Lauf dem Glück nicht davon - Barbara Cartland - E-Book

Lauf dem Glück nicht davon E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Anthea Fortingdale, deren Vater Sir Walcott Forthingdale bei der Schlacht um Wellington gegen Napoleon ums Leben kam, lebt mit ihren jüngeren Schwestern und ihrer Mutter, die in ihrer Dichtkunst aufgeht auf dem Lande in Armut. Die Mutter bittet Anthea's Patentante, die junge Frau bei sich während der Ballsaison in London aufzunehmen, so dass Anthea in die Gesellschaft eingeführt wird. In London geht Anthea mit ihrer Patentante und deren Liebhaber, dem Herzog von Axminster auf unzählige Veranstaltungen. Der Herzog ist ein gutaussehender und wohlhabender Mann, der von vielen Damen der Gesellschaft umgarnt wird. Anthea malt ein paar Karikaturen über die Londoner Gesellschaft und verdient sich damit Geld für die Familie. Als der Ehemann der Patentante ein Bild zu sehen bekommt, verdächtigt er seine Frau des Ehebetrugs und der Herzog wird dazu überredet Anthea zu heiraten. Werden Anthea und der Herzog zueinander finden und die wahre Liebe trotz der schwierigen Umstände, die zu ihrer Ehe führten? Kann der Herzog Anthea davon überzeugen?

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De Hauptpersonen Dieses Romans

Anthea Forthingdale

Ihre Familie gerät nach dem Tod des Vaters in finanzielle Not. Da kommt Anthea die Idee, ihr Zeichentalent in klingende Münze umzusetzen.

Lady Delphine

Die schöne Patentante von Anthea ist mit einem älteren Grafen verheiratet Sie tröstet sich jedoch mit jüngeren Männern - wie dem Herzog von Axminster - und hat nur die einzige Sorge: „Wie erhalte ich meinen guten Ruf?”

Herzog von Axminster

Reicher und sehr begehrter Junggeselle der Londoner Gesellschaft Er ist ein zynischer Frauenheld, der sein Vergnügen am liebsten bei verheirateten Frauen sucht.

Die Autorin über diesen Roman

Ich muss Ihnen gestehen, dass ich mich in die Heldin dieses Romans, Anthea Forthingdale, selbst ein wenig verliebt habe. Und ich will Ihnen auch sagen, warum: Sie ist für ihre Zeit eine recht ‚emanzipierte‘ junge Frau: Sie weiß, was sie will, sie setzt sich durch . . . und bleibt dennoch ein gefühlsbetontes, romantisches Wesen.

Manche mögen darüber lächeln, wie sehr Anthea ihren Traummann ‚anhimmelt‘. Denn die jungen Leute von heute sind ja angeblich ganz anders. Aber ist das wirklich so? Nein, die neuesten Umfragen beweisen: Romantik ist ‚in‘, übrigens auch in Deutschland.

Werfen Sie doch nur einen Blick auf die Mode, dann sehen Sie, dass junge Mädchen wieder sehr romantische Kleider tragen. Und wenn Sie sie nach der Liebe fragen, werden Sie erfahren, dass auch die moderne junge Frau von der romantischen Liebe träumt - einen Traum, den auch Anthea Forthingdale träumt . . .

Erstes Kapitel ~ 1817

„Er ist da, er ist da!“ Chloe platzte in das Schulzimmer, wo ihre Schwestern am großen Tisch saßen. „Er ist da!“ rief sie noch einmal.

„Der Brief?“ fragte Thais.

„Was sonst? Als ich die Postkutsche um die Ecke biegen sah, wusste ich, dass es nun spannend werden würde.“

„Woher weißt du, dass der Brief von meiner Patin kommt?“ fragte Anthea. Ihre Stimme verriet nichts, aber ihre Augen funkelten vor Neugierde.

Statt einer Antwort hielt Chloe den Brief hoch. Jetzt sahen die Mädchen das feine, teure, weiße Papier und die elegant verschnörkelte Handschrift auf der Adresse. Der Brief war an ihre Mutter gerichtet.

„Sie hat schnell geantwortet“, meinte Thais. „Wir hatten ihren Brief frühestens am Ende der Woche erwartet.“

„Sicher hat sie eingewilligt“, sagte Chloe. „Ach, Anthea, wie aufregend wird es für dich sein!“

„Soll ich Mama holen?“ fragte Phebe. Sie war die jüngste und erst zehn. Chloe war sechzehn und Thais ein Jahr älter. Phebe war blond und hatte blaue Augen. Sie sah Thais ähnlich. Beide Schwestern glichen ihrer Mutter aufs Haar.

„Nein, du darfst Mama nicht stören“, verbot Anthea.

„Warum nicht?“

„Weil sie von der Muse geküsst wird.“

„Großer Gott, nicht schon wieder“, rief Chloe. „Dürfen wir sie dabei wirklich nicht stören?“

Sie sah fragend Anthea an, in der stillen Hoffnung, dass die ältere Schwester widersprechen würde.

Anthea sagte energisch: „Bestimmt nicht. Ihr wisst doch, wie ärgerlich es für Mama ist, wenn wir den Flug ihrer Fantasie unterbrechen.“

Chloe hatte den Brief auf dem Kaminsims gegen eine Standuhr gelehnt und seufzte. „Ich sterbe vor Neugierde, wenn Mama nicht bald kommt und ihn aufmacht.“

„Es ist erst elf Uhr“, sagte Anthea. „Wir müssen bis zum Lunch warten.“

„Ausgerechnet heute muss sie eine poetische Inspiration haben“, stöhnte Thais.

„Ich glaube, dass sie sich innerlich schon seit langem mit einem Gedicht beschäftigt, denn ich kenne ihren gewissen, abwesenden Blick“, erwiderte Anthea.

„Wenn ihre Gedichte gut genug wären, könnten wir sie veröffentlichen und verkaufen“, meinte Chloe.

„Das dürften wir auf keinen Fall.“

„Warum nicht, Anthea? Es heißt doch, dass Lord Byron mit seinen Dichtungen ein Vermögen verdient hat. Sicher steht Mama ihm kaum nach.“

„Die Vorstellung, dass ihre Gedichte zu Handelsartikeln werden, würde sie schockieren. Du darfst das auf keinen Fall vorschlagen, Chloe. Es würde ihr nur Kummer bereiten.“

„Mir macht es viel größeren Kummer, dass wir kein Geld haben“, meinte Thais nüchtern. „Wie soll eigentlich deine Garderobe aussehen, Anthea, wenn deine Patin dich nach London holt?“

„In der vergangenen Woche habe ich mir ein Kleid geschneidert.“

„Damit wirst du nicht weit kommen, jedenfalls nicht, wenn man den Vorschlägen in der Frauenzeitschrift ,Ladies Journal’ folgt. Da schreiben sie, dass eine Debütantin, die in die Gesellschaft eingeführt wird, wenigstens zehn Kleider für eine Saison in London braucht.“

„Wenn ich nach London gehe - was noch gar nicht sicher ist bleibt nur noch ein Monat der Saison übrig. Anfang Juni geht der Prinzregent doch immer nach Brighton.“

„Selbst für einen Monat wirst du mehr als ein Kleid brauchen.“

Mit ihren siebzehn Jahren zeigte Thais ein ungewöhnliches Interesse an Garderobe. Von den vier Schwestern litt sie am meisten darunter, dass sie ihre Kleider aus dem billigsten Material herstellen musste. Nie reichte das Geld für die Zutaten, die nach ‚Ladies Journal‘ unerlässlich für die modebewusste Dame waren.

Anthea täuschte sich nicht darüber, dass es kümmerlich um ihre äußere Erscheinung bestellt war, falls sie nach London käme. Ihre Mutter hoffte, dass sie dort in die elegante Gesellschaft aufgenommen werden würde, in der ihre Patin, Lady Shelton, glänzte.

Anthea hatte den plötzlichen Einfall ihrer Mutter, sie während der Saison nach London zu schicken, zunächst für reine Fantasterei gehalten. Schon ihr Vater hatte von seiner Frau gesagt, dass sie nur mit einem Fuß auf der Erde stünde. So hatte sich Lady Forthingdale denn auch bisher nicht klargemacht, dass ihre älteste Tochter Anthea mit ihren neunzehn Jahren vielleicht ein Leben mit mehr Anregungen führen sollte, als es ein kleines Haus in einem abgelegenen Dorf von Yorkshire bieten konnte.

Ausgerechnet dem Vikar war es vorbehalten gewesen, sie an die Verantwortung für ihre Tochter zu erinnern. Nach Sir Walcott Forthingdales Tod hatte dieser freundliche Mann den drei jüngeren Schwestern Unterricht in Geschichte, Religion und Latein gegeben.

Französisch lernten sie von einer Französin, die früher an einer Schule für junge Damen in Harrogate unterrichtet hatte. Als man sie dort nicht mehr brauchte, hatte sie sich in das Dorf zurückgezogen. Lady Forthingdale bezahlte ihr eine äußerst geringe Summe; Anthea hatte dennoch den Eindruck, dass Mademoiselle den Unterricht weit mehr genoss als ihre Schülerinnen. Sie fühlte sich in ihrem Häuschen einsam und brauchte das Gespräch.

Eines Tages war der Vikar vorbeigekommen, um Lady Forthingdale über Phebes Fortschritte in Latein zu unterrichten. Beim Abschied hatte er bemerkt: „Ich überlege mir oft, Mylady, wie glücklich Sie mit Ihren reizenden Töchtern sein müssen. Es wird ein trauriger Tag für Sie kommen, wenn die Töchter heiraten und das Heim verlassen. Für Miss Anthea kann sich das jederzeit ereignen.“

„Heiraten? Anthea?“

„Sie hat doch wohl schon ihren neunzehnten Geburtstag hinter sich, nicht wahr? In diesem Alter machen die meisten jungen Damen - und besonders so hübsche wie Miss Anthea - Pläne für ein künftiges eigenes Heim.“

„Natürlich, so ist es, Vikar“, hatte Lady Forthingdale zugestimmt. Als er gegangen war, hatte sie Anthea zu sich gerufen und sich selbst Vorwürfe gemacht.

„Liebling, wie konnte ich nur so gedankenlos sein? Ich vergaß völlig, dass du neunzehn bist. Schlimm, dass ich noch nichts dafür getan habe.“

„Wofür, Mama?“

„Dein Debüt zu arrangieren.“

„Mein Debüt? Meinen Eintritt in die Gesellschaft? Aber wie sollte das denn möglich sein?“

„Dein Vater und ich hatten stets die Absicht, dafür zu sorgen, aber nach seinem Tod war ich so bekümmert, so hilflos, dass ich völlig vergaß, wie alt du schon bist.“

„Sehr alt, Mama“, lachte Anthea. „Bald werde ich graue Haare bekommen, und die Zähne werden mir ausfallen.“

„Ich spreche im Ernst“, sagte Lady Forthingdale vorwurfsvoll. „Zugegeben, wir sind arm, aber die Forthingdales genossen jahrhundertelang in Yorkshire großes Ansehen. Und meine eigene Familie ist sogar mit Wilhelm dem Eroberer nach England gekommen.“

„Ich weiß, Mama. Aber blaues Blut nützt nichts, um Rechnungen zu bezahlen oder die Saison in London zu verbringen.“

Nach dem Tod ihres Vaters hatte Anthea die Führung des Haushalts übernommen, und die Rechnungen gingen durch ihre Hand. Sie wusste am besten, wie wenig Geld vorhanden war und wie man jeden Penny dreimal umdrehen musste.

„Es kam mir nicht in den Sinn, für dich in London zu bezahlen. So dumm bin ich nun doch nicht, Anthea.“

„Aber wer sollte es sonst tun? Wir haben doch nur so wenige Verwandte.“

„Die Verwandten deines Vaters würde ich nie um Hilfe bitten, nicht einmal im äußersten Notfall.“ Lady Forthingdales sanfte Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen. „Sie haben mich immer schlecht behandelt, weil sie von deinem Vater eine Geldheirat erwartet hatten. Die Ehe mit mir haben sie ihm nie verziehen.“

„Er hat sich eben in dich verliebt, Mama, und das wundert mich nicht. Du warst für mich immer die schönste Frau, die ich kenne.“

„Du siehst deinem Vater ähnlich“, lächelte Lady Forthingdale. „Er war ein ausgesprochen schöner Mann, und auch du bist sehr schön.“

Das stimmte. Anthea hatte dunkles Haar wie ihr Vater, dazu große, grün-graue Augen, die lustig funkeln konnten. Ihre zartgeschwungenen Lippen öffneten sich leicht und gern zu einem Lächeln, überdies hatte sie auf jeder Wange ein Grübchen. Schon dem Baby in der Wiege hatten alle zugelächelt. Wenn Anthea lachte, dann wirkte das ansteckend.

„Du schmeichelst mir, Mama, aber sprich nur weiter. Ich höre schrecklich gern Komplimente.“

„Die sollten nicht von deiner Mutter kommen. Ach, wie konnte ich nur so selbstsüchtig und vergesslich sein und nicht rechtzeitig daran denken.“

„Woran, Mama?“

„An meine Freundin und deine Patin Delphine zu schreiben, die Gräfin Sheldon.“

Das schlechte Gewissen hatte Lady Christobel Forthingdale veranlasst, sich sofort hinzusetzen und einen Brief an die Gräfin zu verfassen. Sie fragte sie, ob sie ihr wohl im Gedenken an ihre alte Freundschaft einen großen Gefallen tun und Anthea nach London einladen würde.

„Seit dem Tod meines geliebten Gatten hat das Kind mich wundervoll umsorgt. In meinem Kummer habe ich es völlig übersehen, dass das Trauerjahr vorbei ist und Anthea in die Gesellschaft eingeführt werden sollte.

Ich habe nie Deinen Ball vergessen und wie bildschön Du ausgesehen hast, Delphine. Alle Männer lagen Dir zu Füßen. Nun bitte ich Dich, an Dein Patenkind Anthea zu denken und sie für einige Wochen den Zauber Londons genießen zu lassen. Vielleicht kannst Du sie mit einigen jungen Herren zusammenführen. Du wirst verstehen, dass daran in unserem kleinen Dorf ein beklagenswerter Mangel besteht.“

Weiter erinnerte sie die Freundin an die Zeit kurz nach der Konfirmation, als Delphine fünfzehn war. Damals hatte Christobel sie gefragt, ob sie wohl die Patenschaft für ihr erstes Kind übernehmen würde, und Delphine hatte begeistert zugestimmt.

Delphines Eltern wohnten ebenfalls in Essex, ganz in der Nähe. Schon die Mütter waren eng befreundet gewesen, und die Väter führten gemeinsam als ‚Masters‘ die Fuchsjagden der Gegend an.

Mit ihren fünfzehn Jahren hatte Delphine für die schöne Christobel geschwärmt, die drei Jahre älter war als sie. Kaum erwachsen, hatte Christobel den kraftvollen und vitalen Sir Walcott Forthingdale geheiratet. Der erfahrene Mann von Welt, Sir Walcott, hatte sich bereits auf ihrem ersten Ball Hals über Kopf in sie verliebt und war nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Trotz des Protestes ihrer Eltern hatte er sie noch am Ende des Jahres geheiratet.

Als ihre Mutter gerade neunzehn war, kam Anthea zur Welt. Christobel war für die Niederkunft in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Dort hatte Delphine sie täglich besucht und das Baby ebenso vergöttert wie die Mutter. So war es denn auch eine große Beglückung für sie gewesen, als Lady Forthingdale ihr die Patenschaft für Anthea antrug.

Später hatten sie allerdings kaum noch Kontakt unterhalten. Sir Walcott hatte sich auf seine Güter in Yorkshire zurückgezogen. Es war nicht seine Schuld, dass der Ertrag dieser Güter für den Unterhalt der Familie nicht ausreichte. Als er in der Schlacht bei Waterloo fiel, war das Vermögen stark zusammengeschmolzen; das hing vor allem mit finanziellen Belastungen während der napoleonischen Kriege zusammen.

„Du bist zu alt. Wie kannst du mich allein lassen?“ Lady Forthingdale hatte heftig protestiert, als Sir Walcott darauf bestand, sich seinem alten Regiment anzuschließen und ein Offizierspatent zu erwerben.

„Ich will verdammt sein, wenn ich hier herumsitze und alle meine Freunde für mich kämpfen lasse!“

Immerhin hatte er damals, nämlich zum Zeitpunkt der Seeschlacht von Trafalgar, der Bitte seiner Frau nachgegeben. Danach schien es, als sei der Krieg bald zu Ende. Doch Napoleon war noch lange nicht besiegt.

„Ich muss beim letzten Akt dabei sein“, hatte Sir Walcott gesagt. „Lange genug habe ich mich meiner Verantwortung entzogen.“

So kam es, dass er unter Wellington gegen die Franzosen kämpfte. Zu Lady Forthingdales Beruhigung wurde er jedoch nicht auf die Iberische Halbinsel geschickt. Aber als die Armee zum Endkampf gegen Napoleon schließlich bis Brüssel vorgestoßen war, nahm Sir Walcott bei der Kavallerie am Kampf teil.

Als Anthea hörte, dass er gefallen war, überraschte sie diese Trauerbotschaft nicht allzu sehr; in ihrer Vorstellung musste der Vater den erbitterten Kavallerieangriff zu Beginn der Schlacht mitgemacht haben, der zweitausendfünfhundert Opfer gekostet hatte.

„Einen solchen Tod hat Papa sich immer gewünscht“, sagte sie damals zu ihrer verzweifelten Mutter, wusste indes, dass es kein Trost für die Hinterbliebenen war. Ihr Vater war bei jeder Jagd an der Spitze geritten, und er hätte nie darauf verzichtet, auch in der vordersten Schlachtreihe zu kämpfen.

Die Familie hatte das Haus verlassen müssen, das seit je ihr Heim gewesen war. Der schmale Erlös aus dem Verkauf der heruntergewirtschafteten Güter diente hauptsächlich dazu, Sir Walcotts Schulden zu tilgen. Immerhin war genug übriggeblieben, um das kleine Haus in Smaller Skireoaks zu erwerben, in dem sie nun wohnten. Den Rest des Geldes hatten sie so angelegt, dass es ihnen jährlich eine kleine Rente brachte, mit der sie auskommen mussten.

Anthea fand es selbstverständlich, dass sie für ihre Mutter und die Schwestern sorgte. Gelegentlich lud man sie zu einem Ball in der Nachbarschaft ein. Nachdem die Trauerzeit vorbei war, hatte sie im letzten Winter zwei Bälle mitgemacht. Ihre Tanzpartner waren meist verheiratet oder junge Leute, die streng von ihren Müttern bewacht wurden. Die wollten auf keinen Fall eine Verlobung mit ‚diesem völlig unbemittelten Forthingdale-Mädchen‘, mochte sie noch so hübsch sein.

Als der Brief an die Gräfin Sheldon abgeschickt worden war, hatte sich Anthea einigen Tagträumen hingegeben. Sie würde die Londoner Gesellschaft im Sturm erobern und einen passenden Ehepartner finden. Der würde reich genug sein, um sogar ihre Schwestern zu unterstützen.

Von nun an kreisten ihre Gedanken um dieses Thema. Im kommenden Jahr müsste Thais, die sehr hübsch war, unbedingt in die Gesellschaft eingeführt werden. Selbst wenn es glückte, würde Thais älter sein als die meisten Debütantinnen, die gleichzeitig bei den gesellschaftlichen Anlässen auftauchten. Dann wären noch Chloe und schließlich Phebe da. Sie selbst müsste einen Mann heiraten, der es ihr ermöglichte, nacheinander die jüngeren Schwestern unterzubringen.

Natürlich war es ihr bewusst, dass ihre Mutter seit mehr als acht Jahren keine Verbindung mehr mit der Gräfin Sheldon gehabt hatte. Die Menschen änderten sich, wurden alten Freunden gegenüber gleichgültig, fanden es lästig, sich um anderer Leute Töchter kümmern zu müssen. Die Gräfin war nun vierunddreißig Jahre alt. Anthea wusste wenig über die Regeln der Gesellschaft, aber doch genug, um sich zu sagen, dass eine Frau mit vierunddreißig zu jung war für die Rolle der Anstandsdame und Ehevermittlerin, wie jede Debütantin sie brauchte.

Nun, der Brief nach London war abgegangen. Anthea konnte sich nicht vorstellen, dass die Gräfin überhaupt nicht auf die Bitte von Lady Forthingdale reagieren würde, wenn auch die Chance einer Zusage ihr nicht sehr groß erschien. Daher war die Spannung der Schwestern, die dem Brief auf dem Kaminsims galt, nur allzu verständlich.

„Ich kann nicht anderthalb Stunden warten, bis Mama kommt“, sagte Thais. „Könnten wir den Brief nicht über Dampf öffnen und lesen?“

„O ja, das wollen wir machen!“ rief Chloe.

„Auf keinen Fall“, entschied Anthea. „Ihr wisst doch genau, wie schäbig das wäre. So etwas tut man als Dame nicht.“

„Soweit ich im Bilde bin, tun Damen alles Mögliche, was nicht damenhaft ist“, warf Thais ein. „In dem Roman, den ich gerade gelesen habe, horcht die Heldin dauernd an Schlüssellöchern.“

„Dienstboten tun das, aber keine Heldin“, sagte Anthea. „Woher beschaffst du dir überhaupt solche Romane? Doch sicher nicht aus Papas Bibliothek oder vom Vikar?“

Thais kicherte, was ihr reizend stand. „Ich habe ihn mir von Ellen ausgeliehen.“

„Ellen?“

Als Thais nicht antwortete, fragte Anthea: „Meinst du etwa Ellen vom Wirtshaus ,The Dog and Duck’?“

„Sie hat einen Freund, der sie mit solchen Büchern versorgt.“

„Thais, wie kannst du nur“, protestierte Anthea. „Mama wäre außer sich, wenn sie von deinem Umgang mit Ellen wüsste, obgleich sie eine recht symphytische Person ist.“

Es war wirklich höchste Zeit, dass Thais passendere Freundinnen fände als die Kellnerin in ‚The Dog and Duck‘. Die jüngere Schwester war vor einem Monat siebzehn geworden und hatte völlig das verloren, was ihr Vater den Babyspeck genannt hatte. Thais war so hübsch, dass sogar die Chorknaben in der Kirche sie anstarrten.

Ja, eigentlich sollte Thais an ihrer Stelle nach London gehen. Anthea überlegte ernsthaft, ob ihre Patin mit einem solchen Austausch einverstanden wäre, falls es überhaupt zu einer Einladung kommen würde.

„Woran Mama wohl jetzt arbeitet?“ fragte Chloe.

„Ich glaube, dass sie gerade eine religiöse Phase durchmacht“, meinte Thais.

„Zum Glück hat sie das nicht getan, ehe wir zur Welt kamen, sonst hätte sie eine von uns Jezebel oder Magdalena getauft“, sagte Chloe.

Alle lachten, und Anthea murmelte: „In Chloes Herz stahl Jung-Cupido sich.“ Sie sagte es aber nicht laut, denn sie hatte Cloe schon zu oft mit dieser bekannten Verszeile geneckt.

„Einen schrecklicheren Namen als Chloe hätten sie für mich nicht finden können“, sagte ihre Schwester klagend. „Warum hatte Mama gerade eine William-Blake-Phase, als ich zur Welt kam? Es gibt doch noch andere Dichter.“

„Findest du etwa meinen Namen besser?“ fragte Thais. „Niemand kann ihn richtig aussprechen.“

„Aber er ist doch romantisch“, meinte Phebe. Sie sprang auf und deklamierte pathetisch:

„Seht Thais hier an seiner Seite,

Erblüht wie eine Braut des Ostens,

Der Jugend und der Schönheit Preis.“

„Hör auf!“ schrie Thais und warf mit einem Buch nach ihr. Mit Ausnahme von Anthea waren die Schwestern sehr unglücklich über ihre Vornamen.

Anthea pflegte Robert Herricks Ode , An meine Anthea’ zu lesen und fragte sich, ob ihr eine Erfüllung ähnlicher Art beschieden sei.

„Gib einen Kuss, gib Küsse obendrein

Es sollen zwanzig, hundert Küsse sein.“

Würde es einen Mann geben, der so zu ihr sprach? Und was würde sie dabei empfinden?

„Warum hat Mama eigentlich nicht einen Namen aus dem ,Vicar of Wakefield’ ausgesucht?“ fragte Chloe und spielte damit auf den berühmten Roman des Dichters Oliver Goldsmith an. „Ihr erinnert euch doch, dass sie uns daraus vorlas. Wenn ich nach einer Gestalt aus diesem Buch benannt wäre, wüsste ich wenigstens, woher es käme, wenn ich eine Dummheit mache. Der Verfasser sagt es: ,Wenn eine schöne Frau der Torheit nachgibt, wenn sie zu spät entdeckt, dass Männer trügen . . .’“

„Daran sollte man vorher denken und es nicht nachher als Entschuldigung benützen“, meinte Anthea.

„An welche Torheit der Dichter wohl gedacht hat?“ überlegte Phebe. „Wenn Papa noch lebte, würde ich ihn danach fragen.“

„Er ist tot, und du wirst Mama nicht damit belästigen“, entschied Anthea.

Es galt als feste Regel im Haus, dass die Mutter auf keinen Fall gestört werden dürfe. Sie alle liebten die sanfte Frau, die nach dem Tod ihres Gatten noch hilfloser war als zuvor. Es war Ehrensache, alle Schwierigkeiten von ihr fernzuhalten. Dennoch, ohne recht zu begreifen, worum es sich handelte, verursachten sie ihr schlaflose Nächte.

Anthea glaubte, dass ihre Mutter vor jeder drohenden Sorge in die Poesie flüchtete. Das war schon zu Lebzeiten des Vaters so gewesen, hatte aber jetzt zugenommen. Die Gedichte, die sie verfasste, wurden immer länger. Sie las sie ihren Töchtern vor und vergaß sie dann.

Würde man das poetische Werk ihrer Mutter drucken lassen und verkaufen können? Aber dann überlegte Anthea, dass ein solcher Vorschlag die Dichterin entsetzen würde; auch wäre wohl kein Verleger zu einer Veröffentlichung bereit.

Aus Zeitschriften hatte sie vom überwältigenden Erfolg der Dichtung Lord Byrons erfahren. Aber seitdem der skandalumwitterte Poet England im vergangenen Jahr hatte verlassen müssen und nicht mehr im Mittelpunkt des Gesellschaftsklatsches stand, würde sich sein Werk vermutlich weniger gut verkaufen.

Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass sich wohl kaum jemand für das poetische Werk einer Dame aus der Einsamkeit Yorkshires interessieren würde. Kein Mitglied der frivolen, vergnügungssüchtigen Gesellschaft, die sich an Lord Byrons Ergüssen ergötzte, würde auch nur ein Wort über Lady Forthingdale verlieren.

„Schade, dass keine von uns ein Talent besitzt, das man zu Geld machen könnte“, seufzte Anthea.

„Ich arbeite an einem Roman“, verkündete Thais.

„Ja, ich weiß. Du arbeitest schon seit drei Jahren daran und bist vermutlich nicht weiter als bis Kapitel fünf gekommen . . . Wenn du so weitermachst, wirst du in zwanzig Jahren damit fertig. Dann kommt es nicht mehr darauf an, ob du dir im Ausverkauf ein hübsches Kleid oder nur irgendeinen Fetzen leisten kannst.“

Anthea krümmte sich, ließ ihre Hände zittern und stammelte weinerlich: „Alles selbst gemacht, helfen Sie, schöne Dame, helfen Sie einer armen, alten Frau, die die besten Jahre ihres Lebens . . .“

Die Mädchen lachten. Anthea verstand es vorzüglich, Leute nachzumachen wie in diesem Augenblick Mrs. Ridgewell, die Dorf-Bettlerin.

„Es ist schwer, einen Roman zu schreiben“, verteidigte sich Thais. „Außerdem brauche ich viel Zeit, weil mir die Rechtschreibung Schwierigkeiten macht.“

„Vielleicht könnte ich einige meiner Aquarell-Skizzen verkaufen“, schlug Anthea vor.

Chloe lachte. „Die Skizze, die du im Dorfladen ausgestellt hast, ließ sich doch erst verkaufen, nachdem ich den Preis auf drei Pence herabgesetzt hatte. Außerdem erwarb Miss Briggs sie nur, weil ihr der Rahmen gefiel.“

„Das habe ich gemerkt“, seufzte Anthea, „als ich sie in der vergangenen Woche besuchte. Sie hat mein Bild aus dem Rahmen genommen und stattdessen eine gepresste und aufgeklebte Rose hineingetan, die eine Enkelin ihr geschickt hat.“

„Nein, es sieht wirklich nicht so aus, als ob wir mit unseren Künsten Geld verdienen könnten“, meinte Chloe. „Ich habe mir überlegt, ob ich nicht gegen Bezahlung Reitstunden geben sollte.“

„Und wer würde sich dafür melden?“ fragte Thais. „Jeder im Dorf, der ein Ross besitzt, reitet sowieso. Die Herrschaften aber, die in der Grafschaft auf Fuchsjagd gehen, werden nicht ausgerechnet bei dir Reitstunden nehmen.“

„Ich würde alles für ein gutes Pferd hergeben“, sagte Chloe. „Es macht mich krank, dass wir seit Papas Tod nur den alten Dobbin haben, um Mama auszufahren. Allerdings äußert sie nur selten den Wunsch danach.“

„Ein besseres Pferd können wir uns nicht leisten“, sagte Anthea. „Mit seinen zwölf Jahren muss Dobbin noch lange durchhalten. Du darfst ihn nicht hart reiten, Chloe. Wenn er stirbt, können wir nie wieder ein Pferd kaufen.“

„Geld, Geld, Geld“, rief Chloe. „In diesem Haus wird von nichts anderem mehr geredet.“

„Und damit kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück“, sagte Thais. „Was wird Anthea anziehen, wenn sie nach London geht?“

„Ich werde meine alten Kleider tragen und dazu die neuen, die ihr für mich schneidern werdet.“

Die Schwestern sahen sie erstaunt an.

„Ich habe mir das für den Fall überlegt, dass meine Patin zusagt. Bestimmt gelingt es uns, die Modelle aus dem letzten Heft von ,Ladies Journal’ zu kopieren. Wenn ich nach der neuesten Mode gekleidet bin, werde ich mich nicht nur überall zeigen können, sondern sogar Aufsehen erregen.“

„Du wirst wie eine Feldmaus aussehen.“ Chloe meinte das ehrlich.

„Meinetwegen wie eine Feldmaus. Trotzdem werde ich nicht die Gelegenheit ausschlagen, nach London zu gehen. Ich habe nämlich das Gefühl, dass es für uns alle von Vorteil sein könnte.“

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann fragte Thais: „Meinst du, dass du dort einen Mann findest?“

„Schon möglich.“

„Ich will aber nicht, dass du dich verheiratest“, jammerte Phebe. „Dann würdest du ja fortgehen und uns allein lassen, Anthea. Ohne dich wäre alles einfach grässlich.“

Sie lief um den Tisch herum und legte ihren Arm um den Nacken der Schwester.

„Wir lieben dich, Anthea. Wir lassen dich nicht fort, damit du irgendeinen schrecklichen Mann heiratest, der dich nie so liebhaben wird wie wir.“

„Vielleicht finde ich einen netten Mann, der euch alle in sein Haus aufnimmt, der Chloe seine Reitpferde leiht und für Thais einen Ball gibt.“

„Meinst du wirklich, dass du das erreichen könntest?“ fragte Thais.

„Ich kann es wenigstens versuchen.“

Als Anthea die ernste Miene ihrer Schwestern sah, vertieften sich die Grübchen in ihren Wangen, und sie sagte: „Wenn ich nach London komme, hänge ich mir ein Plakat um den Hals: ,Drei Schwestern suchen Unterhalt! Bitte um Hilfe mittels Ehering’.“

Nun lachten sie wieder. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Lady Forthingdale kam herein. Sie bewegte sich langsam, ihr Blick war geistesabwesend. Die Mädchen merkten sofort, dass ihre Muse sie inspirierte.

Keine der Schwestern wies auf den Brief auf dem Kaminsims. Dass sie es nicht taten, zeugte von dem Respekt vor dem Talent ihrer Mutter. Sie schwiegen, während die Mutter wie traumverloren im Türrahmen stand, eine ihrer schlanken weißen Hände erhob und rezitierte:

„Sterbend werden wir geboren.

Mag auch die Welt erbleichend schwinden,

Weil ich dich so in meinen Armen hielt,

Und wär’ es mir vergönnt, das Kreuz zu fassen,

Dann würde mir, durch Opfer meiner selbst,

Die Liebe Gottes wunderbar zuteil.“

„Das ist schön, Mama“, rief Anthea.

„Eines deiner besten Gedichte“, bestätigte Thais.

„Aber was kommt nach dieser Strophe?“ fragte Lady Forthingdale. „Darüber grübele ich vergeblich nach.“

„Die Inspiration wird es dir später eingeben“, versicherte Anthea. „Es ist Zeit zum Lunch, Mama. Ich wollte dich gerade aufsuchen und hätte dich sowieso unterbrochen.“

„Heute Morgen floss mir der erste Teil des Gedichts ganz mühelos zu“, fuhr Lady Forthingdale fort, aber nun hielt es Anthea nicht länger aus.

„Ein Brief ist gekommen, Mama, schon vor mehr als einer Stunde“, sprudelte sie hervor.

Lady Forthingdale sah ihre Tochter erstaunt an und fragte verwirrt: „Brief? Was für ein Brief?“