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Lange haben sie sich nicht gesehen: Melanie und ihre ehemals beste Freundin Abigail. Während der Uni waren sie unzertrennlich, doch dann musste Mel ihr Studium abbrechen, weil sie schwanger wurde. Abi heiratete ihren Freund Rob, ging mit ihm nach Amerika, und die beiden verloren sich aus den Augen. Nun meldet sich Abi plötzlich bei Mel. Sie hat sich von Rob getrennt und kehrt nach England zurück. Mel lädt sie spontan ein, erst einmal bei ihr zu wohnen. Sie empfängt Abi mit offenen Armen. Doch bald macht Mel eine schreckliche Entdeckung. Warum ist Abi wirklich zurückgekommen? »Packend, voller Überraschungen und herzzerreißend - diese Geschichte ist außergewöhnlich.« Heat über »Bei deinem Leben«
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Seitenzahl: 605
HarperCollins®
Copyright © 2019 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Titel der englischen Originalausgabe: I invited her in Copyright © Adele Parks 2018 erschienen bei: HQ, an imprint of HarperCollins Publishers Ltd., London
Published by arrangement with HarperCollins Publishers Ltd., London
Covergestaltung: bürosüd, München Coverabbildung: Dennis Fischer Photography / Getty Images Lektorat: Anne Schünemann E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959678254
www.harpercollins.de
Plötzlich alleinerziehende Mutter zu werden, ist, als würdest du aus einem Auto gestoßen, das mit hoher Geschwindigkeit über die Autobahn rast. Tür auf, ein heftiger Windstoß, ein fieser kräftiger Schubs, und schon liegst du mit dem Gesicht auf dem Asphalt, mitten auf der Überholspur. Du rappelst dich hoch, umklammerst dein Kind. Ihr befindet euch beide in höchster Gefahr.
Dir bleibt allerdings keine Zeit, dich darüber aufzuregen, dass du gerade aus dem Auto gestoßen wurdest – aus dem Auto, von dem du glaubtest, es würde dich sicher und bequem durchs Leben an ein zwar unbestimmtes, aber zweifellos schönes Ziel bringen. In eine Zukunft, die auf jeden Fall ein hübsches Heim und die aktive Beteiligung des Vaters an der Kindererziehung einschließen würde. Nun bist du stattdessen damit beschäftigt, dem herannahenden Verkehr auszuweichen.
Die Autos rasen vorbei, du duckst dich, hechtest, springst zur Seite. Ein kleiner Fiat braust vorüber, und der Fahrer kurbelt das Fenster herunter, um dir zuzurufen: »Kinder alleinerziehender Eltern werden mit höherer Wahrscheinlichkeit schlechte Schüler.« Du hast keine Kristallkugel, die dir den Tag zeigt, an dem deinem Sohn sein großartiges Abi-Zeugnis überreicht wird, also gerätst du in Panik. Als Nächstes fährt eine große Familienkutsche an dir vorbei (was an sich schon eine Beleidigung ist, denn es ist eine große Familienkutsche). Die Eltern lehnen sich aus den Fenstern und brüllen im Chor: »Kinder, die ohne Vater aufwachsen, enden später mit größerer Wahrscheinlichkeit als Arbeitslose, Obdachlose oder im Gefängnis, wissen Sie das?« Du küsst dein Baby auf den Kopf und versprichst ihm, das nicht zuzulassen. Ein Wagen nach dem anderen rast vorüber. Ein neuer Regierungsbericht bestätige, dass für Kinder alleinerziehender Eltern ein erhöhtes Risiko bestehe, in Armut zu leben, krank oder depressiv zu werden, rufen die Leute heraus. Außerdem würden diese Kinder eher von zu Hause weglaufen, trinken und stark rauchen, fügen andere Fahrer hinzu.
Schließlich wirst du fast von einem Laster überrollt. Ein tätowierter dickbäuchiger Kerl im Unterhemd hupt wie verrückt und schreit: »Kinder alleinerziehender Eltern werden häufiger psychisch und sexuell missbraucht, werden häufiger drogenabhängig und kriminell, haben viel zu früh Sex und schließen den Kreis damit, dass sie selbst Teenagereltern werden! Du dumme Kuh!«
Das hat diese (im Führerhaus furzende) Stütze der Gesellschaft wahrscheinlich alles bei einem Zwischenhalt auf dem Autobahnrastplatz in irgendeinem Schmierblatt gelesen (nachdem er sich einen runtergeholt hatte) und ist jetzt Experte. Genau wie alle anderen Experten sind. Du hältst deinem Kind die Ohren zu. Du willst nicht, dass es so etwas hört.
»Typisch Alleinerziehende«, sagen sie, und weil es in neunzig Prozent der Familien mit nur einem Elternteil die Mütter sind, die den Laden schmeißen, ist es klar, wem man die Schuld gibt. Nicht etwa dem Vater, der sich aus dem Staub gemacht hat, das wäre viel zu logisch, sondern der heldenhaften Mutter, die sich alleine weiter durchschlägt.
Ich könnte kotzen. Entschuldigt die Wortwahl, aber manchmal muss man die Dinge einfach beim Namen nennen.
Es scheint, als hätten es alle bloß auf dich abgesehen. Keiner stellt fest, dass du eine Kämpferin bist, eine Heldin, eine wahrhaft Heilige. Sehen sie denn nicht, dass diese Babys, diese Kinder, reine Wunder sind – selbst schon kleine Kämpfer?
Trotzdem, keine Zeit zum Nachdenken. Du duckst dich, hechtest, springst zur Seite, denn dein Leben hängt davon ab. Du umklammerst verzweifelt dein Kind. Du bist bereit, dich notfalls für es vor eins dieser Autos zu werfen, obwohl du weißt, dass solch ein Märtyrertod sinnlos wäre. Denn was du eigentlich tun musst, ist am Leben bleiben und dich um dein Kind kümmern, egal, welche Hindernisse sich dir in den Weg stellen.
Du musst dieses Kind großziehen.
MELANIE
Montag, 19. Februar
Während die Mädchen sich die Zähne putzen, fange ich an, die Spülmaschine einzuräumen. Die Müslischalen passen nicht mehr hinein – ich hätte das Gerät gestern Abend anstellen sollen. Aber jetzt ist es zu spät, also mache ich das Schulfrühstück fertig und werfe rasch einen Blick auf mein Handy. Ich erwarte eine E-Mail meines Gebietsleiters wegen der Vorstellungsgespräche, die wir letzte Woche geführt haben. Ich arbeite bei einer bekannten Modekette. Fast in jeder Stadt gibt es eine Filiale. In unserem Shop suchen wir eine neue Verkäuferin, und als stellvertretende Filialleiterin wurde ich zu den Vorstellungsgesprächen dazu gebeten. Dutzende Leute haben sich beworben, sechs davon wurden zu einem Gespräch eingeladen. Eine der Bewerberinnen ist meine Favoritin, und ich drücke die Daumen, dass sie sie nehmen. Aber auf die endgültige Entscheidung habe ich leider keinen Einfluss.
Ich überfliege die unzähligen Angebote, die für häusliche Alarmanlagen und Pillen, die kräftigeres Haar oder einen kräftigeren Penis versprechen, werben, und suche nach dem Namen meines Chefs. Da springt mir plötzlich ein anderer Absender ins Auge: Abigail Curtiz. Ich erstarre. Im ersten Moment denke ich, dass es sich wahrscheinlich um einen geschickten Versuch handelt, einen Computervirus zu verbreiten; dass der Name nur zufällig von irgendwem ausgewählt wurde, der hirnlos und doch einfallsreich genug ist, Spam-Mails zu versenden, um die elektronischen Geräte anderer Leute zu infizieren. Aber Curtiz mit Z? Ich zögere, denn vermutlich bringt die Nachricht bloß Ärger. Immerhin lautet der Betreff »Viel zu lange her«, was in der Tat der Wahrheit entspricht. Es ist wirklich lange her. Ich kann nicht widerstehen. Ich öffne sie. Mir pocht das Herz.
Normalerweise überfliege ich meine E-Mails nur. Ich habe drei Kinder und einen anstrengenden Job, »in Eile« ist mein Standardmodus. Diese Nachricht lese ich jedoch sehr aufmerksam. »Nein!« Ich schnappe hörbar nach Luft.
»Schlechte Nachrichten?«, erkundigt Ben sich besorgt. Er läuft in der Küche umher und sucht etwas, wahrscheinlich sein Handy. Das verlegt er ständig, oder seinen Autoschlüssel.
»Nein, nein.« Nicht direkt. »Ich habe gerade eine E-Mail von einer alten Freundin bekommen. Sie lässt sich scheiden.«
»Bedauerlich. Wer ist es?«
»Abigail Curtiz. Abi.« Der Name klingt seltsam, als er mir über die Lippen kommt. Früher habe ich ihn oft gesagt, und gerne. Aber irgendwann hörte ich auf, ihn auszusprechen. Hörte auf, mit ihr zu sprechen, an sie zu denken. Ich hatte keine andere Wahl.
Ben sieht mich fragend an. Er gehört zu den aufmerksamen Ehemännern, die versuchen, den Überblick zu behalten, wenn ich von meinen Freundinnen erzähle, aber an eine Abigail erinnert er sich nicht. Kein Wunder. Ich habe sie auch nie erwähnt.
»Wir haben zusammen studiert«, erkläre ich zögerlich.
»Ach, wirklich?« Er streckt die Hand nach dem Teller mit den inzwischen kalt gewordenen Toastscheiben aus und nimmt sich eine. Er beißt hinein und küsst mich dann, noch kauend, auf die Stirn. »Gut. Du kannst mir später von ihr erzählen, ja?«, sagt er und ist schon fast aus der Tür. »Liam, wenn ich dich zur Bushaltestelle mitnehmen soll, musst du in dieser Sekunde unten sein.« Ich lächele, belustigt über seinen halbherzigen Versuch, wie ein strenger Vorgesetzter zu klingen. Er zerstört die Fassade vollends, indem er zurück in die Küche kommt und fragt: »Liam hat doch gefrühstückt? Ich möchte nicht, dass er das Haus mit leerem Magen verlässt. Ich warte, wenn nötig.«
Wie aufs Stichwort hören wir Schritte auf der Treppe, und kurz darauf kommt Liam in die Küche geschlurft. Schon vor vier Jahren, mit gerade mal dreizehn, hat er mich größenmäßig überholt, deshalb dürfte es mich nicht wundern, dass er mich so sehr überragt. Tut es aber. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, bin ich aufs Neue überrascht, was für ein breitschultriger Riese er ist. Er geht regelmäßig ins Fitnesscenter, um Muskeln aufzubauen. Er ist kräftiger als die meisten in seinem Alter. Ich frage mich, wo mein kleiner Junge geblieben ist. Ob er sich wohl noch irgendwo da drin verbirgt? Inzwischen ist Liam auch größer und kräftiger als Ben. Imogen mit ihren acht und Lily mit ihren sechs Jahren sind dagegen noch kleine Hüpfer. Wenn sich eine von ihnen auf meinen Schoß setzt, spüre ich es kaum.
Um eine Umarmung von Liam zu bekommen, muss ich mich inzwischen strecken. Außerdem muss ich gut überlegen, wann es akzeptabel für ihn ist. Ich gebe mir Mühe, alles richtig zu machen, denn es schmerzt, wenn er meiner Zuwendung ausweicht, was er manchmal tut. Er ist kein kleiner Junge mehr. Ich muss seine Grenzen und seine Privatsphäre respektieren, dessen bin ich mir stets bewusst. Trotzdem vermisse ich den kleinen Liam, den ich mit Küssen überhäufen konnte, wann immer mir danach war. Mittlerweile muss ich mich meistens mit einem Abklatschen zufriedengeben, wenn ich auf eine seiner seltenen Umarmungen warte. Heute wirkt er müde. Wahrscheinlich ist er gestern zu lange aufgeblieben und hat Videos auf YouTube geschaut oder Computerspiele gespielt. In diesem Zustand ist er häufig zugänglicher für meine Fürsorglichkeit und Zuwendung. Ich nutze die Chance und zause ihm die Haare. Gebe ihm sogar ein Küsschen auf die Wange. Er nimmt sich zwei Scheiben Toast von dem Teller, den ich ihm hinhalte, und schiebt sich eine davon fast komplett in den Mund, ungeachtet dessen, dass sie kalt ist. Die zweite bestreicht er mit Marmelade. Er hat schon immer gern Süßes gegessen.
»Danke, Mum, du bist die Beste.«
Ich verderbe den Augenblick nicht, indem ich ihm sage, er soll nicht mit vollem Mund sprechen. Es gibt noch genug andere Gelegenheiten, ihn deshalb zurechtzuweisen. Er wendet sich seinem Vater zu und fragt scherzhaft: »Worauf wartest du? Ich bin so weit.«
Bevor ich fragen kann, ob er seine Fußballsachen mitgenommen hat, ob er am Abend selbstständig vom Training nach Hause kommt oder ob er Geld für den Getränkeautomaten eingepackt hat, sind sie schon zur Tür hinaus und sitzen im Auto. Ist wahrscheinlich auch besser so. Es nervt ihn, wenn ich mir über all diese Dinge Gedanken mache. Deshalb versuche ich gewöhnlich, mich morgens auf nur eine dieser Fragen zu beschränken. Wenigstens sind die Mädchen noch so klein, dass sie einen ordentlichen Schwall gut gemeinter Erinnerungen brauchen, erwarten und auch akzeptieren. Ich schaue auf die Küchenuhr und wundere mich, wo die Zeit geblieben ist. Hastig trinke ich meinen Tee aus und rufe die Treppe hinauf: »Runter mit euch, Mädels, aber dalli!«
Imogen reagiert wie immer prompt. Ich höre ihre hektischen Schritte über mir. »Wo ist meine Haarbürste?«, ruft sie. »Hast du mein Elfen-Federmäppchen gesehen? Wer hat mein Lesebuch? Ich hab’s gestern Abend genau hier liegen gelassen.« Sie nimmt die Schule sehr ernst und kann es absolut nicht leiden, zu spät zu kommen.
Lily ist dagegen nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Sie hat einiges von dem Vokabular übernommen, das Liam und seine Freunde benutzen – zum Glück noch nichts wirklich Schlimmes, aber sie fordert ihre älteren Geschwister häufig auf, doch mal ein bisschen zu chillen, und ist tatsächlich selbst die Ruhe in Person.
Drei Minuten bevor es zum Unterricht klingelt, setze ich die Mädchen an der Schule ab. Das betrachte ich als Bonus, denn, ehrlich gesagt mache ich mich wegen ein bisschen Zuspätkommens nicht verrückt. Ich achte nur so genau auf Pünktlichkeit, weil ich weiß, dass Imogen sonst leicht gereizt wird. Und ja, es ist natürlich unsere Pflicht als Eltern, unseren Kindern ein gewisses Bewusstsein für den Wert der Zeit anderer Leute zu vermitteln, aber mal ehrlich, würde denn gleich die Welt untergehen, wenn sie den Beginn der Schulversammlung verpassten?
So entspannt war ich nicht immer. Bei Liam war ich ziemlich radikal, was Pünktlichkeit betraf. Und in Bezug auf noch viel mehr. Ich legte Wert darauf, dass er immer seinen Teller leer aß, ich achtete penibel darauf, dass er Bitte und Danke sagte und Dankeskarten schrieb, wenn er Geschenke bekam. Beziehungsweise malte, denn ich spreche von der Zeit, als er noch nicht schreiben konnte. Seine Schuhe waren immer blitzblank, seine Haare ordentlich gekämmt, er war stets wie aus dem Ei gepellt. Ich wollte nicht, dass auch nur der kleinste Makel an ihm festgestellt wird. Als alleinerziehende Mutter, und das war ich damals mit Liam, ist das alles eine andere Nummer. Ben lernte ich kennen, als Liam sechs war. Mit Ben verheiratet zu sein, gibt mir genug Selbstvertrauen, um die Kinder auch mal ein paar Minuten zu spät bei der Schule abzuliefern und trotzdem davon auszugehen, dass niemand die Augen verdreht. Als Liam klein war, fehlte mir dieses Selbstvertrauen.
Plötzlich denke ich an Abigail Curtiz’ E-Mail, und eine Flut widerstreitender Gefühle überkommt mich.
Vieles daran, alleinerziehend zu sein, ist schwer. Die emotionale, die körperliche und finanzielle Belastung und das Gefühl, rund um die Uhr für absolut alles verantwortlich zu sein, fordern ihre Opfer. Und die Einsamkeit? Diese grausame, erdrückende, fortwährende Einsamkeit? Die ist wirklich der Horror. Genauso wie diese ständige völlige Erschöpfung. Unzählige Male schmerzten mir die Arme, weil ich Liam so lange gehalten hatte, oder der Rücken oder die Beine taten mir weh. Manchmal war ich so müde, dass ich nicht einmal mehr wusste, wo genau es mir eigentlich wehtat; ich spürte einfach nur Schmerz. Aber es gab auch Momente, in denen ich Luft holen konnte, in denen ich mich nicht verurteilt oder einsam oder verantwortlich fühlte. Es gab Momente der Güte und des Verständnisses. Und diese Momente waren unglaublich wichtig für mich und werden immer unvergessen bleiben. Jeder einzelne davon hat sich mir ins Herz gebrannt.
Abigail Curtiz gehört einer dieser Momente.
Als ich Abi von meiner Schwangerschaft erzählte, war sie natürlich erschrocken und besorgt. Und, ehrlich gesagt, auch ziemlich aus dem Häuschen, weil das Ganze so spannend war. Daraus konnte ich ihr keinen Vorwurf machen – wir waren schließlich erst neunzehn, und ich war mir selbst nicht sicher, wie ich angemessen damit umgehen sollte. Wie hätte ich da erwarten können, dass sie es wusste? Wir waren beide etwas aufgedreht.
»Wie weit bist du?«, fragte sie.
»Dritter Monat ungefähr, glaube ich.« Später erfuhr ich, dass ich zu dem Zeitpunkt offiziell zehn Wochen schwanger war, wegen dieser Vom-ersten-Tag-deiner-letzten-Periode-an-gerechnet-Methode, wobei diese Berechnung bei mir nicht zutraf, denn ich wusste genau, an welchem Tag meine Empfängnis stattgefunden hatte. Am Mittwoch der ersten Woche des ersten Semesters meines zweiten Jahres an der Uni. Dummerweise hatte ich mitten im Zyklus ungeschützten Sex. Angesichts dieser Tatsache und meines jugendlichen Alters reichte der eine Fehltritt aus. Selbst heute, eine Ewigkeit später, muss ich noch betonen, dass das normalerweise nicht meine Art war. In meinem ganzen Leben hatte ich nur dieses eine Mal verantwortungslos ungeschützten Sex.
»Dann ist noch Zeit genug. Du könntest abtreiben«, sagte Abigail einfach. Sie scheute nicht vor diesem Wort zurück. Wir waren jung. Unsere Sexualität in ihrer ganzen Komplexität war zwar noch nicht voll ausgereift, unsere Rechte als Frau hatten wir jedoch schon voll auf dem Schirm. Mein Körper, meine Entscheidung, mein Recht. Mein Bauch gehört mir. Als selbstständige junge Frau war ich nicht gezwungen, mein Leben lang die Konsequenzen des Fehlers einer Nacht zu tragen. Im ersten Jahr an der Uni war ein Mädchen in meinem Seminar gewesen, das befürchtete schwanger zu sein. Damals hatte ich mich lang und breit darüber ausgelassen, dass sie das Recht habe zu wählen und dass es meiner Meinung nach besser sei, die Schwangerschaft abzubrechen als die Ausbildung. Das Mädchen hatte mir zugestimmt, genauso wie Abi und fast jeder, der von der Sache wusste. Na ja, es ist immer leicht gesagt. Am Ende war sie gar nicht schwanger. Und inzwischen arbeitet sie als Finanzchefin einer der größten internationalen Konzerne für Fast Moving Consumer Goods, Konsumgütern also, die besonders häufig gekauft und verwendet werden. Vor ein paar Jahren wurde sie mir plötzlich bei Facebook angezeigt. Ich habe die Abkürzungen gegoogelt: CFO einer FMCG – Chief Financial Officer von Fast Moving Consumer Goods. Sie nahm netterweise meine Freundschaftsanfrage an, aber sie postet selten etwas. Zu beschäftigt wahrscheinlich. Aber was soll’s, ich schweife ab.
Ich weiß noch, wie ich Abi angeschaut und gesagt habe: »Nein. Nein, ich kann nicht abtreiben.«
»Du willst es bekommen?« Ihr Blick war erstaunt und ungerührt.
»Ja.« Das war das Einzige, dessen ich mir sicher war. Schon zu diesem Zeitpunkt liebte ich das Baby. Es überraschte mich selbst, aber es war so.
»Und gibst du es dann zur Adoption frei, oder wirst du es behalten?«
»I’m keeping my baby«, zitierte ich Madonna, und wir mussten uns beide ein Kichern verkneifen. Dieser Song kam raus, als ich ungefähr fünf war, wurde aber schnell zum Kult, sodass wir ihn während unserer gesamten Kindheit in völliger Unschuld mitsangen. Die Melodie hing unpassenderweise plötzlich in der Luft. Erst einige Jahre später wurde mir die Ironie der Situation bewusst: Eine Hymne meiner Jugend setzte genau dieser im Grunde ein Ende.
»Also gut«, sagte Abi, »dann behältst du also dein Baby.«
Sie akzeptierte meine Entscheidung sofort. Und das war wirklich gütig von ihr. Unvorstellbar und unvergessen gütig.
Sie wand nicht ein, es gäbe einfachere Wege, ich hätte die Wahl, wie viele meiner anderen Freunde es daraufhin taten. Genauso wenig wie sie sagte, ich könnte ja Glück haben und es verlieren, wie ein Typ in meinem Tutorium murmelte. Was für ein Arschloch, denn bevor ich schwanger wurde, hatte er mich einmal unbeholfen in der Studentenbar angebaggert. Wahrscheinlich schwankte er jetzt zwischen: »Ha, geschieht der Schlampe recht« und »Aha, sie macht also doch die Beine breit. Wieso dann nicht für mich?«. Ich sag euch, man erzählt sich viel über die Wut abgewiesener Frauen, aber Männer können auch ganz schön rachsüchtig sein. Na ja, zurück zu Abi. Sie warf mir weder vor, romantisch und kurzsichtig zu sein, wie meine Tutorin, als ich es ihr schließlich beichtete, noch heulte sie vier Wochen lang, wie meine Mutter. Was wirklich schrecklich war.
Stattdessen kochte Abi uns beiden eine Tasse Tee und ging sogar noch einmal in ihr Zimmer, um eine Packung Kekse zu holen, die sie nur für besondere Anlässe aufbewahrte. Ich war gerade bei meinem dritten Keks angelangt (ich futterte bereits für zwei), als sie schließlich »Und wer ist der Vater?« fragte. Was mir peinlich war.
»Das will ich lieber nicht sagen«, murmelte ich.
»Ist er so hässlich?«, antwortete sie grinsend. Wieder musste ich ein Kichern unterdrücken. Natürlich war das unangemessen. Ich meine, ich war schwanger! Aber damals war ich neunzehn, und Abi war lustig. »Ich wusste nicht mal, dass du überhaupt mit jemandem Sex hast«, fügte sie hinzu.
»Ich hatte nicht das Bedürfnis, das an die große Glocke zu hängen.«
Da brach Abigail in hysterisches Kichern aus. »Na ja, genau das tust du jetzt.«
»Stimmt vermutlich«, antwortete ich und fiel in ihr lautes Gegacker mit ein. Das waren wahrscheinlich die Hormone.
»Demnächst ist es, als würdest du ein riesiges Schild mit der Aufschrift Ich bin sexuell aktiv herumtragen.«
»Und leichtsinnig«, fügte ich hinzu. Woraufhin wir kaum noch Luft bekamen, so heftig prusteten wir los.
»Und eine kleine Schlampe, weil du nicht weißt, wer der Vater ist.«
Ich boxte sie scherzhaft in den Arm. »Klar weiß ich das.«
»Natürlich, aber wenn du es keinem sagst, werden die Leute das denken.« Sie wollte nicht gemein sein, es war nur eine Feststellung.
»Für die bin ich sowieso eine Schlampe, auch wenn ich ihnen sage, wer es ist.« Das schien uns plötzlich das Witzigste überhaupt. Wir bekamen uns gar nicht mehr ein vor Lachen. Merkwürdig, denn ich hatte es den größten Teil meiner Jugend geschafft, weder als Schlampe noch als verklemmt bezeichnet zu werden, ein Drahtseilakt, den ich ziemlich gut gemeistert hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt. Das war eigentlich überhaupt nicht lustig. Das Gelächter ließ sich wohl eher auf meine Panik zurückführen.
Die Schlafzimmer in unserer Studentenwohnung waren winzig. Wir saßen normalerweise auf den schmalen Betten, während wir uns unterhielten, weil die einzige Alternative ein Stuhl mit harter Lehne war, der direkt vor dem vollgestopften Schreibtisch stand. Der Raum, der eigentlich als Wohnzimmer dienen sollte, war in ein Schlafzimmer umfunktioniert worden, damit wir die Miete durch sechs statt durch fünf teilen konnten.
Abi und ich ließen uns rücklings aufs Bett sinken. Lagen flach da und streckten unsere Bäuche hervor, die vom Lachen ganz verkrampft und voll mit Keksen – und in meinem Fall einem Baby – waren. Ich sah meine beste Freundin an und empfand grenzenlose Zuneigung. Es war unser zweites gemeinsames Studienjahr, und es kam mir vor, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen. Studienfreundschaften sind tiefer als andere. Du lebst, lernst und feierst zusammen, ohne die omnipräsenten Eltern, die dich ständig im Blick haben. Studienfreunde sind so etwas wie Freunde und Familie in einem.
Abi und ich lernten uns am ersten Abend an der Uni in Birmingham in der Kneipe der Studierendenvereinigung kennen. Obwohl ich mich nicht gerade als Mittelpunkt jeder Party bezeichnen würde, gehörte ich nicht zur schüchternen Sorte. Ich hatte eine Unterhaltung mit ein paar Geologiestudenten angefangen, und wenn es auch nicht der fesselndste Dialog war, kam ich zurecht. Dann kam Abigail auf mich zu. Wie aus dem Nichts. Groß, schlank, auf eine Weise attraktiv, die Mädchen und Guardian lesenden Jungen gefiel. Sie trug einen dunklen kinnlangen Bob mit angesagtem Pony. Sie wirkte forsch und entschieden, auf ein Ziel ausgerichtet wie eine Punktleuchte, und es schien erstaunlich, dass sie bereit war, ihren Lichtstrahl auf mich fallen zu lassen. Sie streckte ungewöhnlich selbstsicher die Hand aus. Wartete, dass ich sie nahm und schüttelte. Ich kannte niemanden, der anderen die Hand schüttelte, außer vielleicht Anzug tragende Geschäftsmänner im Fernsehen. Ihre Geste strahlte ein unglaubliches Maß an unbeschwerter Individualität aus und ließ zugleich eine eigentümlich ernste Lebenseinstellung erkennen. Ihre Augen waren fast schwarz. Ungewöhnlich und auffallend.
»Hallo. Ich heiße Abigail Curtiz, mit Z. Betriebswirtschaft. Und du?«
Mir gefiel ihre direkte Art. Tatsächlich waren die meisten der Gespräche, die ich an diesem Abend geführt hatte, noch nicht viel weiter als bis zum Austausch genau dieser Informationen gekommen.
»Melanie Field. Wirtschaftswissenschaft und Unternehmensführung.«
»Ah, eine Überfliegerin, gleich zwei Abschlüsse in einem.«
»Ich würde nicht behaupten …«
Sie fiel mir ins Wort. »Das heißt, du bist buchstäblich doppelt so schlau wie ich.« Falls sie das wirklich glaubte, schien es sie nicht weiter zu stören. Sie trank einen Schluck von ihrem Wein und zuckte zusammen.
»Oder halb so zielorientiert«, antwortete ich. Ich hielt ein bisschen Selbstironie für angebracht. Da, wo ich herkam, mochte man keine Angeber. Selbstüberschätzung war verpönt, Größenwahn ein tödliches Vergehen. Abis Miene verriet, dass sie mir kein Wort glaubte und dass mein Versuch, übermäßig bescheiden zu sein, sie sogar ärgerte.
»Gut, damit wäre dieser Mist erledigt«, sagte sie mit einem matten Seufzer. Sie machte sich nicht mal die Mühe, sich den Geologiestudenten vorzustellen. Ich warf ihnen einen entschuldigenden Blick zu, während Abi sich in der Kneipe umsah. »Wer von denen gefällt dir?«, wollte sie wissen.
»Der da«, antwortete ich und zeigte auf einen ziemlich scharf aussehenden Typen.
»Dann komm, wir sprechen ihn an.«
»Einfach so?« Ich war baff.
»Ja. Er wird uns überaus dankbar sein, glaub mir.«
Sie brachte mich zum Lachen. Die ganze Zeit. Ihre direkte, ungenierte Art flaute nie ab, nicht an diesem Abend und nicht im darauffolgenden Jahr. Wir unterhielten uns mit dem scharfen Typen – ohne Ergebnis, das hätte ich auch nicht erwartet oder gewollt, aber es machte Spaß. Wir sprachen mit ihm und ungefähr zehn anderen Leuten. Es zeigte sich schnell, dass Abigail ein entspanntes Selbstbewusstsein ausstrahlte. Sie glaubte, die Welt gehöre ihr, und das völlig zu Recht. Sie war attraktiv und interessant und sprühte nur so vor Charme und guter Laune. Und das Beste daran war, dass sie mich dabei gerne an ihrer Seite hatte.
Es war Abi, die mich überredete, dem Debattierclub beizutreten, und sie beharrte darauf, dass wir in die Clubs in der Stadt gingen und uns nicht bloß auf die Partys beschränkten, die in den Gemeinschaftsräumen der Uni stattfanden. Sie machte den ganzen Studentenkram mit, Trinkspiele im Pub oder endlose Themenpartys zum Beispiel, aber sie sorgte auch dafür, dass wir Außergewöhnliches unternahmen, wie die Museen und die Kunstgalerien in der Stadt zu besuchen. Manche hielten sie für hochgestochen – es gefiel ihnen nicht, dass sie Musik nur auf Vinyl hörte und wählerisch war, was die Stärke von Kaffeebohnen anging. Sie trank nie Bier, sondern ausschließlich französischen Rotwein. Sie aß selten etwas. Sie war mit Abstand der interessanteste Mensch, den ich je kennengelernt hatte.
Wir freundeten uns an. Manchmal fand ich es ein bisschen anstrengend, mit ihr mitzuhalten, und als sie sich bei der Uni-Theatergruppe anmeldete, nahm ich gern im Publikum Platz und schaute mir ihre schauderhaft schöne Darstellung der Lady Macbeth an. Ich fuhr jedes Mal mit ihr im Bus nach London, um vor dem Parlamentsgebäude gegen irgendwas zu demonstrieren – wogegen genau, fällt mir gerade nicht mehr ein. Während sie jedoch den ganzen Tag ihr Protestschild schwenkte, schlich ich mich um die Mittagszeit in die Oxford Street, um mich kurz bei Topshop umzusehen.
Abi war der erste Mensch, dem ich von meiner Schwangerschaft erzählte. »Merkwürdig, der Gedanke, dass da wirklich ein Baby drin ist«, sagte sie, als wir schon fast die ganze Packung Kekse verdrückt hatten. Sie betrachtete meinen immer noch ziemlich flachen Bauch.
»Ich werde bestimmt unglaublich fett werden«, antwortete ich lachend. Was seltsamerweise komisch war.
»Ja, das wirst du«, antwortete sie und kicherte ebenfalls.
»Und niemand wird mich je heiraten wollen.« Plötzlich lachte ich nicht mehr. Zu meinem Entsetzen fing ich an zu weinen. Die Tränen kamen in enormen, unkontrollierbaren Wellen. Ich keuchte und rang nach Luft, genau wie ich es vorher beim Lachen getan hatte, deshalb brauchte Abigail einen Moment, bis sie es merkte.
»Oh nein, nicht weinen«, sagte sie und zog mich in eine enge Umarmung. Sie strich mir über die Haare und küsste mich auf den Kopf, wie eine Mutter, die ihr Kind tröstet, das hingefallen ist. Abigail war schön und verführerisch – jeder wollte sie berühren, immer –, aber normalerweise war sie es, die entschied, wann es zu einer Berührung kam.
»Wer wird mich schon noch heiraten wollen, wenn ich ein Kind am Rockzipfel habe?« Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich eigentlich noch nie groß übers Heiraten nachgedacht. Ich war keine von denen, die dauernd von einem langen weißen Kleid und Kirchenglocken träumten, aber ich war davon ausgegangen, dass es irgendwann in der Zukunft passieren würde. Es machte mir Angst, dass dieser unbestimmte Zeitpunkt jetzt, da ich schwanger war, in deutlich weitere und unklare Ferne gerückt war.
»Du kriegst schon deine Märchenhochzeit ganz sicher«, sagte Abi mit ihrer üblichen Zuversicht. »Schneewittchen hatte sogar sieben Zwerge am Rockzipfel und hat sich trotzdem einen Prinzen geangelt.«
Das verursachte einen weiteren Ausbruch beinahe hysterischen Gelächters. Ich lachte so heftig, dass mir der Schleim aus der Nase lief. Was mir in dem Moment wirklich peinlich war. Wenige Monate später sollten mir dann ganz andere Körperflüssigkeiten einerlei sein.
Abigail drückte mich noch ein bisschen fester. »Sollen sie dich doch Schlampe nennen, das ist mir egal«, versicherte sie mir.
»Wirklich?«
»Ja, auf jeden Fall«, antwortete sie fröhlich. In diesem Augenblick empfand ich so etwas wie Liebe für sie. Ich liebte sie und glaubte ihr.
Und dieses Gefühl ist nie ganz verschwunden.
ABIGAIL
Seit dem Moment, in dem Abigail Rob zum ersten Mal sah, fand sie ihn unwiderstehlich. Es war kein exklusiver Club; Rob ging in viele. Böse Jungs taten das häufig. Das war schon immer ihr Problem.
Unwiderstehlich. Was für ein albernes Wort. Das beschrieb es nicht annähernd.
Es traf Abigail wie der Blitz. Was sie damals für ihn empfand, riss ein Loch in ihr auf, das niemand je würde füllen können, außer ihm.
Anfangs wetteiferten reihenweise Studentinnen um seine Gunst. Attraktive, kluge, interessante junge Frauen. Mit vielen von ihnen flirtete er. Mindestens.
Abigail war es nicht gewohnt, einen Korb zu bekommen, und sie war nicht bereit, sich mit dem zufriedenzugeben, was anderen reichte: berauschte Abende im Pub, eine Nacht lang Spaß und dann ein »Danke, das war’s«. Sie musste ihn haben. Besitzen. Richtig. Für immer. Er arbeitete an seiner Doktorarbeit, während sie gerade mal im Grundstudium war. Er leitete Tutorien. Bildete eifrige Nachwuchswissenschaftler aus und war, da er seinen Doktorabschluss noch nicht in der Tasche hatte, in gewisser Weise einer von ihnen. Er schwebte durch die Uni, strahlend, geheimnisvoll, charismatisch, unverwechselbar. Er hatte etwas Machtvolles, Fremdartiges an sich – etwas unglaublich Anziehendes. Wenn er einen Raum betrat, richtete sich ihr Körper zu ihm aus, wie eine Kompassnadel Richtung Norden. Ihr Hals wurde trocken, alles andere feucht. Ihr ganzer Körper pulsierte, pochte wie ein riesiges Herz. Jetzt klang das lächerlich, so leidenschaftlich. Nach all den Jahren. Aber damals fühlte sie sich wie gehäutet, entblößt. Als wäre sie nichts weiter als ein riesiges, blutiges, frei liegendes Herz. Das für ihn schlug.
Inzwischen fiel es Abigail schwer, sich diese Intensität und diese Gewissheit in Erinnerung zu rufen. Sie waren erstickt. Jahre des Zusammenlebens hatten sie auf Normalmaß geschrumpft. Seriosität und Reife hatten das Feuer gedämpft. Gelöscht. Eine Schicht Alltäglichkeiten nach der anderen: Einkäufe erledigen, sich gegenseitig sagen, dass man Essen zwischen den Zähnen hat, immer wieder dieselben Geschichten anhören, sich Gedanken über Werbeaktionen, Fristen, Auszeichnungen, die Auswahl von Tapeten und Autos machen. All das legt sich in Schichten um ein pochendes Herz – schützt und erdrückt es zugleich.
Und die Sache mit dem Baby.
Und diese andere Frau.
All diese Faktoren zusammengenommen verhinderten, dass Abigail sich an dieses schlichte Verlangen erinnerte, an diese Sehnsucht.
Aber damals war Rob alles für sie. Sie nahm keinen anderen wahr, konnte an niemand anderen denken. Die Studenten, die sie umschwärmten, schlug sie weg wie Fliegen. Rob war sieben Jahre älter als sie. Genug Altersunterschied, um ihn weitaus interessanter zu machen, als er vermutlich war. Er schien unglaublich selbstbewusst, klug und gebildet zu sein. Er war sportlich und durchtrainiert, aber nicht übertrieben muskulös. Groß. Er lud sie in schicke Restaurants ein, ins Theater, ins Programmkino. Sie unterhielten sich über Politik, Romane, Reisen. Er war unheimlich ehrgeizig und zielstrebig, was sich inzwischen zugegebenermaßen ausgezahlt hat. Er ist zweifellos so erfolgreich, wie er es immer sein wollte. Sie konnte nicht leugnen, dass sie die Früchte seiner Anstrengungen genoss. Er ermöglichte ihr einen beneidenswerten Lebensstil.
Als sie sich kennenlernten, hatte Rob gerade etwas mit ein paar Studentinnen am Laufen. Er erklärte Abigail, es stünde ihm zu, sich ein bisschen auszutoben. Er hatte sich gerade von seiner langjährigen Freundin getrennt. Die Beziehung war in die Brüche gegangen, weil diese Freundin schwanger geworden war und er das Baby nicht gewollt hatte. Sie waren sich wegen der Abtreibung einig gewesen, doch danach hatte es kaum noch eine Zukunft für sie als Paar gegeben. Es war ihnen beiden schwergefallen, das Geschehene hinter sich zu lassen. Die Ex behauptete, die Schwangerschaft sei ein Unfall gewesen. Wie so viele Schwangerschaften damals. Rob hatte seiner Freundin die Story aber nie ganz abgenommen, sie habe sich nach irgendeinem Imbissgericht übergeben und somit die Wirkung der Pille außer Kraft gesetzt. Er hatte geglaubt, in der Falle zu sitzen. Gemerkt, wie sich das Netz um ihn zusammenzog.
»Sie war kurz davor, mich aufs Fischerboot zu ziehen und mir den Schädel einzuschlagen«, meinte er lakonisch, während er an seiner Zigarette zog und noch einen Schluck Rotwein hinterherkippte. »Wir wollten einfach nicht dasselbe.« Diese Worte, mit einem Schulterzucken ausgesprochen, erweckten den Anschein, als wäre er das Opfer und Abigail müsste Mitleid mit ihm haben. Und das hatte sie.
Schließlich entschied er sich für sie, und sie wurde seine offizielle Freundin. Es hatte ein paar Monate gedauert. Ein paar Monate Taktieren, Reizen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, das Richtige sagen. Aber sie hatte es geschafft. Sie war überglücklich, obwohl sie nicht genau wusste, warum er gerade sie gewählt hatte.
Vielleicht war sie einfach die Hartnäckigste gewesen. Die Letzte, die am Ende noch übrig blieb.
Oder einfach die Dümmste.
Vielleicht wurden die anderen Frauen seiner ewigen Gereiztheit überdrüssig, seiner Überheblichkeit, seiner Unschlüssigkeit. Sie entschieden sich für nette Jungen ihres Alters, auch wenn diese unter einem tollen Abend verstanden, gelieferte Pizza zu essen und Futurama zu schauen. Irgendwann würden auch sie über Politik und Literaturpreisträger reden. Schließlich wurde jeder mal erwachsen.
So war es gewesen. Jetzt war es ihr klar. Ihre zwanzig Jahre währende Hingabe begann mit dem gebrochenen Herzen einer anderen.
Und endete jetzt mit ihrem eigenen.
MELANIE
Montags ist mein freier Tag, worüber ich heute besonders froh bin. Nachdem ich die Mädchen an der Schule abgesetzt habe, kann ich es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und noch einmal Abis E-Mail zu lesen.
Liebste Mel,
sicher gehöre ich zu einem früheren Leben und bin der letzte Mensch, von dem du eine E-Mail erwartest. Leider haben wir es nicht geschafft, in Kontakt zu bleiben, wie wir es uns beide vielleicht gewünscht hätten. Immerhin sind wir auf Facebook befreundet. Ich schaue mir gern deine Beiträge an. Aber warum postest du eigentlich nicht öfter Fotos? Ich würde so gerne sehen, wie deine Familie sich entwickelt hat.
Vielleicht hast du ja über die Jahre das eine oder andere von mir mitbekommen. Ich habe in letzter Zeit wirklich viel an dich gedacht. Ich musste mich mal wieder melden. Es war einfach an der Zeit.
Bei mir läuft es gerade nicht so gut. Eigentlich ist alles ganz schrecklich. Und natürlich besinnt man sich, wenn alles ganz schrecklich ist, auf seine alten Freunde, stimmt’s?
Rob und ich lassen uns scheiden. Jetzt ist es raus. Ich kann es ja auch gleich sagen (oder wenigstens schreiben). Ich muss mich wohl sowieso daran gewöhnen, es mir einzugestehen. Irgendwann wird es wahrscheinlich leichter, auch wenn es mir im Moment wirklich das Herz bricht. Das meine ich wörtlich, ohne Übertreibung. Ich kann es förmlich bersten hören. Hast du je so etwas gefühlt, Mel? Das hoffe ich nicht.
Es war das Übliche. Tragisch nur, weil es sich ständig wiederholt. Er hatte eine Affäre. Mit seiner (viel jüngeren!) Sekretärin. Ich hab sie zusammen in unserem Bett erwischt. Kannst du dir das vorstellen? Als könnte er sich kein Hotel leisten. Es war einfach grausam. Ich kann nur annehmen, dass er wollte, dass ich es erfahre.
Ich bin ratlos. Ich kann nicht zur Arbeit gehen, weil er faktisch mein Chef ist. Du weißt sicher, was wir beruflich machen. Die meisten meiner englischen Freunde haben sich ja auf dem Laufenden gehalten. Er ist der Produzent meiner Fernsehsendung, ihm gehört praktisch der Sender. Es ist so demütigend. Sicher haben es alle vor mir gewusst. Die Ehefrau erfährt es immer als Letzte.
Ich habe beschlossen, zurück nach England zu kommen. Mir vielleicht eine Arbeit dort zu suchen. Ich brauche einen Tapetenwechsel. Es gibt nichts, was mich hier in den Staaten hält. Kinder haben wir keine, also bin ich nicht an Schulen oder irgendetwas gebunden. Ich habe noch keine klaren Pläne. Vorerst werde ich bei meiner Mutter wohnen – mein Vater ist vor vier Jahren gestorben. Und ich möchte meine alten Freunde wiedersehen. Ich dachte, wir könnten uns vielleicht auf einen Drink treffen. Wäre das nicht schön? Sich an alte, weniger komplizierte Zeiten zurückzuerinnern?
Ich komme am 20. Februar in London an. Wo wohnst du inzwischen? Vermutlich in London, da wohnt schließlich jeder. Gib mir Bescheid. Die Telefonnummer findest du nachstehend.
Herzlich
Abigail
Nachdem ich die E-Mail zweimal gelesen habe, kocht das Wasser. Ich mache mir eine Tasse Tee und gebe einen Löffel Zucker hinein, was ich selten tue. Ich brauche etwas Süßes.
Abi hat recht. Ich hätte nie geglaubt, eines Tages eine Nachricht von ihr in meinem Postfach zu finden. Stimmt, wir sind auf Facebook befreundet, ich erinnere mich noch an den Abend vor ein paar Jahren, an dem ich ihr spontan die Freundschaftsanfrage sendete. Ich hatte ein, zwei Gläser Wein getrunken, sonst hätte ich es nie gemacht. Sie wurde mir vorgeschlagen, weil ich auf Facebook mit ein paar Leuten aus der Studienzeit befreundet bin. Ich war ein bisschen überrascht, dass sie meine Anfrage annahm. Überrascht und geschmeichelt. Abigail Curtiz’ Aufmerksamkeit ist immer noch begehrt. Umso mehr wahrscheinlich, weil sie inzwischen berühmt ist. Kein A-Promi, aber jemand, der davon lebt, im Fernsehen aufzutreten – das scheint mir glamourös genug. Soweit ich weiß, hat sie bisher nie einen meiner Posts gelikt. Genauso wenig wie ich ihre. Das wäre mir aufdringlich vorgekommen. Mit einem hat sie allerdings recht: Ich bin immer auf dem Laufenden, was ihre Neuigkeiten auf Facebook betrifft. Und bei Google. Und Wikipedia. Und gelegentlich in Klatschzeitungen. Natürlich habe ich nach ihr recherchiert.
Sie hat Rob Larsen geheiratet. Die beiden waren schon seit unserer Uni-Zeit zusammen. Eine ganz schön lange Zeit eigentlich. Wie schrecklich, dass es nun so endete. Sie tut mir leid. Ehrlich leid. Es bricht ihr das Herz. Sie leidet. Ihr offenes Eingeständnis rührt mich. Es zeigt ein gewisses Maß an Hoffnung und Vertrauen in unsere alte, vernachlässigte Freundschaft. Ob Rob wohl während ihrer ganzen Ehe Affären hatte? Durchaus möglich. Ich halte ihn schon lange für arrogant. Kaltschnäuzig.
Abi befindet sich bestimmt in einer furchtbaren Lage. Sie übertreibt in ihrer Nachricht nicht. Ihre Karriere ist komplett mit seiner verwoben, das weiß ich durch meine ganzen Recherchen. Sie sind das Fernseh-Traumpaar schlechthin, mit einem leichten Hang zur Geldgier. Zusammen stärker als die Summe ihrer einzelnen Teile. Bis jetzt vermutlich. Als wir noch studierten, hielt er Vorlesungen in Wirtschaftswissenschaft mit Schwerpunkt Marketing und schrieb nebenbei an seiner Doktorarbeit. Er machte sich schnell die neuen Medien zu eigen und positionierte sich als eine Art Experte für Online-Marketing, einem Gebiet, vor dem ältere Dozenten sich scheuten. Ich hatte kein entsprechendes Modul gewählt, wurde also nie von ihm unterrichtet, aber er war eine Legende innerhalb der Uni. Charismatisch, verwegen, deutlich jünger als die meisten anderen Angehörigen des Lehrkörpers. Viele Mädchen waren in ihn verknallt, Abi eingeschlossen.
Am Ende des ersten Studienjahres kamen sie dann zusammen. Anfangs war es eine heimliche Affäre. So ein On-Off-Ding. Sie wusste nie, wie ihr Stand bei ihm war oder in der Universität. Es war zwar nicht ausdrücklich verboten, dass sie eine Beziehung hatten, es wurde aber sicher nicht gern gesehen. Ehrlich gesagt, glaube ich, Abi gefielen die Heimlichtuerei, die Spannung, seine Unerreichbarkeit, seine Macht. All das machte in Kombination mit seinem guten Aussehen seine Unwiderstehlichkeit aus. Laut Wikipedia gingen sie ein paar Jahre nach ihrem Abschluss nach Amerika. Man hatte Rob einen interessanten Job in einer großen Werbefirma angeboten. Dann schaffte er irgendwie den Wechsel zum Fernsehen. Inzwischen gehört ihm eine riesige und enorm erfolgreiche Produktionsfirma. Er besitzt offenbar Anteile an verschiendenen Fernsehsendern sowie an mehreren Medienkonzernen. Die Fotos, die ich im Internet gesehen habe, zeigen ihn und Abigail immer teurer und eleganter zurechtgemacht als jeden anderen, den ich kenne. Umgeben von Erfolg. Sie hat deutlich abgenommen, nicht dass sie je dick gewesen wäre. Er dagegen hat zugelegt, ist breiter, stämmiger geworden.
Sie ist aber nicht bloß das Beispiel einer schönen Frau, die sich an die Karriere ihres erfolgreichen Ehemanns gehängt hat. Abi hat hart gearbeitet. Sich für dieses Leben und gegen eine Familie entschieden. Und doch ist ihre Karriere offenbar von ihm nicht zu trennen. Wie schrecklich. Jetzt hat sie nichts, was sie hält, wenn ihr der Boden unter den Füßen wegsackt. Nichts, was sie auffängt, wenn sie stürzt.
Was sie da über den Tod ihres Vater schreibt, ist wirklich traurig. Ich bin Abis Vater ein paarmal begegnet. Er war sehr nett. Überraschend bescheiden im Vergleich zu der Tochter, die er großgezogen hat. Zum Glück sind meine Eltern bei bester Gesundheit. Bens Vater starb, bevor ich ihn kennenlernen konnte, aber Ellie, seiner Mutter, geht es gut. Angesichts Abis Unglück überkommt mich ein wenig das schlechte Gewissen wegen meines eigenen Glücks.
Ich habe Abi seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie kam mich einmal besuchen, als Liam ein paar Monate alt war, was mehr war, als die meisten taten. Es war ein peinlicher Besuch, obwohl wir uns größte Mühe gaben, das zu verhindern. Liam war im Juni zur Welt gekommen, ungefähr zu der Zeit, als fast alle meiner Freunde nach zwei Jahren Studium ihren Abschluss machten. Die meisten von ihnen planten für den Sommer eine Rucksacktour durch Europa, also lud ich sie nicht ein, um ihnen mein Baby vorzustellen, damit ich ihnen die Verlegenheit und mir die Verletzung ersparte, dass sie ablehnten. Abi jedoch machte keine Rucksacktour. Sie wollte Rob nicht alleine in Birmingham lassen. Also kam sie einfach vorbei.
Sie brachte Liam eine Plüschgans mit, die jahrelang eines seiner Lieblingsspielzeuge war. Er nannte sie fälschlicherweise »Entchen«. Ich habe sie aufgehoben. Sie liegt zusammen mit seinem ersten Strampelanzug und ein paar anderen Sachen, an denen ich hänge, in einer Kiste auf dem Dachboden. Abi plauderte über unsere Freunde und Lehrer, brachte mich auf den neusten Stand darüber, wer mit wem zusammenwohnte, wer mit wem ausging, wer ein gutes Examen gemacht hatte und wer gerade so durchgekommen war. Ich sprach immer noch davon, wieder zurück an die Uni zu gehen, und hätte ich nach drei Jahren meinen Abschluss machen können, wäre ich das vielleicht auch. Aber ich hatte einen kombinierten Studiengang, der insgesamt vier Jahre dauerte. Und ich hatte erst die Hälfte absolviert. Ungeachtet dessen, was ich sagte, wusste ich eigentlich schon, dass ich nicht zurückkehren würde.
Während ihres Besuchs lief mir plötzlich die Milch aus den Brüsten, weil ich Liam nicht vor Abi stillen wollte. Meinen Busen hervorzuholen machte mir nichts aus – daran gewöhnte ich mich langsam. Die Sache war komplizierter. Ich wollte nicht, dass sie an die Uni zurückkehrte und mich als stillende Mutter in Erinnerung behielt, die ans Sofa gefesselt Nachmittagssendungen im Fernsehen verfolgt. Meine Brüste wurden unerträglich schwer, und ich roch die Milch, die in meinen gepolsterten BH und dann in mein T-Shirt sickerte. Irgendwann wachte Liam auf und fing an zu schreien, in kindlichem Unwissen darüber, dass ich einen Teil meines alten Ichs in der Erinnerung meiner Freundin bewahren wollte. Hungrig suchte er mit dem Köpfchen nach meiner Brust und sah mich verwirrt und mit zornigem Blick an. Warum stillte ich ihn nicht? Schließlich vertrieb sein lautes, eindringliches Brüllen Abi. Sie machte vage Versprechungen, dass sie mich einmal wieder besuchen würde, aber ich nagelte sie nicht auf ein Datum fest. Kaum fiel die Tür hinter ihr zu, sank ich auf einen Stuhl und holte hastig meine Brust hervor. Ich spritzte Liam Milch in Augen und Nase, bevor ich seinen Mund fand.
Will ich all das wirklich wieder ausgraben? Wäre das klug?
Der 20. Februar, das ist morgen.
Eigentlich würde ich sie gerne auf einen Drink treffen. Ich weiß nicht genau, was mich mehr antreibt. Die Neugier oder die Höflichkeit. Das spielt aber keine Rolle. Denn ich wohne nicht in London. Seltsam, dass sie das glaubt. Sie hat mein Facebook-Profil eindeutig nicht genau gelesen. Ich wohne in Wolvney, in einer Siedlung, die auf halber Strecke zwischen Coventry, wo meine Eltern leben, und Northampton, wo Ben arbeitet, liegt. Es wäre wohl nicht unmachbar, nach London zu fahren, um Abigail zu treffen, denn es ist nur eine gute Stunde mit dem Zug entfernt. An den Wochenenden unternehmen wir manchmal Ausflüge mit den Kindern dorthin, aber eigentlich nur zu besonderen Anlässen. Das letzte Mal haben wir uns zusammen Matilda, das Musical, angeschaut. Das war an Imogens Geburtstag. Es hat uns allen außerordentlich gut gefallen, sogar Liam. Zum Glück.
Zwar würde es ein bisschen Organisation erfordern, alleine nach London zu fahren, aber Ben würde hier sicher die Stellung halten, wenn es etwas wäre, was ich wirklich möchte.
Aber ist es das?
Es ist lange her. Zu lange? Lange genug? Ich weiß nicht.
Plötzlich habe ich eine bessere Idee.
Oder ist sie etwa schlechter?
Ich könnte Abi zu uns nach Wolvney einladen. Dann würde sie Ben und die Kinder kennenlernen. Bisher hatte ich nie das Bedürfnis, ihr meine Familie vorzustellen, eher im Gegenteil, aber nachdem sie jetzt diesen Schritt getan hat und unter diesen Umständen, scheint es mir das Richtige zu sein. Wahrscheinlich lehnt sie sowieso ab. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie den ganzen Weg aus London bis hier raus fährt. Nicht, dass es weit wäre, aber es gibt Leute, die meinen, alles außerhalb von Zone 3 wäre Ausland. Ob sie wohl so jemand ist? Das werde ich erst erfahren, wenn ich sie einlade.
Bevor ich meine Meinung ändere, formuliere ich rasch eine Antwort-Mail an sie.
Hallo Abi,
wie schön, von dir zu hören! Es tut mir leid, dass es unter so schrecklichen Umständen ist.
Ich würde dich sehr gerne treffen. Allerdings wohne ich nicht in London, sondern in Wolvney, einer Schlafstadt in der Nähe von Northampton. Mit dem Zug ist es von London ein Katzensprung. Wenn man eine schnelle Direkt-Verbindung nimmt, dauert es nur 51 Minuten. Vielleicht möchtest du ja hierherkommen? Du könntest meine Familie kennenlernen. Ich kann dich am Bahnhof abholen, oder du nimmst dir ein Taxi – da stehen immer jede Menge. Du könntest für einen Tag oder übers Wochenende kommen. Also, was immer dir lieb ist, bleib einfach, so lange du willst!
Herzlich
Mel
Ich lese meine Nachricht noch einmal durch und erschrecke angesichts des leicht bettelnden, kindischen Tonfalls, der, fürchte ich, in der E-Mail anklingt. Außerdem komme ich mir schlecht vor, weil ich Wolvney als Schlafstadt bezeichnet habe – das lässt unser Zuhause viel trostloser klingen, als es ist. Tatsächlich handelt es sich um ein gut durchdachtes, ansprechendes Wohngebiet, zwei Kilometer von einem hübschen Dorf entfernt. Sein größtes Verbrechen ist vermutlich, dass es gewöhnlich ist. Mich beruhigt Konformität in gewisser Weise – das kann eine ungewollte Schwangerschaft im Teenageralter bewirken. Unser Haus wurde vor sieben Jahren gebaut und ist identisch mit sieben anderen in der Straße. Eine Doppelhaushälfte mit vier Schlafzimmern (na gut, drei und einem Abstellraum), deren Highlight der geräumige, offene Koch-Essbereich ist. Auf mich strahlt das Haus Geborgenheit aus. Doch scheinbar meine ich, es unter Wert verkaufen zu müssen, damit Abi eher positiv überrascht ist. Falls sie es jemals sieht.
Also, klinge ich zu bemüht? Diese ganzen Einzelheiten über die Anreise zu mir. Und »Bleib einfach, so lange du willst« war vermutlich übertrieben. Ein bisschen zu viel des Guten. Hoffentlich denkt sie jetzt nicht, ich bin eine von denen, die besonders nett zu ihr sind, weil sie inzwischen berühmt ist. So ist es nämlich nicht. Ich bin besonders nett zu ihr, weil sie gerade eine schwere Zeit durchlebt. Und ich zähle auch nicht zu den neugierigen Beobachtern, die es kaum erwarten können, sämtliche schmutzigen Details über das Ende ihrer Ehe zu erfahren.
Ich überlege, die E-Mail noch einmal umzuformulieren, tue es aber nicht. Ohne die Einladung ein weiteres Mal zu überdenken, drücke ich auf Senden.
Wahrscheinlich wird Abigail nicht annehmen. Schließlich ist sie wirklich berühmt und hat garantiert haufenweise Leute, die sie lieber besucht. Interessantere Menschen als mich. Schicke, superschlanke Frauen und Männer mit gepflegten Bärten und Bauchmuskeln. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich liebe meine Familie und bin stolz auf unser Zuhause, unsere kleine Enklave, aber letztendlich sind wir für niemanden besonders interessant, nur für uns selbst. Das reicht uns.
Ich habe heute jede Menge zu tun, obwohl es mein freier Tag ist. Die Stunden, die ich zu Hause verbringe, sind viel ausgefüllter als die im Laden. Obwohl das Geschäft gut läuft und mir zwei Vollzeit- und drei Teilzeitmitarbeiterinnen unterstehen, gibt es nie so viel zu tun wie hier. Während ich den Küchenboden wische, die Waschmaschine be- und entlade und die hartnäckigen Kalkflecken von der Duschkabinentür schrubbe, stelle ich jedoch fest, dass ich nicht aufhören kann, an Abi zu denken. In den vergangenen Jahren hat sie sich häufig in meine Gedanken gestohlen, diese Erinnerungen habe ich aber normalerweise entschieden weggeschoben. Abi ist untrennbar mit einer schwierigen Zeit verbunden. Wie großartig das Ergebnis auch ist (und Liam ist wirklich ein ganz wunderbarer Sohn), es ist nicht einfach, daran zurückzudenken, wie ich schwanger wurde und die Uni verlassen musste. Ich wollte nie an Abi denken. Ihr Weg unterschied sich so sehr von meinem, ich fand es leichter, nicht dem nachzuhängen, was hätte sein können.
Doch jetzt ist alles anders.
Ich checke den ganzen Tag mein Handy, um zu sehen, ob sie auf meine E-Mail geantwortet hat, und sage mir gleichzeitig, dass sie das ganz sicher nicht getan hat. Ein Schauer der Aufregung überkommt mich, als ich erneut ihren Namen in meinem Postfach sehe, und ich bin überglücklich, als ich ihre Antwort lese:
Mel, Engel!
Liebend gern besuche ich dich! Schick mir deine Adresse. Am 22. Februar bin ich bei dir.
Alles Liebe
A.
A. Einfach nur A. Ich weiß noch, dass sie so immer ihre Mitschriften unterzeichnete. Ein bisschen arrogant und zugleich herzlich. Der 22. Februar. Donnerstag. Nur noch drei Tage. Wow. Ich bin aufgeregt und fühle mich geschmeichelt. Sie kommt im Prinzip direkt zu mir. Ein kurzer Zwischenstopp in London und dann hierher, um mich zu sehen. Ich kann es kaum glauben. Donnerstag ist eigentlich nicht der ideale Abend, um Gäste zu empfangen – die Mädchen haben Ballett. Ach, na ja, sie können sicher mal eine Woche aussetzen. Mein Blick schweift durch den Hausflur, in dem ich zufällig stand, während ich nach meinen E-Mails schaute. In einem übervollen Weidenkorb in der Ecke türmt sich ein bunter Haufen Stiefel, Halbschuhe und Sandalen. Sie sehen aus, als strebten sie der Freiheit entgegen. An der Wand hängen fünf Kleiderhaken. An jedem davon stapeln sich fünf Jacken. Der hellgraue Teppichboden war eindeutig ein Fehler. Wer wählt um Gottes willen einen hellen Farbton für einen Familienflur aus? Nun ja, ich, weil ich es in einem Lifestyle-Magazin gesehen habe und es großartig aussah. In der ganzen Zeit, in der wir hier wohnen, haben wir noch nie die Teppiche reinigen lassen. Auch das war wohl ein Fehler. Die Farbe an den Wänden könnte ebenfalls eine Auffrischung vertragen. Wir haben Katzen – die reiben sich an den Wänden, was mit der Zeit unschöne Flecken hinterlässt. Genau genommen, sei es nun aufgrund schmutziger Handabdrücke oder genereller Abnutzung, wirken alle unsere Zimmer wie getupft, ein Effekt, der schon seit den Achtzigerjahren aus der Mode ist – und das aus gutem Grund.
Ich mache mich besser an die Arbeit.
ABIGAIL
Abigail war immer ehrlich zu sich. Sie hatte genug Lebenserfahrung und Therapiestunden hinter sich, um zu wissen, wie wichtig es war, ein hohes Maß an Bewusstsein für das eigene Selbst zu entwickeln. Hundertprozentig ehrlich zu sich zu sein, war für sie wesentlich, denn sonst hatte sie niemanden, zu dem sie derart aufrichtig sein konnte. Sie hatte festgestellt, dass die Menschen meistens weniger begeistert von der Wahrheit waren, als sie selbst glaubten.
Während sie nun ihre Koffer packte, musste sie daher zugeben, dass Rob sie nie belogen oder ihr etwas vorgetäuscht hatte. Jedenfalls nicht, was die Sache mit dem Baby betraf. Er hatte seine Haltung diesbezüglich immer sehr deutlich gemacht: Keine Kinder. Damals nicht und auch nicht später. Das hatte sie akzeptiert, sich sogar eingeredet, es wäre das, was auch sie wollte. Sie hatte sich dazu entschieden, stattdessen hart an ihrer Karriere zu arbeiten. Das erfüllte sie. Sehr sogar. Eine Zeit lang. Eine ganze Zeit lang. Aber der Plan war nicht so aufgegangen, wie sie gedacht hatte. Wie sie es verdient hätte. Eine Lücke hatte sich in ihrem Leben aufgetan.
Sie sah ihr Abbild im Spiegel: verquollene Augen, abgemagert. Sie musste sich wirklich zusammennehmen, ein bisschen Make-up auflegen. Am Flughafen würde man sie sicher erkennen. Schließlich war sie jemand. Man kannte sie.
Vielleicht nicht ihren Namen – an den erinnerte man sich nicht immer –, aber bestimmt ihr Gesicht.
»Ich kenne Sie von irgendwoher«, sagten die Leute ständig. »Nein, verraten Sie’s mir nicht.« Dann lächelte sie normalerweise, wartete einen Moment und sagte es ihnen, denn es wurde peinlich, wenn man sie tatsächlich nicht einordnen konnte, oder schlimmer noch, sie mit jemandem verwechselte, der beim Friseur arbeitete oder so. Ein paarmal war das schon vorgekommen.
»Ach, Sie haben mich sicher im Fernsehen gesehen«, antwortete Abigail dann immer schnell. Und zwar mit einer gewissen Lässigkeit, als könnte sie sich nichts Selbstverständlicheres vorstellen, als beim Fernsehen zu arbeiten. Dann staunten die Leute oder umarmten sie, verlegen, angesichts ihrer eigenen Gewöhnlichkeit und Abigails Außergewöhnlichkeit. Sie baten ausnahmslos um ein Selfie mit ihr.
Viele Menschen würden alles für einen Job als Moderatorin in einer Talkshow tun. Die, zugegeben, nur regional ausgestrahlt wurde. Abigails Sendung lief nachmittags, nicht zur besten Sendezeit morgens oder am Abend, aber trotzdem, die Leute würden alles für diesen Job geben.
Das musste man auch.
Und das hatte sie. Alles, was Rob je von ihr verlangt hatte.
Als Abi in Amerika angekommen war, hatte man nichts weiter als ausschließlich Robs Ehefrau in ihr gesehen – eine junge, attraktive, halbwegs intelligente Ehefrau. Selbst wenn sie über den IQ sämtlicher britischer Spitzenmanager verfügt hätte, wäre sie wahrscheinlich dennoch allein wegen ihres Äußeren wahrgenommen worden – Rob und Abigail verkehrten nicht mit Leuten, die von einer Frau mehr als gutes Aussehen erwarteten. Sie fanden Abigail bezaubernd. Das sagten sie oft: »Sie ist ja so nett, so hübsch, so bezaubernd.« Es war hilfreich, dass Amerikaner schon immer den britischen Akzent mochten. Das verschaffte ihr einen Vorteil. Verhinderte, dass sie ganz in den Hintergrund geriet. Robs Kollegen und ihre Frauen waren ganz versessen darauf. »Sag mal ›vite-a-min‹«, baten sie. »Sag mal ›sked-ual‹, nein, sag ›tuh-may-toe‹.« Und das tat sie. Sie machte ihre Sache gut. Eine hübsche, nette, bezaubernde Vorzeigeehefrau. Obwohl die Fünfzigerjahre schon lange vorbei waren.
»Vitamin, schedule, tomato.«
»Ist sie nicht hinreißend? Sie sollte im Fernsehen auftreten, Rob, bring sie ins Fernsehen«, sagten die Leute.
Rob baten sie nie, so etwas zum Besten zu geben, und doch hingen sie an seinen Lippen. Also schrieb er die Texte, und Abigail trug sie vor. Das machte ihr nichts aus. Es gefiel ihr sogar. Sie war dankbar, als er den Vorschlag annahm und sie ins Fernsehen brachte. Je erfolgreicher er wurde, umso erfolgreicher wurde sie. Es war eine Verbindung, die ihnen beiden gleichermaßen nützte. Das sagte sie sich immer.
Das Drehbuch ihres Privatlebens schrieb er genauso selbstherrlich, und Abigail lebte danach.
Während sie jetzt auf der Suche nach ihrem Reisepass in seiner Schreibtischschublade herumkramte, fragte sie sich rückblickend, ob sie sich zu bereitwillig hatte unterdrücken lassen.
Es hatte ziemlich lange funktioniert. Aber irgendwann funktionierte es nicht mehr, weil ihr die Zeit davonlief. Um dauerhaft Erfolg zu haben, hätte sie sich einen Moderationsjob bei einem der fünf großen amerikanischen Fernsehsender sichern müssen, bevor sie dreißig geworden war. Das hatte sie nicht geschafft. Jüngere, langbeinigere, ehrgeizigere Frauen warteten schon auf ihre Chance. Immer. Was sollte sie dagegen sagen; so lief das nun einmal. Sie hatte ihr Bestes gegeben. Der Plan war nicht aufgegangen. Das Leben ging weiter.
Für Rob lief alles wunderbar. Er unterlag keinem zeitlichen Druck. Männer konnten interessanterweise alt werden und trotzdem erfolgreich bleiben.
Zu dieser Zeit fing er an, seine Shows an unabhängige Sender zu verkaufen, Abigails Sendung wurde allerdings von niemandem weitergeführt. Sie fragte sich manchmal, wie viel Mühe er sich überhaupt gegeben hatte, ihr Format zu verkaufen. Er versicherte ihr immer wieder, dass es nicht so wichtig wäre, ob ihre Show sich verkaufe. Sie brauchten ja auch das Geld nicht, und er brauchte sie außerdem zu Hause.
Zumindest wollte sie das gern glauben.
Um in Würde vor einem Fernsehpublikum zu altern, hätte sie um Längen besser sein müssen. Katie Couric, Barbara Walters und Diane Sawyer hatten das gedurft. Das waren in etwa auch schon alle. Abigail war selbst schuld. Manchmal lag sie nachts wach, während Rob neben ihr schlief, und musste sich eingestehen, dass sie nie das nötige Engagement für ihren Beruf gezeigt hatte. Nicht zu hundert Prozent. Sie hatte Grenzen gesetzt. Sie hatte ihre Prinzipien. Sie trat zum Beispiel nicht in Fernsehsendungen auf, in denen es nur darum ging, Menschen bloßzustellen. Sie hatte nicht studiert, um hinterher Leute vorzuführen, die weniger Bildung, Geld oder Chancen besaßen als sie. Dazu war sie zu anständig. Und obwohl sie natürlich auf ihr Gewicht achtete, war sie nicht bereit zu hungern. Von Luft und Liebe zu leben, war nicht ihr Ding, und Botox hatte sie sich (fast) nur wegen ihrer Migräne spritzen lassen. Schönheitsoperationen hatte sie abgelehnt, zumindest im Gesicht, nur die Brust hatte sie sich ein bisschen vergrößern lassen. Sie war nicht bereit gewesen, mit jemand anderem als Rob zu schlafen, weil sie ihren Mann liebte und sich selbst achtete. Was ihrer Karriere in einer Branche, in der es auf der Besetzungscouch noch immer heiß herging, jedoch hinderlich war.
In den letzten Jahren hatte sie nicht einmal mehr Lust gehabt, zu jeder Party zu gehen, auf die sie eingeladen wurde, um Small Talk mit Fremden zu halten, nur für den Fall, dass ihr einer (aus, sagen wir, fünfzigtausend) ein Angebot unterbreitete. Es war anstrengend. Nervtötend. Weder die Kanapees noch die Unterhaltungen erfüllten sie. Anfangs machte sie dieses dauernde Unter-Leute-gehen freiwillig mit, erwartungsvoll. Sie konnte es nicht erklären, aber mit der Zeit zog sie es immer öfter vor, zu Hause zu bleiben und es sich mit einem guten Buch gemütlich zu machen. (Was praktisch war, denn die Gelegenheit, es sich mit Rob gemütlich zu machen, ergab sich selten – ihm gefielen die Partys offenbar noch.)
Als Abigail jetzt die Tür ihrer Luxuswohnung in L. A. hinter sich zuzog und den Fußweg zu dem wartenden Taxi hinunterging, fragte sie sich, ob sie vielleicht zu den Partys hätte gehen sollen. Sich dazu zwingen müssen.
Das Thema »andere Frauen« hatte immer wieder einmal seine hässliche Fratze gezeigt. Während Rob stetig erfolgreicher und mächtiger wurde, wurde Abigail immer paranoider und eifersüchtiger. Er sagte, es gäbe keinen Grund dafür, sich so aufzuführen. Seine E-Mails und seine Handy-Verbindungen zu überprüfen, Privatdetektive zu engagieren. Aber das musste er ja sagen, oder? Natürlich versicherte er ihr, sie sei die einzige Frau, die er je wirklich geliebt und begehrt hätte. Es musste ja nicht zwangsläufig wahr sein. Nur bequem.
Manchmal kam es ihr vor wie eine unglaublich schnelle Version dieses Computerspiels, Mole Attack, in dem ständig Maulwürfe auftauchen und der Spieler sie mit einem Holzhammer zurück in ihre Löcher schlagen muss. Ständig tauchten andere Frauen auf. Und Abigail musste sie niedermachen. Sie dahin zurückprügeln, woher sie kamen. Klatsch. Wumm. Batsch. Immer drauf.
Es war anstrengend.
Sie konnte nicht mehr.
MELANIE
»Was machst du da?«, fragt Ben und schiebt sich vorsichtig zur Tür herein. Er stakst durch den Flur, an dem mit Farbklecksen übersäten Bettlaken vorbei, das ich auf dem Boden ausgebreitet habe, um den Teppichboden zu schützen. Sehr rücksichtsvoll von ihm. Lily ist mitten darüber gelaufen, versehentlich in etwas nasse Farbe getreten und hat eine Spur hinterlassen, die sich jetzt durch Küche und Wohnzimmer zieht. Ich werde mir später einen feuchten Lappen nehmen und das wieder in Ordnung bringen. Ben löst seine Krawatte, eine Geste, die ich wie immer sexy finde. Mir fällt auf, dass er abgekämpft wirkt. Leider werden beide Empfindungen von meiner Hektik und Erschöpfung überdeckt. Ben ist Finanzdirektor einer kleinen Softwarefirma. Ich bin mir sicher, dass seine Aufgaben dort unglaublich wichtig sind – bloß nicht leicht zu verstehen, jedenfalls nicht für mich. Trotzdem frage ich ihn normalerweise, wie sein Tag war.
Heute blaffe ich: »Nach was sieht es denn aus?«
»Nach Flur streichen.«
»Der Kandidat hat 100 Punkte.«
»Aber warum?«
»Es war mal nötig.«
»Haben die Kinder schon gegessen?«
»Ich habe Liam gebeten, den Mädchen ein paar Fischstäbchen mit Bohnen zu machen.«
Ben setzt seinen Weg ins Wohnzimmer fort. Als er die Tür öffnet, höre ich den Kinderkanal dröhnen, gefolgt vom aufgeregten Kreischen der Mädchen, die sich auf ihren Vater stürzen und geknuddelt werden und ihre Neuigkeiten loswerden wollen. Ich war für ihr Geschnatter über die Höhen und Tiefen ihres Schultags heute nicht sonderlich empfänglich. Nachdem ich sie abgeholt hatte, habe ich sie sofort vor dem Fernseher geparkt, bis Liam nach Hause kam und sie übernehmen konnte. Er ist ein guter Junge. Ein bisschen plagt mich das schlechte Gewissen, dass weder meine Kinder noch mein Mann heute die Begrüßung bekommen haben, die sie verdienen.
Mit dem ersten Anstrich der Flurwände bin ich fast fertig. Jacken, Schals, Mützen und was sonst noch an der Flurgarderobe hing, stapeln sich jetzt auf einem riesigen Haufen im Wohnzimmer. Ich befinde mich gerade in der Phase, in der man sich wünscht, man hätte erst gar nicht mit der Sache angefangen.
Ben kennt mich gut genug, um mich machen zu lassen. Er löst Liam ab und kümmert sich um die Mädchen. Er hört ihnen beim Vorlesen zu, badet sie und bringt sie anschließend ins Bett. Liam macht seine Hausaufgaben und verlässt dann das Haus, um sich mit seiner Freundin Tanya zu treffen. Während die Farbe im Flur langsam trocknet, fange ich an, das Wohnzimmer gründlich aufzuräumen. Was hauptsächlich darin besteht, haufenweise Zeitungen, Bücher, Spielsachen, einzelne Socken, Haarspangen, Legosteine und Teller einzusammeln, den ganzen Kram einen Moment hilflos zu betrachten und dann entweder in der Küchenspüle, einem Schrank oder dem Zimmer der Mädchen verschwinden zu lassen.