Tale of Magic: Die Legende der Magie – Ein gefährlicher Pakt - Chris Colfer - E-Book

Tale of Magic: Die Legende der Magie – Ein gefährlicher Pakt E-Book

Chris Colfer

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Beschreibung

Ein Pakt mit dem Tod! Fast ein Jahr ist es her, dass Brystal Evergreen den gefährlichen Pakt mit dem Tod geschlossen hat, innerhalb von zwölf Monaten die Unsterbliche zu finden und mit einem Zauber zu vernichten. Aber Brystal hat noch immer keinen Hinweis darauf, wo sie die Unsterbliche überhaupt suchen muss – oder wer sich dahinter verbirgt. Als plötzlich eine weitere bösartige Macht aus den Tiefen der Erde aufsteigt, müssen die Feen und Hexen mit allen Königreichen zusammenarbeiten.  Doch Brystal ahnt nicht, dass die Bedrohung, die alles zugrunde richten will, aus Brystals engstem Umfeld stammen könnte ... Chris Colfers Serie voller geheimnisvoller Magie und schwindelerregender Abenteuer: Ebenso wie »Land of Stories. Das magische Land« standen auch die Bände von »Tale of Magic. Die Legende der Magie« wochenlang auf der New York-Times Bestsellerliste.  Alle Bände der Serie »Tale of Magic. Die Legende der Magie«: Band 1: Eine geheime Akademie  Band 2: Eine dunkle Verschwörung Band 3: Ein gefährlicher Pakt Presse zu Band 1: »Ein durch und durch erfüllendes Abenteuer, auch für Colfer-Neulinge.« Publisher's Weekly »Eingebettet in Magie und Märchen bietet Colfer den Lesern viele Denkanstöße über Identität und Akzeptanz. Mitreißend!« Booklist

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Seitenzahl: 416

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Ähnliche


Chris Colfer

Tale of Magic

Die Legende der Magie – Ein gefährlicher Pakt

Aus dem Amerikanischen von Naemi Schuhmacher

Mit Illustrationen von Brandon Dorman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Karte]Prolog Kreaturen aus der TiefeKapitel 1 Das Gerechte ImperiumKapitel 2 Der CountdownKapitel 3 Die eisige WahrheitKapitel 4 Die NachrichtKapitel 5 Der AlchemistKapitel 6 Eine notwendige InterventionKapitel 7 Das Institut für AlchemieKapitel 8 Die Konferenz der KönigeKapitel 9 Pass auf, wohin du trittstKapitel 10 Nach NordostenKapitel 11 Der ElbenprinzKapitel 12 Die Wundersamen WächterKapitel 13 Die DracheninselnKapitel 14 Abendessen bei den ElbenKapitel 15 Der Tempel des WissensKapitel 16 KöderKapitel 17 Das Rätsel der vier TürenKapitel 18 Die unsterbliche AgendaKapitel 19 Die gute Seite von FlüchenKapitel 20 Das Beschwören von DämonenKapitel 21 Das Gewölbe der ZaubererKapitel 22 Der Dämonenkönig und die SchneeköniginKapitel 23 Ein Krieg von Feuer, Eis und AlchemieKapitel 24 Ein feuriges LebewohlKapitel 25 Eine vernachlässigte WissenschaftDanksagung

Für all die Engagierten da draußen, die für unseren Planeten und all seine Bewohner kämpfen. Ich danke euch.

PrologKreaturen aus der Tiefe

Das Geräusch von Schritten riss die Frau aus dem Schlaf. Es war noch dunkel, als sie die Augen aufschlug und den Blick träge auf die Schlafzimmertür richtete. Doch der Lärm kam nicht aus dem Flur vor ihren Räumen, sondern drang durch ein farbenprächtiges Wandgemälde. Mit einem Mal hellwach, setzte sich die Frau in ihrem Bett auf. Es gab nur eine Person, die von dem geheimen Eingang zu ihren Gemächern wusste, und ihr Kommen konnte nur eines bedeuten.

Ein wildes Klopfen ertönte hinter dem Wandgemälde.

»Ma’am?«, ertönte eine schroffe Stimme. »Darf ich eintreten?«

»Ja, kommen Sie herein«, erwiderte die Frau.

Die Geheimtür glitt auf, und ein Mann, ganz und gar von Schmutz bedeckt, spähte in den Raum. Seine tiefliegenden Augen waren vor Aufregung weit aufgerissen, und sein Körper hatte sich vor Furcht versteift.

»Also?«, drängte die Frau ungeduldig.

Der Mann nickte langsam, als könne er die Nachricht, die er im Begriff war zu überbringen, selbst noch nicht glauben.

»Wir haben es gefunden«, erklärte er atemlos.

Die Frau schlug die Laken zurück und sprang auf. Rasch zog sie sich einen Morgenmantel über das Nachthemd, schlüpfte in ihre Pantoffeln und folgte dem Mann durch die Geheimtür. Dahinter schlängelte sich ein Gang, der vor einer stählernen Wendeltreppe, die sich durch die Stockwerke ihrer großzügigen Residenz hinab bis unter das Kellergewölbe wand, abrupt endete.

Die Treppe wankte und knarrte, als die beiden in fieberhafter Hast die Stufen hinabstiegen. Am Fuß der Treppe angekommen, betraten sie einen weiteren Gang, der sich durch das Erdreich grub wie die hohlen Wurzeln eines riesigen Baumes. Er reichte meilenweit unter die Erde, in Tiefen, die der Menschheit unzugänglich hätten bleiben sollen.

Sein Bau hatte Jahrhunderte gedauert, und wäre er nicht unter absoluter Geheimhaltung erbaut worden, müsste man ihn wohl zu den Weltwundern zählen – doch kaum einer, der den Tunnel einmal betreten hatte, erhielt die Erlaubnis, ihn wieder zu verlassen. In den Wänden zu beiden Seiten lagen all die unglücklichen Seelen begraben, die den Gang angelegt oder gedroht hatten, die geheimen Bauarbeiten der Welt zu offenbaren.

Tiefer und tiefer stiegen der Mann und die Frau die endlose Röhre aus reiner Finsternis hinab. Die Laterne des Mannes vermochte es kaum, den Boden unter ihren Füßen zu beleuchten. Je tiefer sie kamen, desto heißer wurde es, so dass ihre Kleider schließlich von Schweiß durchnässt waren. Die Luft war geschwängert von einem scharfen Rauch wie von verbrannter Erde, der ihnen fast den Atem nahm. Der enorme Tiefendruck ließ ihre Trommelfelle pochen und ihre Nasen bluten. Dennoch setzten die beiden ihren Weg unbeirrt fort.

Bumm-bumm … Bumm-bumm … Bumm-bumm …

Mehrere Kilometer unter der Erdoberfläche vernahmen sie endlich ein fernes Hämmern.

Bumm-BUMM … Bumm-BUMM … Bumm-BUMM …

Mit jedem Schritt, den sie taten, hallte das Geräusch lauter durch den Gang, so als bewegten sie sich auf das schlagende Herz der Erde zu.

BUMM-BUMM … BUMM-BUMM … BUMM-BUMM …

Da tauchte vor ihnen ein gleißendes Licht auf, das im Takt mit dem dröhnenden Pochen hell aufblitzte. Vor dem Licht zeichneten sich Umrisse von Menschen ab. Die abgemagerten Gestalten standen in Reih und Glied, sie waren aneinandergekettet und hielten in zitternden Händen Schaufeln und Spitzhacken. Doch auf diese Generation der Versklavten würde keine weitere folgen, denn sie hatten soeben die größte Entdeckung der Menschheitsgeschichte gemacht.

Vor Angst erstarrt, blickten die Sklaven auf das, was vor ihnen lag, doch die Frau schritt furchtlos staunend an ihnen vorbei.

Alle Blicke waren auf eine gewaltige Flügeltür von gut sechzig Meter Höhe und dreißig Meter Breite gerichtet. Die Tür war aus Eisen gefertigt, und sie glühte rot vor Hitze. Etwas sehr Großes – und sehr Heißes – versuchte, von der anderen Seite die Tür zu durchbrechen, doch eine monströse Kette hielt sie verschlossen. Während sich das, was auch immer auf der anderen Seite war, gegen die Tür warf, zischten Flammen und Magma durch den Spalt und boten einen flüchtigen Eindruck von der Welt aus Feuer und Chaos, die dahinter lag.

»Endlich!«, keuchte die Frau. »Wir haben es gefunden! Das Tor zur Unterwelt!«

»Ma’am?«, fragte ihr erschöpfter und verschwitzter Begleiter. »Was machen wir jetzt?«

Ein verschlagenes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Frau. Auf diesen Moment hatte sie nicht eine, sondern viele Lebensspannen gewartet.

»Öffnet das Tor!«, befahl sie.

Kapitel 1Das Gerechte Imperium

Seit dem letzten Sonnenaufgang im Südlichen Königreich war fast ein Jahr vergangen. Nie würden die Bürger den schrecklichen Nachmittag vergessen, an dem Prinz »Seven« Gallivant mit seiner Gerechten Armee der Toten Chariot Hills im Sturm erobert hatte. Dort hatte es sich der Prinz auf dem Thron seines verstorbenen Großvaters im Champion-Schloss bequem gemacht und sich – nicht etwa zum neuen König des Südlichen Königreichs, sondern – zum Kaiser eines neuen Gerechten Imperiums erklärt.

Leider fehlten seinen Untertanen die Mittel, ihn aufzuhalten. Der Prinz hatte jedes Recht, sein gerade erst ererbtes Reich zu verändern, wie es ihm gefiel. Doch nicht einmal seine treuesten Anhänger hätten vorhersehen können, welche Schrecken er im Sinn hatte, und schon bald verabscheuten sie das Monster, an dessen Erschaffung sie selbst beteiligt gewesen waren.

Mit seiner ersten Verordnung löste der Kaiser das Militär des Südlichen Königreichs auf und ersetzte es durch seine Armee der Toten. Die zweite Verordnung enthob die Richter ihres Amtes und vergab deren Posten stattdessen an die Clansmänner seiner ihm ergebenen Gerechten Bruderschaft. Des Kaisers dritte Amtshandlung war es, die Verfassung des Königreichs aufzulösen und an ihrer Stelle eine neue zu setzen, die den Grundsätzen der beklemmenden Gerechten Philosophie folgte.

Unter den neuen Gesetzen wurden alle Schulen und Kirchen geschlossen – anbeten oder studieren sollten die Bürger allein den Kaiser. Alle Märkte und Geschäfte wurden abgeriegelt – Lebensmittel verteilte von nun an der Kaiser nach seinem Belieben. Die sprachbegabten Kreaturen – Elben, Zwerge, Trolle, Kobolde und Oger – wurden in ihre Territorien verbannt, die Grenzen dauerhaft geschlossen und die Kommunikation mit der Außenwelt strengstens verboten.

Zudem verhängte der Kaiser strikte Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang durfte niemand sein Haus verlassen, für Reisen brauchten die Bürger eine Genehmigung, und Zusammenkünfte waren nur noch im engsten Familienkreis erlaubt. Alle Formen der Selbstentfaltung wie Kunst, Musik und Theater standen unter Strafe. In der Öffentlichkeit mussten alle Bürger triste schwarze Kutten tragen, die der Kaiser verteilen ließ. Privathäuser wurden regelmäßig nach Geld, Schmuck, Waffen und anderen Wertgegenständen durchsucht, und die Habseligkeiten der Menschen wurden als »Spenden« an das Imperium einbehalten.

Tag und Nacht patrouillierten die toten Soldaten des Kaisers die Straßen und stellten sicher, dass die neuen Gesetze eingehalten wurden – und die lebenden Leichen waren nicht zimperlich damit, grausige Exempel an unfolgsamen Bürgern zu statuieren. So verließen die Bürger schließlich kaum noch ihre Häuser, um Problemen aus dem Weg zu gehen. Dort beteten sie für etwas – oder jemanden –, der sie aus diesem Albtraum erlösen würde.

Doch die extremste Verfassungsänderung betraf die Magie. Im neuen Imperium wurde allein Wohlwollen gegenüber der magischen Gemeinschaft mit dem Tode bestraft. Die vage Formulierung des Gesetzes ließ es zu, dass der Kaiser jeden ins Gefängnis werfen konnte, der auch nur den leisesten Verdacht erregte, den Feind zu unterstützen.

In den ersten Monaten nach der Thronbesteigung des Kaisers verhaftete die Armee der Toten über hundert sogenannte »Magie-Sympathisanten«, und allesamt wurden innerhalb kürzester Zeit ohne Gerichtsverfahren oder Beweise zum Tod durch den Strang verurteilt. Doch obwohl die Schuldsprüche so eilig verhängt worden waren, ließ der Kaiser die Hinrichtungen seltsamerweise verschieben. Er verlor kein Wort darüber, worauf er wartete, doch insgeheim hob er sich die Hinrichtungen für einen gut durchdachten Plan auf.

In den ersten Wochen nach seiner Machtergreifung ließ der Kaiser die Juristische Universität auf dem Marktplatz von Chariot Hills abreißen und an ihrer Stelle ein gewaltiges Kolosseum errichten. Das Kolosseum thronte über den anderen Gebäuden der Hauptstadt, bot Platz für Tausende Besucher und war mit voller Absicht nur mit zwei Eingängen versehen worden – was es schwierig machte, hinein- oder wieder herauszukommen. Zwei Wochen vor dem einjährigen Jubiläum der Thronbesteigung des Gerechten Kaisers war der Bau endlich abgeschlossen. Schon am Abend der Fertigstellung beorderte der Kaiser alle Einwohner von Chariot Hills in das kolossale Amphitheater, um dort den verspäteten Hinrichtungen der »Magie-Sympathisanten« beizuwohnen.

Die Gerechte Bruderschaft – von Kopf bis Fuß in ihre gespenstischen silberfarbenen Uniformen gehüllt und bewaffnet mit ihren rot glühenden Blutsteinwaffen – trieben die müden, hungrigen und mutlosen Bürger in das Bauwerk. Der Kaiser war schon da, als seine Untertanen ankamen. Er stand dank des Blutsteinanzugs und dem dazu passenden Umhang in rötliches Licht getaucht in seiner Privatloge hoch oben im Kolosseum. Auf seinem Kopf saß eine Krone, ebenfalls aus Blutstein, mit spiralförmigen Auswüchsen zu beiden Seiten seines Gesichts, die wie die Hörner eines Widders anmuteten.

Seine Bürger, die unter ihm ihre Plätze einnahmen, würdigte er keines Blickes – er hatte nur Augen für das, was außerhalb des Kolosseums lag. Ein Fernglas gegen das Gesicht gepresst, inspizierte er jeden Zentimeter des Horizonts und des Abendhimmels.

»Eure Hoheit?« Der Oberste Anführer des Kaisers verbeugte sich, als er in die Loge trat. »Die Bürger sitzen, und die Soldaten sind in Position, Sir.«

»Und die Armbrustschützen?«, fragte Seven.

»Überall im Kolosseum und auf jedem Dach in der Hauptstadt verteilt.«

»Und die Eingänge?«

»Komplett umstellt, Sir«, antwortete der Oberste Anführer. »Ich bin davon überzeugt, dass wir hier das sicherste Gebäude der Welt geschaffen haben.«

»Sicher genug für sie, Oberster Anführer?«, hakte Seven nach.

»Selbst wenn sie einen Weg herein findet, kommt sie nicht mehr lebend hinaus.«

Der Mund unter dem Fernglas kräuselte sich zu einem Lächeln, doch der Kaiser senkte den Feldstecher nicht.

»Gut«, sagte er. »Fangen wir an.«

Der Oberste Anführer zögerte. »Sir, seid Ihr sicher, dass sie auftauchen wird? In Anbetracht der zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen, wäre es hochriskant für …«

»Vertrauen Sie mir, sie wird den Köder schlucken!«, erwiderte Seven. »Jetzt los. Ich habe lange genug auf diesen Augenblick gewartet.«

Daraufhin wandte sich der Oberste Anführer der Arena in der Mitte des Kolosseums zu. Auf sein Signal hin betätigten zwei Clansmänner einen Hebel, und eine schwere Gittertür hinter ihnen wurde nach oben gezogen. Heraus traten weitere Clansmänner, die über einhundert Gefangene aus den unterirdischen Kerkern in die Arena trieben. Hände und Füße der »Magie-Sympathisanten« lagen in schweren Ketten, die sie beim Gehen behinderten, und die Clansleute schubsten sie unsanft vor sich her.

Beim Anblick ihrer Freunde und Verwandten hätten die Leute auf den Rängen am liebsten laut aufgeschrien, doch sie verharrten wie gelähmt. Nur wenige, vereinzelte Schreie entschlüpften den Mündern und hallten durch das stille Kolosseum.

»Wir beginnen mit der Evergreen-Familie«, rief Seven über die Schulter.

Fünf Clansmänner zogen die fünf Mitglieder der Evergreen-Familie aus der Menge der Gefangenen. Richter Evergreen, seine Frau, ihre Söhne Brooks und Barrie sowie Barries Frau Penny wurden die Stufen zu einem hoch aufragenden hölzernen Galgen hinaufgezerrt und in einer Reihe hinter der einzigen Schlinge aufgestellt. Die Zuschauer waren beeindruckt von der Gefasstheit der Evergreens – einige Familienmitglieder wirkten sogar ungeduldig. Mrs. Evergreen betrachtete den Strick mit einem unnatürlich breiten Lächeln, Penny war so aufgeregt, dass sie regelrecht summte, und Brooks winkte dem Publikum fröhlich zu.

»Wie können Sie es wagen, uns wie Kriminelle zu behandeln!«, rief Richter Evergreen. »Herrgott nochmal, ich bin Richter des Südlichen Königreichs! Ich habe mein ganzes Leben den Gesetzen dieses Landes gewidmet!«

»Nein, Sie waren Richter«, spottete Seven. »Und in Kürze existieren Sie überhaupt nicht mehr.«

»Sollen wir mit dem ehemaligen Richter anfangen, Hoheit?«, fragte der Oberste Anführer.

»Nein, hängen wir zuerst den jüngsten Bruder«, erwiderte Seven. »Wenn das die Gute Fee nicht auf den Plan ruft, dann kann nichts sie herlocken.«

Die Brüder schubsten Barrie nach vorne und zogen die Schlinge um seinen Hals fest.

»O w-w-weh!«, schrie Penny. »Ich kann es nicht g-g-glauben! Ich muss z-z-zusehen, wie mein Mann st-st-stirbt! Welch g-g-grausame Welt!«

»Keine Sorge, Jenny – ich meine, Penny!« Mit der Schlinge um den Hals brachte Barrie kaum ein Wort heraus. »Bald ist alles vorbei.«

»B-B-Bitte zeigt doch etwas G-G-Gnade!«, flehte seine Frau.

»Eigentlich ist Hängen ein ziemlich gnädiger Tod«, meinte Brooks. »Es geht viel schneller als Verbrennen, Ertränken, Kreuzigen oder Kochen. Und es ist auch nicht so blutrünstig wie Köpfen, Pfählen, Vierteilen, Steinigen …«

»Pssst! Brooks!«, flüsterte Richter Evergreen. »Halt den Mund! Du bist nicht dran!«

»Oh, ’tschuldigung!«, flüsterte Brooks zurück. »Hab ich das eben laut gesagt?«

»Also, ich kann meinem Sohn nur zustimmen!«, verkündete Mrs. Evergreen theatralisch und zog alle Blicke auf sich. »Das nennen Sie eine öffentliche Hinrichtung? Ich war schon auf Kaffeekränzchen, bei denen es brutaler zuging! Also wirklich, Herr Kaiser, das könnt Ihr doch besser! Gebt uns Blut! Gebt uns Spannung! Gebt uns absoluten Terror!«

Mit großen fröhlichen Augen starrte Mrs. Evergreen den Kaiser an, als wollte sie ihn ermutigen, eine grausamere Hinrichtung für ihren Sohn anzuordnen. Richter Evergreen stöhnte und funkelte seine Familie böse an.

»Leute! Haltet euch an euren Text! Wir haben das doch besprochen! Schluss mit den Alleingängen!«

»Du kannst von einer Mutter nicht erwarten, in solch einer Situation ruhig zu bleiben!«, rief Mrs. Evergreen. »Ich will nur das Beste für meinen Sohn – und das gilt auch für seine Hinrichtung!«

Richter Evergreen zuckte bei ihren Worten zusammen und schlug die Hand gegen die Stirn.

»Hätte ich gewusst, dass du dich so benimmst, Mrs. Evergreen, dann hätte ich dich nie zur Frau genommen!«, brummte er. »Ihr haltet jetzt alle die Klappe! Ab sofort übernehme ich das Reden!«

Die Zuschauer fanden den Familienstreit äußerst merkwürdig und tauschten irritierte Blicke. Selbst die Männer der Gerechten Bruderschaft kratzten sich unter ihren Masken die Stirn. Doch der Kaiser beachtete die Evergreens gar nicht. Er hatte andere Sorgen.

»Irgendetwas stimmt nicht …«, murmelte Seven in sich hinein. »Sie sollte längst hier sein … Ihr Lieblingsbruder wird in wenigen Sekunden hingerichtet, und sie taucht einfach nicht auf …«

Das Herz des Kaisers raste vor gespannter Erwartung. Fieberhaft suchte er mit seinem Feldstecher den Horizont ab, voller Sorge, dass er etwas übersehen hatte.

»Hängt ihn auf drei!«, rief der Oberste Anführer zum Galgen.

Nein, das kann nicht sein …, dachte Seven. Sie würde eher sterben, als ihre Familie aufzugeben …

»EINS!«

Wo ist sie nur? Warum eilt sie nicht zu ihrer Rettung? Worauf wartet sie?

»ZWEI!«

»Es sei denn …«, sagte Seven, als ihm ein beunruhigender Gedanke kam, »sie ist schon hier!«

»DREI!«

Der Kaiser wirbelte herum und heftete seinen Blick auf den Galgen. Der Boden unter Barries Füßen klappte weg, und sein Körper sackte nach unten. Entsetzt keuchte die Menge auf, doch der Hals des Gefangenen brach nicht. Stattdessen zog er sich wie ein Gummiband in die Länge, bis Barrie Evergreens Füße den Boden berührten. Die Zuschauer auf den Rängen schrien auf – und einige fielen sogar in Ohnmacht.

»DAS IST NICHT BARRIE EVERGREEN!«, brüllte Seven von seiner Loge.

»Wir sind aufgeflogen!«, rief Richter Evergreen seiner Familie zu. »Legen wir los!«

Mit einem Mal lösten sich die Ketten an Händen und Füßen der Evergreens in Luft auf. Die Familie zog sich die Haut von den Gesichtern und die Haare vom Kopf – die ganze Zeit über hatten sie verzauberte Kostüme getragen! Als sie die Masken und Perücken abgelegt hatten, kamen die wahren Gestalten der Hochstapler zum Vorschein. Richter Evergreen war eine rundliche junge Frau mit Federn anstatt Haaren auf dem Kopf, Mrs. Evergreen stellte sich als mannshohe Puppe mit Knopfaugen und Haut aus Sackleinen heraus, Brooks war eine Pflanze auf zwei Beinen mit von Chlorophyll grünem Teint und Blättern anstelle von Haaren, und Penny hatte Flügel, hervortretende Augen und einen Stachel wie ein riesiges Insekt. Als bestünde sein Kopf aus Knetmasse, schlüpfte Barries Kopf durch die Schlinge, und als er seine Verkleidung ablegte, erschien ein junges Mädchen mit Schnurrbart und Stinktierschwanz.

»WIR HABEN UNS VON HEXEN TÄUSCHEN LASSEN!«, kreischte Seven.

Als wäre das nicht schon genug für die aufgewühlte Menge im Kolosseum, da rissen sich die fünf Clansmänner auf dem Galgen die silbernen Uniformen vom Leib, und darunter kamen fünf farbenfrohe Gestalten zum Vorschein. Die erste war ein junger Mann in einem goldenen Metallanzug, dem Flammen aus Kopf und Schultern schossen. Die zweite war eine junge Frau mit schwarzen Locken in einem Gewand aus schimmernden Smaragden. Als Drittes erschien ein Mädchen in einem Kleid aus Honigwaben, deren Haar zu einem leuchtend orangefarbenen Bienenstock aufgetürmt war. Die vierte im Bunde war ein Mädchen in einem saphirblauen Badeanzug, ihr Haar flutete wie zwei ewig fließende Wasserfälle über ihren Körper. Als Fünfte und Letzte zeigte sich eine schöne junge Frau in einem glitzernden Hosenanzug mit einem kristallenen Zauberstab in der Hand.

»DER RAT DER FEEN!«, brüllte Seven. »TÖTET SIE! TÖTET SIE ALLE!«

Die Armbrustschützen richteten ihre Waffen auf die Eindringlinge. Brystal Evergreen zielte mit ihrem Zauberstab auf Stitches, Sprout, Beebee und Pip, und Besenstiele erschienen in den Händen der Mädchen. Flink sprangen die Hexen auf ihre Besen und erhoben sich in die Luft. Dann rasten sie im Kreis um die Arena, so dicht über den Zuschauerrängen, dass Bürger und Clansmänner sich auf den Boden werfen mussten, um ihnen zu entgehen. Die plötzliche Hektik riss die Armbrustschützen kurz aus ihrer Konzentration – sie konnten sich nicht entscheiden, wen sie zuerst ins Visier nehmen sollten.

»IHR ESEL! LASST EUCH NICHT ABLENKEN!«, tobte Seven. »ZIELT AUF DIE GUTE FEE! SIE HAT ABSOLUTE PRIORITÄT!«

»Xanthous! Skylene! Gebt mir Dampf!«, rief Brystal.

Aus Xanthous’ Handflächen brach ein Feuerstrahl hervor, während Skylene eine Woge aus Wasser aus ihrem Zeigefinger schoss. Als Feuer und Wasser sich trafen, entstand eine gewaltige Dampfwolke. Brystal schwang ihren Zauberstab, und ein heftiger Wind wehte den Dampf im Kreis um die Arena und nahm den Armbrustschützen jede Sicht auf die Feen und Gefangenen.

»WARUM SCHIESST IHR NICHT?«, schrie Seven.

»Sir, die Armbrustschützen können nichts sehen! Und wir haben noch Männer dort unten!«, erwiderte der Oberste Anführer.

»MIR IST EGAL, WEN ODER WAS SIE TREFFEN! SCHIESST EINFACH!«, befahl Seven.

Die Armbrustschützen feuerten, und Blutsteinpfeile zischten durch die Arena, haarscharf an Brystal und ihren Freunden vorbei. Feige versuchten die verbliebenen Männer der Bruderschaft, die Gefangenen als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Doch mit einem Schwung ihres Zauberstabs schickte Brystal die Clansmänner in die Dampfwolke, wo sie im Kreis um die Feen wirbelten, als hätte ein wütender Tornado sie erfasst. Aus Angst, einen ihrer Mitbrüder zu verletzen, senkten die Armbrustschützen die Waffen.

Angesichts der Unfähigkeit der Bruderschaft heulte der Kaiser vor Wut auf. Mit einem Satz war er auf der anderen Seite der Loge und rief die Patrouille aus toten Soldaten am Eingang.

»WACHEN! STÜRMT DIE ARENA UND TÖTET DIESE HEIDEN! KEINE HEXE ODER FEE VERLÄSST DAS KOLOSSEUM LEBEND!«

»Emerelda! Schnell! Mach die Ketten der Gefangenen los!«, wies Brystal an.

Während die Armee der Toten auf das Kolosseum zumarschierte, hastete Emerelda von einem Gefangenen zum nächsten und verwandelte die Ketten an Händen und Füßen in weichen Speckstein, der bei der leisesten Berührung bröselte und zerfiel.

»Lucy! Mandarina! Blockiert die Eingänge, bevor die Soldaten reinkommen!«, rief Brystal.

Die Mädchen rannten in entgegengesetzter Richtung los, jede zu einem der beiden Eingänge. Dort angekommen, schlug Lucy mit der Faust auf den Boden, und vor ihr breitete sich ein großer Riss im Boden aus. Als der zickzackförmige Spalt den Türbogen traf, stürzte er wie vom Blitz getroffen in sich zusammen, und der Durchgang war für die toten Soldaten versperrt. Mandarina schickte ihre Hummeln in den zweiten Eingang, und der Schwarm tränkte die marschierenden Soldaten derart mit Honig, dass sie an Boden und Wänden kleben blieben. Nach kürzester Zeit war die Pforte von klebrigen Skeletten verstopft.

»Die Eingänge sind versperrt, aber dementsprechend auch die Ausgänge!«, rief Lucy. »Wie bringen wir jetzt die Gefangenen in Sicherheit?«

»Überlass das mir!«, erwiderte Brystal.

Brystal richtete ihren Zauberstab auf die Gefangenen, und riesige Seifenblasen umschlossen einen jeden von ihnen. Zum Erstaunen der Gefangenen erhoben sich die Seifenblasen in die Luft und trugen sie hoch hinauf in den Abendhimmel. Als alle das Kolosseum himmelwärts verlassen hatten, erschuf Brystal auch für Emerelda, Xanthous, Mandarina, Skylene, Lucy und zuletzt sich selbst Seifenblasen, und sie flogen den Geretteten hinterher. Stitches, Sprout, Beebee und Pip folgten auf ihren Besen.

Während die Feen sich entfernten, verflüchtigte sich die Dampfwolke allmählich, und die wirbelnden Clansmänner stürzten zu Boden. Als sie die Flucht bemerkten, jubelten die Zuschauer wie wild, aber schnell erinnerten sie sich daran, wie streng verboten solches Wohlwollen war, und verstummten. Der Kaiser spuckte beim Anblick der davonschwebenden Feen, Hexen und Gefangenen vor Zorn.

»OBERSTER ANFÜHRER! ALARMIEREN SIE DIE ARMBRUSTSCHÜTZEN IN DER STADT!«, befahl er. »UND ICH VERSPRECHE IHNEN, WENN SIE DIE FEEN ENTKOMMEN LASSEN, VERLANGE ICH IHREN KOPF AUF EINEM SILBERTABLETT!«

»Sofort, Eure Majestät!«, erwiderte der Oberste Anführer.

Er blies in ein Horn, und die Armbrustschützen folgten dem Signal zum Angriff augenblicklich. Hunderte und Aberhunderte Blutsteinpfeile sausten durch den Himmel auf die Flüchtenden zu. Die getroffenen Seifenblasen zerplatzen, und die »Magie-Sympathisanten« stürzten ab. Energisch schwang Brystal ihren Zauberstab und erschuf neue Seifenblasen um die Fallenden, aber sie war nicht schnell genug.

»Stitches! Sprout! Beebee! Pip! Helft mir, sie aufzufangen!«, rief Brystal.

Sofort schossen die Hexen in Richtung Boden, und es gelang ihnen, die Gefangenen kurz vor dem Aufschlag zu schnappen und auf ihre Besen zu ziehen. Doch der Platz auf ihren Besen war begrenzt, und die Armbrustschützen setzten ihren Angriff unvermindert fort.

»JA!«, jubelte Seven beim Anblick der platzenden Seifenblasen. »Sie schaffen es nie aus der Stadt! Sie werden alle fallen wie die Fliegen!«

»Emerelda!«, rief Brystal über ihre Schulter. »Wir brauchen Verstärkung!«

Emerelda nickte und presste eine kleine Pfeife gegen ihre Lippen. Mit aller Kraft blies sie hinein, und ein heller, durchdringender Ton schallte über die Landschaft.

»Seht nur, Majestät!«, sagte der Oberste Anführer. »Da nähert sich etwas der Stadt!«

Als der Kaiser den Blick in die Ferne richtete, fiel jede Hochstimmung von ihm ab. Ein gigantischer schwarzer Schatten tauchte am Horizont auf – und wie ein Schleier, der von einer Windbö mitgerissen wurde, flatterte er auf sie zu. Als der Schatten dichter an die Stadt herankam, erkannte der Kaiser, dass es sich dabei nicht um ein einziges, großes Objekt handelte, sondern er setzte sich aus Tausenden Einzelteilen zusammen. Seven hob sein Fernglas und erkannte, dass es sich um einen riesigen Schwarm Greife handelte, der in die Stadt einfiel!

Die magischen Geschöpfe tauchten in die Häuserschluchten von Chariot Hills und attackierten die Armbrustschützen. Mit einem Flügelschlag warfen sie die Clansmänner von den Dächern, mit ihren Schnäbeln rissen sie ihnen die Waffen aus den Händen, und mit ihren Klauen schnappten sie sich ganze Hände voll Blutsteinpfeile. Völlig überrumpelt von dem plötzlichen Angriff durch die majestätischen Tiere flohen viele Clansleute von ihrem Posten. Die Attacke verschaffte den Feen, Hexen und Gefangenen Zeit, Chariot Hills hinter sich zu lassen. Kaum waren alle außer Reichweite der Blutsteinpfeile, machten die Greife kehrt und schlossen sich der Prozession aus Seifenblasen an, und gemeinsam schwebten sie wohlbehalten davon.

»NEIIIIIIN!«, brüllte Seven so laut, dass er in der ganzen Stadt zu hören war. »WIE IST DAS MÖGLICH?! WIE KONNTEN WIR SIE ENTKOMMEN LASSEN?! SCHON WIEDER!«

Der Oberste Anführer schluckte schwer und machte einen Schritt zurück.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Eure Hoheit«, sagte er. »Ich dachte wirklich, unser Plan wäre narrensicher!«

Der Kaiser packte das Fernglas so fest, dass es in seinen Händen knirschte, doch plötzlich erstarrte er und wurde sehr still. Sein Zorn war wie weggeblasen, als ihm etwas Seltsames auffiel.

»Warte mal«, murmelte Seven. »Wo ist die Gute Fee geblieben? Sie und die dicke Hexe sind nicht mehr bei den anderen!«

Wieder und wieder suchte der Kaiser mit seinem Fernglas den Himmel ab, aber Brystal und Lucy waren verschwunden.

»Eure Befehle, Majestät?«, fragte der Oberste Anführer.

»Versammeln Sie Ihre Männer und durchsuchen Sie sofort die Stadt!«, verlangte Seven. »Die beiden sind noch hier!«

Brystals und Lucys Seifenblasen zerplatzten, kaum dass sie den Boden des Marktplatzes von Chariot Hills berührten. Ohne abzuwarten, rannte Brystal los, und Lucy sprintete ihr hinterher.

»Also, die Rettungsaktion war der Hit, aber unsere Vorstellung ging ziemlich in die Hose!«, schimpfte Lucy. »Im Showbusiness gibt es nichts Schlimmeres als einen Neuling, der glaubt, er könnte improvisieren.«

Plötzlich blieb Brystal wie angewurzelt stehen und blickte sich verwirrt um. Sie erkannte ihre Heimatstadt kaum wieder. Alle Gebäude waren in silberne Banner gehüllt, die entweder das Konterfei des Kaisers oder den weißen Wolf der Bruderschaft zeigten, alle Türen und Fenster waren vernagelt oder mit schweren Ketten versperrt, und die Statuen und Denkmäler früherer Herrscher, die noch standen, waren völlig demoliert. Zudem türmten sich in den Straßen große Aschehaufen, aber Brystal konnte nicht erkennen, was da verbrannt worden war. Die Luft war immer noch rauchgeschwängert, weshalb Brystal kaum weiter als ein paar Meter sehen konnte.

»Was ist los, Brystal?«, fragte Lucy. »Warum gehen wir nicht weiter?«

»Alles sieht so anders aus, ich weiß nicht mehr, welches Gebäude welches ist«, erwiderte sie.

»Gibt es hier irgendwo eine Stadtkarte?«

»Nein – aber ich kann eine machen.«

Brystal schloss die Augen und ließ in ihrem Kopf das Bild des Chariot Hills ihrer Kindheit entstehen. Dann schwang sie einen Arm in einem weiten Kreis, und Tausende kleiner Lichter brachen aus der Spitze ihres Zauberstabs, so dass es aussah, als würde sie die Straße mit funkelnden Wassertropfen bespritzen. Doch die Lichter blieben nicht an den Gebäuden von heute kleben, sondern erweckten die Stadt aus Brystals Erinnerung zum Leben. Kaum dass Brystal die Augen aufgeschlagen und ihren Standort ermittelt hatte, verschwanden die Lichter wieder.

»Die Bibliothek ist hier drüben«, sagte sie. »Mir nach! Wir haben nicht viel Zeit!«

Brystal nahm Lucy bei der Hand und zog sie zu einem Bauwerk mit Glaskuppel auf der anderen Seite des Marktplatzes. Wie die anderen Gebäude auch war die Bibliothek von silberfarbenen Bannern verhüllt, besonders war allein ein hoher metallener Zaun, der den Eingang blockierte. An dem Zaun war ein Schild angebracht, auf dem stand:

ACHTUNG!

 

Laut § 2 der neuen Kaiserlichen Verfassung

ist der Zutritt zu diesem Gebäude der Öffentlichkeit untersagt.

Unautorisiertes Eindringen ist verboten.

Zuwiderhandlung wird mit dem Tode bestraft.

Diese Warnung brachte Brystals Blut zum Kochen. Sie sprengte den Zaun mit ihrem Zauberstab, sie eilten die Treppe hinauf, und Lucy stieß die Doppeltür auf. Kaum hatten sie die Schwelle überschritten, drehte sich Brystal der Magen um. Die Bibliothek war bis zur Unkenntlichkeit geplündert worden! Die Möbel lagen umgestürzt auf dem Boden, die Sitzkissen waren aufgeschlitzt. Der große silberne Globus, der einst im Zentrum der untersten Etage gethront hatte, lag nun in Scherben über dem Teppich verstreut. Doch am meisten erschreckte Brystal, dass jedes Regalbrett der dreistöckigen Bibliothek leer war.

»Ziemlich dürftige Auswahl«, meinte Lucy.

»Eigentlich nicht«, erwiderte Brystal. »Früher standen hier die Bücher bis zur Decke.«

»Was ist passiert?«, wollte Lucy wissen.

»Seven muss sie irgendwo versteckt haben«, antwortete Brystal. »Lass uns nachsehen, ob er irgendetwas zurückgelassen hat.«

Brystal und Lucy wanderten durch die leeren Regalreihen wie Ratten durch ein mehrstöckiges Labyrinth. Keine einzige Buchseite hatte die Säuberungsaktion des Kaisers überlebt. Nicht einmal die Geheimkammer der Richter, auf die Brystal gestoßen war, als sie als Dienstmädchen in der Bibliothek gearbeitet hatte, war verschont geblieben. Geschlagen tigerte Brystal vor einem Fenster im zweiten Stock auf und ab. Sie ließ ihren Blick hinaus auf den Marktplatz schweifen und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Auf einmal wusste sie ganz genau, woher all die Asche auf den Straßen kam.

»Seven hat die Bücher nicht versteckt – er hat sie verbrannt!«, keuchte Brystal fassungslos.

»Das verstehe ich nicht«, meinte Lucy. »Warum sollte Seven einen Haufen Bücher verbrennen?«

Brystal seufzte und schüttelte den Kopf. »Weil Lesen zum Denken anregt, Denken Ideen inspiriert und Ideen zu Wandel führen. Und nichts ist gefährlicher für einen Tyrannen als Wandel.«

Lucy ballte beide Hände zu Fäusten. »Gott, ich hasse diesen Kerl!«, knurrte sie. »Immer wenn ich glaube, ich könnte niemanden mehr verabscheuen, straft er mich Lügen.«

»Zum Glück können Bücher ersetzt werden«, sagte Brystal. »Nun ja … zumindest die meisten.«

Lucy schluckte schwer. »Glaubst du, es wurde mit den anderen zerstört?«

»Ehrlich gesagt habe ich nie wirklich geglaubt, dass es hier ist. So ein Buch wäre mir mit Sicherheit aufgefallen, als ich hier gearbeitet habe. Aber da war nichts, was ihm auch nur im Entferntesten geähnelt hätte – nicht einmal in der Privatsammlung der Richter.«

»Aber das ist die einzige Bibliothek, die wir noch nicht durchsucht haben. Wenn es nicht hier ist, wo ist es dann?«

Brystal verstummte, als sie sich dieselbe Frage stellte. Doch plötzlich erhellte ein seltsamer roter Lichtschein den Raum, und sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Die Mädchen wirbelten herum, nur um den Gerechten Kaiser am Ende der Regalreihe zu erblicken. Aus seinem finsteren Gesicht sprach nichts als Hass.

»Seven.«

Einen kurzen Augenblick lang wollte Brystals Herz beim Anblick des Kaisers fröhlich hüpfen. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass Seven der schneidige junge Prinz war, der sie so umgehauen hatte – nicht der gefährliche Mann, der versucht hatte, sie zu töten.

»Ich schätze mal, deine echte Familie ist wohlauf«, schnarrte Seven.

»Sie sind seit Monaten gesund und munter«, erwiderte Brystal.

Der Mund des Kaisers kräuselte sich zu einem düsteren Lächeln, doch der Hass wich keine Sekunde aus seinen Augen.

»Ehre, wem Ehre gebührt«, sagte er. »Nicht schlecht, deine Einlage im Kolosseum. Leider wird deine beste Aktion auch deine letzte gewesen sein.«

Auf ein Fingerschnippen des Kaisers hin erschien neben ihm der Oberste Anführer mit seiner Bruderschaft. Die Clansleute traten in die Regalreihe und drängten Lucy und Brystal zurück, bis die Mädchen mit dem Rücken an der Wand standen. Am liebsten hätte Brystal ihren Zauberstab geschwungen und Seven durch die Bibliothek fliegen lassen, aber ihr war klar, dass ihre Magie gegen den Blutstein nichts ausrichten konnte. Mit seinen Wachen an Ort und Stelle schlenderte der Kaiser zu den Mädchen und blickte ihnen tief in die Augen.

»Und nun sag, wie viele Leben hast du, Brystal?«, fragte Seven. »Oder nein, warte, es soll eine Überraschung werden. Ich bin willens, dich so oft zu töten, wie es eben nötig ist.«

»Mich zu töten, wird dir nicht den Sieg bringen«, erwiderte Brystal. »Es ist ganz egal, wie viele Gesetze du erlässt, wie viele Lügen du erzählst oder wie viele Bücher du verbrennst – der Tag der Abrechnung wird kommen. Dein Volk ist weitaus klüger und stärker, als du glaubst. Mit mir oder ohne mich, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie deine Tyrannei satthaben und sich gegen dich erheben.«

»Und ebendas ist der Punkt, an dem du dich täuschst«, sagte er. »Eine erfolgreiche Revolte braucht drei Dinge: Tapferkeit, Intelligenz und Widerstandskraft – und diese Eigenschaften sind nicht angeboren. Nein, nein, nein. Mut muss geweckt, der Verstand muss geschärft, und Stärke muss ermutigt werden. Doch wenn ich alles zerstöre, was eine Gesellschaft nährt, dann verliert die Gesellschaft die Mittel, mich zu zerstören. Und nichts wird die Leute mehr entmutigen, als der Kopf der Guten Fee auf einem Spieß.«

»IST DAS ENTMUTIGEND GENUG FÜR DICH, DU SONNENBRAND AUF ZWEI BEINEN?«, schrie Lucy da und warf sich gegen das nächstgelegene Bücherregal. Es kippte und begrub den Kaiser mit einem lauten Krachen unter sich. Seven stöhnte und wand sich, doch das Regal war einfach zu schwer.

»So improvisiert man«, verkündete Lucy. »Entschuldige bitte, falls ich deinen Plausch unterbrochen habe, Brystal.«

»Ich bin nur neidisch, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin«, erwiderte Brystal.

»STEHT NICHT EINFACH SO RUM! TÖTET SIE!«, brüllte Seven.

Mit erhobenen Waffen stürmten die Männer der Bruderschaft auf die Mädchen zu. Lucy schlug mit der Faust auf den Boden, und eine riesige Welle rollte durch den Teppich. Die Welle traf die Regale ringsumher, die erst bedrohlich schwankten und dann, eines nach dem anderen, auf die Clansmänner niederstürzten.

»Nicht schlecht!«, meinte Brystal zu Lucy.

»Danke«, sagte sie. »Dasselbe habe ich mal gemacht, um aus einer Schnapsbrennerei rauszukommen, aber das ist eine andere Geschichte! Verschwinden wir von hier!«

Über die Bücherregale und die darunter gefangenen Clansmänner springend, eilten Brystal und Lucy den Gang entlang. Doch unglücklicherweise war Lucys Welle weit stärker geraten als beabsichtigt. Als die beiden in den nächsten Gang stürmten, krachten auch hier überall um sie her die Bücherregale zu Boden.

»Mach, dass es aufhört, Lucy!«, kreischte Brystal.

»Du weißt genau, dass ich es nicht aufhalten kann, wenn ich mal damit angefangen habe!«, rief Lucy. »Mit meiner Magie ist es wie mit dem Chipsessen!«

Den Mädchen blieb nichts übrig, als davonzurennen, während die Regale im zweiten Stock fielen wie ein riesiges Dominospiel. An der Treppe angekommen, stürzten die Möbel über die Brüstung in die darunterliegenden Stockwerke, wo sich das Spektakel fortsetzte. Als Lucy und Brystal das Erdgeschoss erreicht hatten, stand im ganzen Gebäude kein einziges Regal mehr.

Der Anblick des Trümmerhaufens entlockte Lucy ein nervöses Lachen. »Ich schätze, jetzt bist du froh, dass du nicht mehr Dienstmädchen hier bist.«

Die Mädchen liefen zum Ausgang, doch kaum waren sie bei der Tür angelangt, blieben sie abrupt stehen – die Armee der Toten hatte die Bibliothek umstellt! Brystal und Lucy saßen in der Falle. Als sie die Mädchen erblickten, setzten sich die toten Soldaten sofort in Bewegung.

»Herrje, diese Kerle sind wie die Kakerlaken! Es werden immer mehr!«, stöhnte Lucy. »Wie sollen wir an denen vorbeikommen?«

Auf der Suche nach einem Fluchtweg ließ Brystal den Blick durch die Bibliothek schweifen, bis er schließlich an der Glaskuppel über ihnen hängenblieb.

»Schnell! Halt dich an mir fest!«, sagte sie.

»Warum?«, fragte Lucy.

»Jetzt bin ich dran mit Improvisieren.«

So fest sie konnte, schlang Lucy die Arme um Brystals Taille. Brystal hob ihre Hand zur Decke, und ein helles Licht brach aus der Spitze ihres Zauberstabs. Das Licht hüllte die Feen ein, und plötzlich schossen sie wie eine Sternschnuppe durch die Kuppel. Das Glas zerbarst, und Scherben regneten auf die toten Soldaten herab.

Im zweiten Stock krochen die Männer der Bruderschaft und ihr Oberster Anführer langsam unter den Regalen hervor. Als sie sich aufgerappelt hatten, eilten sie zum Kaiser und hievten das schwere Möbelstück zur Seite.

»Seid Ihr verletzt, Hoheit?«, fragte der Oberste Anführer.

»Es geht mir gut«, blaffte Seven, als er auf die Beine kam. »Wo ist die Gute Fee?«

»Sie und ihre Begleiterin sind entkommen, Sir.«

»WIE BITTE?!«

In wilder Wut packte der Kaiser den Obersten Anführer an der Schulter und schubste ihn durch das nächste Fenster.

»Der Oberste Anführer wurde entlassen!«, erklärte Seven und deutete wahllos auf einen der Brüder. »Sie da! Sie sind der neue Oberste Anführer! Wenn Sie mich enttäuschen, wird Sie dasselbe Schicksal ereilen! Verstanden?«

Schnell verbeugte sich der Clansmann, doch die Augen hinter der silbernen Maske waren vor Schreck weit aufgerissen.

»Zu Euren Diensten, Hoheit«, sagte er mit zittriger Stimme.

»Gut«, knurrte Seven. »Die Gute Fee hat irgendetwas vor – das habe ich im Gefühl! Wir müssen herausfinden, was sie plant!«

»Was hatte sie in der Bibliothek verloren, Sir?«

»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Seven. »Sie sucht nach einem Buch.«

»Nach was für einem Buch, Hoheit?«

Der Kaiser starrte aus dem zerbrochenen Fenster, als könne er die Antwort auf dem trostlosen Marktplatz finden, doch es regte sich nichts.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber was es auch ist, wir müssen es vor ihr finden.«

Kapitel 2Der Countdown

Tick … tack … tick … tack …

Brystal hatte das Geräusch tickender Uhren schon immer als unangenehm empfunden. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie die Zeit in der »Chariot Hills Schule für zukünftige Ehefrauen und Mütter« absaß oder die Minuten zählte, die ihr noch blieben, um in der Bibliothek heimlich Bücher zu lesen. Brystal hätte nicht erwartet, dass ihre Abneigung gegen das unheilvolle Ticken noch wachsen könnte. Welch ein Irrtum.

Tick … tack … tick … tack …

Brystal blickte auf die silberne Taschenuhr, die an ihrer Taille befestigt war. Jemand anders hätte nun festgestellt, dass es kurz vor zwölf war. Und jemand anderes als sie hätte das sanfte Ticken kaum wahrgenommen. Doch für Brystal klang das leise Uhrwerk ohrenbetäubend. Ihre Uhr zählte nicht die Stunden ihres Tages herunter, sondern die Tage ihres Lebens.

Zwei Wochen …

 

Sind alles, was dir bleibt …

 

Um das alte Zauberbuch zu finden …

 

Und die Unsterbliche zu vernichten …

 

Und du bist noch keinen Schritt weiter …

Tick … tack … tick … tack …

Du trittst seit einem Jahr auf der Stelle …

 

Die Wahrheit ist …

 

Dir läuft die Zeit davon …

 

In dreizehn Tagen …

 

Bist du tot.

Der Fluch, der auf Brystals Geist lastete, machte sich dieser Tage selten bemerkbar. Sie war so gut darin geworden, die quälenden Gedanken zu ignorieren, dass sie es fast unbewusst tat. Selbst wenn die verstörende Stimme es gelegentlich schaffte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, genoss Brystal es, sie in die Schranken zu weisen. Sie empfand die Gedankenstimme nicht mehr als mächtigen Feind, sondern als alte Bekannte, mit der sie sich gerne einen Schlagabtausch lieferte.

Vielleicht hast du recht …, dachte sie.

Aber wessen Uhr ist nicht abgelaufen?

Wessen Tage sind nicht gezählt?

Mein Leben mag demnächst enden, aber ich kann aus der mir verbleibenden Zeit das Beste machen …

Und ich werde keine Sekunde verschwenden.

Brystal ließ die Uhr zuschnappen und in die Tasche ihres Hosenanzugs gleiten. Sie stand an der Fensterfront ihres Büros in der Akademie für Magie und genoss den Ausblick auf die sanften grünen Hügel und den glitzernden blauen Ozean. Da Brystal wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, gab sie sich Mühe, das Reich der Feen zu bewundern, wann immer sie konnte. Trotzdem schwelgte sie nicht allzu lange im Anblick der Landschaft – Tod hin oder her, sie hatte eine Menge Arbeit.

Glücklicherweise stand sie mit der Aufgabe, das antike Zauberbuch und die Unsterbliche zu finden, nicht allein da. Zum ersten Mal hatte Brystal ihren Freunden die bittere Wahrheit anvertraut, statt sie vor ihnen zu verheimlichen. Sie waren über ihren Pakt mit dem Tod informiert, und sie wussten auch, dass Brystal die Unsterbliche binnen eines Jahres finden und mit Hilfe eines uralten Zauberbuchs töten musste, wenn sie nicht selbst sterben wollte. Brystal war gar nicht dazu gekommen, ihre Freunde um Hilfe zu bitten, da hatten diese das Heft schon in die Hand genommen.

Während der letzten elf Monate und zwei Wochen war Brystals Büro zum Dreh- und Angelpunkt einer akribischen Ermittlung geworden. Die Feen fahndeten nach den Standorten aller bekannten Bibliotheken, Buchläden und Antiquariate der Welt, so dass die gläsernen Möbel nach und nach unter Stapeln von Landkarten und Adressbüchern verschwanden. Während sie unermüdlich nach dem Zauberbuch suchten, forschten die Hexen geduldig nach der Identität der Unsterblichen. Alle Wände des Büros waren zugeklebt mit Geburtsurkunden, Todesurkunden und Bildern von äußerst betagten Damen.

Nachdem die Bibliotheken sich als Sackgasse erwiesen hatten, konzentrierten sich die Feen nun darauf, Buchläden und angesehene Antiquare anzuschreiben. Um die Geheimhaltung der Mission zu gewährleisten, schrieben die Feen unter falschen Namen und erkundigten sich bei den Händlern und Büchersammlern nach irgendwelchen älteren Ausgaben, die sie vielleicht besaßen. Jeden Morgen hievte Horence, der Ritter, einen schweren Sack mit Post ins Büro, und die Feen arbeiteten sich, in der Hoffnung auf eine heiße Spur, durch die Briefe.

»Ich habe Post vom Bücherwurm aus Tinzelshöh bekommen!«, verkündete Emerelda. »Anscheinend hat die Buchhandlung kürzlich zugemacht, und jetzt ist dort ein Café. Verdammt, das ist die vierte diesen Monat! Sie schreiben, sie hätten die Bücher einem lokalen Waisenheim gestiftet, aber keines sei älter als zehn oder zwanzig Jahre gewesen.«

»Der Antiquar aus Longworth hat mir endlich geantwortet!«, erklärte Mandarina. »Mr. Gibbinson meint, er würde uns mit Freuden seine alten Lehrbücher sowie … seine ausgestopften Waschbären zeigen. Der zweite Teil ist ein bisschen besorgniserregend, aber der erste Teil klingt vielversprechend.«

»Es gibt Neuigkeiten aus dem Östlichen Königreich!«, rief Xanthous. »Der Page-Turner aus Eiserne Hand schreibt, sie seien auf antiquierte Bücher aus aller Welt spezialisiert. Sie haben sogar ein paar Exemplare aus der Zeit von König Champion I. Wir sollten hin und das überprüfen!«

Außer der Post brachte Horence jeden Morgen auch einen Stapel Zeitungen aus verschiedenen Städten rund um den Globus. Die Hexen überflogen die Todesanzeigen, was ihnen dabei half, Frauen, die sie der Unsterblichkeit verdächtigten, aus ihren Ermittlungen auszuschließen.

»Wieder eine hopsgegangen!«, verkündete Lucy.

»Faradean Fairtucket hat letzte Woche im stolzen Alter von einhundertundzwölf Jahren offiziell den Löffel abgegeben. Sie hinterlässt vier Kinder, fünfzehn Enkel und sieben viel jüngere Exmänner – meine Güte, großartig, Faradean! Ihre letzten Worte waren: Da bist du ja, Gott. Ich dachte schon, du hast mich vergessen.«

»Ich habe noch mehr schlechte Nachrichten«, sagte Pip. »Ester Esterwig ist mit einhundertunddrei Jahren verstorben. Sie wurde gestern auf dem Ewigkeitsfriedhof von Tinzelshöh beerdigt. Es heißt, sie sei friedlich gegangen, während ihr Ehemann schlief – offenbar hat Ester unter Schlafstörungen gelitten. Verflixt, sie war meine Favoritin.«

»Anscheinend weilt auch Windella Parkweed nicht mehr unter uns«, erklärte Sprout. »Sie ist nur einen Tag vor ihrem hundertfünften Geburtstag gestorben. Windella hinterlässt ihre geliebten Katzen Herr Schnauzbart, Schnurri-Baby, Weiße Socke, Doktor Haarball, Samtpfötchen und Grimbart II. Die Todesursache ist immer noch nicht geklärt, weil die Katzen den Leichnam gefressen haben.«

»Cool!«, bemerkte Stitches und grinste breit. »Was dagegen, wenn ich die nehme?«

Stitches schnitt die Anzeige aus der Zeitung und holte ihr Sammelalbum für grauenhafte Todesfälle heraus, das sie extra angelegt hatte. Während Stitches den Zeitungsausschnitt einklebte, flog Beebee durch das Büro und malte große rote X auf die Gesichter von Faradean Fairtucket, Ester Esterwig und Windella Parkweed.

»U-U-Uns gehen die Hundertjährigen aus«, meinte Beebee.

»Angeblich hundertjährig«, verbesserte Stitches. »Ich sage euch Leuten die ganze Zeit, es spielt keine Rolle, was die Zeitungen schreiben, diese Todesanzeigen könnten gefälscht sein! Wenn wir wissen wollen, was wirklich los ist, müssen wir diese Frauen ausgraben und nachsehen, ob sie wirklich tot sind!«

Pip schluckte und hob die Hand. »Brystal, kann ich zum Zauberbuch wechseln? Die Suche nach der Unsterblichen nimmt eine unerwartete Wendung.«

»Ich gebe Stitches ungern recht, aber da ist was dran«, erklärte Emerelda. »Wer weiß, wie oft die Unsterbliche ihren Tod vortäuschen musste, um keinen Verdacht zu erregen? Wenn wir sie finden wollen, müssen wir über den Tellerrand schauen. Die älteste Frau der Welt wird nicht einfach zur Tür hereinspazieren.«

Plötzlich schwang die Bürotür auf, und Mrs. Vee trat ein.

»Hallihallo, Kinder!«, trällerte die quirlige Haushälterin. »Ich dachte, ihr habt vielleicht Hunger, und habe euch ein bisschen Himbeercreme gemacht! Unglaublich, aber einer der Gefangenen, die ihr gestern aus dem Gerechten Imperium befreit habt, ist ein preisgekrönter Konditor! Was für ein Riesenglück! Wir haben den ganzen Vormittag Rezepte ausgetauscht. Stitches, Sprout und Beebee, ich habe mir eure Essenswünsche zu Herzen genommen und gegen euer Heimweh ein paar Spinnenbeine in eure Gläser gestreut. Aber das war nicht das erste Mal, dass ich den Leuten Insekten ins Essen gemischt habe! Haha!«

Skylenes Augen weiteten sich, und sie richtete den Zeigefinger auf die Haushälterin. »Oh mein Gott! Mrs. Vee ist die Unsterbliche!«, rief sie. »Warum haben wir das nicht schon früher gemerkt? Sie ist der älteste Mensch, den wir kennen. Sogar ihre Witze sind seit hundert Jahren aus der Mode.«

Mrs. Vee verdrehte die Augen und stellte das Tablett mit der Himbeercreme auf das Teetischchen.

»Noch einmal, Skylene, dass du so gut von mir denkst, schmerzt mich«, sagte die Haushälterin. »Glaubst du, ich würde so aussehen, wenn ich die Unsterbliche wäre?«

»Wie meinen Sie das, Mrs. Vee?«, fragte Mandarina.

»Meiner Meinung nach ist das Beste an der Unsterblichkeit, dass man nicht älter wird«, antwortete sie. »Warum sonst sollte jemand ewig leben wollen? Ich will doch nicht die Ewigkeit damit verbringen, immer älter und schwächer zu werden. Ich mag keine Rosinen im Salat und erst recht nicht im Spiegel! Haha!«

Die Feen und Hexen erstarrten und tauschten entsetzte Blicke.

»Natürlich!«, rief Pip und zupfte nervös an ihren Ohren. »Die ganze Zeit haben wir nach einer alten Frau gesucht! Aber die Unsterbliche könnte jedes Alter haben! Das bedeutet, sie könnte jeder sein!«

»Das ist die S-S-Suche nach der N-N-Nadel im Heuhaufen!«, keuchte Beebee. »Wie sollen w-w-wir sie finden?«

»Entspannt euch!«, befahl Stitches. »Es gibt eine sehr einfache Lösung. Wir müssen einfach jede Frau ausgraben, die je gelebt hat. Ich übernehme gerne das Kommando für die Mission.«

Die Feen und Hexen stöhnten auf und ließen bekümmert die Köpfe hängen. Merkwürdigerweise schien die eine Person, die der neue Hinweis am meisten betraf, am wenigsten getroffen. Brystal blieb erstaunlich ruhig, als sei die Entwicklung kaum wichtiger als die Wettervorhersage.

»Wir müssen die Suche einfach ausweiten, das ist alles«, erklärte sie schulterzuckend. »Gehen wir noch mal zurück zum Zauberbuch. Mandarina, ich will, dass du und Skylene schnellstmöglich den Antiquar aus Longworth besucht. Bringt mir alles, was einem Zauberbuch auch nur ähnelt. Und Xanthous, du und Emerelda, ihr reist sofort ins Östliche Königreich und nehmt euch den Page-Turner vor. Aber kleidet euch wie normale Bürger und versteckt eure Magie – nicht dass es demnächst heißt, der Rat der Feen sucht nach alten Büchern.«

Emerelda verschränkte die Arme und starrte Brystal an, als könne sie ihre Gedanken lesen – und zu Brystals Ärgernis konnte sie das normalerweise auch.

»Bilde ich mir das nur ein, oder interessiert dich das Zauberbuch weit mehr als die Unsterbliche?«, fragte Emerelda.

Brystal seufzte. »Nach dem Stand der Dinge, finde ich, dass uns das Buch mehr bringt.«

»Aber wir brauchen beides, damit du nicht stirbst«, rief Emerelda. »Ich hoffe, dein Fluch versucht nicht, dich zu verwirren.«

»Es ist nicht der Fluch, der aus mir spricht, versprochen«, erwiderte sie. »Ich habe nur noch zwei Wochen, und ich will so pragmatisch und effektiv wie möglich vorgehen. Die Unsterbliche zu finden, würde nur mich retten, aber wenn wir das Zauberbuch finden, retten wir die ganze Welt. Ein Zauberspruch, der mächtig genug ist, die Unsterbliche zu vernichten, ist auch stark genug, die Armee der Toten aufzuhalten – dann wäre es endlich vorbei mit Seven und der Schreckensherrschaft der Bruderschaft. Ich kann glücklich sterben, wenn ich weiß, dass ihr für den Sieg gerüstet seid.«

»Das ist sehr ehrenhaft von dir, aber du sagst ja selbst, wir haben noch zwei ganze Wochen«, erwiderte Emerelda. »Ja, unsere Suche nach der Unsterblichen ist fast aussichtslos, aber wir müssen alles geben, sonst bereuen wir bis zum Ende unserer Tage, dass wir nicht mehr für deine Rettung getan haben.«

Die Feen und die Hexen nickten einträchtig zu Emereldas Worten. Brystal war von ihrer Loyalität berührt.

»Na gut«, sagte sie. »Ich gebe noch nicht auf.«

Lucy räusperte sich. »Kann ich meinen Senf beisteuern? Wenn du gern pragmatisch und effektiv vorgehen willst, es gibt eine sehr pragmatische und äußerst effektive Informationsquelle, die wir immer noch nicht befragt haben«, monierte sie und hob ungeduldig die Augenbrauen. »Wenn überhaupt irgendjemand weiß, wie man die Unsterbliche oder das antike Zauberbuch findet, dann Madame Weatherberry.«

Brystal holte tief Luft und blickte auf den Boden. »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie. »Nur … wenn ich sie um Hilfe bitte, müsste ich ihr die Wahrheit sagen – über alles. Und sie war so glücklich über die Nachricht, dass Magie legalisiert wurde – ich mag mir nicht ausmalen, wie hilflos sie sich fühlen würde, wenn sie von der Armee der Toten und meinem Pakt mit dem Tod erfahren würde. Es erscheint mir grausam, sie in Sorge zu stürzen.«

Lucy stemmte die Hände in die Hüften. »Brystal, diese Frau ist in einem Eisblock mitten im Nirgendwo eingeschlossen. Sie führt nicht unbedingt das, was man das schöne Leben nennt.«

Brystal blickte zu dem verzauberten Globus neben ihrem Schreibtisch und auf die schimmernden Polarlichter über den Nordbergen. Die anderen tappten im Dunkeln, was den eigentlichen Grund betraf, aus dem sie Madame Weatherberry nicht um Hilfe bat, und es hatte nichts damit zu tun, dass ihre ehemalige Lehrerin sich hilflos fühlen könnte. Leider hatte Brystal dieses Treffen schon zu lange aufgeschoben.

»Du hast recht, ich sollte mit ihr sprechen, solange es noch geht«, sagte sie. »Also haben wir alle unsere Aufgaben. Xanthous und Emerelda reisen ins Östliche Königreich, Mandarina und Skylene besuchen den Antiquar in Longworth, und Stitches, Sprout, Beebee und Pip beginnen mit der Suche nach Frauen, die wirklich richtig gut für ihr Alter aussehen. In der Zwischenzeit reisen Lucy und ich nach Norden.«

Kapitel 3Die eisige Wahrheit

In ihre wärmsten Mäntel gehüllt machten sich Lucy und Brystal noch am selben Nachmittag auf den Weg in die Nordberge. Sie verließen die Akademie für Magie in einer riesigen Seifenblase, überflogen die Territorien der Trolle und Kobolde in eisigen Höhen und gingen bei Einbruch der Nacht über den frostigen Nordbergen in den Sinkflug. Die Seifenblase landete sanft auf einer Anhöhe direkt unterhalb der schimmernden Polarlichter, und die Mädchen stapften auf der Suche nach Madame Weatherberrys Höhle durch die Schneelandschaft. Zum Glück war das Wetter ruhig, und rasch hatten sie den Höhleneingang entdeckt. Seit Brystals letztem Besuch bei Madame Weatherberry war über ein Jahr vergangen, doch während sie und Lucy durch den Stollen wanderten, der sich schließlich zu einer geräumigen Höhle öffnete, fühlte sich alles unheimlich vertraut an – als wäre in der Eiseskälte sogar die Zeit eingefroren.

Brystal machte einen Schlenker mit dem Handgelenk, woraufhin glitzernde Lichter zu den herabhängenden Stalaktiten emporschwebten und die Tropfsteinhöhle erstrahlte, als befänden sich Kronleuchter über ihnen. Sie hielten auf die hintere Höhlenwand zu, denn dort wartete, erstarrt in einem Eisblock, die frostige Schneekönigin auf die Mädchen. Das grauenerregende Äußere der Hexe – von der aufgesprungenen und frostbeuligen Haut bis zu ihren fauligen, spitzen Zahnstümpfen – war mindestens so erschreckend wie in Brystals Erinnerung.

»Oh, das ist eine schöne Überraschung«, erklang eine sanfte Stimme hinter ihnen.