen sind eindeutig romantisch!«, beharrte er. »Und er hat eine Karte dazugelegt. Irgendwo hier drin steckt sie – ich habe sie ungefähr einhundert Mal gelesen, bevor ich sie wieder hineingestopft habe – ah ja, da. Lies.«
Er reichte seiner Schwester ein kleines Kärtchen, das zu Alex’ Entsetzen herzförmig war. Sie warf einen Blick auf den Umschlag, als befänden sich darin die Ergebnisse einer Schularbeit, von der sie wusste, dass sie sie verhauen hatte.
»Das will ich gar nicht lesen«, nuschelte Alex. »Ich will nicht in Moms Privatsphäre eindringen.«
»Dann lese ich es dir vor«, erwiderte Conner und wollte ihr das Papier aus der Hand reißen.
»Schon gut, ich lese selbst!«, sagte Alex und öffnete die Karte widerstrebend.
CHARLOTTE,
ALLES LIEBE ZUM SECHSMONATIGEN!
DEIN BOB
Ganz schnell, als könnte sie so die schreckliche Wahrheit darin einsperren, klappte Alex die Karte wieder zu. Conner beugte sich zu seiner Schwester hinunter, musterte eindringlich ihr Gesicht und wartete auf ihre Reaktion.
»Naaaaaaa?«, hakte er nach.
»Na ja«, entgegnete Alex, während sie im Kopf ein Dutzend unwahrscheinlicher Theorien durchspielte, »wir wissen trotzdem nicht sicher, ob das bedeutet, dass sie ein Paar sind.«
Conner warf die Hände in die Luft und tigerte durch die Küche. »Alex, fang nicht so an!«, rief er vorwurfsvoll und deutete mit dem Finger auf sie.
»Wie?«, gab sie zurück.
»So machst du es immer: Wenn du etwas nicht wahrhaben willst, versuchst du, es herunterzuspielen!«, warf er ihr vor.
»Conner, ich glaube, du übertreibst –«
»Sieh den Tatsachen ins Auge, Alex: Wir haben uns von einem Border Collie blenden lassen!«, brüllte Conner laut genug, dass die Nachbarn ihn gewiss hören konnten. »Mom und Bob sind verliebt!«
Mom und verliebt im selben Satz zu hören verursachte Alex ein ganz flaues Gefühl im Magen. Ihrer Meinung nach gehörten die beiden Worte nicht einmal ins selbe Wörterbuch.
»Ich werde mich nicht vorab allzu sehr über etwas aufregen, das ich noch nicht von Mom persönlich gehört habe«, beschloss sie.
»Welche Beweise brauchst du denn noch?«, ereiferte sich Conner. »Mom bekommt ein Dutzend roter Rosen geliefert, zusammen mit einer Karte in Herzform, auf der ein konkreter Zeitraum angegeben ist! Was glaubst du, was ›Alles Liebe zum Sechsmonatigen‹ bedeutet? Meinst du, Mom und Bob sind einem Kegelclub beigetreten und haben uns nichts davon erzählt?«
Die Köpfe beider Kinder ruckten abrupt herum, als sie hörten, wie das Garagentor geöffnet wurde. Endlich kam ihre Mutter von der Arbeit nach Hause.
»Frag sie«, bedeutete Alex tonlos ihrem Bruder.
»Frag du sie«, gestikulierte er ebenso stumm zurück.
Wenige Augenblicke später betrat Charlotte das Haus. Sie trug noch immer ihre blaue Krankenhausuniform und hatte eine Einkaufstüte voller Lebensmittel im Arm. Damit ging sie direkt an den Blumen auf dem Tisch vorbei, ohne sie zu bemerken.
»Hey, ihr zwei – tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, begrüßte Charlotte die Zwillinge. »Ich habe auf dem Heimweg kurz am Supermarkt gehalten, um etwas zum Abendessen mitzubringen; ich verhungere gleich! Ich dachte, dass ich uns irgendwas mit Reis und Hühnchen mache – klingt das gut? Habt ihr Hunger?«
Als die Kinder keine Antwort gaben, sah Charlotte hoch.
»Was ist denn los mit euch?«, fragte sie. »Ist alles in Ordnung – Moment mal, wo kommen denn diese Blumen her?«
»Die sind von deinem Freund«, meinte Conner vielsagend.
Wie oft es ihrer Mutter in den dreizehn Jahren, die sie schon mit ihr zusammenlebten, die Sprache verschlagen hatte, konnten Alex und Conner an einer Hand abzählen. Nun aber war es wieder einmal so weit.
»O …«, machte Charlotte und glich dabei einem Reh im Scheinwerferlicht.
»Du hast uns eine ganze Menge zu erklären!«, stellte Conner fest und verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht solltest du dich besser hinsetzen.«
»Entschuldige mal, hat dich hier jemand zum Erziehungsberechtigten befördert?«, erwiderte Charlotte und warf ihrem Sohn einen entrüsteten Blick zu.
»Tut mir leid«, murmelte Conner und senkte den Kopf. »Ich finde nur, das ist etwas, worüber wir reden sollten.«
»Stimmt es?«, erkundigte Alex sich mit halb besorgter, halb entsetzter Miene.
»Ja«, brachte Charlotte mühsam hervor. »Bob und ich sind seit einiger Zeit zusammen.«
Conner rutschte auf einen Stuhl neben seiner Schwester. Alex schlug ihre Stirn auf die Tischplatte.
»Ich wollte es euch sagen«, fügte Charlotte eilig hinzu. »Ich hatte bloß vor, noch damit zu warten, bis –«
»Lass mich raten: Bis wir etwas älter sind?«, schnitt Conner ihr das Wort ab. »Wenn ich für jede Gelegenheit, bei der jemand das sagt, zehn Cent bekäme … Alex, pass auf – gut möglich, dass wir in Wirklichkeit noch einen heimlichen Drilling irgendwo haben, das aber erst eröffnet bekommen, wenn wir dreißig sind.«
Charlotte kniff die Augen fest zu und stieß langsam einen tiefen Atemzug aus. »Genau genommen war ich noch dabei, mir zu überlegen, wie ich es euch beibringen könnte«, gestand sie leise. »Ihr beiden habt euch in letzter Zeit solche Sorgen gemacht, weil ihr eure Großmutter nicht mehr zu Gesicht bekommt. Da wollte ich euch nicht noch mehr zumuten. Ich weiß, ihr braucht Zeit, um euch daran zu gewöhnen«, räumte sie ein.
»Zeit? Wir brauchen hier eine emotionale Wiederbelebung, Mom«, verkündete Conner.
»Ich glaube, ich war tatsächlich weniger schockiert, als ich herausgefunden habe, dass unsere Großmutter eine Fee in einer anderen Dimension ist«, fügte Alex hinzu.
Charlotte senkte betrübt den Blick auf ihre Hände. Die Zwillinge hatten ihr nicht absichtlich ein schlechtes Gewissen machen wollen, doch ihre Gefühle veranstalteten in diesem Moment eine derart wilde Achterbahnfahrt, dass es ihnen unmöglich war, gleichzeitig auch noch rücksichtsvoll zu sein.
»Bob und ich kennen uns schon sehr lange«, versuchte Charlotte zu erläutern. »Nach dem Tod eures Dads ist er für mich zu einem sehr guten Freund geworden. Er war einer der wenigen Menschen, mit denen ich über alles reden konnte, was ich durchmachte. Wusstet ihr, dass Bobs Frau nur ein Jahr vor eurem Dad gestorben ist?«
Beide Zwillinge schüttelten den Kopf.
»Du hättest mit uns reden können«, wandte Conner ein.
»Nein, hätte ich nicht«, widersprach Charlotte. »Ich brauchte einen anderen Erwachsenen, dem ich mich anvertrauen konnte. Bob und ich haben uns jeden Tag bei der Arbeit unterhalten und sind dabei sehr vertraut miteinander geworden, und in letzter Zeit ist mehr aus dieser Freundschaft gewachsen.«
Die Geschwister waren sich nicht sicher, ob das, was ihre Mutter erzählte, hilfreich war oder alles nur noch schlimmer machte. Je mehr sie erklärte, desto wirklicher wurde es.
»Was ist mit Dad?«, brachte Alex schließlich hervor. »Deine und Dads Geschichte war im wahrsten Sinne des Wortes ein Märchen, Mom. Er hat eine andere Welt zurückgelassen, um mit dir zusammen sein zu können. Liebst du nicht immer noch ihn?«
Diese Frage brach ihnen allen das Herz, und Charlotte ganz besonders.
»Euer Vater war die Liebe meines Lebens, und das wird er auch immer bleiben«, beteuerte sie. »Diese Jahre ohne ihn sind die schlimmsten meines gesamten Lebens gewesen. Wir waren zwölf Jahre lang verheiratet und haben in dieser Zeit über viele Dinge gesprochen, über viele Möglichkeiten. Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass euer Dad sehr enttäuscht von mir wäre, wenn ich ein weiteres Jahr damit zubringen würde, ihn zu vermissen. Er würde wollen, dass ich weiterlebe – genauso, wie auch ich es mir für ihn wünschen würde, wenn unsere Rollen vertauscht wären. Das ist ein Versprechen, das wir uns gegenseitig gegeben haben.«
Charlotte hielt einen Moment inne und sammelte sich, bevor sie fortfuhr. »Im ersten Jahr nach seinem Tod dachte ich, ich würde niemals darüber hinwegkommen«, sagte sie. »Ich dachte, ein Teil von mir sei mit ihm gestorben, und ich würde nie wieder jemand anderen lieben können. Doch dann hat Bob mir gebeichtet, dass er und seine Frau sich kurz vor ihrem Tod dasselbe Versprechen gegeben hatten, und dass es ihm damit ganz ähnlich ging. Aus irgendeinem Grund hat es mir so sehr geholfen, einfach zu wissen, dass es jemandem genauso geht wie mir.«
Die Zwillinge warfen einander einen hoffnungslosen Blick zu. Ihnen war klar, dass sie nichts tun konnten, um den Herzschmerz ihrer Mutter zu lindern. »Ich weiß, dass das schwierig für euch beide ist«, meinte Charlotte. »Ich verlange auch nicht, dass ihr es gutheißt. Ihr könnt darüber denken, was immer ihr wollt – dazu habt ihr jedes Recht. Ihr sollt lediglich wissen, dass Bob mich wirklich glücklich macht, so glücklich, wie ich es schon sehr lange nicht mehr gewesen bin.«
Conner mühte sich vergeblich, eine Frage zurückzuhalten, die ihm mit einem Mal in den Sinn gekommen war.
»Conner, was ist?«, ermutigte Charlotte ihn und tupfte dabei ihre Augenwinkel mit einem Ärmelsaum trocken.
»Gar nichts«, entgegnete Conner trotzig und schüttelte wenig überzeugend den Kopf.
»Doch, das denke ich schon«, widersprach seine Mutter, die ihren Sohn manchmal besser kannte als er sich selbst. »Immer, wenn du so die Lippen schürzt, liegt dir eine Frage auf der Zunge.«
Conner verzog sofort den Mund.
»Schon in Ordnung, Liebling, du kannst mich wirklich alles fragen«, bot Charlotte noch einmal an.
»Es ist eine echt kindische und blöde Frage«, warnte Conner sie vor. »Ich schätze, das ist etwas, worüber ich mir immer schon den Kopf zerbrochen habe bei Leuten, die ihren Ehemann oder ihre Ehefrau verloren haben. Ich meine, eines Tages, wenn wir alle im … na ja, im Himmel sind, nehme ich an – wird es dann nicht ein bisschen komisch, mit Dad und Bob?«
Alex wollte schon ein missbilligendes Seufzen ausstoßen, hielt sich dann aber zurück. Selbst sie musste gestehen, dass die Frage ihre Berechtigung hatte. Auch wenn es ihr ein fürchterlich schlechtes Gewissen bereitete: Ein wenig empfand auch sie es so, als würde ihre Mom ihren Dad betrügen.
Ein Lächeln stahl sich auf Charlottes Gesicht, und schließlich lachte sie leise. »Oh, Liebling, sollten wir je alle irgendwo wieder zusammenkommen, dann gehe ich davon aus, dass wir zu glücklich sein werden, um uns an solchen Dingen zu stören.«
Alex und Conner sahen einander an und wussten, dass sie beide dasselbe dachten. Die Vorstellung, ihre ganze Familie könnte wieder vereint sein, brachte auch sie zum Lächeln.
Charlotte legte ihre Hände auf dem Tisch über die ihrer Kinder. »Nichts, was irgendeiner von uns tut, kann Dad jemals zurückbringen«, sagte sie ernst. »Und ebenso wird nichts von dem, was wir treiben, ihn noch weiter von uns fortdrängen. Wir werden ihn immer im Herzen tragen, ganz egal, was passiert.«
»Ich schätze, wenn ich es so betrachte, komme ich besser damit zurecht«, räumte Conner ein.
»Ich auch«, gestand Alex.