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Laura ist inzwischen siebzehn und auf dem Internat Ravenstein sind erste Liebesbeziehungen, Eifersucht und Ränkespiele an der Tagesordnung. Auch das große internationale Schülertreffen aller Wächter-Internate mit der Aufführung eines Musicals muss vorbereitet werden. Die Gegner der Wächter des Lichts haben jedoch noch lange nicht aufgegeben und stellen diese vor eine neue schwere Aufgabe: Fünf Internatsschüler erwecken einen schwarzen Dämon zum Leben, der in die Gestalt seiner Opfer schlüpft. Er will Laura und die Wächter des Lichts endgültig vernichten. Laura und ihre Freunde müssen um das Schicksal der Erde und ihres Schwestersterns Aventerra fürchten. In der Mittsommernacht, dem höchsten Fest des Lichts, bei dem der Bund zwischen den beiden Welten erneuert werden soll, wird sich der erbittert geführte Kampf entscheiden. Der Kampf um das Leben Lauras, das ihrer Familie – und um ihre Liebe …
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Seitenzahl: 664
Peter Freund
Roman
Für Gabi,die nie aufgegeben hat
Das Tor zur Hölle war kaum zwei Stunden geöffnet, als das Unwetter wie aus dem Nichts über Berlin hereinbrach. Während des ganzen Abends war es wolkenlos gewesen. Nicht die kleinste Schleierwolke hatte die Sicht auf den samtschwarzen, von unzähligen Sternen gesprenkelten Himmel getrübt, und kein noch so laues Lüftchen hatte den verheerenden Sturm angekündigt, der um Mitternacht losheulen sollte. Es war nur viel zu warm für die Jahreszeit. Seit Tagen herrschte T-Shirt-Wetter, dabei ging es erst auf Ende April zu. Die Straßenbäume ächzten bereits unter der Last ihrer Blätter. Der süßliche Duft reifer Blüten füllte die Luft, und kaum einer der unzähligen Nachtschwärmer, die trotz der späten Stunde noch immer im Straßengewirr von Berlin-Mitte unterwegs waren, nahm den unterschwelligen Hauch des Verderbens wahr, der darin mitwehte – wie eine versteckte Warnung an alle, sich nicht vom äußeren Anschein der Dinge blenden zu lassen.
Mit einem Mal, es war genau fünf Minuten vor zwölf, kam ein Wind auf, der rasch stärker wurde. Der Himmel verfinsterte sich schlagartig, und wo kurz zuvor noch die Sterne geleuchtet hatten, ballten sich nun dickbauchige schwarze Wolken, die von einer schwefelgelben Aura umgeben schienen und sich immer tiefer auf die Häuser der Stadt herabsenkten. Dann brach der Sturm los. Er fegte so wild durch die breiten Boulevards und engen Seitenstraßen, dass die Bäume sich unter seiner Wucht krümmten. Er rüttelte an Straßenschildern, Verkehrszeichen und Dachziegeln, an den Gerüsten der Rohbauten und an den Planen, die den Blick auf die sich an allen Ecken in den Boden fressenden Baugruben versperrten. Fensterläden schepperten, Rollos klapperten und Markisen flatterten, während die immer stärker werdenden Böen um die Häuser jagten. Zunächst trieb der Wind nur Staub, Schmutz und Müll vor sich her, aber schließlich packte er auch Reklametafeln, Caféstühle und sogar schwere Sonnenschirme und wirbelte sie meterweit durch die Luft. Als mit einem Mal auch noch die Wolken platzten und ihre Last wie berstende Wasserbomben über der City abluden, flüchteten die Menschen panikartig von den Straßen und Bürgersteigen und suchten Schutz in Hauseingängen, in den Zu- und Abgängen der U- und S-Bahn und in den unzähligen Lokalen am Weg. Im »Tor zur Hölle« aber war vom Wüten der Elemente nichts zu spüren.
»Hell’s Gate«, wie der richtige Name des Clubs lautete, war proppenvoll. Dabei hatte der Laden erst vor wenigen Wochen geöffnet. Etwas versteckt in einer schmalen Seitenstraße gelegen, hatte er sich innerhalb kurzer Zeit vom Insider-Geheimtipp zum angesagten Szene-Treff entwickelt. Was sich dank Internet und sozialer Netzwerke blitzschnell bei den Touristen herumgesprochen hatte, die in immer größer werdenden Scharen in die Hauptstadt einfielen: bei den Backpackern und Binge-Trinkern genauso wie in eher bürgerlichen und besser betuchten Kreisen. Der Zugang zum »Höllentor« musste deshalb inzwischen auch von muskelbepackten Türstehern geregelt werden. Deren Auswahlkriterien waren ebenso undurchschaubar wie willkürlich, was nicht nur einen zusätzlichen Reiz für potenzielle Besucher darstellte, sondern auch für eine ziemlich schräge Gästemischung sorgte. Geschniegelte Anzugtypen waren im »Hell’s Gate« ebenso zu finden wie bunt frisierte Immer-noch-Punks, flippige Raver, dickbauchige Leder-Rocker, schwarz gekleidete Gruftis, coole Emos und was die wilde Berliner Szene sonst noch so an Exoten hergab. Der Qualm von Zigaretten und härterem Stoff – dabei war Rauchen eigentlich strengstens verboten –, der Geruch verschwitzter Leiber und der Hauch von tausendundeinem Duftwässerchen waberten durch die Luft, die so stickig und heiß war wie in einer Dampfsauna kurz nach dem Aufguss.
Doch das schien niemanden zu stören. Die Besucher standen so eng zusammengequetscht wie die Fan-Meute vor der Bühne eines Rock-Konzerts. Das Gewirr ihrer aufgeregten Stimmen wurde nur noch von den hämmernden Beats der Musik übertönt, die aus fetten Boxen durch den spärlich erhellten Raum wummerten. Nur an der Bar in der hintersten Ecke des Clubs war es einen Tick leiser, sodass dort zumindest ansatzweise Gespräche möglich waren.
Fast genau in der Mitte des Tresens saßen eine grell geschminkte Blondine in einem engen dunkelgrünen Kleid – falls man das spärliche Stück Stoff, das ihre Körperformen bestens zur Geltung brachte, überhaupt so nennen konnte – und ein geschniegelter Dressman-Typ mit gegeltem Haar. Die in seinen Haaren steckende Sonnenbrille stammte vom gleichen In-Designer, der auch seinen sichtbar schweineteuren Anzug entworfen hatte. Die beiden waren offensichtlich nicht auf Konversation aus, schienen sich aber auch ohne viele Worte zu verstehen. Vor sich zwei leere Cocktail-Gläser, hingen sie eng umschlungen auf ihren Barhockern und knutschten völlig ungeniert. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie keinen einzigen Blick für das wilde Treiben um sich herum übrig hatten. Weder für die schwitzende Masse der anderen Besucher, noch für den glatzköpfigen Barmann hinter dem Tresen, der mit stoischer Miene Gläser polierte. Und schon gar nicht für die seltsame Uhr inmitten der Flaschenbatterien in dem raumhohen Regal an der Spiegelwand hinter ihm.
Es war eine kleine Stand-Uhr mit weißem Zifferblatt und römischen Zahlen, insgesamt höchstens zehn Zentimeter hoch und mit offenem Gehäuse, sodass das unablässig zuckende Feder- und Räderwerk in seinem Inneren deutlich zu sehen war. Rechts neben dem Gehäuse stand ein mit einem langen Kapuzenmantel bekleidetes Skelett – Gevatter Tod offensichtlich, auch wenn er statt der üblichen Sense einen langstieligen Hammer in den bleichen Knochenhänden hielt. Als die Zeiger nun auf die zwölf rückten und die Mitternacht anzeigten, kam Bewegung in das Gerippe: Der Knochenmann holte weit aus und schlug mit dem Klöppel ruckartig gegen die kleine Glocke, die auf der Uhr thronte. Obwohl der Schlag in dem infernalischen Lärm nicht zu hören war, zuckte die Blonde zusammen. Sie löste sich aus der Umklammerung ihres Nachbarn, drehte den Kopf zum Regal und starrte verwundert auf die seltsame Uhr. Dann ging ein Leuchten über ihr Gesicht, auf dem die wilde Knutscherei Schmierspuren im dicken Make-up hinterlassen hatte. »Cool«, hauchte sie.
Der Typ – er ähnelte den austauschbaren Gesichtsverleihern in billigen Versandhauskatalogen – beugte sich näher zu ihr. »Was hast du gesagt?«, schrie er ihr ins Ohr.
Die Blonde deutete auf das Skelett, das mit tödlicher Präzision weiterhin den Hammer schwang und jede verrinnende Sekunde ankündigte: Kling! Kling! Kling! »Ziemlich cool. Findest du nicht auch?«
»Wer’s mag.« Ein gelangweiltes Grinsen legte sich auf das solariumgebräunte Gesicht, während der Typ sich zum Barkeeper umdrehte und ihn mit einer nachlässigen Geste zu sich heranwinkte.
Der Glatzkopf hob wortlos die gepiercten Augenbrauen.
»Curly? Zwei Midnight-Special für uns«, orderte der Dressman, den Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand nach oben gereckt, als wäre der Mann hinter dem Tresen nicht nur kahl, sondern auch taub.
Während der Barmann nickte, sich umdrehte und zielsicher drei Flaschen aus dem Regal fischte, zog der Schönling sein Jackett aus. Darunter trug er nur noch ein lila Muscle-Shirt, das seine prächtig geformten Oberarme zur Besichtigung freigab.
Die Blonde ließ einen wohlgefälligen Blick über seinen Oberkörper wandern und sah ihn dann aus schmalen Augen an. »Midnight-Special?« Ihr blutroter Lippenstift war hoffnungslos verschmiert. »Was ist das denn?«
»Wirst du schon sehen.« Der Typ zwinkerte. »Oder besser gesagt: schmecken.«
»Da bin ich mal gespannt.«
Der Midnight-Special war giftgrün. Als Curly – die Stammgäste nannten den Barkeeper nur bei seinem Spitznamen – die beiden langstieligen Kelchgläser mit den Drinks vor sie auf den Tresen stellte, rümpfte die Blondine die Nase. »Iiiih«, sagte sie angewidert.
»Schmecken viel besser, als sie aussehen«, versicherte der Dressman und strich sich wie beiläufig über den Kopf, um den Sitz seiner Gelfrisur samt Sonnenbrille zu überprüfen. »Und schützen zudem vor bösen Geistern.«
»Tatsächlich?« Die Blonde kicherte belustigt und blies sich den bis auf die Augenbrauen herabhängenden Pony aus ihrer Stirn. »Worauf warten wir dann noch?« Sie ergriff ihr Glas – ihr Nagellack war genauso blutrot wie ihr Lippenstift –, stieß mit dem Typen an – »Cheers!« – und leerte den Drink mit einem Zug. »Wow!« Ihre mit schwarzem Kajal umrandeten Augen weiteten sich. »Das Zeug schmeckt ja so scharf, dass es die bösen Geister erst aufweckt!«
»Soll mir auch recht sein.« Wieder grinste der Dressman, streckte die Hand aus und strich ihr sacht über Wange und Hals, um dann wie zufällig ihre Brust zu streifen.
Curly zog eine Grimasse. Jeden Abend die gleiche Anmache, dachte er seufzend. So öde wie der Spruch, den er jetzt garantiert noch ablassen wird.
»Solange sie so umwerfend süß aussehen wie du«, sagte der Typ da auch schon wie aufs Stichwort.
»Schmeichler«, säuselte die Blondine, schlang ihren Arm um seinen Hals und zog ihn mit einem Ruck zu sich heran. Dann presste sie ihm die Lippen auf den Mund und küsste ihn so gierig, als wollte sie ihm die Seele aus dem Leib saugen.
Curly verzog angewidert das Gesicht. Er kannte den Typen, der fast jeden Abend im »Hell’s Gate« auftauchte. Er war tatsächlich Dressman, wenn auch kaum beschäftigt, und hatte deshalb genügend Zeit, seinen Body im Fitnessstudio zu formen und sich ausgiebig um sein äußeres Erscheinungsbild zu kümmern. Mit durchaus ansehnlichem Erfolg: Die Mehrzahl der Mädels schmachtete ihn an, sodass er den Club fast jeden Abend mit einer anderen Braut im Arm verließ. Kein Wunder also, dass er sich für den heißesten Aufreißer von ganz Berlin hielt.
Die Blonde, die seit gut zwei Stunden an ihm herumbaggerte, schien neu hier zu sein – jedenfalls hatte Curly sie nie zuvor im »Hell’s Gate« gesehen. Sie verbreitete eine aufdringliche schwülstig-herbe Parfümwolke und war alles andere als ein unbedarftes Küken. Im Gegenteil: Eine Braut ihres Kalibers war selbst dem Szene-gestählten Curly selten untergekommen. Sie hatte etwas, das ihm instinktiv Respekt einflößte, auch wenn er nicht recht wusste, was das war.
Das Klingeln eines Handys, wie aus weiter Ferne und kaum wahrnehmbar, beendete die intensive Mund-zu-Mund-Beatmung des Paars an der Bar abrupt. Die überraschende Störung schien dem Dressman gar nicht zu behagen. Er verzog das Gesicht und kniff ungehalten die nun ebenfalls rot verschmierten Lippen zusammen.
Die Blonde kümmerte das nicht im Geringsten. Sie zog ein Smartphone aus ihrer Handtasche, wandte sich ab und drückte es ans Ohr. Ohne ihren Namen zu nennen, meldete sie sich mit einem kühlen »Ja?«. Dann lauschte sie angestrengt, die linke Hand fest ans andere Ohr gepresst, damit der Höllenlärm im »Höllentor« ihren Gesprächspartner nicht übertönte. Plötzlich leuchteten ihre Augen hell auf. »In der morgigen Ausgabe?«, fragte sie aufgeregt und nickte dann mehrmals mit dem Kopf, als wollte sie die Antwort des Anrufers damit bekräftigen. Schließlich beendete sie das Gespräch mit einem lapidaren »Danke für die Info«, ließ das Handy wieder in der Handtasche verschwinden und lächelte ihr Gegenüber an. »Gibt’s hier in der Nähe einen Zeitungsladen? Wo ich jetzt schon die Ausgabe von morgen kaufen kann?«
»Klar.« Der Dressman grinste blasiert und deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Eingangstür. »Draußen links und dann die Straße runter bis zum Ende. Von dort kannst du den Kiosk auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptstraße schon sehen. Aber bloß keine Eile: Der Schuppen hat rund um die Uhr geöffnet.«
»Super! Führen die auch überregionale Zeitungen oder nur Lokalblätter?«
»Was glaubst du, wo du hier bist?« Der Typ verzog großkotzig das Gesicht. »Das hier ist Berlin und kein popeliges Provinzkaff. Der Laden hat natürlich alle wichtigen überregionalen und internationalen Zeitungen im Angebot. Und ab Mitternacht findest du da in der Regel bereits die Ausgaben des nächsten Tages.«
»Sehr fortschrittlich.« Der Blonden war nicht anzuhören, ob sie es ernst meinte oder sich nur lustig über ihn machte. Wieder griff sie in ihre Handtasche und holte einen Fünfzig-Euro-Schein daraus hervor. Sie legte ihn auf den Tresen und nickte dem Barmann zu. »Danke, Curly. Der Rest ist für dich.« Während Curly mit dem Zeigefinger an eine imaginäre Hutkrempe tippte und den Schein wortlos einstrich, rutschte die Blonde vom Barhocker, zuppelte das kurze Kleid zurecht, dessen Saum schon fast über ihr wohlgeformtes Hinterteil gerutscht war, und lächelte den Dressman an. »Einen schönen Abend noch. Ciao!« Damit drehte sie sich um und schickte sich an zu gehen.
Das Gesicht des Mannes entgleiste. Er war so überrascht, dass er für einen Augenblick wie versteinert dasaß, bevor er seine Hand ausstreckte und die Blonde am Arm packte. »Hey!« Er klang ungehalten, beinahe schon beleidigt. »Was soll das denn werden?«
»Wonach sieht’s denn aus?« Ihre verschmierten Mundwinkel zuckten, sodass es fast den Anschein hatte, als würden sie bluten. »Ich gehe.«
Der Hormonspiegel des Schönlings war offensichtlich schon in solche Höhen gestiegen, dass ihm der gefährliche Unterton in ihrer Stimme entging. »Was soll der Scheiß? Erst heizt du mich an wie einen Hochofen und dann willst du dich einfach verziehen? Das kannst du mit mir nicht machen, verstanden?«
Die Blonde schien die Ruhe selbst. »Natürlich kann ich das, das siehst du doch«, erwiderte sie. »Und jetzt lass endlich deine Finger von mir.« Mit eiskaltem Blick starrte sie ihn an und blinzelte kaum merklich.
Der Typ zuckte erschrocken zusammen und ließ sie ruckartig los, als habe er einen starken Stromschlag bekommen. Noch ehe er die Fassung wieder erlangte, drehte die Blonde sich um und verschwand in der Menge der dicht gedrängten Gäste. Nur Sekunden später war keine Spur mehr von ihr zu sehen.
Der Schönling schluckte. Sein Solarium-Gesicht verfinsterte sich. »Na, warte«, knurrte er. »So haben wir beide nicht gewettet.« Er sprang auf, griff sich das Jackett und wollte ihr hinterhereilen.
Doch Curly hielt ihn zurück. »Hey!«, rief er ihm nach. »Du hast deine Drinks noch nicht bezahlt!«
»Aber …« Der Typ drehte sich um und sah den Barkeeper verwundert an. »Sie hat dir doch fünfzig Euro …«
»Lässt du dich jetzt schon von deinen Chicks aushalten?«, unterbrach Curly ihn spöttisch. »Die Lady hat nur ihre Drinks bezahlt. Der Rest war für mich, wie du sicher gehört hast. Also mach schon!«
»Mann!« Der Dressman zischte frustriert durch die zusammengebissenen Zähne. Aber dann ging er doch zum Tresen zurück und holte sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche.
Als die Blonde aus dem »Höllentor« trat, hatte sie den Typen aus der Bar bereits vergessen. Es gab Wichtigeres zu bedenken. Und die große Aufgabe ging nun einmal vor.
Alles andere war völlig nebensächlich.
Die Frau hatte die Tür zum Club kaum hinter sich geschlossen, als der infernalische Krach jäh verstummte. Die plötzliche Stille verursachte ein dumpfes Rauschen in ihren Ohren. Oder war das nur der Nachhall des Höllenlärms? Aus den Augenwinkeln sah sie, dass sich der durch das Unwetter beschäftigungslos gewordene Türsteher in den geschützten Eingang zurückgezogen hatte. Er nickte ihr zum Abschied kurz zu. Eher beiläufig erwiderte sie seinen Gruß und trat dann hinaus auf die regennasse Straße.
Ein eisiger Wind fegte ihr ins Gesicht. Er kräuselte die zahllosen Pfützen, die die Schlaglöcher im löchrigen Asphalt gefüllt hatten. Das sich darauf spiegelnde Licht der Straßenlampen veränderte ständig seine Formen. Der Regen hatte zum Glück etwas nachgelassen und fiel jetzt nur in dünnen glitzernden Perlenschnüren vom Himmel. Doch selbst das reichte aus, um die Frau innerhalb kürzester Zeit bis auf die Haut zu durchnässen. Beim Verlassen ihrer Wohnung hatte nicht eine Wolke am Himmel gestanden. Der Club lag nicht allzu weit von ihrem Zuhause entfernt, und so wäre ihr nicht einmal im Traum in den Sinn gekommen, einen Mantel oder gar einen Regenschirm mitzunehmen. Was sich nun bitter rächte: Das Kleid klebte wie ein nasses Tuch an ihrer Haut und die Kälte kroch an ihren Beinen hoch.
Verdammt!
Um sich ein bisschen zu wärmen, schlang sie die Arme um den Oberkörper und wandte sich nach links – genau wie der Dressman ihr geraten hatte. Dann beschleunigte sie ihre Schritte. Das Klacken ihrer Stilettos hallte von den heruntergekommenen Häuserfassaden der engen Straße wider. Weit und breit war keine lebende Seele zu sehen. Nur die überquellenden Mülltonnen, die zum Leeren am nächsten Morgen bereits aus den Hinterhöfen herausgestellt worden waren, säumten ihren Weg. Die Straßenlampen schwankten im Wind, ihre Lichtkegel geisterten unruhig über den nassen Asphalt. Die Blonde hatte vielleicht dreißig Meter zurückgelegt, als sie am entfernten Ende der Straße ein rötliches Schimmern bemerkte. Ein schwaches Licht in dunkler Nacht – es war ganz offensichtlich das Neonschild des Zeitungsladens.
Noch im gleichen Moment hörte sie Schritte hinter sich, die rasch näher kamen. Sie wusste sofort, um wen es sich handelte. Dieser aufdringliche Idiot, dachte sie und seufzte still in sich hinein. Aber gut, er wollte es nicht anders. Wer nicht hören will, muss fühlen! Langsam drehte sie sich um und wartete, bis der Dressman heran war. »Was willst du?«, fragte sie kühl.
Der Mann hatte ihr Warten offensichtlich missverstanden, denn ein zufriedenes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Dasselbe wie du«, antwortete er mit einem Blick, den er wahrscheinlich für verführerisch hielt. Er trat einen Schritt näher, sah ihr tief in die Augen und legte die Hand auf ihre Schulter.
»Finger weg!«, zischte sie wie eine tollwütige Katze, die eine letzte Warnung faucht. »Sofort!«
»Ach komm. Jetzt zier dich doch nicht länger.« Unverwandt lächelnd, strich er ihr mit dem Handrücken über Wange und Hals. »Gehen wir zu mir oder zu dir?«
»Weder das eine noch das andere.« Die Blonde presste ihre Lippen zusammen, bis sie so schmal waren wie blutige Striche. »Aber ich weiß, wohin du jetzt gehst. Nämlich zum Teufel!« Damit hob sie die Hand und richtete den Zeigefinger auf ihn.
Augenblicklich wurde der Mann nach hinten geschleudert – wie eine Strohpuppe, die vom Sturm durch die Luft gewirbelt wird. Mit unbändiger Wucht krachte er gegen die Hauswand. Der Aufprall war so heftig, dass der Lärm seinen Schmerzensschrei übertönte. Mühsam und unter lautem Ächzen zog er sich an der Wand hoch. Als er sich umdrehte, klaffte eine Platzwunde auf seiner Stirn. Wie die Fäden eines roten Spinnennetzes liefen blutige Rinnsale über sein Gesicht. »Na, warte!« Er starrte die Blonde hasserfüllt an. »Das wirst du mir büßen!« Blitzschnell riss er sich das Jackett vom Leib, stieß sich von der Wand ab und stürzte auf sie zu.
Er hatte kaum zwei Schritte zurückgelegt, als ihre Arme erneut vorschnellten. Diesmal deutete sie mit beiden Zeigefingern auf den Angreifer, der daraufhin, wie von einem Katapult losgeschleudert, vom Boden abhob und im hohen Bogen durch die Luft wirbelte. Als er nach zwei raschen Überschlägen mit dem Rücken gegen den Peitschenmast der Straßenlampe krachte, brach seine Wirbelsäule mit einem weithin hörbaren Knacken. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug und mit verrenkten Gliedern liegen blieb, war er bereits tot.
Die Blonde ging auf die Leiche zu und beugte sich über sie. »Warum konntest du auch nicht hören?« Ihr verschmiertes Make-up verlieh ihr das Aussehen eines wütenden Clowns. »Ich habe doch gesagt, dass du deine Finger von mir lassen sollst.« Dann richtete sie sich wieder auf und deutete mit einer sachten Handbewegung auf die Mülltonnen in der nahen Hofeinfahrt. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, rollte der leblose Körper über den Bürgersteig und donnerte dann scheppernd gegen die Abfallbehälter. »Sorry, aber du hast es nicht anders gewollt«, sagte sie und seufzte. Mit einem Ruck zog sie sich ihre Perücke vom Kopf und ließ sie in der Handtasche verschwinden. Dann holte sie Abschminktücher daraus hervor und säuberte sich sorgfältig das Gesicht. Nachdem sie die benutzten Tücher in einem orangefarbenen Mülleimer entsorgt hatte – der darauf abgedruckte Werbespruch »Sauber währt am längsten!« entlockte ihr ein dünnes Lächeln –, wandte sie sich ab und ging weiter, als wäre nicht das Geringste geschehen. Als sich das rote Neonschild am Ende der Straße immer deutlicher aus dem Nachtdunkel abzeichnete, beschleunigte sie ihre Schritte und steuerte zielstrebig auf den Zeitungsladen zu. Nicht mehr lange und sie würde endlich Rache an all ihren Feinden nehmen und den verdammten Dienern des Lichts den einen verheerenden Schlag zufügen, von dem sie sich nicht mehr erholen würden – weder in Ravenstein noch in den anderen sechs Internaten.
Und Laura Leander – so viel stand fest – würde ihn mit Sicherheit nicht überleben!
Das Unheil kündigte sich schon früh an, doch Laura Leander erkannte die bösen Vorzeichen genauso wenig wie die anderen Wächter des Lichts. Das hoch aufgeschossene Mädchen mit den bis über die Schultern hängenden blonden Haaren gähnte so herzhaft, dass ihre Kiefergelenke knackten. Obwohl sie bis neun Uhr geschlafen hatte, wie meistens an unterrichtsfreien Tagen, war Laura noch hundemüde. Wie ein verträumter Dackel trottete sie die Magistratsallee entlang, eine vierspurige Ausfallstraße, durch die sich der dichte Samstagmorgenverkehr wälzte. Das historische Zentrum von Hohenstadt beherbergte nicht nur zahlreiche Einzelhandelsgeschäfte, sondern auch ein großes Einkaufscenter, und so fuhren die Bewohner der gesamten Umgebung am Wochenende zum Einkaufen in die Stadt. Was für ebenso volle Kassen wie Straßen sorgte, insbesondere am Samstagvormittag natürlich.
Laura achtete gar nicht auf den Strom der die Luft verpestenden Blechkutschen, der an ihr vorbeiflutete. Genervt wischte sie sich hin und wieder die Haare aus dem hübschen Gesicht. Es war nämlich nicht nur ungewöhnlich laut, sondern auch ungewöhnlich warm, und so war sie, kaum dass sie den Familienbungalow am Rande des beschaulichen Städtchens verlassen und sich auf den Weg zum Bäcker gemacht hatte, schon gehörig ins Schwitzen geraten. Die Strecke bis zum Bäcker war längst Routine für sie und sie hätte sie mit geschlossenen Augen gehen können. Jedes Mal, wenn Familie Leander ein gemeinsames Wochenende zu Hause verbrachte, musste Laura nämlich die Frühstücksbrötchen holen. Weil sie die Älteste war, wie das schwerlich zu widerlegende Argument ihrer Mutter lautete. Ihr Bruder Lukas war nun mal ein Jahr jünger als sie und würde es auch für alle Zeiten bleiben.
Wie ungerecht war das denn?!
Der schrille Klang einer Autohupe riss Laura jäh aus den Gedanken. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie völlig unbeabsichtigt auf die Straße geraten war. Hastig sprang sie zurück auf den Bürgersteig und beantwortete den wütenden Blick des Autofahrers, der ihr aus einem vorbeibrausenden Mercedes heraus einen Vogel zeigte, mit einer Grimasse.
»Ja, ja, schon gut«, knurrte sie. »Und du halte dich in Zukunft gefälligst an das Tempolimit!«
Aber da war die Limousine, die statt fünfzig Stundenkilometer mindestens siebzig gefahren war, bereits im Strom der allesamt viel zu schnellen Fahrzeuge verschwunden. Laura schluckte ihren Ärger hinunter und legte einen Gang zu. Die Bäckerei befand sich auf der anderen Seite der an dieser Stelle steil ansteigenden Straße und war nur noch knapp hundert Meter entfernt. Sie musste nur noch rasch den Höllenbach und anschließend den Fußgängerüberweg überqueren.
Als Laura über die breite Brücke lief, rauschte das darunter hindurchströmende Wasser so laut, dass es selbst den Verkehrslärm übertönte. Das Flüsschen, das sich für gewöhnlich sanft murmelnd durch die Stadt schlängelte, führte gerade Hochwasser und hatte sich deshalb zu einem reißenden Fluss ausgewachsen, dessen schmutzige Wogen jede Menge Abfall, loses Blattwerk und hin und wieder sogar dicke Äste mit sich fortrissen.
Die Fußgänger-Ampel zeigte Grün und so stand Laura schon wenige Augenblicke später vor der Bäckerei. Der verführerische Duft von frischen Brötchen, knusprigen Broten und anderem Backwerk waberte aus der offenen Tür. Eine schlanke Mädchengestalt blickte Laura durch das große Ladenfenster entgegen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es sich um ihr eigenes Spiegelbild handelte. Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Schläfrigkeit und musterte sich dann kurz mit kritischem Blick. Eigentlich konnte sie mit ihrem Aussehen ganz zufrieden sein. Sie war ziemlich groß für eine Siebzehnjährige und das ebenmäßige Gesicht mit den blauen Augen, der schmalen Nase und den Grübchen am Kinn konnte sich ebenso sehen lassen wie ihre Figur, die an den entscheidenden Stellen ausgesprochen weibliche Formen angenommen hatte. Ihr blondes Haar glänzte seidig im Schein der Morgensonne.
Als Laura sich umdrehte, bemerkte sie die große Katze, die auf dem Fenstersims in der Sonne saß und sich das pechschwarze Fell putzte. Während sie das Tier noch nachdenklich musterte, kam eine junge Frau mit knallroter Fransenfrisur am Laden an. Sie schob einen Kinderwagen mit einem selig schlummernden Baby vor sich her und stellte ihn dicht neben dem Eingang ab. Dann arretierte sie mit geübten Handgriffen die Bremse und schickte sich an, in den Laden zu gehen.
Was Laura doch verwunderte. »Nehmen Sie das Baby nicht mit?«, fragte sie erstaunt.
»Nein.« Die Rothaarige schüttelte den Kopf. »Es wacht dann nämlich sofort auf und schläft ewig nicht mehr ein. Außerdem habe ich es doch ständig im Blick.«
»Stimmt«, musste Laura ihr beipflichten und folgte der Mutter in die Bäckerei. Die ließ ihr allerdings den Vortritt. Weil sie nämlich Kuchen für den Nachmittagskaffee kaufen wollte und sich noch nicht schlüssig war, welche Sorten sie nehmen sollte.
Laura war nach ihrem Einkauf bereits wieder auf der anderen Straßenseite und fast am Höllenbach angekommen, als sie plötzlich einen Aufschrei hörte. Schon der Klang verriet ihr, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Sie wirbelte auf den Absätzen herum und starrte zum gegenüberliegenden Bürgersteig. Der Anblick ließ ihr den Atem stocken: Aus unerfindlichen Gründen hatte sich der Kinderwagen in Bewegung gesetzt und rollte nun über den abschüssigen Gehweg geradewegs auf den reißenden Höllenbach zu. Die Mutter stürzte zwar mit schreckgeweiteten Augen hinterher, aber Laura sah sofort, dass sie das immer schneller werdende Gefährt niemals einholen würde. Zu allem Unglück war weit und breit keine lebende Seele zu erblicken, die den Wagen hätte stoppen können.
Auch Laura selbst hatte keine Chance, auf die andere Seite zu gelangen. Die Autos rauschten Stoßstange an Stoßstange auf der breiten Ausfallstraße an ihr vorbei. Offensichtlich hatte noch keiner der Fahrer mitbekommen, welches Drama sich unmittelbar neben ihnen abspielte, und so dachte keiner auch nur im Traum daran, anzuhalten und einzugreifen oder Laura das Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen.
Der Kinderwagen war jetzt nur noch knapp zehn Meter vom Steilufer des Höllenbaches entfernt. Das darin liegende Baby gab noch immer keinen Laut von sich. Es ahnte offensichtlich nicht das Geringste von der entsetzlichen Gefahr, in der es schwebte: Wenn der Wagen in die reißenden Fluten stürzte, bedeutete das seinen sicheren Tod! Laura hatte nur noch eine einzige Chance, sein Leben zu retten: nämlich mithilfe ihrer telekinetischen Kräfte, auch wenn sie die schon ewig lange nicht mehr benutzt hatte. Sie hatte keine Wahl. Es musste einfach klappen.
Aber am besten auf Anhieb!
Laura kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und verbannte jeden störenden Gedanken aus ihrem Bewusstsein, bis der Strom der Autos nur noch wie ein undeutlicher Film an ihr vorbeiflutete, der Verkehrslärm verebbte und sie den beißenden Auspuffgestank nicht mehr in der Nase spürte. Dann sammelte sie alle Kräfte und konzentrierte den Blick auf den abwärts rasenden Kinderwagen, bis nur noch ein einziges Bild kristallklar vor ihrem inneren Auge stand: die Feststellbremse an den Hinterrädern. Während ein Gefühl prickelnder Wärme Lauras Körper durchströmte und das Bild der Bremse von gleißender Helligkeit umgeben war, kam der gemurmelte Befehl fast ohne ihr Zutun über ihre Lippen: »Leblose Materie, beuge dich der Kraft, die stärker ist als du, und sei mir zu Willen!«
Ihre fantastischen Kräfte hatten nichts von ihrer Wirkung eingebüßt. Lauras Worte waren kaum verklungen, da klappte der Hebel der Feststellbremse nach unten, die Bremsklötze wurden gegen die Reifen gepresst und bremsten die so heftig ab, dass der Wagen mit einem einzigen Ruck zum Stehen kam. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde er vornüber kippen. Doch dann geriet er zum Glück wieder ins Gleichgewicht und wippte nur noch auf und ab. Gleichzeitig aber tönte lautes Geschrei aus dem Wagen: Das Baby war durch den ruckartigen Halt wohl ziemlich unsanft aus dem Schlaf gerissen worden und tat sein Missbehagen darüber nun lautstark kund.
Laura atmete erleichtert auf. Ihr war, als würde eine zentnerschwere Last von ihren Schultern fallen. Sie holte tief Luft und wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor sie eine unerwartete Lücke im Verkehr nutzte, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Dort hatte die Mutter das Baby bereits aus dem Wagen genommen und drückte es zitternd an sich.
»Alles okay?«, fragte Laura.
»Ja, dem Himmel sei Dank!«, antwortete die Mutter atemlos. »Auch wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, warum die Bremse plötzlich gegriffen hat.«
»Tja«, erwiderte Laura gedehnt. »Manchmal geschehen Dinge, die wir uns mit unserem normalen Menschenverstand einfach nicht erklären können.«
»Sieht ganz so aus.« Die Rothaarige seufzte schwer und drückte ihr schreiendes Kind noch fester an sich. Dann wiegte sie es hin und her, um es zu beruhigen. »Aber im Grunde genommen ist mir das auch völlig egal. Hauptsache, meinem Baby ist nichts passiert!«
»Stimmt«, pflichtete Laura ihr lächelnd bei. »Wie ist das eigentlich passiert?«, erkundigte sie sich dann. »Warum hat sich der Wagen denn plötzlich in Bewegung gesetzt?«
»Ach, das war nur ein blöder Zufall.« Die Erinnerung ließ die junge Frau unwillkürlich den Kopf schütteln. »Du hast die Katze doch auch gesehen, oder?«
»Ja, klar. Wieso?«
»Sie ist vom Fenstersims gesprungen und unglücklicherweise auf dem Arretierungshebel der Bremse aufgekommen. Der hat sich gelöst und der Wagen ist losgerollt.« Sie verzog gequält das Gesicht. »Wie ich schon gesagt habe: Nichts weiter als ein dummer Zufall.«
»Ah ja«, antwortete Laura gedehnt. Sie wusste nämlich ganz genau, dass es keine Zufälle gab. Und deshalb hatte die inzwischen spurlos verschwundene Katze auch bestimmt nicht zufällig die Bremse des Kinderwagens gelöst. Aber wie sollte sie das der erleichterten Mutter erklären?
Keine Chance – und so war es wohl besser, erst gar keine Erklärungen zu versuchen. Zumal es jemand anderen gab, den sie dringend per SMS über ihr Erlebnis informieren musste: Philipp Boddin, ihren geliebten Coolio. Laura vermisste ihn schon so sehr, als hätte sie ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Dabei war es höchstens vierzehn Stunden her, dass sie im Internat einen Wochenendabschiedskuss auf seine süßen Lippen gedrückt hatte.
Wie eine riesige Kuppel aus hellblauer Seide spannte sich ein wolkenloser Himmel über die Welt von Aventerra, den ältesten der alten Planeten. Die Sonne stand am Firmament und überzog Hellunyat mit dem goldenen Licht des Morgens. Dort, wo die Hochebene von Calderan über steile, schroffe Felsen in die finstere Dusterklamm abfiel, erhob sich die uralte Gralsburg. Ihre zinnenbewehrten Mauern, die trutzigen Türme und der gewaltige Bergfried zeichneten sich wie ein steingewordenes Versprechen vor dem Horizont ab.
Wie die Welt der Mythen, so existierte auch Hellunyat schon seit Anbeginn der Zeiten. In ganz Aventerra konnte sich niemand daran erinnern, wann die Festung erbaut worden war, aber alle Bewohner waren sich einig, dass die Gralsburg auch das Ende der Welten überdauern würde.
Auf dem Menschenstern dagegen, dessen Schicksal untrennbar mit dem seines Schwestergestirns verbunden war, wusste kaum jemand von diesem geheimnisvollen Planeten, aus dem einst Gut und Böse ihren Weg auf die Erde gefunden hatten. Noch viel weniger hatten die Welt der Mythen betreten und die alte Gralsburg mit eigenen Augen gesehen. Dabei war sie seit jeher die Heimstatt des Hüters des Lichts und seiner Gefolgschaft.
Der Hüter des Lichts stand an der Spitze der guten Mächte, die mit den Legionen des Schwarzen Fürsten einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft über Aventerra ausfochten. Seit ewigen Zeiten verfolgten der Schwarze Fürst und seine Dunklen Krieger nämlich nur ein Ziel: den Hüter des Lichts zu töten und den Mächten der Finsternis zum endgültigen Sieg zu verhelfen. Aber damit würde Aventerra untergehen – und der Menschenstern auch, denn das Schicksal der beiden Welten war untrennbar miteinander verknüpft.
Vor fast drei Sommern war es dem Schwarzen Fürsten Borboron gelungen, Elysion, den damaligen Hüter des Lichts, mit seinem schwarzen Schwert Pestilenz zu töten – mit der einzigen Waffe, die dem Lichthüter Schaden zufügen konnte. Doch Borboron hatte sich nicht lange darüber freuen können. Schon wenig später war er Hellenglanz, dem Schwert des Lichts, zum Opfer gefallen – ein verheerender Rückschlag für die Mächte der Finsternis, während die Kräfte des Guten, trotz des Verlusts ihres Anführers, an Macht und Einfluss eher gewonnen hatten.
Seitdem war die Welt der Mythen aus dem Gleichgewicht geraten und große Unsicherheit bestimmte das Leben ihrer Bewohner. Natürlich hatten die gegensätzlichen Parteien neue Anführer bekommen: Morwena, die Heilerin von Hellunyat, und ihr Gemahl, der Weiße Ritter Paravain, wurden dazu bestimmt, die Krieger des Lichts vorerst anzuführen, während die allseits gefürchtete Schwarzmagierin Syrin ihren Schützling Envik – einen kaum bekannten jungen Mann von höchstens siebzehn Sommern – durch eine raffinierte Intrige auf den Thron der Dunklen Festung gebracht hatte und alles unternahm, um ihn dort zu halten. Dabei wussten beide Seiten, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein würde, und warteten ungeduldig darauf, dass die Geister, die den Lauf der Welten bestimmten, ihnen endlich offenbarten, wen sie zu den neuen Anführern des Lichts und der Dunkelheit auserkoren hatten.
Und so geschah es: Wenige Tage vor der letzten Wintersonnenwende hatte Morwena in der Gralsburg einen gesunden Knaben zur Welt gebracht, dem ihr Gemahl Paravain und sie den Namen Elisian gegeben hatten – im Gedenken an ihren verehrten und ruchlos gemeuchelten Anführer Elysion. Elisian wurde am dreizehnten Tag des dreizehnten Mondes nach der aventerrischen Zeitrechnung geboren, und das war das sichere Zeichen, dass die Geister ihn zum neuen Hüter des Lichts bestimmt hatten.
Seit diesem Tag herrschte Frieden auf Aventerra. Zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten ruhten die Waffen und selbst harmlose Händel und kleinlicher Streit wurden eingestellt – wie es dem uralten Gebot der Weltgeister entsprach. Die hatten nämlich am Anfang der Zeiten verfügt, dass von der Geburt eines neuen Anführers bis zu seiner feierlichen Amtseinführung am darauffolgenden Mittsommertag Frieden herrschen sollte zwischen den erbitterten Gegner. Nicht nur, um die große Zeremonie der Lichtweihe gebührend vorbereiten zu können, sondern auch, um allen Bewohnern von Aventerra Gelegenheit zur inneren Einkehr zu geben. Damit sie in aller Ruhe über sich selbst und die eigene Aufgabe im ewigen Kampf zwischen Gut und Böse nachdenken konnten. Und so war es in der fast endlosen Geschichte von Aventerra immer mal wieder vorgekommen, dass der eine oder andere nach Ablauf dieser Friedenspflicht die Seite gewechselt hatte, aus dem Dunkel ins Licht getreten war, aber gelegentlich auch umgekehrt.
Dass alle Bewohner des alten Planeten das Friedensgebot einhielten, hatte seinen Grund: Die Weltgeister wussten natürlich, dass nichts verlockender war, als gegen Gebote zu verstoßen, und hatten für diesen Fall mit schlimmsten Strafen gedroht. Doch selbst das hatte nicht immer abschrecken können: In der Morgenröte der Zeiten hatte sich nämlich ein mächtiger Drache dem Befehl der Geister widersetzt, weil er sich selbst zum Herrscher über die Welten aufschwingen wollte. Er plante, den neugeborenen Hüter des Lichts zu töten, und wurde deshalb mithilfe der Wolkentänzer in einen feurigen Schlund gestürzt und in ein Schattenreich zwischen den Welten verbannt. Sein Schicksal aber diente fortan allen anderen als Warnung, und so hatte seitdem niemand mehr das uralte Friedensgebot verletzt.
All das ging Paravain durch den Sinn, während er am Fenster des Thronsaals von Hellunyat stand und auf die Ebene von Calderan hinunterblickte. Das zarte Wispergras glänzte silbrig im Licht. Der Raunewald im Westen und der kleine Auwald vor dem Modermoor waren mit frischem Blattgrün geschmückt. Durch die geöffneten Fensterflügel drang das fröhliche Gezwitscher der Vögel. Paravain – ein stattlicher Mann in der Blüte seiner Jahre – lächelte. Die Natur schien sich mit ihm zu freuen. Überall auf den Feldern und in den Wäldern wuchs neues Leben heran. Obwohl die Welt gerade im Zeichen von Beltane stand, bewegte sich das Jahresrad immer schneller auf das Mittsommernachtsfest zu, auf den Tag, an dem sein Sohn Elisian die Lichtweihe im Tal der Zeiten empfangen würde.
Als Paravain das Öffnen des Portals hörte, drehte er sich um: Morwena, seine Gemahlin, betrat den Thronsaal. Die hübsche Frau mit dem wallenden kastanienbraunen Haar war, genau wie er, in ein schlichtes weißes Gewand gehüllt. Morwena trug Elisian auf dem Arm und kam rasch auf ihn zu.
Elisian lächelte seinen Vater an und streckte ihm die Fingerchen entgegen. Die Morgensonne übergoss den zarten Haarflaum auf seinem Kopf mit goldigem Licht.
Paravain nahm Elisians Hand und küsste seine Finger, bevor er sich zu seiner Gemahlin beugte und auch ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen drückte. »Was für ein hübscher Junge unser Elisian doch geworden ist. Und so kräftig, trotz seiner erst fünf Monde!«
»Er kommt eben ganz nach dir.« Morwena lächelte. »Ich bin sicher, Elisian wird einmal ein ebenso mutiger Streiter für das Licht werden wie sein Vater.«
»Und bestimmt wird er genauso klug und weise wie seine Mutter«, gab Paravain zurück und küsste seine Gemahlin erneut. »Auch wenn er an ihre Schönheit niemals heranreichen wird.«
»Schmeichler!« Sie verpasste ihm einen spielerischen Klaps und sah ihren Sohn wieder an. »Und wie er strahlt! Als könnte er den großen Tag nicht mehr erwarten, an dem die Weltgeister ihm den Segen für sein künftiges Amt erteilen.«
»Warum sollte es Elisian anders ergehen als uns und unseren Verbündeten?«, erwiderte Paravain. »Selena und die Weißen Ritter sind gestern Abend erst von ihrem langen Ritt durch die aventerrischen Lande zurückgekehrt und wussten nur Gutes zu berichten. Alle, die auf der Seite des Lichts stehen, freuen sich auf den großen Tag und haben fest zugesagt, an Mittsommer ihre Vertreter ins Tal der Zeiten zu schicken: deine Heimat, die Nebellande im hohen Norden, ebenso wie das Güldenland, wo unsere Alienor geboren wurde. Das Hhelmland und das Hochland von Karuun. Die Flussleute werden ebenso erscheinen wie die Traumspinner aus dem Traumwald. Auch die Wolkentänzer von den Inseln im großen Sternenmeer und die über ganz Aventerra verstreuten Nebelflößer wollen kommen. Und sogar einige Lichtalben und Platzwechsler! Natürlich wird auch Smeralda, die neue Einhornkönigin, den Karfunkelwald verlassen und uns im Tal der Zeiten Gesellschaft leisten. Schließlich kann nur ihr magisches Horn den Regenbogenstein zum Strahlen bringen.«
Ein Anflug von Sorge verschattete Morwenas hübsches Gesicht. »Dann will ich nur hoffen, dass auch die sieben Hüter der sieben Segmente sich rechtzeitig dort einfinden.«
»Aber natürlich, Geliebte. Unsere Weißen Ritter haben sie noch einmal ausdrücklich an ihre wichtige Aufgabe erinnert. Ich habe keine Zweifel, dass sie alle zur rechten Zeit dort sein werden.«
»Und was ist mit unseren Verbündeten auf dem Menschenstern? Die konnten Selena und ihre Ritter ja nicht besuchen?«
»Das stimmt. Die magische Pforte öffnet sich ja erst wieder bei Sonnenuntergang am Mittsommertag.« Paravain strich Morwena zärtlich über die Wange. »Obwohl die Menschen ihr Schicksal ganz alleine bestimmen und die Weltgeister uns bei Strafe verboten haben, darauf Einfluss zu nehmen, bin ich mir ganz sicher, dass die Wächter des Lichts den ihnen anvertrauten Teil des Regenbogensteins ins Tal der Zeiten bringen. Sie wissen doch um sein großes Geheimnis: Nur wenn die sieben verschiedenen Farbsegmente ein Ganzes bilden, kann der Bund des Lichts erneuert werden und der Regenbogen in neuem Glanz erstrahlen! Geschieht das nicht, hätte das verheerende Folgen – nicht nur für uns, sondern auch für die Bewohner des Menschensterns.«
Philipp, dachte Laura Leander versonnen. Warum antwortete er ihr nicht? Was machte er wohl gerade? Sie schloss die Augen und fühlte die sanfte Berührung seiner Hand und seiner Lippen. Ihr Gesicht prickelte und ihre Wangen wurden warm. Der Duft seiner Haut stieg ihr in die Nase und seine Haare kitzelten sie an der Stirn. Dann hörte sie seine Stimme: »Laura«, flüsterte er ihr ins Ohr und der sanfte Hauch seines Atems ließ sie erschaudern. »Ich …«
»… fasse es einfach nicht, Laura!« Lukas zerstörte jäh den süßen Zauber ihres Tagtraums. »Schläfst du noch? Oder wo bist du sonst mit deinen Gedanken?«
Laura zuckte zusammen. »Wa-wa-was ist denn?«, stammelte sie und sah sich verwirrt um. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie begriff, dass sie sich nicht in Philipps Zimmer in ihrem gemeinsamen Internat auf Burg Ravenstein befand, sondern in der gemütlichen Wohnküche des Familienbungalows in Hohenstadt. Und natürlich war es nicht ihr Freund, der ihr Gesellschaft leistete, sondern es waren ihr Bruder Lukas, ihre Mutter Anna und ihr Vater Marius. Sie saßen mit ihr am gedeckten Frühstückstisch und blickten sie verwundert an. Besser gesagt: Lukas und Anna – sie hatten die gleichen blonden Haare und blauen Augen wie Laura und ebenfalls das charakteristische Grübchen am Kinn – blickten sie verwundert an, während von ihrem Vater nur der schwarze Wuschelkopf zu sehen war, der über den Rand seiner geliebten Tageszeitung lugte. Wie üblich hatte Marius sich hinter den Neuigkeiten des Tages verkrochen und deshalb nichts von dem mitbekommen, was sich um ihn herum abgespielt hatte. »Was hast du gefragt, Lukas?«
»Na, also – du lebst ja doch noch. Und ich dachte schon, du wärst bereits in Leichenstarre verfallen.« Mit unverhohlenem Spott sah der Bruder sie durch seine superschicke Designer-Brille an, die er sich erst vor wenigen Tagen zugelegt hatte.
Sie stand ihm weit besser als die dicke Professorenbrille, die er vorher getragen hatte, fand Laura. Und sie ließ ihn reifer aussehen als einen ganz normalen Sechzehnjährigen.
Aber was war an Lukas schon normal?
»Gefragt habe ich gar nichts«, unterbrach er ihre Gedanken. »Ich habe mich nur laut gewundert, dass du mitten im Frühling einen Winterschlaf hältst. Mama hatte eine Frage an dich und nicht ich.«
»Ah ja?«, sagte Laura gedehnt und wandte sich an ihre Mutter, die ihr gegenüber saß und gerade ein Körnerbrötchen mit Quark bestrich. »Was wolltest du denn wissen, Mama?«
»War nicht weiter wichtig.« Anna Leander lächelte ihre Tochter an und strich sich die Fransenhaare aus dem Gesicht. »Das Übliche halt, was Mütter so interessiert, wenn sie ihre Töchter nur gelegentlich zu Gesicht bekommen: Wie es dir geht, zum Beispiel. Wie es in der Schule so läuft, oder ob sich in den vergangenen vier Wochen sonst etwas ereignet hat, von dem ich noch nichts weiß.«
»Mama! Du fragst echt immer dasselbe!« Während Laura rasch einen Schluck Kakao trank und ein Sesambrötchen aus dem Korb fischte, dachte sie angestrengt darüber nach, was sie ihrer Mutter antworten sollte. Eigentlich war Anna ja über das Wichtigste informiert. Allerdings hatte sie seit einem halben Jahr eine Wohnung in Berlin und verbrachte dort auch die meiste Zeit, weil sie einen tollen Job als Redakteurin bei »SCIENCE TV«, einem kleinen Privat-Sender, ergattert hatte. Sie versuchte zwar, auch in der fernen Hauptstadt über alles auf dem Laufenden zu sein, was sich in Hohenstadt oder in Ravenstein ereignete. Aber trotz Telefon und Internet klappte das nicht immer so hundertprozentig. Deshalb eröffnete Anna jedes gemeinsame Wochenende mit der gleichen Frage: ob es etwas Neues gäbe. Auch dieses Wochenende – der Maifeiertag fiel in diesem Jahr auf einen Montag, sodass die Leanders sogar einen Tag länger miteinander verbringen konnten –, bildete da natürlich keine Ausnahme. Dabei hatte Laura erst vor zwei Tagen mit ihr telefoniert.
Sogar länger als eine halbe Stunde!
»Was soll es in Ravenstein schon groß Neues geben?«, antwortete Laura, während sie ihr Brötchen mit Tomatenscheiben belegte. »Höchstens …«
Anna musterte sie gespannt. »Ja?«
»Miss Mary hat am Freitag beim Mittagessen angekündigt, dass die Internatsleitung demnächst entscheiden wird, wer Ravenstein beim FSL in Glaremore Castle vertritt.«
»FSL?« Die Mutter zog verwundert die Brauen hoch. »Sollte ich wissen, was das bedeutet?«
»Ja klar, Mama!«, rief Lauras Bruder sofort. Was wieder einmal typisch für ihn war!
Lukas ist und bleibt der alte Wichtigtuer, dachte Laura verärgert. Er konnte es einfach nicht lassen, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit seinen Senf dazuzugeben. Oder noch schlimmer: den Besserwisser heraushängen zu lassen. Dabei wusste er ganz genau, dass sie das verdammt noch mal nicht leiden konnte. Wie oft hatte sie ihm in den letzten Jahren deswegen schon Bescheid gestoßen! Und schließlich war sie jetzt wirklich alt genug, um ihre Sachen selbst zu vertreten. Aber wahrscheinlich würde ihr Bruder sich nie ändern.
Und vielleicht wäre er sonst auch nicht Lukas.
Nur ein einziges Mal hatte der Bruder sich für längere Zeit ziemlich kleinlaut gegeben. Vor knapp drei Jahren nämlich, als er sich von den Dunklen nach Aventerra hatte locken lassen und dort zu ihrem unfreiwilligen Helfer geworden war. Obwohl er Laura eigentlich nur das Leben retten wollte, hätte er um ein Haar das Labyrinth des Lichts entweiht, was das Ende der Zeiten bedeutet hätte. Kein Wunder also, dass ihn nach seiner Rückkehr das schlechte Gewissen geplagt und ihm seine Großspurigkeit ausgetrieben hatte.
Doch leider nur für allzu kurze Zeit.
Zum Glück hatte er wenigstens die dumme Marotte abgelegt, ständig neue und möglichst ausgefallen zusammengesetzte Wörter zu bilden, denn das war nur selten witzig, meistens albern und gelegentlich sogar nervig gewesen.
Allerdings war man vor Rückfällen nie gefeit!
Laura verkniff sich also die spitze Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, und überließ ihrem vorlauten Bruder das Wort. Er war schließlich ein Jahr jünger als sie und damit natürlich um Längen unreifer!
»FSL ist die Abkürzung für das ›FESTIVAL OF SUMMER AND LIGHT‹«, erklärte Lukas, »das alle sieben Jahre in einem der sieben Wächter-Internate stattfindet. In diesem Jahr ist Glaremore Castle an der Reihe, unser Partnerinternat in Schottland.«
»Natürlich!« Anna lächelte verlegen. »Jetzt erinnere ich mich wieder: Jedes der sechs anderen Internate schickt eine Delegation aus dreizehn Schülern und vier Lehrern dorthin. War es nicht so?«
»Stimmt.« Lukas grinste. »Wenn auch nicht hundertprozentig.«
»Nein?«, fragte seine Mutter. »Und warum nicht?«
»Weil das nicht nur so war, sondern auch immer noch der Fall ist – deshalb!«
»Das glaube jetzt nicht!« Laura stöhnte genervt auf. »Wie kann man nur so krümelkackerisch sein?«
»Laura!«, mahnte Anna und kam auch Lukas mit einer Antwort zuvor. »Schon gut«, sagte sie rasch, um den drohenden Disput zwischen den Geschwistern im Keim zu ersticken. »Ich könnte mir vorstellen, dass viele Schüler mit nach Schottland wollen. Da wird es bestimmt einen harten Kampf um die wenigen Plätze geben.«
»Nein, wird es nicht.«
»Und wieso nicht?« Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Die Landschaft um Glaremore Castle ist hinreißend, und bis nach Edinburgh, der aufregendsten Stadt von ganz Schottland, ist es nur ein Katzensprung. Alle Ravensteiner müssten sich doch förmlich darum reißen, da hinfahren zu dürfen.«
»Das würden wir mit Sicherheit auch tun«, entgegnete Laura. »Aber es würde leider nichts nützen. Weil Miss Mary als Internatsdirektorin die Auswahl ganz alleine trifft. Und das finde ich richtig doof.«
Anna biss in ihr Brötchen und sah Laura erstaunt an. »Und wieso?«, fragte sie mit vollem Mund.
»Weil völlig unklar ist, nach welchen Kriterien sie entscheidet. Und keiner von uns weiß, wie er seine Chancen verbessern kann. Dabei würde ich so gerne nach Schottland mitfahren!«
»Da bist du nicht die Einzige«, warf Lukas ein. »Deshalb bin ich auch heilfroh, dass unsere Direktorin die Entscheidung trifft. Sonst würde es in Ravenstein ein wüstes Hauen und Stechen geben.«
»Dann ist Mary Morgain um ihren Job ja nicht zu beneiden.« Anna schürzte die Lippen. »Für wen sie sich auch entscheidet – einige Schüler werden ganz schön sauer auf sie sein.«
»Ganz bestimmt sogar«, pflichtete Lukas ihr bei. »Und ganz besonders Kaja.«
Anna runzelte die Stirn. »Meinst du die Kaja? Lauras beste Freundin?«
»Wen sonst? Ihr Freund Yannik Anders …«
»Ist das nicht der Internatsschüler«, unterbrach die Mutter schon wieder, »der am selben Tag Geburtstag hat wie Laura?«
»Du hast es erfasst!« Lukas rollte mit den Augen, denn schließlich hatten sie das ihrer Mutter schon mehrfach erzählt. »Yannik wurde ebenfalls am fünften Dezember geboren. Er ist allerdings ein Jahr jünger und war im letzten Jahr deshalb auch in meiner Klasse.«
»Und was hat Kaja mit diesem Yannik zu tun?«
»Nicht so laut, Tim!« Rudi Lose sah den groß gewachsenen Jungen, der mit ihm hinter dem Viehanhänger kauerte, mahnend an. »Wenn mein Vater uns hört, können wir die ganze Geschichte glatt vergessen.«
»Das musst gerade du sagen, Specki!« Tim Neumann warf seinem Kumpel einen unwirschen Blick zu. Rudi ächzte und stöhnte nämlich wie ein Walross. Kein Wunder: Er war ungewöhnlich klein für einen Sechzehnjährigen, dafür aber dick und rund wie eine Tonne und hatte einen Nacken wie ein Zuchtstier. Allerdings wurde der jetzt durch das Schild des roten Bayern-München-Basecaps verdeckt, das verkehrt herum auf Rudis schweißnassen Haaren klebte. Seit er die Mannschaft zusammen mit seinem Vater in einem Trainingslager besucht und Bastian Schweinsteiger sein Autogramm auf das Cap gekritzelt hatte, setzte er es so gut wie überhaupt nicht mehr ab. Schon das kurze Anschleichen auf den sonnenüberfluteten Hof der Fleischerei hatte Specki, wie Rudi Lose wegen seiner Leibesfülle nur genannt wurde, den Atem geraubt und den Schweiß aus allen Poren getrieben. »Außerdem habe ich mich nur geräuspert«, beschwerte sich Tim. »Der Schweinegestank, den die Mistkarre deines Alten verbreitet …« Mit einem hastigen Kopfnicken deutete er auf den zweirädrigen Tiertransporter, der ihnen Schutz bot. »… kratzt so eklig im Hals, dass ich einfach nicht anders konnte.«
Rudi grinste seinen Begleiter, den schlanken und zwei Jahre älteren Tim, breit an. »Das nennst du Schweinegestank? Dann solltest du mal einen Fuß in einen Mastbetrieb setzen, in dem mehrere Tausend Schweine zusammengepfercht sind. Dann würdest du schnell merken, wie richtiger Schweinegestank riecht.«
»Vielen Dank. Kann ich gut drauf verzichten.« Tim machte ein Gesicht, als müsse er sich jeden Moment übergeben. »Jetzt mach endlich. Die anderen warten doch schon auf uns. Oder willst du, dass die ohne uns Party machen?«
»Spinnst du?« Rudi klang ehrlich empört. »Schließlich habe ich den Stoff besorgt!«
Tim grinste nur hämisch und behielt seinen Kommentar lieber für sich: Weil du keine andere Wahl hattest, Specki. Oder meinst du, wir hätten dich Fleischer-Trampel sonst mitmachen lassen? »Was ist jetzt?«, zischte er Rudi stattdessen an. »Ist die Luft rein?«
»Einen Moment noch.« Angestrengt ächzend beugte Rudi sich zur Seite. Er reckte den Kopf hinter der Bordwand des Transporters hervor und lugte auf den Hof der Fleischerei, der natürlich picobello aufgeräumt war. Alles andere hätte Rudi auch verwundert. Er kannte sich hier allerbestens aus, denn der Betrieb gehörte seinem Vater, dem angesehenen Fleischermeister Ludwig Lose aus Drachenthal.
Um diese Zeit hielt sich sein Vater in der Regel in dem nach vorne zur Straße gelegenen Laden auf. Am Samstagvormittag herrschte dort nämlich Hochbetrieb. Für gewöhnlich war Ludwig Lose dann so beschäftigt, dass gar nicht dazu kam, einen Fuß auf den Hof oder gar ins Schlachthaus und in die Wurstküche zu setzen. Trotzdem war es besser, vorsichtig zu sein und nichts zu überstürzen. Schließlich fehlte ihnen immer noch die wichtigste Zutat für das große Ritual und ohne die konnten sie alles vergessen. Dabei fieberten sie dem großen Abend schon seit Wochen entgegen. Nicht nur Rudi und Tim, sondern auch die anderen drei. Die letzten Tage hatten sie dazu benutzt, um klammheimlich und in aller Stille alles vorzubereiten. Es sollte ja niemand mitbekommen, was sie vorhatten, und nach all dem wäre es mehr als ärgerlich, wenn sie sich den irren Spaß noch im letzten Moment durch unbedachte Hektik selbst vermasseln würden.
Erneut ließ Rudi den Blick über den Hof schweifen und wieder war niemand zu sehen: Die Luft war rein! Er drehte sich zu seinem Kumpel um. »Es geht los«, flüsterte er Tim ins Ohr. »Du bleibst immer dicht hinter mir und tust genau, was ich dir sage, verstanden?«
»Ich bin doch nicht taub.« Tim klang genervt. »Außerdem haben wir das schon x-mal durchgekaut. Jetzt mach endlich.« Er verpasste seinem Kumpel einen Stoß, sodass dem gar nichts anderes übrig blieb, als sich in Bewegung zu setzen.
Tief gebückt überquerten die beiden Jungen den Hof der Fleischerei. Das Schellen der Ladenklingel schrillte aus dem Geschäft nach draußen und das undeutliche Gemurmel der Verkaufsgespräche war zu hören, sonst war alles still. Unbemerkt gelangten sie an die Tür der Wurstküche. Sie war unverschlossen – genau wie Rudi es gesagt hatte.
Dämmeriges Zwielicht empfing sie in dem weiß gefliesten Raum mit den bis zur Decke reichenden Kachelwänden. Ein unbekannter Geruch stieg Tim in die Nase – nach kaltem Fleisch, Fett, Blut und beißenden Gewürzmischungen. Als er die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte, hielt Rudi ihn zurück.
»Bist du verrückt? Wenn Papa Licht sieht, kommt er doch sofort angerannt und schaut nach, was hier los ist.« Ächzend richtete Rudi sich auf und deutete auf die Metalltür in der gegenüberliegenden Wand. »Da drüben ist der Kühlraum. Da drin finden wir alles, was wir brauchen!«
Rudi schielte noch rasch durch das vergitterte Fenster nach draußen, dann setzte er sich in Bewegung. Rasch durchquerte er die Wurstküche und eilte, gefolgt von Tim, auf den Kühlraum zu. Auch dessen Zugang war unverschlossen.
»Na also, geht doch«, murmelte Rudi vor sich hin, als wolle er sich selbst Mut zusprechen. Dann holte er tief Luft, drückte den langen Hebel der Verriegelung hinunter und öffnete die dicke Metalltür.
Die Deckenlampe flammte auf. Eiseskälte schlug den Jungs entgegen und ihr Atem kondensierte zu frostigen Wölkchen. »Da drüben!« Rudi lächelte zufrieden, streckte den Arm aus und deutete in die hinterste Ecke. »Da steht alles, was wir brauchen.«
Als Tim den Blick auf die angezeigte Stelle richtete, konnte er nur vier Schweinehälften erkennen, die an kräftigen Stahlhaken von der Decke baumelten. Daneben hingen dunklere Fleischstücke, die er weder einem Tier noch einem Körperteil zuordnen konnte. Dann endlich erblickte er die großen Plastik-Behälter, die, halb verdeckt von den toten Schweinen, an der Wand standen. Sie waren durchsichtig, sodass er den Inhalt erkennen konnte. Tim lächelte, denn die dunkle Flüssigkeit, mit der sie bis zum Rand gefüllt waren, war zweifelsohne Blut.
Der Stoff, der ihre Träume wahr machen würde!
Lukas setzte schon zu einer Antwort auf Annas Frage an, als Laura ihn mit einem wütenden Blick und einer unmissverständlichen Geste zum Schweigen brachte. »Kaja und Yannik Anders sind doch seit Langem ein Paar, Mama«, erklärte sie genervt. »Für beide ist es die ganz große Liebe, glaube ich.«
»Gilt das für Philipp und dich nicht genauso?«, frotzelte Lukas postwendend. »Deshalb wundere ich mich auch, dass du unbedingt nach Glaremore Castle willst.« Seine Augen funkelten spöttisch. »Oder ist die heiße Liebe schon wieder kalt geworden?«
»Vielleicht will Philipp ja auch mit?« Laura feuerte einen wütenden Blick auf ihren Bruder ab, bevor sie sich wieder an ihre Mutter wandte. »Kaja war natürlich ganz schön traurig, als Yannik am Anfang des Schuljahres an unser Partnerinternat in Schottland gewechselt ist.«
Laura konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem Katharina Löwenstein, wie Kajas vollständiger Name lautete, von dem Schulwechsel ihres Freundes erfahren hatte. Sie war nicht nur traurig, sondern regelrecht sauer gewesen. Weil sie einfach nicht verstehen konnte, warum Yannik sie im Stich ließ. Sie hatte ihm das wütend vorgeworfen, und den armen Kerl hatte das ziemlich getroffen, zumal er Kaja die wahren Gründe seines Schulwechsels nicht verraten durfte. Da er wie Laura im Zeichen der Dreizehn geboren wurde, verfügte er ebenfalls über alle drei fantastischen Fähigkeiten der Wächter. Das kam so selten vor, dass sich jedes Wächterinternat glücklich schätzte, wenn es wenigstens einen dieser besonders begabten Krieger des Lichts in seinen Reihen hatte. Glaremore Castle zum Beispiel war dieses Glück schon seit über einem Jahrhundert nicht mehr beschieden gewesen. Ausgerechnet dort aber waren die Dunklen, die erbitterten Feinde der Wächter, übermäßig stark vertreten. Aus diesem Grunde hatte Miss Mary Morgain, natürlich nach Rücksprache mit ihrem Direktorenkollegen Conor McLightning, Yannik Anders gebeten, ans schottische Internat zu wechseln, um die Vertreter des Lichts zu stärken. Nach langem Überlegen hatte Yannik schweren Herzens zugestimmt. Weil er genau wie Laura wusste, dass die große Aufgabe der Wächter, mit allen Kräften für das Gute zu streiten, wichtiger war als ihre persönlichen selbstsüchtigen Wünsche.
Aber davon durfte Yannik Kaja ja nichts erzählen!
Obwohl sie durch ihre enge Freundschaft mit Laura mehr über das große Mysterium wusste als alle anderen Ravensteiner zusammen, waren Kaja die wahren Hintergründe von Yanniks Abstecher nach Schottland deshalb weitgehend unbekannt.
»Das war ganz schön clever von Yannik«, gab Lukas da auch schon zum Besten und biss in sein Brötchen, das er zentimeterdick mit Honig bestrichen hatte. Lukas war nämlich ein ausgesprochener Süßschnabel. Trotz seines Heißhungers auf Süßigkeiten aller Art hatte er allerdings kein Gramm Übergewicht – ganz im Gegenteil!
»Wieso meinst du?«, fragte Anna.
»Liegt das nicht auf der Hand?« Lukas verdrehte die Augen: Heute kapierte ihre Mutter aber auch gar nichts! »Ravenstein und Hohenstadt sind nun wahrlich nicht der Nabel der Welt. Da ist es doch mehr als verständlich, dass man jede sich bietende Gelegenheit ergreift, um von hier wegzukommen.«
»Interessant.« Annas Miene trübte sich ein. »Dann hast du wohl ähnliche Gedanken?«
»Das ist deine Interpretation«, gab Lukas mampfend zurück. »Ich wollte damit nur sagen, dass ich Yanniks Entscheidung sehr gut nachvollziehen kann.«
Anna musterte ihn noch für einen Augenblick und wandte sich dann an Laura. »Und was ist mit dir? Gefällt es dir auch nicht mehr in Ravenstein?«
»Äh.« Laura fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Das … äh … das würde ich nicht unbedingt behaupten.«
»Aber?«
»Na, ja … Es könnte schon etwas mehr los sein. In den letzten Jahren hat sich in Ravenstein doch echt nichts Aufregendes mehr getan.«
»Da magst du recht haben.« Anna lächelte säuerlich. »Aber davor war es umso aufregender, nicht wahr?«
»Und wenn schon. Das ändert auch nichts daran, dass es an unserem Internat seit einiger Zeit ziemlich öde zugeht.«
»Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn das auch noch eine ganze Weile so bliebe.« Anna nahm einen Schluck Kaffee. »Auf die Aufregung, die wir vorher hatten, kann ich gut und gerne verzichten.«
Laura verkniff sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Die Diskussion würde eh nichts bringen. Ihre Mutter war im Augenblick mit sich und ihrem Leben voll zufrieden und konnte deshalb wohl kaum nachvollziehen, dass es anderen nicht so erging. Wie ihr selbst zum Beispiel: Laura fühlte sich in Ravenstein zwar nicht gerade unwohl, sehnte sich aber trotzdem nach mehr Abwechslung. Obwohl der Unterricht ihr so leicht fiel wie nie zuvor und sie noch niemals bessere Noten gehabt hatte als im Augenblick, beschlich sie immer öfter ein Gefühl der Monotonie und Unzufriedenheit, gegen das sie einfach nicht ankam. Schon seit Langem hatte sich in ihrem Leben nichts wirklich Wichtiges mehr ereignet, sodass sie sich manchmal bei dem Gedanken ertappte, dass sie irgendetwas verpasste, auch wenn sie nicht hätte sagen können, was das war. Selbst ihre Liebe zu Philipp vermochte nichts daran zu ändern. Aber wie sollte sie das ihrer Mutter klar machen? Die gerade den aufregendsten Job ihres bisherigen Lebens ergattert hatte?
Keine Chance, beantwortete Laura sich ihre Frage selbst. Sie wechselte rasch das Thema. »Was deine Frage nach Kaja betrifft«, sagte sie, um ein Lächeln bemüht. »Sie wäre liebend gerne mit Yannik nach Glaremore Castle gegangen. Aber leider haben ihre Eltern das nicht erlaubt. Und da sie noch nicht volljährig ist …«
»Verstehe.« Anna seufzte. »Tja – Eltern sind manchmal schlicht die Pest, nicht wahr?«
Wahre Worte!
Und das ausgerechnet aus dem Mund der Mutter!
Dennoch ließ Laura sich nicht provozieren. »Das hast du gesagt«, erwiderte sie ruhig. »Ich wollte dir damit nur erklären, warum Kaja unbedingt mit zum FSL möchte.«
»Das verstehe ich gut.« Ein versöhnliches Lächeln huschte über Annas Gesicht. »Oder glaubst du vielleicht, ich wäre noch nie verliebt gewesen?«
Laura ging auf die Frage gar nicht ein. »Hinzu kommt, dass Yannik für die männliche Hauptrolle des Musicals ausgewählt wurde, das zum Abschluss des Festivals am Mittsommerabend aufgeführt wird.«
»Musical? Klingt interessant. Weißt du auch, welches?«
»Ich kenne nur den Titel: ›Das Kind des Lichts‹. Es handelt wohl vom ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Aber worum es im Einzelnen geht …« Laura zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Jedenfalls ist das mit ein Grund, warum Kaja unbedingt mit zum FSL möchte.«
»Verstehe.«
»Aber sie ist natürlich nicht die Einzige. Deshalb wird es bei uns in Ravenstein auch ganz schön Stress geben, wenn Mary ihre Entscheidung verkündet.«
»Aber hundertprozentig!«, warf Lukas mit provozierendem Blick auf seine Schwester ein. »Zumal es bei uns einige gibt, die sich auch ohne besonderen Anlass am liebsten die Augen auskratzen würden. Wie Caro Thiele und du zum Beispiel.«
»So ein Quatsch!«, widersprach Laura empört. »Das gilt höchstens für Caro …«
»Das ist ja nicht zu fassen!« Zur Überraschung aller ließ plötzlich der Vater die Zeitung sinken und sah seine Familie aufgebracht an. »Hört mal zu, was hier steht!« Marius senkte den Blick wieder auf das Blatt und las die reißerische Überschrift laut vor: »Monster-Attacke in Schottland!«
»Einen riesigen Drachen, sagst du?« Morwena sah Alienor bekümmert an. Das Gesicht des Mädchens – Alienor zählte gerade mal sechzehn Sommer – war von Sorge gezeichnet, wenn nicht sogar von Furcht. »Wie sah er denn aus?«
Alienor war eben erst aus der Orakelhöhle zurückgekehrt, wo sie eine Botschaft der Wissenden Dämpfe empfangen hatte. Morwena hatte sie über viele Jahre nicht nur in die Heilkunst eingeführt, sondern sie auch gelehrt, die Botschaft der Wissenden Dämpfe zu empfangen und richtig zu deuten. Letzteres war ausgesprochen schwierig, denn die Botschaften waren meist so verwirrend und vielschichtig, dass sie gelegentlich falsch ausgelegt wurden und Anlass zu völlig unbegründeter Sorge boten. Es war deshalb wichtig, sich an jede scheinbar noch so unbedeutende Einzelheit zu erinnern, wenn man nicht zu falschen Schlüssen kommen wollte.
»Wie sah der Drache denn aus?«, fragte Morwena. »Und was hast du sonst noch gesehen?«
Alienor blickte sie aus großen Augen an und verzog gequält das Gesicht. »Ihr wisst doch, Herrin, die Bilder sind meist nicht besonders deutlich.«
»Natürlich«, erwiderte Morwena sanft. »Versuche dich trotzdem zu erinnern.«
»Nun …« Die junge Heilerin wandte sich ab und starrte in unbestimmte Ferne, als könnte sie dort die Botschaft besser lesen. »Der Drache war riesig und befand sich in einer Höhle. Obwohl die ungeheuere Ausmaße hatte, reichten die Schwingen des Drachen bis zur Decke.«
»Und weiter?«