Lass uns zusammen Grashalme zählen - Sarah Hagenauer - E-Book

Lass uns zusammen Grashalme zählen E-Book

Sarah Hagenauer

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Beschreibung

Wie kann eine gemeinsame Sprache entstehen zwischen Mensch und Pferd? Um den anderen verstehen zu lernen, braucht es weder Worte noch unzählige Kurse, noch teure Trainer. Es braucht Zeit - Zeit und den Willen, sich aufeinander einzulassen. Jedes Pferd ist ein Individuum, genau wie der Mensch. Wenn beide bereit sind, sich selbst und dem anderen zu vertrauen, entsteht eine gemeinsame Sprache, die etwas entstehen lässt, das als eines der größten Geschenke des Lebens angesehen werden kann.

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Der Weg ist das Ziel – ein kluger Spruch, den die meisten vermutlich schon kennen.

Doch nach welchen Kriterien wählst du persönlich deinen Weg aus?

Schaust du in eine Richtung, in der dir mehrere Möglichkeiten geboten werden?

Welchen Weg wählst du?

Wählst du den Weg, der den Anschein erweckt, einfach zu sein?

Oder wählst du den Weg, der eher schwer begehbar erscheint, weil du schon einige Hindernisse von weitem sehen kannst?

Wenn du den einfachen Weg wählst, wirst du vermutlich weiterlaufen und länger unterwegs sein.

Wenn du den scheinbar schwierigen Weg wählst, wirst du vermutlich weniger lange laufen, jedoch wird es mit Sicherheit anstrengender.

Die Hindernisse und Abgründe, die dir auf diesem Weg begegnen, wirst du lernen zu überwinden, und das wird dich am Ende wirklich weiterbringen.

Laufe mit mir gemeinsam ein Stück eines Weges.

Dabei kommt es nicht darauf an, wie viele Strecken in kürzester Zeit überwunden werden, sondern was du aus welchem Teil der Strecke lernst.

Inhalt

An der Donau (1. Strecke)

Meine ersten Entdeckungen im Hegau (2. Strecke)

Die Spuren des Rotmilans (3. Strecke)

Im Windschatten (4. Strecke)

Im Gleichgewicht (5. Strecke)

Die vertrockneten Grashalme (6. Strecke)

Im schwarzen Wald (7. Strecke)

AN DER DONAU (1. STRECKE)

Die Entscheidungsfreiheit des Menschen

Die meisten Menschen suchen sich ein Pferd wohl danach aus, indem sie verschiedene Pferde-Fotos im Internet vergleichen und schauen, welches Bild sie besonders anspricht.

Hat das Pferd die Farbe, die einem gefällt?

Hat es die wünschenswerte Größe?

Passt der Preis einigermaßen?

Vielleicht googlen manche auch nach Charaktereigenschaften, die eine bestimmte Rasse verspricht, lesen sich Bewertungen durch, was das Pferd schon alles mitbringt, welche Ausbildung es hatte, ob gesundheitliche Einschränkungen vorhanden sind, oder sie lesen irgendwelche Zeitungsinserate, um sich zu informieren.

Es gibt unzählige Möglichkeiten, an ein Pferd zu kommen: über das Internet, Freunde, über eine Zeitungsannonce oder über gewisse Zufälle, die zusammenspielen.

Ihr Menschen habt die Wahl, zu entscheiden, welches Exemplar euch am ehesten zusagt, für welches Tier ihr mehr oder weniger bezahlen wollt, welche Fahrtzeiten ihr in Kauf nehmen wollt, um uns von A nach B zu transportieren, welche Farbe, welche Rasse oder welches Alter ihr bevorzugt.

Wir Pferde haben keine Wahl. Wir haben entweder Glück, in einem Stall geboren zu werden, der auf unser Wohlbefinden Wert legt oder eben nicht. Wir haben auch nicht die Wahl, zu entscheiden, wer uns in unserem Leben begleitet.

Ist es ein Mensch oder sind es mehrere?

Ist es jemand, der viel Wissen über unsere Bedürfnisse hat?

Ist es jemand, der sich ausreichend Zeit für uns nimmt?

Ist es ein Mensch, der sich in uns einfühlen kann?

Wir wissen es nicht - es ist unser Schicksal, welche Person uns im Leben begleiten wird!

Zu mir

Falls sich jemand für meine Rasse interessiert: Ich bin ein Criollo. Das ist eine Pferderasse, die in Argentinien weit verbreitet ist.

Mein Fell ist grau, auf dem Rücken habe ich einen schwarzen langen Strich, der aussieht, als wäre er mit einem dicken Pinsel aufgetragen worden.

Mein Schweif und meine Mähne sind ebenfalls grau, man findet aber auch ein paar hellere und dunklere Strähnen, wenn man genauer hinsieht.

Drei meiner vier Beine sind bis zu den Knien weiß, es sieht aus, als würde ich Socken tragen. Das vordere rechte Bein ist schwarz, ebenso der Huf, der als einziger von allen vieren dunkel ist. Vielleicht ist dieser dunkle Huf ein Glückshuf, denn er fällt ganz offensichtlich aus der Reihe.

Mein Gesicht hat eine weiße Blesse in der Mitte, die bis hinunter zu meinen Nüstern reicht, weshalb auch dieser eine Nasenflügel weiß ist.

Mein rechter Nasenflügel ist schwarz. An meiner Oberlippe findet sich ebenfalls ein schwarzer Fleck. Er wirkt, als wäre dem Künstler bei meiner Bemalung aus Versehen ein Tupfer vom Pinsel getropft.

Meine Augen sind dunkelbraun, und je nachdem, ob es Sommer oder Winter ist, wird mein Fell etwas dunkler oder etwas heller.

Mein linkes Auge wird durch ein langes, weißes Haar verziert, das länger ist als die restlichen Wimpern. Es fällt auch nicht aus, irgendwie ein sehr besonderes und einzigartiges Haar, anders als die anderen.

Meine Herkunft

Ich wurde auf einer riesigen Weide geboren und bin dort aufgewachsen, völlig im Grünen, beschützt von Wald und Sträuchern rings herum. Die Besitzer dieser Weide haben das Bestmögliche getan, mich so natürlich wie möglich aufwachsen zu lassen. Von Geburt an durfte ich mit anderen Fohlen zusammen sein. Ein Hengst war der Anführer dieser Herde und die unzähligen Stuten, seine Damen, die er beschützte, waren gleichzeitig unsere Mütter.

Mittendrin in dieser großen Herde wuchs ich auf, nahe der Donau, an einem idyllischen Ort, umgeben von Natur. Fast zwei Jahre durfte ich hier verbringen.

Kontakt zu Menschen war kaum vorhanden.

Zwei Mal täglich kam jemand, der uns Heu brachte und das Wasser auffüllte, aber sonst haben wir nicht viel von Menschen mitbekommen.

Wir wurden in Ruhe gelassen in dieser wundervollen, abgeschiedenen Umgebung.

Den ganzen Tag konnte ich mich damit beschäftigen, die kleinen Veränderungen auf der Weide zu entdecken, z. B. welcher Grashalm auf der Weide neu dazu gewachsen war, mich fragen, welcher Ast anders da lag als am Vortag, und beobachten, was meine Mutter, mein Vater und meine unzähligen Geschwister den lieben langen Tag so anstellten. Ein unbeschwertes, glückliches Pferdeleben in Freiheit, ein Privileg, das nicht jedem Pferd zuteilwird.

Die erste Begegnung

Eines Tages kam der Mann, der uns immer mit Heu und Wasser versorgte. Er kam in Begleitung von zwei weiteren Zweibeinern. Was die vielen Menschen wohl bei uns wollten?

Brauchte er Unterstützung, weil es heute besonders viel Heu gab?

Einer der beiden Begleiter war blond, recht groß, hatte braune Augen und trug eine dicke Jacke.

Das Wetter war ungemütlich an diesem Tag. Es regnete, ich war nass und mein Fell war dunkler als sonst, weil sich der Regen schon so dicht in meinem Fell abgesetzt hatte, dass sogar schon Tropfen an meinem Rücken herunterliefen.

Einer der beiden fremden Zweibeiner wurde Sarah genannt. Dass sie diejenige war, die mich den Rest meines Lebens begleiten würde, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Der andere Zweibeiner schien Sarah gut zu kennen, sie wirkten vertraut miteinander, sahen sich oft an, sprachen miteinander, schauten uns genau an. Für mich waren es zwei Fremde, deren Sprache ich nicht verstand, die plötzlich aufgetaucht waren. Ich fragte mich, was die beiden bei uns wollten.

Ich stand am Zaun mit meinen zwei Freunden. Die beiden waren etwas kleiner als ich, aber sie waren genauso neugierig wie ich.

Wer diese Menschen wohl waren?

Wie sie wohl riechen würden?

Was die anderen Pferde unserer Weide wohl von ihnen halten würden?

Mein Vater, ein Hengst, namens Negro, hatte die Neuen ebenso im Blick, das spürte ich. Seine Aufgabe war es, alle genau zu beobachten, die sich der Weide näherten. Er hatte schließlich all die Mütter und meine Geschwister zu beschützen.

Ich verstand die Sprache der Menschen nicht, irgendwelche Wortlaute aneinandergereiht, dazwischen ein Lachen oder ein Schweigen.

Jedoch spürte ich sehr viel. Ich glaube, die meisten Menschen unterschätzen, wie viel wir Pferde eigentlich spüren, ganz ohne die Menschensprache zu verstehen.

Ich nahm diese Frau, namens Sarah, genau wahr. Sie interessierte mich nicht nur, weil ich vermutete, dass sie uns Heu brachte, sondern weil ich bemerkte, dass sie mich anders ansah als meine beiden Freunde, die neben mir standen. Sie beäugte mich genau, sprach gleichzeitig irgendetwas mit den zwei anderen Menschen. Ich spürte etwas Wohlwollendes in ihrer Stimme.

Meine Freunde und ich blieben neugierig am Zaun stehen, wohlwissend, dass mein Vater uns genau beobachtete.

Plötzlich streckte mir die blonde Frau ihre Hand entgegen - Ich wich zurück. Ich wusste, zu nah durfte ich dem Zaun nicht kommen, sonst würde er mir Schmerzen bereiten. Ihre Hand reichte sie jedoch über den Zaun.

Wie konnte ich das deuten? Ich lief rückwärts und merkte schnell, dass ihr Arm zu kurz war, um mir gefährlich zu werden. Somit konnte ich, mit einem gewissen Sicherheitsabstand, wieder stehen bleiben.

Meine zwei Freunde waren viel mutiger als ich, sie blieben noch immer nah am Zaun stehen und beschnupperten sogar diese fremde, ausgestreckte Hand.

Ich beobachte weiter das Geschehen: meine beiden Freunde, aber auch diese Frau. Meine Mutter näherte sich und ich hatte plötzlich das Bedürfnis nach ihrem Schutz und rannte zu ihr. Bei ihr fühlte ich mich einfach immer am sichersten. Sollten die beiden anderen doch machen, was sie wollten!

Aus sicherer Entfernung, nah bei meiner Mutter, konnte ich weiter zuschauen, was meine zwei Freunde mit dieser Hand machten. Die Hand schien nicht gefährlich zu sein, denn sie kam nicht näher, sie blieb dort, wo sie auch mir entgegengestreckt wurde.

Wie gesagt, damals verstand ich die Sprache der Menschen noch nicht, aber Sarah erzählte mir später, dass sie mein Verhalten damals so beeindruckte. Sie fand, ich wäre so zart und scheu gewesen, anders als die anderen, so dass ich durch dieses Verhalten erst recht ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte.

Den Mann, dem die Weide gehörte und der uns täglich versorgte, nennt ihr Menschen Züchter. Dieser Mann sprach mit Sarah und meinte: “Prinzessin, dieser Gaul ist nichts für dich“. Durch diese Aussage wurde sie jedoch in ihrem Willen nur noch bestärkt, sich für mich zu entscheiden. Vielleicht wollte er mich behalten und gar nicht an Sarah verkaufen, da waren wir uns im Nachhinein gar nicht ganz so sicher.

Es begann wieder stärker zu regnen, die Menschen setzten sich wieder in das Auto, mit dem sie auch gekommen waren und so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden.

Das Beobachten

Wie lernt ihr Menschen euch kennen? Ihr verabredet euch vielleicht und geht etwas trinken. Dabei stellt ihr euch Fragen und gebt euch Antworten. Menschen treffen sich also, um miteinander zu sprechen, um Worte auszutauschen, um sich zu berichten, wie es ihnen erging, was die nächsten Tage anstand, was sie belastete, traurig oder glücklich machte. Doch wie lernt man sich kennen, wenn man nicht die gleiche Sprache sprach? Benutzen denn alle Menschen die gleiche Sprache?

Mir erschien die Sprache der Menschen um einiges schwieriger als unsere Pferdesprache. Menschen sprechen, je nach Land, aus dem sie stammen, eine andere Sprache. Es gibt extra Sprachkurse, in denen man die komplexen, unterschiedlichen Sprachen und ihre Grammatik erlernen kann. Es existieren Sprachlehrer, Sprachkurse, Sprachheilkunde, ich war mir nicht mehr sicher, ob ich mir das alles richtig gemerkt hatte, was Sarah mir erzählte.

Sprachheilkunde? Ein Kunde, der einen durchs Sprechen heilt?

Seltsam!

„Ins Gras beißen“ klang z. B. auch erstmal super. Ich würde gerne mal wieder so richtig ins Gras beißen, nur bei euch Menschen bedeutet dies, dass man stirbt.

Der Zusammenhang ließ sich mir beim besten Willen nicht erschließen.

Wenn ich nicht ins Gras beißen würde, dann würde ich vermutlich sterben. Menschen fraßen doch aber gar kein Gras, warum sollten sie dann überhaupt ins Gras beißen oder daran sterben? Eigenartig, dass sie diesen Ausdruck gebrauchten, dachte ich mir im Stillen.

„Darüber ist längst Gras gewachsen“ – auch so eine Redewendung.

Zum Glück wuchs das Gras, konnte ich nur sagen, denn wenn kein Gras mehr wuchs, wäre das für mich ein ziemliches Problem. Bei euch Menschen heißt das, dass eine unangenehme Situation wieder vergessen ist – es war wirklich schwierig, eure Sprache zu verstehen!

Es gibt einfach sehr viel Interpretationsspielraum in der Sprache der Menschen. Was der eine meinte zu verstehen, konnte der andere aber ganz anders gemeint haben. Wenn du nicht nachfragst, kann sogar manchmal ein Konflikt entstehen, hörte ich – allein durch diese seltsamen Wort-Konstrukte, die sich die Menschen an den Kopf warfen.

„An den Kopf werfen“ – ein weiteres Beispiel. Man konnte also manche Worte werfen, das würde ich zu gerne mal sehen! Wenn dann jemand ein Wort auffängt, was macht er mit diesem dann wohl – warf er es zurück?

Sarah erzählte mir, dass man Sprachen sogar studieren kann. Das konnte ich mir nun gar nicht vorstellen. Sarah hatte scheinbar mehrere Sprachen studiert, und nach ihren Erzählungen ergab das für mich überhaupt keinen Sinn. Wozu sollte man z. B. mehrere Stunden am Tag eine tote Sprache lernen? Es gab nämlich lebendige und tote Sprachen.

Also diese tote Sprache hatte wohl ins Gras gebissen, oder hatten die Menschen damals ins Gras gebissen und konnten deshalb die Sprache nicht mehr sprechen?

Sarah meinte damit Latein. Sie lernte täglich, teilweise acht Stunden am Tag, Latein. Das war aber nicht die einzige Sprache, die sie lernte, sie lernte auch noch Deutsch - die Sprache, die hier eben gesprochen wurde und ebenfalls Germanistik, was damals von den Germanen gesprochen wurde. Aber wozu?

Sie erzählte mir weiter, dass sie während dieser Zeit des Studierens nie Geld gehabt hatte, sie musste hunderte von Büchern wälzen – ich wälzte mich eigentlich auch gerne, aber nicht in Büchern, sondern im Sand.

Tatsächlich hatte sie sich sechs Jahre lang mit Sprachen beschäftigt und mit Philosophie.

Was das nun wieder sein soll, kann ich nicht so richtig erklären. Ein Semester beschäftigte sie sich z. B. mit der Frage: Wäre ich lieber ein unzufriedener Sokrates als ein glückliches Schwein?

Meine Antwort kann ich euch sofort geben: ein glückliches Schwein natürlich! Da brauchte ich nicht lange zu überlegen oder gar ein Semester studieren. Bevor ich so etwas freiwillig studieren würde, würde ich doch viel lieber Grashalme zählen.

Dann gab es da auch noch die Mimik und Gestik in der Sprache der Menschen, meinte Sarah, die oft auch nicht mit dem Inhalt der Worte übereinstimmte.

Wenn ein Mensch jemanden anlächelt, bedeutet das dann immer, dass er den anderen ganz toll findet? Eben nicht!

Wenn ein Mensch etwas verspricht, folgt daraus, dass er sein Versprechen auch immer einhält? Eben nicht!

Wenn ein Mensch sagt, er möchte dieses und jenes tun, heiß das, dass er es auch wirklich tut? Eben nicht!

Wenn ein Mensch behauptet, dass er dich mag, stimmt das immer?

Eben nicht!

Da bleibt die Frage offen: Wenn es so viele Situationen gibt, in denen Menschen sich mit Worten gar nicht verstehen können, warum wird dann überhaupt so viel miteinander gesprochen? Liegt es daran, dass der Mensch zwar sprechen kann, einen Wortschatz besitzt, aber dem anderen oft nicht genau zuhört?

Konnte der Mensch denn zuhören?

Was bedeutet es, wirklich zuzuhören?

Warum macht ihr es euch denn nicht einfacher?

Anstatt viel zu sprechen und eure Gefühle durch Worte auszudrücken, die ihr vielleicht gar nicht so meint, beobachtet doch erst einmal, z.B das Verhalten eures Gegenübers, das eigene, oder auch das Verhalten der Tiere. Dazu braucht man zunächst keine Worte, und man erfährt meist viel mehr übereinander, als wenn man mit Wortlauten miteinander spricht.

„Leg das einzelne Wort nicht auf die Goldwaage“, hörte ich von Sarah öfter. Im Stall hatten wir keine Goldwaage, ich verstand in dem Zusammenhang auch nicht, was eine Goldwaage mit Worten zu tun haben sollte.

Wenn euch etwas nicht gefällt, dann legt doch einfach die Ohren an, so mache ich das, wenn mir etwas nicht gefällt!

Beobachtet, ob das gesprochene Wort wirklich einen Wert besitzt. Es dauert vielleicht eine Weile, das herauszufinden, denn nur über einen längeren Zeitraum kann man herausfinden, ob die vielen Worthülsen auch mit Inhalt gefüllt sind.

Setzt jemand das um, was er gesagt hat?

Hält jemand sich an sein gesprochenes Wort?

Revidiert jemand seine Meinung?

Entschuldigt sich jemand auch für etwas, was er einmal gesagt hat?

Entsteht ein Bewusstsein über den Gebrauch von Worten, die andere Menschen verletzen, irritieren oder bedrücken können?

Unter uns Pferden geht das einfach anders, wir haben keine Worthülsen, keine Ironie, keinen Sarkasmus, keine Metaphern. Wenn man so möchte, haben wir auch eine Sprache, die man als Mensch sehr leicht verstehen lernen kann. Dazu gehört, sich auf uns einzulassen und sich Zeit zu nehmen, uns zu beobachten.

Die Annäherung

Diese Frau namens Sarah, die uns damals an diesem regnerischen Tag besucht hatte, kam ab sofort öfter. Das nächste Mal, als sie wieder aufkreuzte, war das Wetter viel schöner. Es war offensichtlich, dass sie sich für mich interessierte, sie saß manchmal einfach auf der Wiese unserer Weide, nicht einmal der Zaun trennte uns mehr und sie tat einfach gar nichts. Weder brachte sie Wasser noch Heu, sie saß einfach nur da.

Vielleicht zählte sie Grashalme?

Ich beobachte sie und sie beobachtete mich.

Immer wenn ich ihr ein Stück näherkam, natürlich noch mit genügend Abstand, flüsterte sie mir unbekannte Worthülsen zu, die ich nicht verstand. Ich dagegen hatte Lust, an ihr zu schnuppern, aber traute mich nicht richtig. Meine Freunde waren wieder einmal viel mutiger als ich, sie standen teilweise schon so nah bei ihr, dass ich mich fragte, was würden wohl unsere Mütter dazu sagen? Sarah gehörte doch gar nicht hier auf unsere Weide.

Von da an besuchte sie uns ein Jahr lang regelmäßig auf der Weide. Ich war damals ein Jahr alt, als sie zum ersten Mal da war. Mit jedem weiteren Besuch wurde mir klarer, dass sie weder hier war, um Heu zu bringen, noch um meine Geschwister kennenzulernen, sie war wegen mir da! Ich spürte das. Ihr Wohlwollen und ihr Interesse richteten sich ganz deutlich an mich.

So wurde ich mit jedem weiteren Treffen mutiger und gewillt, sie weiter kennenzulernen, auch wenn ich nach wie vor nicht verstand, was sie zu mir sagte. Ich hörte und erkannte ihre Stimme aber inzwischen unter anderen sofort heraus.

„Milan“ hörte ich sie eines Tages von weitem rufen. Milan?

Ich sagte meinen Freunden gleich Bescheid, sie sollten doch mitkommen, nachschauen, ob ich Recht hatte mit meiner Vermutung, dass Sarah gerufen hatte. Die hatten aber keine Lust, vom hintersten Teil der Weide dem Ruf zu folgen. Ich machte mich auf den Weg, und wieder hörte ich es rufen: „Milan“.

Die Stimme schien nun näher als grade eben. Ich rannte den Hügel nach oben und da erblickte ich sie - sie war es tatsächlich! Um noch weiter über die Kuppe blicken zu können, musste ich noch ein Stück galoppieren. Aber nun hatte ich Gewissheit: Ich erkannte ihre Stimme!

Ich hatte den Eindruck, dass Sarah sich sehr freute. Vielleicht hatte sie wahrgenommen, dass ich sie ganz allein aufgesucht hatte. Dieses Mal hatte ich auch all meinen Mut zusammengenommen, ohne meine Freunde zu ihr zu laufen.

Sie kam ein paar Schritte auf mich zu; ich blieb stehen und schaute aufmerksam, ob sie weiter auf mich zukommen würde. Wenn ja, hätte ich die Option, wieder zu meinen Freunden zu flüchten.

Sie würde mir vermutlich nicht hinterherrennen und wenn doch, wäre ich schneller als sie. Ich blieb also stehen - Sarah blieb auch stehen. Dass sie mich mit ihrem Blick so fixierte, irritierte mich, ich wich ein Stück zurück. Sie schien es zu bemerken, dass mich ihr Anstarren irritierte.

So setzte sie sich hin und blickte auf den Boden - würde sie nun wieder Grashalme zählen? Das hatte sie doch letztes Mal auch schon getan.

Dann packte sie etwas aus ihrem Rucksack und begann zu essen!

Dasselbe fressen wir also schon mal nicht, denn solch einen Duft, der aus ca. drei Metern Entfernung zu mir herüber strömte, hatte ich noch nie gerochen. Weder roch es nach Gras noch nach Blüten. Ich musste näher heran, um herauszufinden, was Sarah aß, was da so sonderbar und doch anziehend roch.

Sie tat so, als würde sie es nicht merken, dass ich immer näherkam und knabberte weiter an diesem wunderbar riechenden Stück. Inzwischen war ich schon so nah bei ihr, dass ich den Geruch dieser Linzertorte - wie das Teil unter Menschen genannt wird - direkt in meiner Nase hatte.

Meine anfängliche Vorsicht war wie weggeblasen - dieser Geruch ließ mich alles vergessen, ich war wie hypnotisiert.

Sarah saß also auf der Wiese mit ihrem Stück Linzertorte und ich war so nah bei ihr, wie noch nie zuvor - der Geruch von Zimt und Marmelade blieb noch lange in meiner Nase.

Die Veränderung

Die wunderbare Zeit auf der Weide neigte sich mit dem Abschluss des Sommers leider einem Ende zu. Die unbeschwerten Momente beim Grashalme-Zählen und mit meinen Freunden herumzutoben – und nebenbei Sarah beim Essen zu beobachten - waren vorbei.

Nun musste ich in einen fürchterlich engen Stall, ohne meine Eltern! Zwei meiner Geschwister waren ebenfalls mitgekommen, aber wir hatten keine Chance, uns gegenseitig zu beruhigen, denn zwischen uns lagen schwere, graue Betonwände.

Da stand ich nun in einem Stall in einer „Box“, wie Menschen das nennen - ganz allein!

Heu gab es dort schon, auch Wasser, aber im Vergleich zu meiner riesigen, wunderbaren Weide an der Donau, war das ein Zustand, der mir absolut missfiel.

Eines Tages besuchte mich Sarah in diesem furchtbaren Betonklotz.

Hoppla! Nun hatte ich gar nicht mehr die Chance, den Abstand einzuhalten, den ich für angemessen hielt! Sie konnte einfach die Boxentüre öffnen und zu mir hinein marschieren, wie es ihr beliebte.

Was würde dabei mit mir geschehen?

All meine Muskeln spannten sich unwillkürlich an, als ich bemerkte, dass Sarah das wirklich vorhatte: die Boxentüre zu öffnen und mir näher zu kommen.

Ich war so aufgeregt, dass ich das ganze Durcheinander von Worten, die in dem beengten Raum schwebten, gar nicht wahrnehmen konnte.

Ich hatte Angst!

Ich hatte Angst vor Sarah und ich hatte Angst, nicht zu wissen, was den Menschen noch so alles einfallen würde. Wenn sie schon auf solche Ideen kamen, mich von meiner wunderbaren Weide zu trennen und einfach hier einzusperren!

Hunde bellten laut, ein Radio lief, schrille Musik tönte aus den Lautsprechern und dann diese Tür, die sich immer weiter öffnete. Die Angst stand mir ins Gesicht geschrieben.

Sarah stand nun in meiner Box - wir beide in dieser fürchterlich engen Box und ich hatte keine Chance zu entkommen!

Was sollte ich tun?

Sollte ich ihr meinen Hintern zudrehen, sodass ich im Notfall ausschlagen konnte, um so meine Grenze zu zeigen?

Bis hier hin und nicht weiter!

Sollte ich mich ganz in eine Ecke drängen, in der Hoffnung, dass sie dort stehen blieb, wo sie in diesem Moment grade stand?

Was sollte ich tun?

Sarah blieb stehen, wo sie war, sie machte nicht den Eindruck, näher zu kommen.

Immer noch angespannt stand ich, dicht an die Wand gedrängt, in der Ecke. Dort verweilte ich, um die Situation weiter zu beobachten.

Minuten, Stunden vergingen, Sarah rührte sich nicht! Ich hatte Glück - das Ausharren in meiner Ecke hatte sich gelohnt, die Boxentür wurde wieder geöffnet und sie verließ die Box. Ich war wieder für mich allein und kaute nervös vor mich hin. Ganz langsam konnte ich mich wieder entspannen.

Sarah erzählte mir später, sie würde auch hin und wieder nachts kauen, deshalb müsse sie eine Zahnschiene tragen. Hoffentlich gab es für Pferde keine Zahnschienen, dachte ich, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was eine Zahnschiene sein sollte.

Zu schön wäre es gewesen, hätte ich einfach wieder auf die Weide gekonnt – aber unsere wöchentlichen Treffen fanden von nun an tatsächlich in dieser Box statt.

Das bedeutete: Anspannung, Stress, Luft anhalten und warten, bis Sarah die Box wieder verließ.

Manchmal stand Sarah in der einen Ecke, manchmal in der anderen.

Ich stand immer in der Ecke, in der sie nicht war, beobachtete weiter, welche Ecke sie sich wohl heute aussuchen würde.

Das war nun also unser Eckenspiel. Was sollte man auch den ganzen Tag sonst machen?

Eines Tages stand sie so lange in der gleichen Ecke, dass ich es schon fast langweilig fand, dass wir unsere Routine des Eckenwechsels nicht durchbrechen konnten.

Sie wechselte jedenfalls an diesem Tag die Ecke nicht. Wir standen also stundenlang in unserer jeweiligen Ecke, ohne uns zu bewegen.

Da beschloss ich, mich ein paar Zentimeter aus meiner Ecke zu bewegen. Mal sehen, wie sie reagieren würde.

Würde sie ihren Platz verteidigen?

Würde sie die Ecke mit mir tauschen?

Sarah blieb beharrlich in ihrer Ecke und rührte sich keinen Millimeter.

Ich näherte mich ihr weiter, noch einen Zentimeter in ihre Richtung - sie blieb weiterhin an ihrem Platz stehen. Wir standen uns jetzt genau gegenüber, sehr nah - zu nah?

Da war ich mir noch nicht so ganz sicher.

Meine Ohren waren nach vorne gerichtet. Ich war ganz auf den Moment fokussiert und bereit, auch gleich wieder zurückzuweichen, würde es die Situation von mir verlangen.

Sarah bewegte ihre Hand langsam, sehr langsam - ich beschloss weiter stehenzubleiben, die Option rückwärtszugehen behielt ich mir offen.

Ihre Hand schwebte ganz allmählich weiter, in Richtung meiner Nüstern und auch wenn die Hand meine Nüstern noch nicht berührte, nahm ich ihren Geruch völlig auf. Nun bewegte sich die Hand weiter in Richtung meines Halses, ich hob alarmiert meinen Kopf - musste ich gleich rückwärtsgehen? Es waren nur noch wenige Millimeter zwischen meinem Hals und ihrer Hand, ich blieb tapfer stehen!

Da - plötzlich berührte sie mich, und ich blieb dabei tatsächlich stehen!

Es war unverkennbar, dass Sarah unglaublich stolz auf mich war.

Mit sanfter Stimme sagte sie: „Guuuuut!“ und zog ihre Hand gleichzeitig wieder vorsichtig zurück.

Noch immer rührte ich mich nicht vom Fleck, freute mich über Sarahs Freude und atmete erst einmal tief durch, als ich von der Hand befreit war. Aber so schlimm war die Berührung eigentlich gar nicht gewesen.

Dass dieses Stehen-bleiben auch in Zukunft ein Zeichen für eine gemeinsame Einigung zwischen uns sein sollte, um einen Schritt weiterzugehen, das wussten wir zu diesem Zeitpunkt beide noch nicht.

Allein durch gegenseitiges Beobachten, wie weit jeder von uns gehen wollte, haben wir es geschafft, uns das erste Mal zu berühren, ohne Druck, ohne Zwang und mit gegenseitigem Wohlwollen.

Wären zwei Menschen in dieser Situation gewesen, hätten sie sich einfach fragen können: Darf ich dich anfassen, und die Antwort hätte ja oder nein lauten können.

Ich habe Sarah auf ihre Frage auch eine Antwort gegeben, nur brauchten weder sie noch ich dafür Worte.

Die Schlange

Was denkt ihr eigentlich, wie Grashalme wachsen? Auf der Weide damals konnte ich es richtiggehend beobachten, wie für ein paar abgefressene Grashalme irgendwann neue nachwuchsen.

Ganz winzig blinzelten sie vorsichtig aus dem Boden - einfach so.

Wie kam das?

Schoben etwa diese kleinen rot-schwarzen Marienkäfer, die frischen grünen Halme aus dem Boden nach oben?

Doch warum sollten sie das tun? Das wäre doch eine anstrengende Aufgabe für so einen kleinen Käfer!

Wenn so ein kleiner Wicht unter die Erde krabbelte und sich so einen leckeren Grashalm einmal von unten anschauen würde, wie nahm er diesen wohl wahr?

Ich sah die Grashalme nur von oben und den Boden, auf dem sie wuchsen.

Sah ein Grashalm denn von unten anders aus als von oben?

Eigentlich musste ich das Gras auch nicht von unten sehen können, wichtig war doch nur, dass ich es fressen konnte!

Dennoch könnte man durchaus öfter überprüfen, aus welchem Blickwinkel man Dinge betrachtet.

Sah ich die Dinge aus einer Perspektive, die mich erfreute oder fokussierte ich mich bevorzugt auf etwas, das mich ängstigte oder traurig machte?

Schlussendlich lag es an mir allein, wie ich die Dinge betrachtete.

Meine Gedanken formten meine Welt, das war mir klar. Wenn mir die Grashalme von oben gefielen, dann musste ich sie doch gar nicht von unten betrachten können!

Oder konzentrierte ich mich lieber darauf, etwas sehen zu wollen, was ich gar nicht sehen konnte? Begann ich zu grübeln und machte es mich traurig, dass ich die Halme nicht von unten sehen konnte, oder schätzte ich einfach das, was mir möglich war?

Letztlich bestimmten allein meine Gedanken, wie und was ich in einem Grashalm sehe.

Am Ende brauchte es wahrscheinlich gar keine Grashalme, um mich in einen Glückszustand zu bringen.

Es reichte schon, wenn meine Gedanken über sie positiv blieben, dann kam der Rest von ganz von allein.

Seit Wochen habe ich nun jedoch keine Grashalme mehr gesehen, weder von unten noch von oben, ich würde aber so gerne mal wieder welche fressen. Dieses Heu hier in meiner Box und das ewige Rumstehen langweilten mich einfach. Es fiel mir mit jedem Tag schwerer, mir einfach nur Grashalme vorzustellen, geschweige denn, mich daran zu erinnern, wie sie schmeckten.

Sarah kam nach wie vor einmal die Woche vorbei, manchmal saß sie in der einen Ecke, manchmal in der anderen. Wenn sie auf dem Boden saß, traute ich mich inzwischen recht nah an sie heran, dann wusste ich, sie würde sich nicht plötzlich oder ruckartig bewegen, und ich konnte deshalb beruhigt in ihrer Nähe sein.

Dennoch war diese Zeit hier in diesen vier Wänden einfach langweilig - superlangweilig!

Da kam mir ein bisschen Ablenkung entgegen. Abwechslung in unsere bisherige Routine bot mir eine grüne, raue Schlange, die Sarah eines Tages mitbrachte. Diese Neuigkeit erweckte meine Aufmerksamkeit und ich brauchte nicht mehr weiter von Grashalmen vor mich hin zu träumen, die ich vermutlich ohnehin nie wieder fressen durfte.

Langsam bewegte sich Sarahs Arm, mit dieser Schlange in der Hand, in die Richtung meines Halses. Vor ihrer Hand hatte ich inzwischen keine Angst mehr, ich erkannte sie schon an ihrem Geruch, und wenn ich ganz ruhig stand, entspannte mich die Berührung der Hand sogar, wenn sie langsam über mein Fell streichelte.

Diese Hand brachte nun also diese grüne Schlange immer näher an meinen Hals. Ich blieb stehen, war aber dennoch etwas angespannt.

Plötzlich legte sie die komplette Schlange um meinen Hals, stellte sich neben mich und zog ein weiteres, anderes Stück dieser Schlange über meine Nüstern und verknotete vorsichtig etwas über meinem Kopf.

Danach entfernte sie die grüne Schlange wieder aber die restlichen Teile nicht.

Warum entfernte sie nicht alles?

Obwohl die grüne Schlange nicht mehr um meinen Hals hing, sah ich, dass Sarah sie noch immer in ihrer Hand hielt.

Als sie sich ein bisschen bewegte, bemerkte ich einen Druck an meinem Kopf. Dieser konnte nur von der Schlange verursacht worden sein, von wem sonst?

Ich wurde unsicher und folgte Sarah ein paar Schritte. Daraufhin ließ der Druck sofort nach.

Sarah freute sich total, aber worüber?

Freute sie sich mit mir, dass ich keinen Druck mehr verspürte? Doch woher wusste sie das? Oder freute sie sich, dass ich ihr folgte? Ich musste es herausfinden. Sie lief wieder ein Stück voran, ich direkt hinterher. Dieses Mal verspürte ich keinen Druck am Kopf. Es musste also die Freude sein, dass ich ein Stück mit ihr gelaufen war.

Sie öffnete die Boxentür und lief ein Stück heraus. Die seltsame Schlange war noch immer zwischen uns gespannt. Eigentlich war es etwas Gutes, wenn die Boxentür geöffnet wurde; danach hatte ich meistens wieder meine Ruhe. Heute war es aber anders.

Diese Schlange durchbrach unsere Routine.

Sarah lief ein Stück weiter und zog die Schlange ein bisschen. Ich registrierte den Druck, gab ihm nach und folgte ihr wieder.

War das ihr Plan? Wollte sie mich aus dieser furchtbar beengten aber auch sicheren Box befreien? Ich wagte es, Sarah hinterherzulaufen.

Ein paar Schritte nur und wir standen plötzlich im Licht. Stellt euch vor, ich konnte sogar wieder meine geliebten Grashalme sehen!

Außerdem gab es einen eingezäunten Bereich, der gänzlich abgefressen aussah, sodass nur noch Sand übrig war. Genau auf diesen Bereich steuerten wir zu. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte.

Es war so hell, die frische Luft, die anderen Pferde, die ich in der Ferne sah - all die vielen, neuen Eindrücke!

Ich bemerkte auch viele fremdartige Gegenstände, die im Gras herumstanden. Das machte es den Marienkäfern bestimmt schwer, die Grashalme nach oben zu drücken.

Wir liefen ein paar Meter auf dem Sand, ich hatte jedoch keine Lust weiterzulaufen. Das Laufen lenkte mich zu sehr davon ab, mich weiter umzuschauen. Wenn ich stehen blieb, machte sich aber sofort der Druck der Schlange bemerkbar und ich hatte langsam genug davon.

Seit Wochen hatte ich nur die vier Wände der Box gesehen. Logisch hatte ich weder Lust auf Druck noch auf Laufen, sondern wollte mir einfach erst einmal die neue Gegend anschauen. Also zog ich meinen Kopf so weit ich konnte nach oben, um dadurch die Schlange zu besiegen, auch wenn der Druck dadurch nun zunahm.

Zusätzlich zu dem Druck irritierte mich, dass Sarah so tapsig und wankend auf mich zu kam. Die Schlange verband uns miteinander und wenn ich mich widersetzte, hatte das auch Auswirkung auf Sarah. Aber sie hätte sie doch einfach loslassen können!

Schließlich hatte ich nicht die Wahl, irgendetwas loszulassen, um den Druck loszuwerden. Also sträubte ich mich weiter, mit der Konsequenz, dass es immer schlimmer wurde, auch für Sarah. Sie taumelte mehr und mehr und es schien, als könnte sie die Schlange doch nicht so einfach loslassen.

Sie wollte nicht loslassen, aber das erzählte sie mir erst später.

Irgendwann würde wir die Schlange gar nicht mehr brauchen, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt aber nicht, ich verstand den Sinn und Zweck dieser ganzen Aktion erst einmal nicht.

Irgendwann entschied ich, stehenzubleiben und von diesem Moment an war ich den Druck los, und Sarah konnte wieder sicher stehen.

Sie blieb eine ganze Weile ruhig stehen, bis sie mich noch einmal aufforderte, ihr zu folgen. Als ich wieder einen leichten Druck an meinem Kopf spürte, erkannte ich, dass die Schlange scheinbar nicht zuließ, dass ich mich von Sarah befreite. So gab ich den Kampf auf und lief ihr eben ein Stück hinterher und kaute vor mich hin.

Nach ein paar Schritten durfte ich stehen bleiben und mich endlich weiter umschauen, ganz ohne Druck der Schlange.

Ich lernte, dass es sich nicht lohnte, mich mit der Schlange anzulegen, sondern dass es besser war, einfach zu laufen, wenn ich den sanften Druck verspürte.

Strick nannten die Menschen die lange Schlange und die Schlangenteile in meinem Gesicht, Halfter. Seltsame Begriffe, aber egal wie diese Teile auch heißen - ich wusste nun, wie ich künftig dem Druck ausweichen konnte.

Dass das einer der letzten Tage in meinem gewohnten Umfeld gewesen sein sollte, wusste ich zu dem Zeitpunkt natürlich nicht. Das war auch besser so, denn ich hatte schon genug zu verarbeiten.

MEINE ERSTEN ENTDECKUNGEN IM HEGAU (2. STRECKE)

Der Plastikklotz

Dass es mehrere Variationen von Betonklötzen bzw. Boxen gab, sogar welche, die noch viel schlimmer sind als meiner, das hätte ich nicht gedacht. Inzwischen hatte ich mich schon daran gewöhnt, in dieser Box zu stehen, täglich Heu zu bekommen und auf Grashalme zu verzichten. Sarahs Besuche waren nach wie vor regelmäßig.

An das Berühren ihrer Hand hatte ich mich gewöhnt; inzwischen entspannte ich mich dabei immer mehr, wenn ihr Handrücken meinen Hals sanft berührte.

An diesem Tag wurden mir wieder die Schlangenteile um meinen Kopf gelegt und ich durfte nach draußen - dachte ich zumindest. Seltsam war, dass am Ende des Ganges ein weiterer Klotz stand, der sogar noch nach Gummi roch. Beim letzten Mal war an genau dieser Stelle ein Sandplatz gewesen. Daran erinnerte ich mich noch ganz genau.

Über eine kleine Erhöhung, die vom Boden in den Klotz hineinführte, kam ich in diese Box, die offensichtlich aus Plastik bestand. Es roch widerlich dort drin, das merkte ich schon beim Einsteigen.

Sarah begleitete mich tatsächlich bis hinein in diesen Klotz.

Dann doch lieber auf einem sandigen Boden ohne Gras als in diesem abstoßenden Geruch verweilen zu müssen!

Ein paar wenige Schritte noch, dann stand ich in diesem Plastikklotz - etwas unsicher - aber auch ein bisschen stolz, dieses Mal so mutig gewesen zu sein.

Durch eine kleine Öffnung konnte ich doch tatsächlich den graslosen Sandplatz erblicken. War das jetzt ein anderer Eingang zu diesem Platz?

Plötzlich wurde es hinter mir dunkel und es rumpelte, so dass ich kurz erschrak. Ich konnte den Gang hinter mir nicht mehr sehen, nur noch die schwarze Gummimatte, über die ich gelaufen war. Diese stand jetzt senkrecht und schirmte den Ausgang ab. Ich verstand die Welt nicht mehr. Musste ich jetzt etwa hier drinbleiben?

Das Einzige, was mir Hoffnung gab, war Sarah.

Ihre Stimme war mild und beruhigte mich etwas, jedoch nur für kurze Zeit, dann verließ sie den Klotz. Sie verschloss den Ausgang und ich hörte sie nur noch von draußen.

Würde sie mich hier ganz allein zurücklassen?

Nach ein paar Minuten Stille geriet plötzlich alles in Bewegung, der Boden unter mir schwankte. Ich musste mich sehr konzentrieren, dass meine Beine stabil auf dem wackligen Boden stehen blieben. Zum Glück habe ich vier Beine, ein Mensch hätte es auf seinen zwei Beinen erheblich schwerer gehabt. Es gab kein Entrinnen, weder nach vorne noch nach hinten. Ich musste mich also mit aller Kraft um ein gutes Gleichgewicht meiner Beine kümmern.

Von draußen hörte ich Geräusche. Vögel waren es keine, diese hätte ich erkannt. Es waren fremde, unangenehme, teilweise sehr laute Geräusche, die vorüberzogen. Manchmal musste ich mein Gewicht etwas auf eine Seite verlagern, dann wieder auf die andere, um nicht umzufallen, in diesem übelriechenden Klotz.

Hänger nennen die Menschen dieses wacklige Teil.

Um damit fahren zu dürfen, braucht man sogar einen extra Führerschein. Nicht, dass ich wüsste, was ein Führerschein ist, aber Sarah erzählte mir später, dass sie diesen Schein extra für mich gemacht hatte. Damals war mir nicht klar, dass ich noch öfter in diesen Plastikklotz musste.

Zu diesem Zeitpunkt fuhr Sarah noch nicht selbst, das tat ihr Vater, der vermutlich schon seit seiner Geburt Hänger fährt und letztendlich der Verursacher dieser Plastikklotz–Geschichte war. Hätte er Sarah nicht angestoßen, könnte sie vermutlich noch heute keinen Hänger fahren, erzählte sie mir später.

Sarahs Vater war übrigens der andere Zweibeiner, der an dem verregneten Tag dabei war, als ich Sarah zum ersten Mal sah.