Last Girl Standing - Wer wird überleben? - Lisa Jackson - E-Book

Last Girl Standing - Wer wird überleben? E-Book

Lisa Jackson

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Beschreibung

Eine elitäre Highschool-Clique, ein tödlicher Unfall – und 15 Jahre später gibt es erneut Tote … Wer hat es auf die ehemaligen Schülerinnen und Schüler des gemeinsamen Highschool-Jahrgangs abgesehen? »Last Girl Standing – Wer wird überleben?« ist ein temporeicher, mitreißender Thriller von den Schwestern und Erfolgsautorinnen Lisa Jackson und Nancy Bush! In der Schule waren sie als die Fantastischen Fünf bekannt – eine Mädchen-Clique, so bewundert wie gefürchtet. Ihre gemeinsame Zeit endete jäh, als eine von ihnen bei der Abschlussparty ums Leben kam. Ein Unfall beim Schwimmen in den Stromschnellen? Einige Jahre später stirbt der zum selben Jahrgang gehörende ehemalige Highschool-Schwarm Tanner nach einer brutalen Messerattacke. Erst 5, dann 4 ... macht ein Serienkiller Jagd auf die Mitglieder der ehemaligen Highschool-Clique? Detective Chris McCrae hat den Verdacht, der Mord an Tanner könnte mit den ungeklärten Todesfällen in der ehemaligen Mädchen-Clique zu tun haben. Denn bei dem Schwimmunfall war es nicht geblieben. Ein weiteres Mitglied der Gang kam ums Leben. McCrae vermutet, dass er bis zu jener schicksalshaften Abschlussparty zurückgehen muss. Was ist damals zwischen Tanner und den anderen passiert? Da stirbt eine weitere der Fantastischen Fünf … Temporeiche Spannung von den Bestseller-Autorinnen Lisa Jackson und Nancy Bush Die amerikanischen Thriller-Autorinnen Lisa Jackson und Nancy Bush sind bekannt für emotionalen Nervenkitzel mit einer guten Portion Action – das stellen sie auch mit »Last Girl Standing – Wer wird überleben?« eindrucksvoll unter Beweis. 

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Lisa Jackson / Nancy Bush

Last Girl Standing

Wer wird überleben?

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Kristina Lake-Zapp

Knaur eBooks

Über dieses Buch

In der Schule waren sie als die Fantastischen Fünf bekannt – eine Mädchen-Clique, so bewundert wie gefürchtet. Ihre gemeinsame Zeit endete jäh, als eine von ihnen bei der Abschlussparty ums Leben kam. Ein Unfall beim Schwimmen in den Stromschnellen?

Einige Jahre später stirbt der zum selben Jahrgang gehörende, ehemalige Highschool-Schwarm Tanner nach einer brutalen Messerattacke. Detective Chris McCrae hat den Verdacht, der Mord an Tanner könnte mit den ungeklärten Todesfällen in der ehemaligen Mädchen-Clique zu tun haben. Denn bei dem Schwimmunfall war es nicht geblieben. Ein weiteres Mitglied der Gang kam ums Leben. McCrae vermutet, dass er bis zu jener schicksalshaften Abschlussparty zurückgehen muss. Was ist damals zwischen Tanner und den anderen passiert? Da stirbt eine weitere der Fantastischen Fünf  …

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Prolog

Teil eins | Die Fantastischen Fünf

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil zwei | Die Messerattacke

Kapitel 8

Teil drei | Das Jubiläum

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil vier | Der Übergriff

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Prolog

Piep … Piep … Piep …

Nur das leise, rhythmische Piepen des Monitors durchbrach die Stille in dem privaten Krankenzimmer auf der Intensivstation des Laurelton General Hospital. Schwester Alice Song trat ein und richtete den Blick auf ihren Patienten, der an einem Beatmungsgerät hing. Sein Zustand war unverändert. Sie hatte den drei Frauen Anfang dreißig widerwillig erlaubt, ihm einen Besuch abzustatten, wider besseres Wissen. Sie traute ihnen nicht. Jemand hatte wiederholt auf Dr. Tanner Stahd eingestochen, und vielleicht war eine der Besucherinnen die Täterin. Trotzdem hatte der mit der Bewachung des Patienten beauftragte Officer eine Ausnahme bei den strengen Besuchsregeln gemacht, wohl auf Druck von Dr. Stahds Vater, Lester Stahd, ebenfalls Arzt – ehemaliger Arzt – und der selbstherrlichste Egoist auf Erden. Les Stahd, der vor dem Verlust seiner Zulassung eine leitende Funktion in der Klinik von West Knoll bekleidete, hatte offenbar nicht nur hervorragende Kontakte zu ehemaligen Kollegen, sondern auch zur Polizei.

Die drei Frauen, die dicht zusammengedrängt an der hinteren Wand des kleinen Intensivzimmers standen, waren hübsch, eine wie die andere, und offenbar seit der Highschool mit dem Opfer befreundet.

Alice überprüfte Dr. Stahds Vitalwerte.

»Ist alles in Ordnung mit ihm?«, fragte eine der Frauen ängstlich.

»Er ist stabil«, erwiderte Alice knapp.

»Er wird doch wieder, oder?«

Alice musterte sie misstrauisch. Machte sie sich wirklich Sorgen um den Patienten, oder tat sie nur so? Sie war zierlich, hatte hellbraunes Haar mit blonden Highlights und derart vergrößerte Brüste, dass man befürchten musste, sie würde vornüberkippen, sollte ihr jemand einen ordentlichen Klaps auf den Rücken verpassen. Der Diamantring an ihrer linken Hand kostete bestimmt ein kleines Vermögen, und auch die Louis-Vuitton-Handtasche und die High Heels von Christian Louboutin schrien nach Geld. Alice hatte die roten Sohlen bemerkt, als die Frau durch den Gang gestöckelt war. Nein, Understatement war offenbar nicht ihre Sache.

»Da hörst du es, sein Zustand ist stabil«, sagte die große Blonde zu der kleineren besorgten Prestigehyäne. »Das ist um einiges besser als kritisch.« Sie war der Inbegriff eines eiskalten Miststücks und von Beruf Anwältin, hatte Alice gehört.

»Wer hat ihm das angetan?«, fragte die Prestigehyäne.

Die dritte Frau, die etwas abseits von den anderen beiden stand, verkündete mit Nachdruck: »Das wird die Polizei herausfinden.« Sie hatte rote Haare, Sommersprossen und blassblaue Augen. Sie kam Alice bekannt vor, doch sie konnte sie nicht recht zuordnen.

»Ja … ja …« Die Prestigehyäne nickte, obwohl sie nicht überzeugt klang.

Schwester Alice warf dem Officer, der in der offenen Tür stand und zu ihnen hereinschaute, einen Blick zu. Er nickte, als wollte er ihr versichern, dass er alles unter Kontrolle hatte.

Sie erwiderte sein Nicken und ging hinaus. Sie war noch nicht weit gekommen, als plötzlich ein dringliches PIEP! PIEP! PIEP! die Aufmerksamkeit der gesamten medizinischen Belegschaft erweckte.

Alice rief nach dem Notfallwagen und sah, wie eine andere Schwester bereits darauf zurannte.

»Mist …«, murmelte die große Blonde, als Alice zurück ins Krankenzimmer stürmte.

Prestigehyäne plapperte: »Was ist passiert? Was ist passiert?«, dann schlug sie die Hand vor den Mund und verstummte. Alice beugte sich über den Mann im Bett.

»Verlassen Sie das Zimmer!«, blaffte sie. »Raus hier, sofort!«

Alle drei trippelten auf die Tür zu, sprangen aber zur Seite, als Dr. Evanston hereinkam, gefolgt von der Schwester mit dem Notfallwagen.

Dr. Stahd kam zu Bewusstsein, öffnete die flatternden Lider und schnappte nach Luft. »D!«, krächzte er, dann verdrehte er die Augen und wurde erneut ohnmächtig.

»O mein Gott!«, wisperte eine der Frauen. Anscheinend der Rotschopf. Alice war zu beschäftigt, um hinzusehen.

»Er wird doch wieder?«, fragte die Prestigehyäne erneut.

PIIIIIIIEP.

Herzstillstand.

Alice zog scharf die Luft ein, als Dr. Evanston, sechsundfünfzig und hart wie Granit von seinen rigorosen täglichen Work-outs, die Defibrillator-Pads bereitmachte und bellte: »Schaffen Sie diese Frauen raus!« Alice wirbelte herum und funkelte die drei an, die sich bereits zurückzogen. Der Officer breitete die Arme aus und scheuchte sie den Gang entlang, so eilig, dass sie beinahe ins Stolpern gerieten.

Als sie weg waren, konzentrierte Alice sich wieder auf den Mann im Krankenbett. Er war totenblass, seine Haut eiskalt.

Er hat nicht mehr lange, dachte Alice. Mitunter konnte sie einen silbrigen, hauchzarten Todesschleier sehen, der sich auf einen Patienten herabsenkte. Es war eine Gabe, über die sie nicht mit anderen Menschen sprach.

Dr. Stahds gut aussehendes Gesicht fing an zu zucken.

Ein Vorbote des Todes.

»Weg vom Bett!«, rief Dr. Evanston und beugte sich vor, um dem Patienten die Pads aufzusetzen.

 

Ellie O’Brien stand vor der Tür von Tanners Krankenzimmer. Sie würde erst dann gehen, wenn man sie mit Gewalt dazu zwang. Ihre Ohren klingelten noch immer, so laut hatte sie das »D!« aus seinem Mund vernommen. Glockenklar. Eine Schuldzuweisung, jede Wette.

Doch natürlich war D nicht hier. Wieso sollte sie auch? Dwar in Polizeigewahrsam oder wurde von der Polizei befragt, vielleicht war ihr das Schicksal ihres Ehemannes auch einfach egal. Dhatte sich nie wirklich für Tanner interessiert. Ihr war es immer nur wichtig gewesen, sich in seinem Glanz zu sonnen. Ellies Meinung nach war es nur eine Frage der Zeit, bis man ihr nachweisen konnte, dass sie ihn angegriffen und immer wieder mit dem Messer auf ihn eingestochen hatte. Er hatte verdammtes Glück, dass er noch am Leben war.

Doch wie lange würde dieses Glück anhalten?

PIIIIIIEP!

Ihr Herz hämmerte schmerzhaft. Er durfte nicht sterben. Nicht Tanner. Der coolste Typ der ganzen Highschool.

Wie durch einen Filter nahm sie die Szene wahr, die sich vor ihren Augen im Krankenzimmer abspielte: das Team von Intensivschwestern, die um Tanner herumschwirrten, den mittelalten Arzt mit den silbergrauen Haaren, der sein Bestes gab, um ihn zurückzuholen, die Schläuche, Kabel, Monitore …

Würde es so enden? Wäre es damit tatsächlich vorbei?

Sie spürte einen kalten Knoten der Gewissheit. »D«stand für Delta, Tanners Ehefrau. Ihre Freundinnen nannten sie so, die Mitglieder ihrer berühmten Clique namens die Fantastischen Fünf. Amanda, »A«, und Zora, »Z«, standen ein Stück von ihr entfernt im Gang und warteten darauf, dass Ellie sich wieder zu ihnen gesellte, obwohl sie eher eine »Freindin« war als eine Freundin. Man hatte sie nicht dazu eingeladen, das »E« bei den Fantastischen Fünf zu werden.

Ellie riss den Blick von dem Schreckensszenario in Tanners Krankenzimmer los und blickte an dem Officer vorbei zu Amanda und Zora. »Sie hat versucht, ihn umzubringen«, sagte sie im Brustton der Überzeugung.

Zora schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Das wissen wir nicht.«

Amanda sagte kein Wort. Sie war der starke, besonnene Typ. Eine Sphinx. Immer schon gewesen.

Kurz wanderten Ellies Gedanken zu Carmen und Bailey, seit der Grundschule das »B« und das »C« der Gruppe. Auf der West Knoll High School hatten diese fünf Mädchen all die Jahre über den Ton angegeben. Sie waren die beliebteste Clique, die über die Schule hereinbrach wie ein Tsunami, der jeden verschluckte, der es wagte, sich ihm entgegenzustellen. Wen der Tsunami wieder ausspuckte, war versehrt an Leib und Seele, entblößt bis auf die Knochen und für lange Zeit gebrochen, so wie Ellie selbst. Es war ihr gelungen, sich von der miesen Abfuhr zu erholen, sie hatte ihren Weg gemacht und sich den ihr gebührenden Respekt verschafft, doch sie würde niemals vergessen, was damals geschehen war.

»Wirst du darüber berichten?«, wollte Zora wissen.

»Nein«, entgegnete Ellie brüsk. Nein, sie würde nicht darüber berichten. Allerdings würde sie Ermittlungen anstellen, auf eigene Faust. Und sie würde bei D beginnen.

»Ich dachte bloß …«

»Nun warten wir doch erst einmal ab, was passiert«, fiel Amanda ihr ins Wort.

Und so verharrten die drei schweigend im Flur des Laurelton General Hospital, jede in ihre Gedanken versunken.

Doch alles, was sie außer den fieberhaften Versuchen des Intensivteams, Dr. Tanner Stahds Leben zu retten, hören konnten, war das unheilvolle, monotone Piepen des Elektrokardiografen, das anzeigte, dass sein Herz nicht mehr schlug.

Teil eins

Die Fantastischen Fünf

Kapitel 1

West Knoll High SchoolFünfzehn Jahre zuvor

Delta Smith warf die Metalltür ihres Spinds so energisch zu, dass der Knall wie ein Pistolenschuss durch den leeren Schulflur hallte. Sie schlug sie zu, obwohl ihre Bücher und die anderen Sachen noch im Spind lagen. Hätte sie nicht noch einmal die Zahlenkombination eingeben müssen, hätte sie die Tür erneut aufgerissen und zugeknallt, womöglich noch heftiger. Sie war so wütend, dass sie am liebsten um sich geschlagen hätte. Oder einen Urschrei ausgestoßen. Zora hatte es ihr gerade in der Pause erzählt – keine Ahnung, warum sie so lange damit hinterm Berg gehalten hatte. Amanda, dieses verfluchte Miststück! Diese eingebildete, treulose Schlampe. Ihre Freundin. Eine ihrer besten Freundinnen! Nun, jetzt nicht mehr. Man spannte seiner Freundin nicht den Freund aus und tat dann auch noch so, als wollte man weiterhin mit ihr befreundet bleiben. Als ob das funktionieren würde. Niemals!

Frustriert schlug sie mit der flachen Hand gegen die Metalltür und heulte auf vor Zorn.

Wie hatte es dazu kommen können? Wie? Amanda wusste, dass Tanner ihr gehörte. Sie wusste es. Alle wussten es. Es gab Regeln. Regeln, gegen die man besser nicht verstieß.

Delta atmete tief durch und gab sich alle Mühe, sich zu beruhigen, dann stellte sie die Zahlenkombi ein und öffnete den Spind erneut. Ihr Herz raste, ihr Atem ging schnell, ihr Gesicht brannte. Sie konnte es einfach nicht ertragen. Wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie es wohl sein mochte, auf den Schulhof zu gehen und den anderen ins Gesicht zu blicken, denn jeder – die ganze Schule – wusste davon. Sie wussten es vermutlich schon seit dem letzten Wochenende, aber niemand hatte ihr etwas gesagt. Bis Zora sich verplappert und Delta sie gezwungen hatte, ihr reinen Wein einzuschenken. Und das wussten jetzt auch alle. Sie wussten, dass sie es wusste.

Alle wussten es! Alle!

Delta nahm Bücher, Handtasche und Handy – das von ihrer Mom, denn ihre Eltern kauften ihr kein eigenes. Handys waren teuer, und die beiden trauten ihr offenbar nicht zu, sorgfältig genug damit umzugehen. »Gib gut darauf acht«, hatte ihre Mutter sie ermahnt.

Sie schaltete das Mobiltelefon ein und rief zu Hause an. »Kann mich jemand abholen?«, bat sie ihre Mutter mit erstickter Stimme. Draußen, vor dem Fenster am Ende des Flurs, das auf den Parkplatz hinausging, sah Delta Gruppen von Kids, die zu ihren Autos oder den wartenden Eltern gingen; manche, die in der Nähe wohnten, machten sich zu Fuß auf den Heimweg.

»Ich dachte, Tanner würde dich nach Hause bringen.«

Tanner.

»Nein«, sagte Delta und gab sich alle Mühe, ruhig zu sprechen. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter das Zittern in ihrer Stimme bemerkte.

»Nun, ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, deshalb kann ich frühestens in einer halben Stunde da sein. Könnte dich nicht jemand anderes fahren?«

Der hoffnungsvolle Unterton in der Stimme ihrer Mutter war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. »Ich warte!«, stieß Delta hervor und legte auf, dann brach sie in zornige Tränen aus.

Blind tastete sie sich zur Mädchentoilette vor, wo sie sich in eine der Kabinen einschloss, um unbemerkt die halbe Stunde zu verbringen, bis ihre Mom sie abholte. Hoffentlich waren die anderen Kids bis dahin fort!

Ein paar Minuten weinte sie leise weiter, dann wischte sie sich mit dem rechten Zeigefinger die Tränen ab. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie die winzige rot-goldene Blume auf dem Fingernagel, die genauso aussah wie Amandas. Und Carmens. Und Baileys. Und Zoras. Sie alle gehörten zu den Fantastischen Fünf, der beliebtesten Clique der ganzen Highschool. Sie alle trugen die kleine rot-goldene Blume auf dem Nagel des rechten Zeigefingers, ihre Farben – die Farben der West-Knoll-Grundschule, wo sie einander kennengelernt und festgestellt hatten, dass ihre Initialen A, B, C und D waren. Sie hatten sich auch mit Ellie angefreundet, aber die war eine schrecklich selbstgerechte Heulsuse, und so hatte Amanda vorgeschlagen, die Clique mit einem Z wie Zora anstelle mit einem E wie Ellie zu komplettieren. Bailey, die Friedensstifterin, hatte vorgeschlagen, Ellie als sechstes Mitglied aufzunehmen – aber die Fantastischen Sechs? Die Alliteration war ja gerade das Besondere an ihrem Namen, und Amanda sagte auch prompt Nein. Und wenn Amanda Nein sagte, wagte niemand zu widersprechen, denn ihre Familie war reich. Sogar reicher als die Familie von Zora. Die Forsythes besaßen die protzige Villa oberhalb des West Knoll River und das gesamte, sich meilenweit ringsherum erstreckende Gelände, mehrere Hektar. Nächsten Monat war ihre Abschlussklasse eingeladen, einen Tag dort zu verbringen. Am Abend stand ein gemeinsames Barbecue – ein Spanferkelgrillen – auf dem Programm, vielleicht durften sie sogar über Nacht bleiben, wenn die Eltern zustimmten und sich einige der Lehrer als Aufsichtspersonen zur Verfügung stellten.

Delta schluchzte erneut auf. Wie konnte sie dorthin gehen, jetzt, da sie von Tanner und Amanda wusste? Zora hatte die beiden am vergangenen Wochenende erwischt, wie sie bei ihr zu Hause bei einer spontanen Party rumgemacht hatten. Delta war früh gegangen, da sie am nächsten Morgen vor der Schule ihrer Mom im Laden helfen musste.

Sie hasste den Lebensmittelmarkt – Smith & Jones, zusammengesetzt aus den Nachnamen ihrer Eltern –, ein kleiner Familienbetrieb, den sich die beiden in West Knoll aufgebaut hatten. Es war ihr peinlich, dass ihre Eltern es nicht weiter gebracht hatten, auch wenn all ihre Freundinnen liebend gern vorbeikamen und mit ihrem Vater plauderten. Dad gab ihnen immer irgendetwas umsonst mit, obwohl Mom hinterher mit ihm schimpfte. »Du verschenkst die Ausbildung deiner Tochter«, pflegte sie zu sagen, aber das war Delta ohnehin herzlich egal. Sie hatte fest vor, so bald wie möglich Tanner zu heiraten. Sie waren sich auf der Highschool begegnet. Alle Mädchen hatten sich Hals über Kopf in ihn verliebt, doch er hatte sie auserwählt, Delta Smith! Sie erstrahlte förmlich im Licht seiner Aufmerksamkeit, vor allem wenn sie die missgünstigen Blicke der anderen Mädchen bemerkte, die diese ihr zuwarfen, wenn sie dachten, sie würde nicht hinsehen. Es war einfach perfekt. Tanner war perfekt. Tanner Stahd – der Kapitän der Footballmannschaft. Quarterback und Teamkapitän mit einem Stipendium für die University of Oregon. Delta gab sich alle Mühe, gute Noten zu schreiben und Geld zu sparen, damit sie ebenfalls nach Oregon gehen konnte.

Doch jetzt … jetzt waren all ihre Träume geplatzt.

Waren die dreißig Minuten schon vorüber? Wahrscheinlich nicht. Widerwillig verließ sie die WC-Kabine und betrachtete ihr fleckiges, verweintes Gesicht im Spiegel. Am liebsten wäre sie erneut in Tränen ausgebrochen. Im Waschraum drehte sie den Wasserhahn auf, hielt ihre Hände unter den Strahl und tupfte sich kaltes Wasser auf die heißen Wangen.

Gerade als sie sich wappnete, in den Flur und zum Parkplatz zu gehen, flog die Tür auf, und Zora kam herein … zusammen mit Bailey und Carmen, die sich aufführten, als wären sie siamesische Zwillinge. Sie waren immer zusammen. Die Art beste Freundinnen, bei denen man nur schwer dazwischenkam. Sie gehörten zwar zu den Fantastischen Fünf, aber man hätte Bailey und Carmen genauso gut als die Unzertrennlichen Zwei bezeichnen können.

»Da bist du ja!«, rief Zora. »Mein Gott, wir haben überall nach dir gesucht und dachten schon, du wärst mit jemand anderem nach Hause gefahren.«

»Tanner hat ebenfalls nach dir Ausschau gehalten«, sagte Bailey.

Delta konnte den verzweifelten Aufschrei nicht unterdrücken, der ihr unweigerlich über die Lippen kam. »Darauf wette ich«, entgegnete sie mit bitterer Stimme.

»Doch, hat er«, beharrte Bailey. »Ich habe keine Ahnung, was genau passiert ist, aber er wollte dich unbedingt finden.«

Als ob du nicht längst Bescheid wüsstest!

»Oh, du weißt genau, was passiert ist.« Die Worte wollten kaum aus Deltas Mund kommen. »Was macht ihr denn noch in der Schule?«

»Dich suchen«, antwortete Carmen. »Und Amanda. Aber offenbar ist sie mit ihrem Bruder Thom nach Hause gefahren.«

Delta hob abwehrend die Hände. »Ich will nichts von Amanda hören!«

Zora, Bailey und Carmen sahen einander an, als fragten sie sich stumm, wie sie weiter vorgehen sollten. Delta wandte sich verärgert ab. Sie hörte, wie Zora sagte: »Vermutlich hätte ich dir nichts von ihnen erzählen sollen. Dabei war es echt keine große Sache.«

»Keine große Sache?« Delta wirbelte herum. »Wolltest du es mir etwa verheimlichen?«

»Natürlich nicht. Ich meine nur, dass es kein Wahnsinnsding war. Sie haben bloß ein bisschen rumgeknutscht.«

»Auf dem Billardtisch deiner Eltern!«

»Na ja, sie haben … Pool gespielt«, murmelte Zora.

»Das klang bisher aber ganz anders. Du hast von ›auf dem Billardtisch rummachen‹ gesprochen!«

»Sie haben Pool gespielt, auf dem Billardtisch. Herrgott, Delta, es war nicht so, wie du denkst!«

»Was denke ich denn?«

»Keine Ahnung. Aber so war’s nicht. Schluss. Aus. Ende.«

Delta wollte ihr glauben. Wirklich. Zora versuchte, zurückzurudern, das war offensichtlich, doch zuvor hatte sie sich glasklar ausgedrückt. Sie scheute bloß den Konflikt.

»Ich weiß nur, dass Tanner nach dir Ausschau gehalten hat«, unterbrach Bailey die Debatte.

»Ich wette, es tut Amanda leid«, fügte Carmen hinzu.

Die drei Mädchen drehten sich zu ihr um. Alle wussten, dass Carmens Behauptung eine Lüge war. Amanda Forsythe tat – wenn überhaupt – nur selten etwas leid. Sie war die ungekrönte Anführerin der Clique. Was sie sagte, wurde getan. Wenn ihr etwas nicht gefiel, lehnten die anderen es ebenfalls ab. Ganz bestimmt würde sie sich nicht von Reuegefühlen den Tag vermiesen lassen. Die blonde, majestätische Amanda war tough, clever und rücksichtslos.

Delta hätte sie gern gehasst, aber ihr war klar, dass die Fantastischen Fünf ohne Amanda nicht die beliebteste Mädchenclique der Schule gewesen wären. Alle wollten mit ihnen abhängen. Wenn Delta Amanda herausforderte, wären die Folgen unabsehbar. Womöglich würden die Fantastischen Fünf sie abservieren – Amanda hatte die Macht, dies durchzusetzen. Daher schwieg sie lieber.

»Es war nichts«, sagte Zora noch einmal, drängender nun. »Die zwei waren betrunken, und sie hat ihm einen Abschiedskuss gegeben.«

»So hast du mir das aber nicht erzählt«, beharrte Delta.

»Ich hatte selbst zu viel getrunken, okay? Aber jetzt bin ich nüchtern.«

»Vielleicht solltest du mit Tanner reden«, schlug Bailey vor.

»Oh, dafür bin ich viel zu wütend.« Delta schüttelte finster den Kopf, obwohl sie nicht annähernd so wütend auf Tanner war wie auf Amanda. Sie liebte ihn. Ohne Tanner hatte sie keine Träume. Keine Zukunft. Es war beängstigend, sich vorzustellen, was sie ohne ihn anfangen würde. »Meine Mom holt mich ab. Ich muss los.« Delta drängte sich an den anderen vorbei zu Tür. Sie folgten ihr.

Als sie auf den hinteren Parkplatz traten, sah Delta die roten Haare von Ellie O’Brien … und dann Tanners lange, blond gesträhnte Surferlocken. Sie lehnten an Tanners dunkelblauem Chevy Trailblazer, hatten die Köpfe zusammengesteckt, redeten und lachten und merkten nicht, dass sich seine Freundin näherte. Vielleicht war es ihnen auch egal. Deltas Herz machte einen schmerzhaften Satz.

Ihr Zorn sprang augenblicklich von Amanda auf Ellie über.

»Was zum Teufel …?«, fragte Zora, womit sie Deltas Gedanken laut aussprach.

In Tanners Gegenwart kehrte Ellie ihre charmante Seite heraus. Für jemanden, der sich normalerweise so zurückhaltend und kontrolliert gab, grinste sie wie eine Katze, die aus dem Sahnetopf geschleckt hatte, fand Delta. Sie sah nicht einmal auf, konnte den Blick nicht von Tanner abwenden, obwohl Delta kurz vor den beiden so abrupt stehen blieb, dass Carmen, Bailey und Zora beinahe gegen sie geprallt wären.

Moms Volvo-Kombi wartete mit laufendem Motor einige Parkplätze von Tanners Wagen entfernt. Als sie ihre Tochter erblickte, reckte Karen Smith den Arm aus dem Fenster und winkte Delta zu sich.

»He!«, rief Tanner plötzlich. Sein Blick schweifte von Ellie zu den vier Mädchen. Er stieß sich von seinem Trailblazer ab, umrundete Ellie, die zwischen ihm und der Clique stand, und ging auf Delta zu.

Delta wollte ihn anschreien, wollte ihm wie eine Xanthippe entgegenschleudern, dass er ihr gehörte und nicht mit anderen Mädchen flirten durfte. Am liebsten hätte sie ihm eine Megaszene gemacht, aber sie wusste, dass das zu nichts führte. Sie musste cool bleiben. Ruhig. Beherrscht. Das lustige Mädchen, nicht der zähnefletschende Drache, bei dessen Anblick jeder die Augenbrauen hochzog und sich im Stillen fragte: Was will Tanner denn mit der?

Wenn sie ehrlich war, wünschte sie sich nichts lieber, als dass er sie in seine Arme zog und ihr beteuerte, dass er sie liebte. Sie schluckte, unsicher, wie sie mit der Situation umgehen sollte, während sie inständig hoffte, dass sie gut aussah und ihr Make-up den Tränenausbruch unversehrt überstanden hatte. Da sie nicht davon ausgegangen war, dass er tatsächlich auf sie wartete, hatte sie sich nicht extra frisch gemacht.

Sie zwang sich zu einem grimmigen Lächeln und sagte: »Meine Mom ist hier.«

Tanner blieb stehen, sah sich um und nickte ihrer Mutter zu, die seinen Gruß knapp erwiderte. Karen Smith teilte Deltas Vernarrtheit in Tanner nicht. Sie wollte, dass ihre Tochter, ihr einziges Kind, aufs College ging und Karriere machte. Sowohl sie als auch Deltas Vater redeten permanent darüber, wie wichtig es war, im Leben erfolgreich zu sein. Smith & Jones war ja so ein Erfolg! Sie waren erfolgreiche Geschäftsleute, und genau das wünschten sie sich für ihre Tochter. Delta kam sich kleinmütig vor, wenn sie sich fragte, wie erfolgreich die zwei tatsächlich waren.

Ihr Vater stammte aus ärmlichen Verhältnissen, und er hatte es geschafft, ein eigenes Geschäft aufzubauen, was sicher eine Leistung war. Doch in der Welt, nach der Delta sich sehnte, musste man auf der sozialen Leiter schon einige Stufen mehr emporsteigen. Ein Laden, der gerade mal drei Leute ernährte, genügte da nicht. Smith & Jones war okay, aber Delta sehnte sich danach, in einer anderen Liga zu spielen.

»Kann ich nachher vorbeikommen?«, fragte Tanner. Der schuldbewusste Ausdruck auf seinem Gesicht sagte ihr mehr, als sie wissen wollte. Fast hätte sie Nein gesagt.

Dabei wollte sie ihn unbedingt sehen. Zora, Bailey und Carmen warteten mit angehaltenem Atem auf ihre Reaktion. Ellies lebhafter Gesichtsausdruck war schlagartig der Verschlossenheit gewichen, als hätte sie die Schotten dicht gemacht. Auch sie schien gespannt darauf zu sein, wie Delta mit der Situation umging.

»Klar«, erwiderte sie daher leichthin, obwohl ihr Lächeln zu einem ziemlich schiefen Grinsen geriet.

»Dann bin ich in einer Stunde bei dir, okay?«

Wieso erst in einer Stunde? Was hast du bis dahin vor? Es konnte alles sein, rief sie sich zur Ruhe. Wahrscheinlich wollte er noch trainieren, er war nahezu besessen von seinem Work-out. »Bis später!«

»Was ist mit Tanner?«, fragte ihre Mom, als sie auf den Beifahrersitz rutschte, während ihre Freundinnen in Zoras weißen Mazda stiegen. Delta kam sich ein bisschen albern vor, weil sie sich von ihrer Mutter abholen ließ.

»Keine Ahnung.«

»Stimmt etwas nicht?«

»Doch, doch, alles okay«, versicherte Delta kurz angebunden. Moms Stimme hatte neutral geklungen, aber vermutlich hoffte sie, dass Ärger im Paradies herrschte. Sie war der festen Überzeugung, dass Deltas Besessenheit von Tanner nicht unbedingt das Beste für ihre Tochter war.

»Warum bist du nicht mit ihm gefahren?«, bohrte Mom jetzt nach.

»Er hat noch etwas zu erledigen.«

»Ah.«

Delta hasste das allwissende »Ah«, aber sie schaffte es, den Mund zu halten. Es hatte noch nie etwas gebracht, ihre Mutter anzuschnauzen.

Sie schwiegen während der Heimfahrt, und als sie in die Einfahrt des kleinen weißen Schindelhauses einbogen, das Deltas Urgroßvater erbaut hatte, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie armselig es wirkte im Vergleich mit den Palästen von Amandas und Zoras Eltern. Es war erstaunlich, dass Tanner sie überhaupt ansah. Seine Familie war vielleicht nicht so vermögend wie die von Amanda und Zora und hatte so einige Turbulenzen aushalten müssen, dennoch stand sie um einiges höher auf der sozialen Leiter als ihre. Gemessen an den anderen Mitgliedern der Fantastischen Fünf kam Delta aus der am wenigsten vermögenden Familie. Nicht dass das von Bedeutung gewesen wäre, aber irgendwie spielte es doch eine Rolle. Und zwar keine geringe. Delta hatte gelernt, ihren Charme und ihre Persönlichkeit gezielt einzusetzen, um ihre niedrigere soziale Stellung auszugleichen, was größtenteils funktionierte. Sie war beliebt, und sie gab die Zuneigung zurück, die man ihr entgegenbrachte. Vielleicht hatte sie Tanner deshalb für sich gewinnen können. Ihre Freundinnen konnten mitunter biestige, kalte Bitches sein, aber Delta blieb stets nett und freundlich, war immer gut drauf.

Nun, zumindest bemühte sie sich darum. Mitunter wäre sie am liebsten so fies und gemein gewesen wie Amanda, aber sie konnte sich besser beherrschen.

Amanda sollte sich ein Beispiel an Ellie O’Brien nehmen, dachte Delta naserümpfend. Ellie war zwar die ganze Zeit über selbstgerecht und schulmeisterlich, die geborene Klugscheißerin, und wenn sie den Mund aufmachte, sprach sie ausschließlich über den bevorstehenden Abschluss und darüber, was sie dann Tolles mit ihrem Leben anfangen wollte – irgendwas mit Journalismus –, aber sie hatte sich unter Kontrolle.

Meistens … Immerhin hatte sie gerade mit Tanner geflirtet. Allerdings war es Amanda gewesen, die versucht hatte, Delta den Freund auszuspannen, nicht Ellie.

Zu Hause angekommen, rannte Delta in ihr Zimmer und knallte die Tür zu, bevor ihre Mutter sie bitten konnte, ihr mit dem Abendessen zu helfen oder das Wohnzimmer aufzuräumen. Sie brauchte einen Moment für sich, musste sich sammeln, bevor Tanner kam.

Würden sie über Amanda reden? Nervös überlegte Delta, ob sie neuen Lippenstift auftragen und den verschmierten Eyeliner nachziehen sollte. Wie lange war der schwarze Fleck schon unter ihrem Auge? Den ganzen Tag? Sie schauderte bei der Vorstellung, dass Amanda und die anderen sich heimlich über sie lustig gemacht hatten, anstatt sie darauf hinzuweisen.

Freundinnen.

Tanner tauchte etwa fünfundvierzig Minuten später auf. Sie hörte, wie der Trailblazer dröhnend in ihre Einfahrt bog. Er hatte irgendetwas mit dem Motor gemacht, damit er noch lauter wurde. Delta strich ihre Bluse glatt. Sie war rosa, was gut mit ihren haselnussbraunen Augen und den dunklen Haaren korrespondierte.

Vorsichtig verteilte sie etwas Rouge auf ihren Wangenknochen, dann setzte sie ein Lächeln auf und ging zur Haustür. Tanner kam die Einfahrt hoch auf sie zu. Als er sie sah, hellte sich sein Gesicht auf. Trotz ihrer gezwungenen Heiterkeit war ihr klar, dass sie den ganzen Tag über genauso düster und langweilig gewesen war wie Ellie – bis jetzt. Also gut. Showtime.

»Hallöchen!«, begrüßte sie ihn.

»Hi.« Ein einziges Wort. Voller Erleichterung.

»Komm rein.« Sie hielt die Tür auf, und er folgte ihr ins Haus. Sie hätte ihn liebend gern mit in ihr Zimmer genommen, wo sie allein sein konnten, aber das hätte Mom niemals erlaubt. Dad war sogar noch schlimmer, doch zum Glück arbeitete er noch im Laden.

»Sollen wir uns auf die Terrasse setzen?«, fragte sie. Es war Ende April. Zu dieser Jahreszeit konnte das Wetter ziemlich unbeständig sein, aber Oregon war bekannt dafür, dass im Frühling meist ein, zwei Wochen ausgesprochen milde Temperaturen herrschten. Diese Woche war ein Tag schöner als der andere gewesen. Es war zwar noch kühl, doch wenigstens schien die Sonne.

Sie gingen zusammen durchs Haus auf die Terrasse. Die ergrauten Teakholzmöbel waren größtenteils trocken, nur ein paar Latten waren noch nass vom nächtlichen Regen. Delta setzte sich auf eine Stuhlkante. Sie hatte überlegt, ob sie ihre gute weiße Hose anziehen sollte, doch dann hatte sie sich für die blaue Jeans entschieden – wie sich herausstellte, die bessere Wahl.

Tanner trug ebenfalls Jeans und den grauen Kapuzenpulli, den Delta ihm gekauft hatte, eine angesagte Marke, auf die sie gespart hatte. Das ganze Geld, das sie im Laden verdiente, hatte sie dafür beiseitegelegt. Der Pulli war teuer gewesen, aber er stand ihm ausgezeichnet und ließ seine blauen Augen noch blauer aussehen.

»Ich muss gleich wieder los, mit den Jungs trainieren«, sagte er entschuldigend.

»Es ist Freitagabend. Eigentlich ist das … unsere Zeit.«

Sie sprach mit einem Lächeln, als hätten ihre Worte nicht die Bedeutung, die sie tatsächlich für sie hatten. Unsere Zeit. Ein Witz in Anbetracht dessen, was zwischen ihm und Amanda vorgefallen war.

Tanner nannte ihr all die Gründe, warum er für seine Footballkarriere trainieren musste, Freitagabend hin oder her. Obwohl er es nicht aussprach, wusste sie, dass er fürchtete, nicht gut genug für einen wirklich überragenden Quarterback zu sein. Er zählte andere kleinere Quarterbacks auf, die ihre Sache gut machten, aber mit seinen knapp eins achtzig war er größeren Spielern gegenüber definitiv im Hintertreffen. Trotzdem hatte man ihm ein Stipendium angeboten, und genau deshalb wünschte sich Delta, er würde seine Footballobsession ein klein wenig zurückfahren, wenigstens heute Abend.

Nach einer Weile holte sie ihnen zwei Sprite, doch sie rührte ihre kaum an, während Tanner seine durstig in sich hineinschüttete. Sie achtete auf ihr Gewicht und hatte sich vorgenommen, wenn möglich keine flüssigen Kalorien zu sich zu nehmen.

Als er ausgetrunken hatte, wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab und sagte: »Okay … Ich geh dann mal besser. Sehen wir uns später?«

Deltas Herz hämmerte. Ihre Hände zitterten leicht, als sie überlegte, ob sie auf Amanda zu sprechen kommen sollte. Was, wenn er ungehalten auf ihre Fragen reagierte oder gar wütend wurde? Aber sie musste es einfach wissen.

Sie durchquerten das Haus und traten durch die Eingangstür auf die Einfahrt. Als sie bei seinem Wagen ankamen, holte sie tief Luft und stieß eilig hervor: »Hast du Amanda geküsst?«

Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm einen Tritt verpasst. Seine Hand verharrte über dem Türgriff in der Luft. »Ähm … nein …«

»Nicht?«

»Nein.« Dann murmelte er: »Nicht wirklich«, als dämmerte ihm, dass er den heißen Gerüchten um Amanda und ihn nicht entkommen konnte.

»Was bedeutet ›nicht wirklich‹?«, fragte sie scharf.

»Es bedeutet, dass nichts passiert ist.«

»Komm schon, Tanner.«

»Amanda hat herumgealbert, und dann haben wir miteinander gerungen.«

»Gerungen?«

»Du weißt schon … im Spaß.« Er klang beinahe sauer.

»Hast du sie geküsst?«

»Ich hab dir doch gerade gesagt: So war es nicht.«

»Hast du sie geküsst oder nicht?«, bohrte Delta.

»Hat das irgendwer behauptet?«, wollte er wissen, begierig darauf, dem Boten die Schuld in die Schuhe zu schieben.

»Ich habe gehört, ihr hättet auf dem Billardtisch rumgemacht.«

»Wie bitte? Nein! Wir haben bloß … So war das nicht … Wer sagt denn so was? Zora? Sie war nicht mal im Zimmer!«

Zora hatte zwei Versionen erzählt. Zunächst die Story, die beiden hätten knutschend auf dem Billardtisch gelegen, dann, dass sie sich einen Abschiedskuss gegeben hätten. Die zweite Version klang in Deltas Ohren so, als hätte Amanda mit Zora geredet und verlangt, die Geschichte abzuändern. Aber das war egal. Was zählte, war, dass Amanda und Tanner sich geküsst hatten.

Und das war Amandas Schuld. Sie war diejenige, auf die Delta sauer sein sollte, nicht auf Tanner.

»Hat Zora das behauptet?«, fragte er noch einmal. In seiner Stimme schwang Entrüstung mit.

»Hast du eine Ahnung, wie ich mich fühle, wenn die ganze Schule weiß, dass zwischen euch etwas gelaufen ist?«

»Zwischen uns ist nichts gelaufen! Das versuche ich doch die ganze Zeit, dir zu sagen!«

»Doch, da war was.«

»Herrgott noch mal, Delta.« Er riss die Autotür auf und sprang in den Trailblazer, dann knallte er die Tür zu und funkelte sie durch die Scheibe an.

Am liebsten hätte sie alles zurückgenommen. So getan, als wäre nichts passiert. Wäre vor ihm auf die Knie gegangen und hätte ihn gebeten, ihr zu verzeihen. Es fehlte nicht viel, und sie wäre zu ihm ins Auto gestiegen, um Versöhnungspetting mit ihm zu machen, gleich hier, vor dem Haus ihrer Eltern.

Sie tat nichts von alldem. Stattdessen blieb sie allein und unglücklich zurück, während er aufs Gas trat und mit dröhnendem Motor und quietschenden Reifen aus ihrer Einfahrt setzte.

Kapitel 2

Zora DeMarco fuhr erst Bailey und anschließend Carmen nach Hause, wo sie ihre Schulbücher ablegten und versprachen, gleich morgen früh ihre Hausaufgaben zu erledigen. Dann sprangen sie wieder in Zoras Mazda. Carmen setzte sich auf den Beifahrersitz, während die kleinere Bailey wie immer hinten Platz nehmen musste, aber das schien ihr nichts auszumachen. Carmen und sie waren viel zu einträchtig, als dass sie wegen einer solchen Belanglosigkeit gestritten hätten. Einmal hatte Zora ihnen ins Gesicht gesagt, dass sie sie für Lesben hielt, aber sie hatten nur glacht. In Wahrheit stand Carmen auf Tanner Stahd – taten sie das nicht alle? Sobald sie in seiner Nähe war, wurde ihr Blick verträumt, was den Rest der Fantastischen Fünf wahnsinnig machte, auch wenn Delta nur nachsichtig lächelte, als wüsste sie, dass Tanner ihr allein gehörte.

»Meine Eltern haben Verdacht geschöpft, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr an ihrem Barschrank bedienen. Sie haben mir mein Handy weggenommen«, sagte Zora.

»Schon okay«, beschwichtigte Carmen. »Ich darf eh nichts trinken. Mein Dad riecht das.«

»Wodka kann man nicht riechen«, entgegnete Zora.

»Er riecht alles«, behauptete Carmen.

Zora hätte gern widersprochen, aber Carmens Dad war Reverend Proffitt – der hochheilige Reverend Esau Proffitt, wie ihr Vater mit einem ironischen Grinsen hinzufügte, wann immer der Name des Geistlichen fiel. DeMarco hielt den Reverend Esau Proffitt für einen scheinheiligen Heuchler. Anscheinend war etwas zwischen dem Geistlichen und einem Gemeindemitglied vorgefallen, doch die Erwachsenen sprachen nicht darüber. Zora hatte Carmen einmal gefragt, worum alle so ein Riesengeheimnis machten, aber Carmen sprach nicht über ihre Familie. Sie hatte einen jüngeren, sportbesessenen Bruder und eine engelsgleiche ältere Schwester und galt anscheinend als das schwarze Schaf, weil sie nicht ganz so gute Noten nach Hause brachte wie ihre Geschwister. Carmen war clever, aber sie bemühte sich nicht, brachte sich nicht richtig ein. Der Beratungslehrer meinte, sie sei sportlich genug für ein Volleyballstipendium – was Zoras Ansicht nach stimmte –, aber anders als bei Tanner war kein College an Carmen herangetreten. Carmen behauptete, sie »prüfe ihre Möglichkeiten«, was im Klartext bedeutete, dass sie genau wie die übrigen Mitglieder der Fantastischen Fünf keine konkreten Collegepläne hatte.

»Ich dachte, du hättest dein Handy kaputt gemacht«, sagte Bailey.

Zora und Amanda waren die Einzigen in der Gruppe, denen von den Eltern eigene Mobiltelefone zugestanden wurden.

»Hab ich auch. Deshalb haben sie es mir ja weggenommen. Was einfach nicht fair ist.«

»Dann kann jetzt keine von uns telefonieren, und erreichbar sind wir auch nicht.« Bailey seufzte.

Sie schwiegen für einen Moment, dann sagte Carmen: »Ich kenne Tanners Nummer auswendig.«

»Was nützt uns das, wenn wir ihn nicht anrufen können?«, fragte Zora.

»Warum um alles auf der Welt sollten wir ihn anrufen wollen? Er ist doch Deltas Freund«, warf Bailey ein.

Zora schnaubte. Na ja. Mit einem Anflug von Schuldbewusstsein sagte sie: »Also, was machen wir jetzt?« Dieser Freitagabend erwies sich als riesiger Reinfall, noch bevor er überhaupt begonnen hatte.

»Lasst uns zu Amanda fahren«, schlug Carmen vor. »Wir könnten uns anschauen, wo die Zelte aufgeschlagen werden.«

Die Eltern und Lehrkräfte hatten eine beaufsichtigte Party für den bevorstehenden Abschluss geplant, die ein paar Wochen vor der Schulentlassung auf dem Anwesen der Familie Forsythe stattfinden sollte. Die Jugendlichen waren eingeladen, dort über Nacht zu kampieren. Amanda war nicht sonderlich begeistert darüber, dass ihre Eltern angeboten hatten, die Veranstaltung auf ihrem Grundstück stattfinden zu lassen.

»Ich schlafe mit dir in einem Zelt, Carmen«, zwitscherte Bailey.

Baileys Vater, Bob Quintar, war Officer bei der Polizei von West Knoll. Alle nannten ihn »Quin«. Ein paar von den Kids aus der Schule hatten versucht, Bailey denselben Spitznamen aufzudrücken, aber sie weigerte sich, darauf zu hören. »Wenn ihr mich so nennt, drehe ich mich automatisch nach meinem Dad um«, hatte sie ihnen erklärt.

Bob Quintar war nicht begeistert darüber, dass seine Tochter an der Übernachtungsparty teilnahm. Reverend Proffitt hatte Carmen sogar verboten, hinzugehen, doch dann hatte er erfahren, dass auch Lehrkräfte anwesend waren, außerdem die Klassenstreber Rhonda Clanton und Trent Collingsworth, was dazu führte, dass er nachgab. Widerwillig. Und nur für tagsüber.

»Ich soll bei Amanda und Delta schlafen, aber ich weiß nicht recht …«, sagte Zora.

»Wenn die zwei in einem Zelt sind, bringen sie sich um«, überlegte Bailey.

»Es wäre definitiv besser, die beiden in verschiedenen Zelten unterzubringen«, pflichtete Carmen ihr bei.

»Amanda wird wohl kaum in einem Zelt schlafen«, behauptete Zora.

»Auch nicht, wenn Tanner sich zu ihr schleicht?«, frotzelte Bailey.

»Niemand schleicht sich zu irgendwem«, sagte Carmen, bevor ihre Freundin diesen Gedankengang weiterspinnen konnte.

»Wie willst du es anstellen, dass du über Nacht bleiben kannst?«, fragte Zora, an Carmen gewandt. »Ich dachte, dein Dad hätte es dir verboten.«

»Mir fällt schon was ein«, behauptete Carmen entschlossen.

Zora zuckte die Achseln. Bestimmt würde sich Carmen etwas einfallen lassen. Sie stand auf Tanner, das wusste Zora, und ihre Vernarrtheit in ihn grenzte mittlerweile nahezu an Besessenheit.

»Sprechen wir mit Amanda«, schlug Bailey vor. »Ich find’s auch nicht toll, dass sie Tanner geküsst hat oder was auch immer zwischen den beiden gelaufen ist.«

»Es ist ja nicht so, als würde Delta Tanner besitzen«, wandte Carmen ein, den Blick nach vorn durch die Windschutzscheibe gerichtet.

»Sie ist seine Freundin, und er hat sie mit einer ihrer Freundinnen betrogen, noch dazu mit einer der Fantastischen Fünf. Das ist nicht in Ordnung«, entgegnete B prompt.

Im Rückspiegel sah Zora, wie unwohl sich Bailey nach Carmens Bemerkung fühlte. Sie bezweifelte, dass sie vom Rücksitz aus sehen konnte, wie sich Cs Wangen röteten, aber Zora entging es nicht. Bailey gefiel Carmens Tanner-Obsession gar nicht – keine von ihnen war darüber begeistert –, aber meistens behielt sie ihre Gedanken für sich. Dies war der erste Disput zwischen den beiden Freundinnen, den Zora seit Langem mitbekommen hatte.

»Ich meine ja nur, dass sie sich so … besitzergreifend verhält«, murmelte Carmen.

Bailey verkniff sich einen Kommentar. Sie wusste vermutlich, dass sie besser nicht weiter insistierte, wenn sie Carmen nicht auf die Palme bringen wollte. Genau wie C hatte B keine Pläne für die Zeit nach dem Highschool-Abschluss geschmiedet. Zora nahm an, dass Bailey einfach dasselbe machen würde wie Carmen.

Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, sagte Zora in die unangenehme Stille hinein: »Wir haben Delta vorhin versichert, dass wir auf ihrer Seite stehen, die Sache zwischen Tanner und Amanda betreffend. Und was sagen wir nun zu Amanda?«

»Keine Ahnung.« Carmen lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück.

Zora warf ihr einen weiteren Seitenblick zu. Carmen überragte sie um einiges, und sie war megasportlich, aber leider nicht besonders ehrgeizig. Ohne Stipendium würde sie es kaum an ein richtiges College schaffen – die Proffitts hatten nicht genug Geld, um alle drei Kinder studieren zu lassen. Blieb wohl nur das Community College, wo sie sich auf irgendeinen langweiligen Beruf vorbereiten konnte …

Zora dagegen verfügte über die finanziellen Möglichkeiten, jede Universität zu besuchen, die sie wollte – bei ihr haperte es an den Noten und, genau wie bei Carmen, am nötigen Ehrgeiz. Vielleicht würde sie es an die University of Oregon oder – wenn sie riesiges Glück hatte – an die Oregon State University schaffen, aber am liebsten wäre sie an die University of Arizona in Tucson gegangen. Heiße, trockene Wüste, endlich raus aus diesem Regen. Leider hatte sie den SAT-Test vermasselt, der Voraussetzung für die Zulassung an amerikanischen Universitäten war, und wiederholen wollte sie ihn nicht. Wahrscheinlich würde sie ebenfalls am Community College enden, dachte sie missmutig.

Ihre Gedanken schweiften zurück zu der geplanten Abschlussparty bei den Forsythes. Sie war mit ihrer Cousine bei ein paar Raves gewesen und hatte die eine oder andere Ecstasy-Pille eingeschmissen, aber hauptsächlich hatte sie es auf Alkohol abgesehen. Und sie war noch nie die ganze Nacht über weg gewesen, das war schon ein echter Kick …

Hoffentlich machten ihre Eltern ihr keinen Strich durch die Rechnung, nachdem sie mitbekommen hatten, dass die Alkoholvorräte in ihrem Barschrank so rapide schwanden.

Ihre Eltern, die selbst zu viel tranken.

Ihre Eltern, die sich die ganze Zeit über stritten.

Zora knabberte an ihrem Daumen. Sie hatte gehört, wie ihr Dad über »den Eastside-Deal« gesprochen hatte, ein Immobiliengeschäft, das richtig viel Geld bringen würde, aber auch ein großes Risiko bedeutete. Anscheinend zogen dunkle Wolken am Horizont auf, doch sie wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken. Alles war in Ordnung, rundherum in Ordnung.

»Was glaubt ihr, warum Ellie mit Tanner gesprochen hat?«, fragte Zora, um die beunruhigenden Gedanken beiseitezuschieben.

»Sie hilft ihm beim Lernen«, erwiderte Carmen mit einem leichten Kopfschütteln.

»Ellie? Ich dachte, Delta hilft ihm«, sagte Bailey und sah ihre Freundin stirnrunzelnd an.

»Ellie ist ein echter Mathe-Crack«, entgegnete Carmen.

»Tatsächlich?« Zora warf Carmen einen Seitenblick zu.

»Hätte es Ellie nicht gegeben, wäre ich in Algebra durchgefallen. Der Stoff war total schwer.«

Zora ließ die Information sacken. Sie konnte ebenfalls Hilfe in Mathe gebrauchen. Wenn sie gewusst hätte, dass Ellie Nachhilfe gab, hätte sie sie vermutlich ebenfalls darauf angesprochen. Oder auch nicht, denn Ellie schien Zora nicht sonderlich zu mögen. Wahrscheinlich deshalb, weil Zora Ellie den Platz bei den Fantastischen Fünf weggenommen hatte, auch wenn Zora gar nichts dafür konnte – es war Amandas Entscheidung gewesen. A war zu ihr gekommen und hatte sie gefragt, ob sie mitmachen wolle, immerhin würde sie viel besser zu der Clique passen als Ellie O’Brien, Delta sei der gleichen Ansicht. Zora hatte geschmeichelt zugestimmt.

Nun versetzte sie sich für einen Moment in Ellie hinein. Die Abfuhr musste sie sehr verletzt haben.

Egal. Es war nicht ihre Schuld, dass Ellie ihretwegen hatte zurückstecken müssen. Es war Amandas Schuld.

Zora setzte den Blinker und bog in die lange, gerade Asphaltstraße zu Amandas Villa ein, ein zweigeschossiges Gebäude im georgianischen Stil auf einem Hügel mit einer separaten Doppelgarage an der Seite, damit sie nicht die Aussicht versperrte. Hinter dem Haus erstreckte sich das Grundstück hektarweit, durchzogen von der tiefen, schroffen Schlucht, auf deren Grund der West Knoll River floss, mal langsam und träge, mal gefährlich reißend mit weiß gekrönten Stromschnellen. Das Organisationskomitee für die Abschlussparty wollte einen Teil des Geländes abstecken, in dem sich die Schüler während der Veranstaltung aufhalten durften, und es hatte bereits erbitterte Diskussionen darüber gegeben, ob es sicher war, die Zelte so nahe am Steilhang aufzubauen. Die Forsythes hätten ihre Einladung beinahe zurückgezogen, aber Mr. Timmons, der Fachschaftsleiter Mathematik, und Ms. Billings, eine der Beratungslehrinnen, hatten sie überredet, dies nicht zu tun, auch wenn die Schule klargemacht hatte, dass die West Knoll High weder für die Beaufsichtigung zuständig war noch die Haftung für die Veranstaltung übernahm.

Vorschriften über Vorschriften. Alles musste genauestens geregelt werden. Zora war froh, wenn die Schule vorbei war … oder auch nicht. Die Ungewissheit, was danach auf sie zukommen würde, ließ sie schaudern.

Noch ist es nicht so weit, also denk einfach nicht daran.

»Wie bitte?«, fragte Bailey, und Zora wurde klar, dass die beiden anderen Mädchen sie skeptisch beäugten. Anscheinend hatte sie laut gesprochen.

»Nichts.«

Sie hielten auf dem gepflasterten Parkplatz hinter dem Haus der Familie Forsythe an. Hier fanden mindestens sechs Fahrzeuge Platz. Amandas Vater war Anwalt. Er scheffelte tonnenweise Kohle, offenbar noch weit mehr als Zoras Vater. Zoras Eltern gaben sich eher bedeckt, ihr Vermögen und ihre soziale Stellung betreffend, Amandas Dad dagegen zählte zu den Menschen, die stolz auf das Erreichte waren und damit nicht hinter dem Berg hielten. Einmal hatte er mit einer riesigen Flasche Champagner – irgendeine besonders teure Marke – herumgefuchtelt und Amanda und den Rest der Fantastischen Fünf eingeladen, mit ihm auf einen gewonnenen Prozess anzustoßen, aber Amandas Mom war eingeschritten und hatte sie alle aus dem riesigen Arbeitszimmer mit der Bar aus schwarzem Leder gescheucht. Amanda nahm all das gelassen hin. Sie neigte ohnehin dazu, sich zurückzuhalten und stillschweigend zu beobachten – eine Charaktereigenschaft, so behauptete Zoras Mutter, von der Zora sich getrost eine Scheibe abschneiden könne.

»Amanda Forsythe weiß, wann sie reden und wann sie den Mund halten muss«, hatte Mom mehr als einmal gesagt. »Du solltest dir ein Beispiel an ihr nehmen.«

Zora war sauer gewesen, zumal sie wusste, dass ihre Mutter nur ihr Bestes wollte, aber Zora war nun einmal Zora. Sie liebte es zu feiern, außerdem hatte sie mehr als einmal erlebt, wie Amanda ihre disziplinierte, kühle Persönlichkeit ablegte, um sich in die durchtriebene Blondine zu verwandeln, die sie in Wirklichkeit war. Sie konnte flirten wie eine geile Schlampe. Hatte sie nicht genau das bei Tanner getan?

Tanner Stahd …

Zora biss sich auf die Lippe, wie jedes Mal, wenn sie an ihn dachte.

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, meldete sich Bailey zu Wort. »Tanner ist nicht der einzige heiße Typ in der Klasse.« Sie stiegen aus dem Wagen und gingen auf die Haustür der Forsythes zu. »McCrae ist scharf, genau wie Justin Penske und Brad Sumpter …«

»Brad Sumpter?«, schnaubte Zora.

»Er ist nicht so heiß wie Tanner«, befand Carmen.

»Tanner Stahd, der Gott aller weiblichen Teenager«, murmelte Zora, womit sie exakt die ironischen Worte ihrer Mutter wiederholte.

»Nun, zumindest hält er sich dafür«, pflichtete Bailey ihr mit einem kurzen Lachen bei.

»Immerhin ist er längst nicht so ein Egomane wie McCrae«, brachte Carmen zu Tanners Verteidigung an.

»Okay, Chris McCrae und Tanner Stahd haben beide ein überzogenes Selbstwertgefühl«, räumte Zora ein. »Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht heiß sind.«

Amandas Mutter öffnete die Tür. Marilyn Forsythe war spindeldürr, ihr Gesicht geliftet. Gut geliftet, das musste man zugeben. Auch Zoras Mutter hatte sich die Haut straffen lassen, aber die OP war nicht ganz gelungen. Außerdem war Mom eher etwas pummelig und hatte lockige, braune Haare – gefärbt. An die kühle Eleganz von Marilyn, die ihre glatten, blonden Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, kam sie nicht heran.

Amandas Mutter trug eine cremefarbene Hose und eine dazu passende Bluse. Sie war sorgfältig zurechtgemacht, ihr Make-up tadellos. Ein Hauch Rouge betonte ihre ausgeprägten Wangenknochen. Sie schenkte ihnen ein leicht angespanntes Lächeln und teilte ihnen mit, dass Amanda in ihrem Zimmer sei. Einst ein separates Herrenzimmer, untergebracht in einem Türmchen, gelangte man nur über eine schmiedeeiserne Wendeltreppe in Amandas verspielt eingerichtetes privates Reich.

Die drei Mädchen stiegen die Stufen hinauf, ihre Schritte hallten durch das riesige Haus. Oben angekommen, wurden sie von Amanda empfangen, die sie leicht widerwillig hineinbat. Zora ging hinüber zu den bodentiefen Fenstern. Unter ihnen lag das Esszimmer, das den gleichen fantastischen Ausblick bot.

»Von hier aus kann ich den Fluss sehen«, sagte Zora.

»Nein, kannst du nicht«, widersprach Amanda. »Er verläuft unten, am Grund der Schlucht.«

»Doch. Ich meine, ich sehe, wo er fließt. Und ich sehe die Joggingstrecke am Rand des Steilhangs.« Zora errötete. Amanda konnte manchmal so gemein sein, auch wenn sie es offenbar nicht einmal absichtlich war.

»Tatsächlich?«, fragte Bailey.

»Du musst ausgezeichnete Augen haben«, sagte Carmen und spähte blinzelnd in die Ferne.

Zora erwiderte nichts. In Wirklichkeit hatte sie bloß versucht, Konversation zu betreiben.

Auch Amanda hatte die blauen Augen aufs Fenster gerichtet, aber sie wirkte abwesend, als sei sie in Gedanken ganz woanders. Auch gut, Zora hatte ohnehin keine Lust, jedes ihrer Worte von Amanda auf die Goldwaage legen zu lassen.

»Woran denkst du?«, fragte sie.

»Ach nichts«, erwiderte Amanda zerstreut.

Bei Amanda wusste man nie genau, woran man war, und vermutlich buhlte die Clique genau aus diesem Grund ständig um ihre Aufmerksamkeit. Nun, alle außer Delta, die sich schon immer ein wenig von der Gruppe absentiert und ihr eigenes Ding gemacht hatte, auch vor dem Kuss. Zora hatte dies insgeheim bewundert, zumal Deltas Eltern sehr viel weniger Geld hatten als die Eltern der übrigen Fantastischen Fünf, zumindest hatte Amanda das behauptet. Und weder Baileys noch Carmens Familie war sonderlich vermögend.

Es geht nicht immer nur ums Geld, rief sich Zora vor Augen. Manchmal waren ihr ihre eigenen Gedanken beinahe ein bisschen peinlich. Eilig warf sie einen Blick in die Runde, als fürchtete sie, die anderen könnten in sie hineinblicken, aber Bailey und Carmen redeten bereits eifrig auf Amanda ein und machten Vorschläge, wie sich die Fantastischen Fünf auf die Zelte verteilen sollten. Amanda hörte zu, ohne etwas zu erwidern, vermutlich interessierte sie sich nicht im Geringsten für das Geplapper der beiden.

Es war Bailey, die schließlich auf den Kuss zu sprechen kam, indem sie unbeholfen fragte, ob Delta und Tanner wohl noch ein Paar seien.

»Warum nicht?«, fragte Amanda provokant zurück.

»Weil du mit ihm bei Zora auf dem Billardtisch rumgemacht hast«, platzte Bailey heraus.

Zora hielt die Luft an, Carmen legte besorgt die Stirn in Falten. Es war gar nicht klug, Amanda zu verärgern.

Amanda begegnete Baileys Blick nicht sofort, schien noch immer in ihrem Tagtraum gefangen zu sein, doch dann sah sie zu Boden, verharrte einen Moment und hob schließlich den Kopf, um dem kleineren, drahtigen Mädchen in die Augen zu schauen. »Herrgott, Bailey«, sagte sie. »Die Leute bauschen immer alles so dramatisch auf. Tanner ist Deltas Freund. Wir hatten nur ein bisschen Spaß, das ist alles.«

»Genau, das ist alles.« Carmen wirkte erleichtert, sie wollte dieses Gespräch offensichtlich nicht weiterführen.

»Weiß Delta das auch?«, hakte Zora nach.

»Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen.« Amanda seufzte genervt. »Sie ist stinksauer auf mich, und das kann ich verstehen. Ich wäre auch sauer. Aber da war nichts zwischen uns. Tanner weiß das. Und ihr wisst es auch, richtig?«

»Richtig«, sagten die drei wie aus einem Mund.

Zora wollte ihr glauben. Wirklich. Amanda war ihre Anführerin … Aber Delta irgendwie auch. Sie wollte nicht, dass es in der Gruppe zu Querelen kam.

»Amanda!«

Die vier wandten sich um. Amanda ging zur Zimmertür. »Was ist denn?«, rief sie etwas schroff nach unten.

»Denk an den Termin! Wir müssen los, bevor dein Bruder vom Training kommt. Zack, zack!«

»Oh, Mist«, murmelte Amanda. »Das hab ich ganz vergessen. Ich muss zu einem Casting für einen Werbedreh.«

»Am Freitagabend?«, fragte Bailey.

»Ja, komisch.« Amanda gab ein mürrisches Knurren von sich.

»Wofür?«, fragte Zora. Sie wusste, dass Amanda versuchte, auf diese Art an Schauspieljobs zu kommen, und sie hätte es ebenfalls gern probiert.

»Die nehmen mich eh nicht. Es ist bloß ein kleiner Spot für eine Immobilienfirma aus der Gegend, und die wollen immer nur Kinder und junge Eltern – ich bin da sowieso fehl am Platz. Ich hab’s satt, Dinge zu tun, die ohnehin keinen Sinn ergeben.«

»Am Freitagabend?«, wiederholte Bailey.

Ohne ihr eine Antwort zu geben, stapfte Amanda aus dem Zimmer. Kurz darauf folgten Zora, Carmen und Bailey ihr die Wendeltreppe hinunter. Für einen Moment drückten sie sich noch an der Haustür herum und hörten, wie sich Amanda mit ihrer Mutter wegen des Castings stritt, doch am Ende scheuchte Mrs. Forsythe die Mädchen hinaus und wies Amanda an, ins Auto zu steigen. Ohne Amanda hatte Zora keine Lust, mit den anderen abzuhängen, da wäre es fast weniger langweilig, sich ein Glas Bourbon von dem Lieblingswhiskey ihres Dads zu klauen und fernzusehen – Handyverbot wegen unerlaubten Alkoholkonsums hin oder her.

»Ich bring euch dann mal nach Hause«, sagte sie daher zu Carmen und Bailey.

»Ich fahre mit zu Carmen«, beschloss Bailey, die kein Hehl aus ihrer Enttäuschung machte. »Mein Mom ist wahrscheinlich auch da.«

Joyce Quintar und Elena Proffitt hatten sich beim Geburtsvorbereitungskurs kennengelernt und waren seitdem gute Freundinnen. Ihre Töchter waren ihrem Beispiel gefolgt. Die Freundschaft hatte sogar die Scheidung von Baileys Eltern überstanden, obwohl der Reverend gar nicht begeistert darüber war. Er gehörte der alten Schule an – eine Scheidung war für ihn undenkbar.

Nachdem Zora die beiden bei Carmen abgesetzt hatte, kehrte sie nach Hause zurück. Sie wohnte mit ihren Eltern in einem Tudorhaus mit Bleiglasfenstern und einer großen Eingangshalle. Auch sie war enttäuscht. Es war Amandas Schuld, dass ihr Freitagabend geplatzt war. Hätte sie doch bloß nicht mit Tanner herumgemacht – und was sollten diese ständigen Castings? Glaubte sie wirklich, eines Tages würde eine große Schauspielerin aus ihr werden? Dazu bräuchte es doch sicher mehr als blonde Haare und die Beziehungen ihrer Eltern.

Tanner …

Jetzt, da sie allein war, durfte sie in aller Seelenruhe von ihm träumen. Er hatte eine so offene, lebensfrohe Art. Ein, zwei Mal hatte er Zora länger angeblickt als nötig, und jedes Mal hatte ihr Herz ein bisschen schneller geschlagen. Tanner gehörte zu den angesagten, coolen Jungs, und es fühlte sich gut an, von ihm bemerkt zu werden. Tanner war heiß, und auch wenn es nicht richtig von Amanda war, sich an ihn heranzuschmeißen, bedeutete das nicht, dass er für alle Ewigkeit an Delta gebunden war. Die beiden waren schließlich nicht verheiratet.

Vielleicht war es an der Zeit für einen Neuanfang. Wenn Tanner plötzlich frei wäre …

Frei …

Zora stellte den Wagen auf den dritten Platz in der Garage, dann drückte sie die Hintertür auf und ging durch den Windfang in die Küche. Sofort schlugen ihr die lauten Stimmen ihrer Eltern entgegen, die einander die übelsten Schimpfwörter an den Kopf warfen. Wie erstarrt blieb sie stehen. Das war ihre neue Realität. Mom und Dad kamen nicht mehr miteinander klar. Würden sie sich auch scheiden lassen, so wie die Eltern von Bailey?

Lautlos huschte sie die Hintertreppe hinauf in ihr Zimmer, wo sie sich ihren iPod schnappte und die Earbuds in die Ohren steckte, um den Lärm auszublenden. Trotz der lauten Musik hörte sie ihre Eltern weiterstreiten und erinnerte sich an Baileys Worte: »Meine Eltern haben sich jahrelang gezofft, bevor sie sich endlich scheiden ließen. Es hat meinem Dad das Herz gebrochen, aber Mom wollte einfach nicht länger die Frau eines Polizisten sein. Sie hat einen anderen gefunden, irgendeine alte Highschool-Liebe. Meine Schwester ist mit ihr gegangen, aber ich bin bei Dad geblieben.«

Ist es das, was mir bevorsteht?, überlegte Zora verzweifelt. Muss ich einen Elternteil wählen, bei dem ich leben möchte? Sicher, in ein paar Monaten würde sie ihren achtzehnten Geburtstag feiern, aber abhängig von Mom und Dad wäre sie immer noch.

Baileys Vater war Officer bei der Polizei von West Knoll, und anders als ihre große Schwester Lill hatte Bailey sich für ihn entschieden, als ihre Mom ihr neues Leben begonnen hatte. Inzwischen sah Bailey sie nur noch, wenn sie bei Carmen war. Früher war Joyce Quintar jeden Freitagabend dort gewesen, doch ihre Besuche wurden immer sporadischer. Zumindest hatte Bailey das behauptet, als Zora sie einmal darauf angesprach.

Zora wollte nicht in eine ähnliche Situation geraten. Bitte, bitte, bitte. Bitte mach, dass sie sich nicht scheiden lassen, das Haus verkaufen und wegziehen. Bitte …

Kapitel 3

Ellie saß mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater Oliver Delaney und ihren beiden Halbbrüdern, den Zwillingen Michael und Joey, beim Abendbrot. Oliver, der von Beruf Anwalt war, ließ sich über seinen jüngsten Fall aus: Trunkenheit am Steuer – der Fahrer hatte sich selbst und sein Date in den Tod gerissen. Nun klagte die Familie auf Millionen, angeblich war der Fahrer vermögend gewesen. Er hatte aber auch neun Kinder, und die vertrat Oliver.

»Schluss jetzt!«, sagte Ellies Mutter zu den Zwillingen und wedelte mit der Hand in Richtung der beiden Sechsjährigen, die miteinander rangelten und lachend auf ihren Stühlen herumrutschten. Ein Glas Milch schwappte über, die weiße Flüssigkeit ergoss sich auf den Tisch.

Ellie nahm Joeys Hand, damit er aufhörte zu zappeln. Er versuchte, sich loszumachen, und sie zischte ihm zu: »Willst du in dein Zimmer gehen?«

»Ellie, ich kümmere mich um die Jungs«, sagte Mom, während Oliver Michaels Hand ergriff und so fest drückte, dass der Kleine nach Luft schnappte.

»Hör auf!« Ellies Ton war scharf, ihre Worte an Oliver gerichtet, dem es gar nicht gefiel, wenn sein Verhalten infrage gestellt wurde.

»Ich habe ihm nicht wehgetan«, entgegnete er kühl.

Michael, dem schlagartig bewusst wurde, dass die Aufmerksamkeit ihm galt, hielt sich wimmernd das Handgelenk, als wäre er schwer verwundet. Joey, der ihm das Gejammer nicht abkaufte, versetzte ihm einen Stoß. Sofort schubste Michael zurück, und die Rangelei begann von Neuem. Mom stand auf und brachte die zwei schimpfend in ihr Zimmer. Beide heulten und schoben sich gegenseitig die Schuld zu. Ellie blieb allein mit ihrem Stiefvater zurück, den sie nicht ausstehen konnte.

»Wie war es heute in der Schule?«, fragte er sie, als sich das Schweigen unangenehm dehnte. Bislang waren fast all ihre Gespräche auf diese eine Frage beschränkt geblieben.

»Gut«, antwortete sie einsilbig.

»Noch sechs Wochen bis zum Schulabschluss«, sagte er.

»Hm.«

»Deine Mutter und ich haben über diese Übernachtungsparty bei den Forsythes gesprochen. Wir sind beide der Ansicht, du solltest nicht teilnehmen.«

»Oh, ich werde hingehen«, entgegnete Ellie mit fester Stimme. Ihr leiblicher Vater mochte zwar an einem Herzinfarkt gestorben sein, als sie erst elf war, aber alle behaupteten, die Sturheit habe sie von ihm geerbt. Sie würde sich von Oliver Delaney ganz bestimmt nichts vorschreiben lassen … niemals.

Er wurde rot, seine dunklen Augen blitzten. Er hasste sie, das wusste Ellie. Was er nicht wusste, war, dass sie das Gleiche für ihn empfand. Sie hasste ihn, genau wie die Jungs aus ihrer Klasse, mit Ausnahme von Tanner … und vielleicht Chris McCrae. Auf die zwei stand sie, und sie war fest entschlossen, noch vor Schuljahresende mit einem von beiden ins Bett zu gehen, vorzugsweise mit Tanner. Ellie konnte nicht glauben, dass Amanda ihr zuvorgekommen war. Ob sie tatsächlich mit ihm geschlafen hatte, wusste Ellie nicht, aber sie hatte auf dem Billardtisch von Zoras Eltern mit ihm rumgemacht, und zwar schamlos. Petting war das mindestens gewesen.

Sie dachte an Delta, wie hübsch sie war mit ihren dunklen Haaren, dem leicht gebräunten Teint und dem strahlenden Lächeln. Ja, sie sah toll aus, trotzdem hatte sich Ellie stets gefragt, wie es Delta gelungen war, Tanner so zu verzaubern, dass er fast die ganze Higschool-Zeit über ihr fester Freund gewesen war. Nun jedoch sah es so aus, als sei der Bann gebrochen. Wenn Tanner etwas mit Amanda angefangen hatte, ganz gleich wie unbedeutend es sein mochte, würde er auch sie nicht zurückstoßen, wenn sie ihm signalisierte, dass sie etwas von ihm wollte.

Delta konnte sie mal kreuzweise.

Auf die schöne Delta würde sie bestimmt keine Rücksicht nehmen.

»Du gehst nicht zu dieser Übernachtungsparty, und damit basta«, sagte Oliver und spießte ein blutiges Stück Steak mit der Gabel auf.

Ellie stand wortlos auf, stellte ihren halb geleerten Teller ins Spülbecken und folgte ihrer Mutter und den Halbbrüdern. Während der vergangenen zwei Jahre hatte sie als Serviererin im Commons, einer Seniorenresidenz, gearbeitet, um Geld fürs College zu sparen, und im letzten Jahr hatte sie zusätzlich Kurse am hiesigen Community College belegt, da sie plante, an der University of Oregon zu studieren, wo Tanner ein Footballstipendium in Aussicht hatte. Sie würde gern Journalistin werden und schrieb schon seit Jahren Artikel für die Schülerzeitung der West Knoll High.

»Wohin gehst du?«, rief Oliver ihr mit dröhnender Stimme nach.

In mein Zimmer, du Arschloch. Normalerweise arbeitete sie um diese Uhrzeit, aber der Freitag war ihr freier Tag, und da sie nichts Besseres vorhatte, war sie nach Hause gekommen und hatte sich auf ihre Hausaufgaben gestürzt. Was leider bedeutete, dass sie zum Abendessen da war und Olivers Tyrannei über sich ergehen lassen musste.

Sie schloss ihre Zimmertür hinter sich, was ihn ebenfalls auf die Palme bringen würde. »Keine geschlossenen Türen« lautete sein Credo. Er lebte in ständiger Angst, sie könnte Drogen konsumieren. Nicht dass es ihm dabei um ihr Wohlergehen ging – es würde einfach nicht gut aussehen. Er war ein solcher Heuchler.