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Bastian Balthasar Bux rettet Phantásien vor dem Nichts, so endet die »Unendliche Geschichte«. Seitdem verändert sich das Reich der Kindlichen Kaiserin. Viele Insomnier fallen dem Vergessen zum Opfer. Sie verlieren ihre Kraft, verblassen und verschwinden schließlich ganz. Liegt es an den geheimnisvollen Traumfängern, die durch Phantásien streichen? Die junge Insomnierin Saranya lebt in Seperanza. Die Stadt der vergessenen Träume quillt schier über vor Flüchtlingen. Hier fühlen sich die Insomnier sicher vor dem mörderischen Vergessen. Saranya könnte platzen vor Wut. Nur durch Zufall hat sie erfahren, dass sie ein Findelkind ist. Wer sind ihre wahren Eltern? Während sie auf der Suche nach einer Antwort der Spur in ihre Vergangenheit folgt, geht es für zwei andere junge Insomnier um Leben und Tod. Kayún und seine Schwester Elea fliehen vor dem Vergessen, das schon ihre Eltern getötet hat. Als die Mutter verblasste, schickte sie die zwei nach Seperanza. Können sie die Stadt der vergessenen Träume rechtzeitig erreichen? Vor ihnen liegen viele Gefahren, und die Traumfänger sind ihnen dicht auf den Fersen. Noch wissen Saranya und die Geschwister nichts voneinander. Deshalb können sie auch nicht ahnen, was sie miteinander verbindet. »... aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.« Sechs deutsche Autoren haben sich diesem bekannten Satz aus Michael Endes »Die unendliche Geschichte« angenommen. In der Tradition von Michael Ende unternehmen sie in der Reihe »Die Legenden von Phantásien« spannende Entdeckungsreisen in die Welt der Phantasie: Ralf Isau, Tanja Kinkel, Ulrike Schweikert, Wolfram Fleischhauer, Peter Freund und Peter Dempf erzählen die aufregenden Geschichten eines grenzenlosen Reiches.
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Seitenzahl: 396
Peter Freund
Die Legenden von Phantásien
Roman
Dunkle Wolken ballten sich am Firmament. Regen strömte vom Himmel, in dicken, schrägen Schnüren, wie von einem stumpfen Stift gezeichnet. Schon zuckten die ersten Blitze durch die Dämmerung. Donner grollte über das phantásische Land und mischte sich mit dem Prasseln des Regens zu einer düsteren Melodie. Der durchweichte Heideboden konnte die Sturzfluten nicht mehr fassen. Pfützen bildeten sich, wurden rasch größer und tiefer. Die Wacholderbüsche, die wie ein Heer furchtloser Wächter auf dem Ödland standen, waren schwarz vor Nässe.
In einem der Sträucher, dem niedrigsten weit und breit, saß eine Elster. Der Wolkenbruch hatte sie auf dem Rückflug zu ihrem Nest überrascht, und so versuchte sie sich im Gebüsch vor den Unbilden der Witterung zu schützen. Das schwarz-weiße Gefieder aufgeplustert, hockte sie fast reglos auf dem untersten Zweig und wartete auf das Ende der vom Himmel stürzenden Flut. Mochten die Blitze auch noch so zucken und der Donner brüllen – sie rührte sich nicht. Nur die schwarzen, lebhaft hin und her gleitenden Knopfaugen verrieten, dass sie nicht schlief. Mit einem Mal aber fuhr sie zusammen. Ihr Kopf, den sie ganz dicht an den Körper gezogen hatte, schoss nach vorn und drehte sich gleichzeitig schräg zur Seite. Aufmerksam spähte der Vogel zu Boden.
Der Regen hatte die obersten Wurzeln des Wacholderbuschs freigespült. Zwischen den erdbraunen Holztentakeln glitzerte es – ein paar Kieselsteine oder vielleicht Scherben? Oder war es doch der verknäuelte Leib einer Schlange? Als der nächste Blitz das Dunkel für einen Augenblick erhellte, konnte die Elster erkennen, was unter ihr am Boden lag: ein Gürtel. Sofort hüpfte sie vom Ast, um ihn näher zu beäugen.
Der Gürtel war aus schmalen, beweglichen Gliedern geformt, die aus farblosem Glas bestanden wie die Schließe auch. Der Kopf der Elster zuckte abermals nach vorn. Vorsichtig pickte sie den sonderbaren Gürtel mit dem Schnabel an und versuchte ihn dann zu packen. Obwohl das Glitzerding zehnmal so lang wie sie selbst war, konnte sie es mühelos vom Boden aufheben. Erschrocken öffnete sie den Schnabel und ließ den Gürtel wieder fallen. Dann reckte sie den Kopf in die Höhe und keckerte ihre Freude in das Rauschen des Regens hinaus.
Endlich versiegte die Sturzflut. Der Vogel äugte zum Himmel, schüttelte sich, um das störende Nass aus dem Gefieder zu stäuben, und packte den Gürtel aufs Neue mit seinem Schnabel. Dann schraubte er sich in die Höhe und flog in die graue Dämmerung hinein, die sich über die Heide gesenkt hatte.
Achtlos flatterte die Elster über das Heer dahin, das am Fuße eines großen Erdwalls stand. Seit Tagen schon verharrte es an Ort und Stelle, und weder die riesigen, gepanzerten Fußsoldaten noch die Reiter, die auf mächtigen Metallpferden saßen, hatten sich in der Zwischenzeit auch nur eine Handbreit bewegt. Vor einigen Tagen, als ihr die seltsame Heerschar erstmals aufgefallen war, hatte die Elster sie ausgiebig beäugt. Inzwischen jedoch war ihr der Anblick zur Gewohnheit geworden, und so schenkte sie den stummen Kriegern keinerlei Beachtung mehr. Sie verschwand im letzten Grau des Tages und versäumte so die Geburt einer neuen Legende, welche die Geschichtsschreiber von Phantásien fortan vor große Rätsel stellen sollte. Noch bis zum heutigen Tag grübeln die Gelehrten darüber, ob wegen der sich nun entspinnenden Ereignisse die phantásischen Geschichtsbücher neu geschrieben werden mussten oder ob auch scheinbar sich widersprechende Geschehnisse nebeneinander bestehen können, damit jeder sich seinen eigenen Reim darauf machen kann. Bislang sind sie zu keinem eindeutigen Urteil gelangt. In einem allerdings sind sie sich einig: Die Ereignisse müssen sich wohl genau so zugetragen haben, wie sie in dieser Geschichte erzählt werden. Denn der Alte vom Wandernden Berge schreibt nur das auf, was in Phantásien geschieht – und nur das geschieht, was er aufschreibt.
Es begann, als sich die Dämmerung mit der Nacht vermählte. Dunst stieg auf zwischen den Überresten des einstmals Furcht erregenden Heers. Die Konturen der Panzerriesen verschmolzen mehr und mehr mit der Dunkelheit und waren kaum noch zu erkennen, als der Wolkenvorhang mit einem Mal aufriss. Kein Lufthauch war zu spüren, und dennoch stob das Gewölk gleich einer Herde flüchtender Rösser zur Seite und gab den Blick frei auf den Himmel, an dem die fahle Scheibe des Neumondes stand. Die Pfützen zwischen den Füßen der metallenen Panzerriesen schimmerten in seinem matten Licht wie stumpfe Spiegel. Plötzlich regte sich etwas im schlammigen Grund, langsam und anscheinend unter großen Mühen. Waren es die Konturen eines Kopfes, die nun sichtbar wurden? Oder die Umrisse spitzer Schultern gar, die aus dem Boden zu wachsen schienen? Und wirklich: Als würde sie aus dem Schoß der Erde geboren, kam eine schlanke Gestalt aus dem nassen Grund gekrochen, erhob sich und richtete sich zu voller Größe auf.
Es war eine junge Frau, über und über mit Schlamm und Erde bedeckt. Für einen Moment verharrte sie reglos und sog die feuchte Luft ein. Dann reckte und streckte sie sich, bevor sie sich umdrehte und den Blick über die Reste ihrer Panzersoldaten schweifen ließ. Mit einem Mal verzerrte ein grimmiges Lächeln ihr Gesicht, und ihre Augen – das eine rot, das andere grün – glommen auf. Sie legte den Kopf in den Nacken, hob die Arme zum Himmel empor und ließ einen Schrei hören, der wie das Jagdgeheul eines hungrigen Raubtiers klang. Alle Geschöpfe, die sich in Hörweite aufhielten, zuckten vor Entsetzen zusammen, wussten sie doch, dass nur ein Wesen in ganz Phantásien zu einem solchen Schrei fähig war: Xayíde, die Dunkle Prinzessin.
Xayíde konnte die Angst, die sie auslöste, fast körperlich spüren. Wie eine unsichtbare Welle rauschte die Panik über Phantásien und wurde größer und größer. Wieder stieß Xayíde einen lauten Ruf aus, der ihren Triumph in die Nacht hinaustrug. Ihr Plan war aufgegangen und alle waren sie ihrer List erlegen: Atréju, Fuchur, Hýsbald, Hýdorn oder Hýkrion – einfach alle! Diese Narren! Sie hatten gedacht, sie hätte sich von ihren gepanzerten Riesen einfach zu Tode trampeln lassen, weil sie eingesehen hatte, dass Bastian für ihre Pläne verloren war.
Bastian Balthasar Bux – dieses Menschenkind, das es geschafft hatte, Phantásien vor dem Nichts zu retten. Nun wollte er in seine Welt zurückkehren und hatte sich ihrem Einfluss entzogen – und trotzdem würde er ihr nicht entkommen, mochte er auch noch so sehr vom Gegenteil überzeugt sein.
Wie dumm der Kerl doch war! Wie hatte er bloß glauben können, dass sie sich so einfach geschlagen geben würde? Und seine Freunde – hatten sie wirklich nicht durchschaut, dass sie ihren Tod nur vorgetäuscht hatte? Für einen Moment verspürte Xayíde einen Anflug von Bitterkeit: Hielten diese Tölpel sie wirklich für so töricht, dass sie keine rechte Antwort wusste auf den schmählichen Verrat des Menschenkindes? Ahnte denn niemand von ihnen, was sie vorhatte? Dabei mussten sie doch wissen, dass es für Bastian nur einen Weg gab, auf dem er Phantásien verlassen und in die Menschenwelt zurückkehren konnte. Glaubten sie wirklich, dass sie das einfach so zulassen würde? Oder hatte ihr vermeintlicher Tod sie nur allzu sorglos gemacht?
Wieder musste Xayíde grinsen. Alles deutete darauf hin, dass ihr Plan aufgehen würde. Dieses Menschenkind war sicherlich auch nicht klüger als seine Freunde, und so würde es arglos in die von ihr gestellte Falle tappen. Aber diesmal würde Bastian ihr nicht mehr entkommen. Im Gegenteil: Er würde zu ihrem willigen Werkzeug werden und ihr zum vollkommenen Sieg verhelfen! Noch einmal schallte ihr triumphierender Schrei durch die Nacht, und als ihr Blick den fahlen Neumond erhaschte, wusste Xayíde, dass es an der Zeit war, ihre Verbündeten zu begrüßen.
Ruhig schritt die Dunkle Prinzessin über die Heide dahin, bis sie an den Saum eines Eichenhains gelangte. Xayíde verharrte und sah auf den Saum des Wäldchens, bis mit einem Mal ein zufriedenes Lächeln um ihre Lippen spielte.
Im Schatten zwischen den Bäumen ballte sich die Finsternis mehr und mehr zusammen, und aus der tiefen Schwärze begannen sich fünf Gestalten zu formen. Noch glichen ihre Umrisse bloßen Schemen, doch bald schon wurden die Konturen deutlicher. Die hoch aufgeschossenen Kreaturen – nur eine der fünf Gestalten war deutlich kleiner als die anderen – trugen lange Umhänge, gewebt aus nächtlicher Schwärze, die ihre Köpfe und Körper fast vollständig verhüllten. Lediglich ihre Füße ragten darunter hervor, und von dort, wo sich ihre Augen befinden mussten, glühte Xayíde ein grünes Feuer entgegen. Dann schallte ein Grollen über die Heide, das aus tiefen Kehlen zu kommen schien.
Erneut verzog die Dunkle Prinzessin ihren schmalen Mund zu einem freudlosen Lächeln. Als sie einen Arm hob, hetzten die fünf Gestalten los. Kein Wort gab sie ihnen mit auf den Weg. Wozu auch? Es war unnötig, die Traumfänger an ihre Aufgabe zu erinnern. Sie war ihnen vertraut seit undenklichen Zeiten, und so wussten sie, dass ihnen nur die Zeit bis zum nächsten Vollmond blieb, um Beute in Phantásien zu machen und diese in der Nacht des reifen Mondes in die Menschenwelt zu verschleppen – so wie sie es unzählige Male zuvor getan hatten.
Zufrieden blickte die Dunkle Prinzessin den davonhastenden Traumfängern nach. Seit die Schwarzen Kreaturen in ihrem Dienst standen, waren sie niemals ohne Beute zurückgekehrt. Und sie würden auch diesmal nicht versagen.
Auf dem Marktplatz von Seperanza herrschte reges Treiben. Käufer, Schaulustige und Flaneure drängten sich zwischen den Verkaufsständen, die den großen Platz in der Mitte der Stadt bis zur letzten Ecke füllten. Eine leichte Brise blähte die bunten Schutzplanen der Buden, auf denen gleißende Sonnenreflexe Fangen spielten. Auch die mit Purpur- und Silberschiefer gedeckten Dächer der umstehenden Häuser glänzten im Licht des frühen Vormittags. Weithin waren das fröhliche Lachen und die lauten Stimmen der zahlreichen Marktbesucher zu vernehmen, die in farbenfrohen Gewändern über den Platz schlenderten und sich in allen Dialekten und Sprachen des Phantásischen Reichs unterhielten. Die einen deckten sich mit Purpurbüffelschinken und Grassamenfladen aus dem Land der Grünhäute ein, während andere nach Traumsaft und Nachttee aus dem Haulewald anstanden. Wieder andere gelüstete es nach dem erfrischenden Quellwasser aus den Silberbergen. Vor einem Stand, an dem Morgenblättertau aus dem Land der Singenden Bäume feilgeboten wurde, drängten sich wenigstens zwei Dutzend Frauen. Der kostbaren Essenz wurden wundersame Wirkungen nachgesagt: Einige Tropfen, auf der Haut verrieben, ließen ältere Damen um Jahre jünger erscheinen und selbst die hässlichsten Frauenzimmer in strahlender Schönheit erblühen. Dass es für diese Behauptungen keinerlei Beweise gab, schien niemanden zu stören, und so herrschte dort ein so großer Andrang, dass der feiste Morgenblättertau-Händler der Nachfrage kaum Herr wurde und seine Apfelbacken vor Anstrengung glühten.
Auch am Stand daneben herrschte Hochbetrieb. Irrwichte, Wahnfratzen, Grauenhafte und Gräuelgruseler standen in langen Schlangen davor, um sich mit Schreckbohnen, Wutwurz oder Schauderkraut aus dem Gelichterland einzudecken. Gewiss – in Seperanza konnten sie niemanden mehr erschrecken. Aber offenbar wollten sie sich bereithalten für den Tag, an dem der Ruf sie wieder ereilte, auch wenn keiner von ihnen wissen konnte, wann das geschehen würde. Und so unterwarfen sie sich einer strengen Diät aus Gräuelspeisen, deren Genuss sie das Gruseln lehrte.
Saranya jedoch konnte der Anblick der finsteren Gestalten schon lange nicht mehr ängstigen. Obwohl sie erst zwölf Sommer zählte, wusste sie, dass sich hinter dem abstoßenden Äußeren die liebenswürdigsten Wesen verbargen, und so verursachten selbst die monströsesten Fratzen und bis zum Irrwitz verformten Glieder kein Schaudern mehr bei ihr. Unbekümmert eilte das schlanke blonde Mädchen im schlichten roten Gewand an der Reihe der Schreckbolde vorbei. Den größten Teil ihrer Einkäufe hatte sie bereits erledigt, und der Weidenkorb, den sie über dem rechten Arm trug, war schon gut gefüllt. Nur das Fläschchen Sonnensirup fehlte noch, das sie auf keinen Fall vergessen durfte, wie die Mutter ihr eingeschärft hatte. Dieser Saft, den die Wolkenbauern, enge Verwandte der Sternputzer, aus den obersten Wolkenschichten molken und dessen Rezeptur sie wie einen wertvollen Schatz hüteten, war ein altbewährtes phantásisches Heilmittel. Es half gegen jede Art von Seelengrau, seien es Traurigkeit, Wehmut oder Bitternis. Allerdings durfte Sonnensirup nur in Maßen genossen werden. Ein Löffelchen die Woche, mehr nicht, sonst setzte man sich der Gefahr aus, in grundlose Heiterkeit bis hin zum blanken Wahnwitz zu verfallen.
Saranya hatte noch nie im Leben von der golden schimmernden Tinktur gekostet. Ihre Mutter Raya auch nicht, soweit sie wusste. Nur Vater Asmus benötigte hin und wieder ein Löffelchen davon, weil seine schwere Aufgabe ihn gelegentlich doch sehr bedrückte. Asmus war nämlich der Hohe Herr von Seperanza und saß dem Rat der Hohen vor, der die Geschicke der Stadt lenkte. Ein verantwortungsvolles Amt, und so war es nicht verwunderlich, dass der Hohe Herr Asmus von Zeit zu Zeit eine kleine Aufmunterung brauchte.
Der Sonnensirup war nur bei einer einzigen Marktbude zu erhalten. Sie wurde von einem fahrenden Händler namens Zarafin betrieben, der zahlreiche Länder Phantásiens bereiste und daher seinen Stand nur einmal im Monat in Seperanza aufbaute. Für gewöhnlich stand er neben der großen Marmorsäule, die sich in der Mitte des Marktplatzes erhob. Das weithin sichtbare Denkmal erinnerte an Morpheus den Schläfrigen, den legendären Gründer der Stadt.
Als Saranya bei der Säule ankam, war von Zarafins Marktstand jedoch nichts zu sehen. Dabei hatte sie ihn sonst immer schon von Weitem erblickt, denn die Plane, die ihn vor den Unbilden der Witterung schützte, schillerte im Gegensatz zu den anderen Buden in allen Farben des Regenbogens. Verwundert schaute sich Saranya um. Seit fast drei Sommern erledigte sie nun schon die Einkäufe für ihre Mutter, und in der ganzen Zeit hatte Zarafin nicht ein einziges Mal gefehlt. Ob dem freundlichen Mann, der ihr nach dem Einkauf stets einen Gruß an die Eltern auftrug, womöglich etwas zugestoßen war?
Neben der großen Säule hatten sich schon etliche Leute versammelt, die ungeduldig auf den Sonnensirup-Händler warteten. Unter ihnen erkannte Saranya auch Mutter Gris, die ganz in ihrer Nähe wohnte.
Das Mädchen gesellte sich zu der alten Frau, die ihr ergrautes Haar fast vollständig mit einem Tuch bedeckt hatte, das so schwarz war wie ihr bodenlanges Gewand. »Mutter Gris, wisst Ihr vielleicht, was geschehen ist?«
Für einen Moment blickte die Alte das Mädchen verwirrt an. Dann schien sie Saranya zu erkennen, und ein Lächeln huschte über das faltige Gesicht. »Ach, du bist’s, Kind«, krächzte sie mit einer Stimme, die vom Alter brüchig geworden war. »Verzeih mir, aber ich war in Gedanken und habe dich deshalb nicht richtig verstanden.«
Saranya wiederholte ihre Frage.
Mutter Gris schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, was in Zarafin gefahren ist. Er hat uns doch noch nie warten lassen. In all den Jahren nicht, an die ich mich erinnern kann. Und das sind viele, mein Kind!«
Saranya wollte ihr gerade eine weitere Frage stellen, als ganz in ihrer Nähe Unruhe aufkam. Der Strom der Marktbesucher teilte sich und ein Mann mit einer Kiepe auf dem Rücken stapfte unter heftigem Keuchen und lautem Schimpfen heran. Saranya erkannte ihn sofort: Es war Zarafin. Wie immer hatte er ein rotes Kopftuch in Piratenmanier um den Kopf geschlungen. In frühester Jugend war er nämlich bei Rowen dem Roten in die Lehre gegangen, dem berüchtigtsten Piraten, der je das Große Schlafmeer unsicher gemacht hatte. Obwohl Zarafin längst vom Banditentum abgekommen war, hing er immer noch an der altgewohnten Kleidung. Sein gelbes Oberhemd mit den weiten Puffärmeln wurde von einem braunen Ledergürtel mit großer Silberschnalle zusammengehalten und hing über die engen blauen Beinkleider hinab. An den Füßen trug er lederne Stiefel von der gleichen Farbe wie der Gürtel. Zarafin war also genauso gekleidet wie immer – nur sein Gesicht schien Saranya auf erschreckende Weise verändert. Das freundliche Lächeln war einem Ausdruck maßlosen Zorns gewichen und die blauen, sonst immer so lustig blickenden Augen funkelten vor Wut.
Neben der Marmorsäule schnallte der Händler seine Kiepe ab und stellte sie auf den Boden. »Diese Hornochsen!«, schimpfte er, und der große goldene Ring in seinem rechten Ohrläppchen zitterte. »Diese verbohrten Federfuchser und dreimal vermaledeiten Erbsenzähler! Ygramuls Gift soll sie zersetzen und die Sümpfe der Traurigkeit sollen sie verschlingen!«
Kopfschüttelnd drehte sich Mutter Gris zu Saranya um. »Was hat er nur?«
In seinem Zorn hatte Zarafin so laut gesprochen, dass die Händler und Käufer noch drei Buden weiter die Hälse reckten. Kein Wunder, dass sich immer mehr Neugierige um ihn scharten. Sie brauchten nicht lange auszuharren, denn nun tat Zarafin mit drastischen Worten den Anlass seines Wutanfalls kund: Die Wachen am Stadttor hatten gewagt ihn aufzuhalten – ihn, Zarafin, der seit Jahren regelmäßig den Markt besuchte! Und warum? Weil er die Wagenpapiere nicht mit sich führte! Hatte man jemals etwas Lächerlicheres gehört? Er musste sie wohl in der Herberge vergessen haben, in der er genächtigt hatte, und trug daher nur den auf seinen Namen ausgestellten Passierschein bei sich. Natürlich war ihm bekannt, dass nicht nur jede Person, die Einlass in Seperanza begehrte, eine entsprechende Erlaubnis benötigte, sondern auch jedes Gefährt, das in die Mauern der Stadt gebracht werden sollte. Aber niemals hätte er damit gerechnet, dass die Torwachen ausgerechnet ihm die Einfahrt verwehren würden, nur weil er das läppische Stück Papier nicht vorweisen konnte. Schließlich kam er schon seit Jahren mit seinem Karren, der von einem Gespann kräftiger Büffelvögel gezogen wurde, in die Stadt. Außerdem hatten die meisten Gardisten schon bei ihm eingekauft und kannten ihn daher persönlich! Doch diese »Paragrafengaukler, Obrigkeitsknechte und Nichtlinge in Uniform« – um nur die harmloseren der von ihm gebrauchten Schimpfwörter zu erwähnen – hatten sich nicht erweichen lassen. Also musste er seinen Wagen vor dem Tor abstellen, die Zugtiere ausschirren und die Ware mit der Kiepe persönlich zum Marktplatz schleppen. Unverschämtheit!
Während Zarafin die dickbauchigen Sonnensirup-Fläschchen aus der Kiepe holte und mit dem Verkauf begann, entspann sich ein lebhafter Disput unter der Käuferschar. Die einen gaben dem Händler recht und hielten das sture Beharren der Torwächter auf den Vorschriften für reichlich übertrieben. Andere dagegen schlugen sich auf die Seite der Wachen.
»Das war wohl getan von den wackeren Wächtern«, sagte ein Mann mit spitzem Ziegenbart. »Wir wissen doch alle, wie viele Fremde versuchen, sich heimlich Einlass in unsere Stadt zu verschaffen. Dabei platzt Seperanza schon aus allen Nähten! Wir können keinen einzigen Neuankömmling mehr aufnehmen.«
»Das ist allseits bekannt, Meister Stichel«, entgegnete eine Frau mit einer blauen Haube auf dem Kopf, »und tut dennoch nichts zur Sache. Jedes Kind weiß, dass Zarafin Händler ist und am Ende eines jeden Markttages vor Einbruch der Dunkelheit unsere Stadt wieder verlässt, so wie es angeordnet worden ist.«
»Das ist doch völlig unerheblich, Frau Zungenspitz«, beharrte Meister Stichel. »Vorschrift ist Vorschrift und muss von jedermann eingehalten werden. Und dass die strenge Passierregelung ihre Berechtigung hat, daran dürfte es doch keinerlei Zweifel geben, oder?« Sichtlich gespannt, ob ihm jemand zu widersprechen wagte, spähte er in die Runde, die Augen unter den buschigen Brauen zusammengekniffen.
Die Blauhaube ließ sich von seinem lauernden Blick nicht einschüchtern. »Aber Zarafin hat nicht den geringsten Grund, in Seperanza zu bleiben! Er ist doch gar kein Insomnier, also kann ihm das Vergessen auch nichts anhaben. Und von dem braven Händler einmal abgesehen: Auch wenn Ihr im Gegensatz zu mir kein Insomnier seid, Meister Stichel, so wisst Ihr doch auch, dass wir nur in Seperanza vor dem Vergessen in Sicherheit sind. In den übrigen Teilen des Phantásischen Reichs kann dieses schreckliche Schicksal jeden aus unserem Volk ereilen – heute mehr denn je. Und deshalb dürfen wir, die wir das große Glück haben, in Seperanza zu leben, unsere Tore vor den armen Leuten nicht versperren und müssen ihnen helfen, so gut wir können.«
Meister Stichels Gesicht verfinsterte sich noch mehr. »Euer Mitgefühl in allen Ehren, aber in einer so wichtigen Sache hilft nur kühler Verstand. Auch wenn ihr Insomnier den größten Teil der Einwohner unserer Stadt stellt, ist doch niemandem damit gedient, wenn wir unsere Sicherheit aufs Spiel setzen. Also hatten wir gar keine andere Wahl, als den zügellosen Zustrom zu stoppen.« Der Ziegenbart schenkte der Blauhaube ein mildes Lächeln, das allerdings etwas gezwungen wirkte. »Versteht mich nicht falsch. Ich fühle durchaus mit Euch und kann Eure Haltung gut verstehen. Aber erst wenn sich die Zustände hier grundlegend gebessert haben und wieder mehr von Euch Insomniern den Ruf vernehmen und ihm auch folgen, können wir an eine Lockerung der Zugangsregelungen denken.«
»Hört, hört!«, schallte es aus der bunten Käuferschar. »Sehr wohl!« Aber auch Widerspruch war zu vernehmen.
Anfangs fand Saranya den hin und her wogenden Streit noch recht amüsant. Doch bald fing er an sie zu langweilen, weil immer nur die gleichen Argumente wiederholt wurden und jede Partei stur auf ihrer Ansicht beharrte. Sie war deshalb froh, als sie endlich an der Reihe war und ihre Bestellung aufgeben konnte: »Ein Fläschchen Sonnensirup, wenn’s recht ist.«
»Es ist sogar sehr recht. Schließlich ist das mein Geschäft.« Zarafin lächelte sie an, reichte ihr die gewünschte Ware und strich eine Silbermünze dafür ein. »Beehr mich bald wieder und bestell deiner Mutter meine besten Grüße.«
Saranya dankte und verabschiedete sich.
»Eins noch, Saranya«, sagte Zarafin, als sie sich bereits zum Gehen wandte. »Dass die Wachen sich allesamt wie dickschädelige Hornochsen aufführen, ist wohl nicht die Schuld des Rats der Hohen und schon gar nicht des Hohen Herrn Asmus. Richte deinem Vater bitte aus, dass mir unterwegs ein neuer Trupp von Optasomniern begegnet ist. Auch sie streben wohl auf Seperanza zu und werden sicherlich versuchen, in den nächsten Tagen in die Stadt zu gelangen. Herr Asmus sollte die Garde zu größter Wachsamkeit anhalten. Vergiss das nicht, Saranya.«
Das Mädchen musste sich ein Lächeln verkneifen. Merkten die Erwachsenen denn gar nicht, wie widersprüchlich sie sich manchmal benahmen? »Keine Sorge«, antwortete sie aber nur freundlich. »So weit ist mein Nachhauseweg nicht, dass mir Eure Botschaft bis dahin entfallen könnte.« Damit eilte sie davon, drängte sich durch die Menge der Marktbesucher und ließ den überfüllten Platz endlich hinter sich.
*
Der Weg zu ihrem Elternhaus führte Saranya durch die Alte Spukgasse, die von windschiefen Häusern gesäumt wurde. Sie schienen dem Verfall nahe und waren mit einem gleichförmig nachtmahrgrauen Anstrich versehen, die Türen hingen schief in den Angeln und die meisten Fensterscheiben waren zerbrochen. Doch Saranya wusste, dass dem äußeren Anschein nicht zu trauen war. In Wahrheit nämlich lebte es sich in den Schauerhäusern recht bequem und die Schreckbolde hatten sich gemütlich darin eingerichtet.
Die Spukgasse führte auf den Irrlichterplatz, wo der Blenderbrunnen stand. Die steinerne Brunnenschale hatte einen Durchmesser von gut zwei Dutzend Schritten. Eine riesige Wasserfontäne schoss aus ihrer Mitte mindestens ebenso weit in die Höhe, um sich dann nach allen Seiten zu teilen und mit weithin hörbarem Rauschen in das Becken zurückzustürzen.
Saranya war fast schon daran vorbei, als sie eine Stimme hörte, die ihren Namen rief. »Saranya – so wart doch mal!« Die Stimme kam direkt aus der Fontäne in der Brunnenmitte.
Sie blieb stehen und drehte sich dem Brunnen zu, wo gerade ein Mädchen aus der emporschießenden Wassersäule trat. An den grasgrünen Strubbelhaaren und dem sommersprossigen Gesicht erkannte Saranya auf den ersten Blick Colina. Ihre Freundin stapfte durch das Wasserbecken auf sie zu, kletterte auf den Brunnenrand und sprang herab auf das Pflaster des Platzes.
»Hallo, Colina. Was gibt es denn so Wichtiges?« Saranya blickte den grünen Strubbelkopf neugierig an. Dass Haare, Gesicht und Kleidung ihrer Freundin keine Spur von Nässe aufwiesen, verwunderte sie nicht im Geringsten. Schließlich wusste sie so gut wie alle anderen Einwohner von Seperanza, dass der Blenderbrunnen seinen Namen zu Recht trug. Die Einheimischen amüsierten sich immer wieder köstlich, wenn Besucher vergeblich versuchten, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, um ihren Durst zu stillen oder sich den Staub von den Gesichtern zu waschen. Schadenfrohes Gelächter war den so Gefoppten dann gewiss. Jüngst jedoch war es einem kleinen Jungen sehr viel schlimmer ergangen: Vom Rand des Brunnens hatte er sich kopfüber in das vermeintliche Nass gestürzt und sich beim Aufprall auf den Grund des Beckens eine heftig blutende Platzwunde zugezogen.
»Ich hab vorhin Pamina getroffen. Du weißt schon – die aus dem Graugramviertel«, erklärte Colina. »Sie und ihr Bruder Pamino fordern uns für nächste Woche zu einem Wettspiel im Schwebeball heraus. Wir sollten noch ein bisschen üben, findest du nicht?«
Schwebeball gehörte zu Saranyas Lieblingsspielen. Kaum ein Mädchen verstand es so geschickt wie sie, den Ball in der Schwebe zu halten und durch die Reihen der Gegner zu führen, um ihn schließlich mit einem raffinierten Dreh in den Schwebenden Reifen zu befördern. Was Saranyas Mannschaft natürlich einen Wertungspunkt einbrachte, und wer als Erster neun Punkte erzielte, ging als Sieger vom Schwebeballplatz. Da Colina nicht viel schlechter war als sie selbst, bildeten die beiden Freundinnen eine Mannschaft, die kaum zu schlagen war. Deshalb wurden sie auch immer wieder zu Wettspielen herausgefordert, und die Gegner setzten alles daran, sie zu besiegen. Da hieß es ständig in Übung bleiben.
Enttäuscht verzog Saranya das Gesicht. »Geht leider nicht, Colina«, sagte sie. »Ich hab noch einiges zu erledigen. Aber wie wär’s mit heute Nachmittag?«
»Gut«, antwortete die Freundin. »Aber vergiss es nicht! Du weißt ja, was Pamino für ein fürchterlicher Angeber ist. Wenn wir gegen ihn und seine Schwester verlieren, tratscht er das in der ganzen Stadt herum und macht sich über uns lustig.«
*
Bitterkalte Winde strichen über die weite, mit grauem Ritzelgras bewachsene Ebene und trieben dicke Wolken vor sich her. Die Bäume, die das karge Plateau auf der Ostseite säumten, fügten sich der heranbrausenden Gewalt und neigten sich widerstandslos zur Seite. Zu ihren Füßen stand eine windschiefe Hütte, und fast hatte es den Anschein, als suche sie unter den Bäumen ebenso Schutz vor den stetig wehenden Winden wie die kleine Schnarchschafherde, die sich zwischen den Stämmen zusammendrängte. Schnarchschafe waren die einzigen Tiere, die das scharfblättrige Ritzelgras zu fressen vermochten, ohne sich dabei blutige Wunden in Maul und Rachen zu holen. Ihre Mäuler, Zungen und der gesamte Rachenraum waren nämlich mit einer dicken Hornschicht bedeckt, die sie vor den messerscharfen Grasrändern schützte. Diese Hornschicht erschwerte den Tieren allerdings das Atmen, weshalb sie sich stets nur träge bewegten, um nicht in Atemnot zu geraten. Im Schlaf pflegten sie mit ohrenbetäubender Lautstärke zu schnarchen, was zu ihrem Schutz diente, ihnen aber nicht selten auch zum Schaden gereichte. Wer ihr entsetzliches Schnarchen zum ersten Mal vernahm, wagte sich gewiss nicht näher an sie heran, da er unfehlbar annahm, dass es von einem schrecklichen Ungeheuer stammte. Raubtiere, die es auf Schnarchschafe abgesehen hatten, konnten ihre Opfer dagegen schon von Weitem hören. Doch obwohl diese allenfalls im Schleichschritt zu fliehen vermochten, bestand kaum Gefahr, dass sie gefressen wurden. Das gallenbittere Ritzelgras, ihre Hauptnahrung, verlieh dem Fleisch der Schnarchschafe einen geradezu ekelerregenden Geschmack, und ihre Milch war so ätzend, dass sie Löcher in Magen und Gedärm derer brannte, die sie versehentlich zu sich nahmen. Nur die Erztrolle mit ihren Eisenmägen vermochten sie schadlos zu trinken, weshalb die Schnarchschafe zu ihren bevorzugten Haustieren zählten.
In der Hütte herrschte Dämmerlicht, der Mittagsstunde zum Trotz. Die Sonne versuchte mit wenig Erfolg die staubtrüben Scheiben der zwei Fensterchen zu durchdringen. In der dunkelsten Ecke war ein ärmliches Lager aufgeschichtet, und darauf ruhte eine Frau. Ihr Körper war unter der Wolldecke kaum auszumachen. Ihr Gesicht wurde vom flackernden Schein einer Kerze erhellt. Es war totenblass und von Erschöpfung gezeichnet. Die Frau atmete schwer, während sie die beiden Kinder, die mit bedrückten Mienen an ihrem Lager standen, mit wehmütigem Lächeln ansah. Der schwarzhaarige Junge war von kräftiger Statur und gut dreizehn Sommer alt. Das schmächtige Mädchen mit den langen dunklen Zöpfen war um einiges jünger.
Mit einer mühsamen Geste bedeutete die Frau ihnen, noch näher zu treten. »Es tut mir schrecklich leid, meine Kinder«, sagte sie mit einer Stimme, die wenig mehr als ein Flüstern war. »Es ist alles meine Schuld …«
Der Junge fiel ihr ins Wort. »Nicht doch, Mutter«, sagte er besorgt. »Ruh dich erst ein bisschen aus, damit du wieder zu Kräften kommst. Es ist doch noch weit bis nach Seperanza. Unterwegs kannst du uns alles erzählen, was du auf dem Herzen hast.«
»Dann ist es zu spät.« Die Frau lächelte gequält. »Ich werde die Stadt nicht mehr erreichen, denn ich habe die Gefahr, in der wir schweben, zu spät erkannt.« Die Kinder wechselten einen erschrockenen Blick, während die Augen ihrer Mutter sich mit Tränen füllten. »Ich bin einer schrecklichen Täuschung erlegen. Erinnert ihr euch, als wir Abschied von eurem Vater nehmen mussten?« Sie sah den Jungen an. »Kayún?« Er nickte.
»Und du, Elea?«
»Natürlich, Mutter.« Die Kleine zwang sich zu einem traurigen Lächeln. »Natürlich erinnere ich mich.«
Die Frau wandte den Blick von ihrer Tochter ab und starrte für einige Augenblicke zur spinnwebverhangenen Decke der Hütte, in der sie Unterschlupf gesucht hatten auf ihrer Flucht vor dem drohenden Verderben. »Damals habe ich geglaubt«, fuhr sie fort, »das Nichts hätte euren Vater Erwein geholt. Doch nun weiß ich, dass das nicht stimmt.«
Kayún räusperte sich. »Warum bist du dir da so sicher, Mutter?«
»Ganz einfach, mein Junge: weil das Nichts seit dem Tag, an dem dieses Menschenkind der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen gegeben hat …«
»Mondenkind«, hauchte Elea dazwischen.
Die Mutter wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte mühsam. »Ganz recht: Mondenkind. Seit diesem Tag also ist das Nichts besiegt und stellt keine Gefahr mehr für uns dar, zumindest vorerst nicht. Trotzdem bin ich immer schwächer geworden. Wenn wir sofort aufgebrochen wären, damals, dann wäre es vielleicht …« Sie brach ab und starrte erneut zur Decke.
Der Junge kniff verwundert die Augen zusammen. »Aber warum denn? Dass man sich kraftlos fühlt, ist doch ganz normal bei einer Erkältung. Besonders wenn sie so schwer …«
»Ich bin nicht erkältet«, unterbrach ihn die Mutter, »so wenig wie das Nichts euren Vater verschlungen hat. Erwein ist vielmehr das Opfer des Vergessens geworden, und auch ich werde ihm nicht mehr entkommen können.«
Blubbernde Geräusche waren in der stickig heißen Küche zu hören. Töpfe dampften auf dem Herd, aus dessen Schürloch der Schein des Holzfeuers drang. Schwitzend rührte Saranya die Seerosenblättersuppe um. Es war die Lieblingsspeise ihres Vaters, besonders, wenn die Blätter aus dem Großen Morkelsee am Rand der Sümpfe der Traurigkeit stammten. Das seien die besten in ganz Phantásien, behauptete Asmus, denn sie verliehen der Suppe einen vortrefflich melancholischen Geschmack. Der Hohe Herr konnte gar nicht genug bekommen von der köstlichen Labsal. Raya musste darauf achten, dass ihr Gatte nicht zu viel davon in sich hineinschlang. Dann verfiel er nämlich in Melancholie und benötigte wieder ein Löffelchen Sonnensirup, das ihn aufheiterte.
Saranya musste kichern bei diesem Gedanken. Erwachsene! Sie waren nichts anderes als wandelnde Widersprüche.
»Ist die Suppe fertig?«, fragte ihre Mutter.
Saranya tauchte einen Löffel in die Suppe und pustete ein paar Mal, bevor sie vorsichtig schlürfte. Hmm – sie schmeckte wirklich gut. Leicht salzig, mit einem schwachen Nachgeschmack von Algen. Auch die fein geschnittenen Seerosenblätter waren auf den Punkt genau gegart – noch knackig und bissfest, wie der Vater es liebte.
»Alles in Ordnung«, sagte sie und hielt der Mutter den Löffel hin. »Koste doch mal.«
Raya strich sich die kastanienfarbenen Haare aus der Stirn, nahm den Löffel und führte ihn an die Lippen. Ihre braunen Augen leuchteten auf, während sie genießerisch das Gesicht verzog. »Köstlich! Einfach köstlich!«, schwärmte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Du kochst ja schon besser als ich!« Ein Lächeln erhellte ihr freundliches Gesicht, während sie Saranya über das blonde Haar strich, das dem Mädchen bis auf die Schultern fiel. Dann nahm sie die Schöpfkelle und füllte einen Blechnapf mit der dampfenden Suppe. Nachdem sie ihn sorgfältig mit einem Deckel verschlossen hatte, fasste sie ihn am Tragegriff und reichte ihn der Tochter, die fast schon höher gewachsen war als sie selbst. »So, und jetzt lauf, damit sie nicht kalt wird. Aber pass auf, dass dein Vater nicht zu viel davon isst – du weißt schon, warum, nicht wahr?«
»Natürlich, Mutter.« Saranya zwinkerte ihr zu. »Keine Sorge, ich werde dem Hohen Herrn seine Ration ganz genau einteilen.« Damit eilte sie aus der Küche, um sich auf den Weg zum Hohen Haus zu machen.
*
In der kleinen Hütte schwieg die zu Tode erschöpfte Mutter noch immer. Sorgsam darauf bedacht, sie nicht zu bedrängen, setzte Elea sich vorsichtig auf ihr Lager und sah sie bekümmert an. »Was ich nicht so recht verstehe …«
»Ja?«
»Warum sind ausgerechnet wir Insomnier so anfällig für das Vergessen – und die anderen Bewohner Phantásiens nicht?«
Die Mutter zog ein gequältes Gesicht. »Das ist das große Rätsel, das uns Insomnier schon seit Anfang der Zeiten bedrückt. Doch bis zum heutigen Tag haben nicht einmal die klügsten und eifrigsten Forscher es lösen können. Seit es uns gibt, müssen wir mit der Gefahr des Vergessens leben und können nur darauf hoffen, dass eines Tages jemand den Grund dafür entdeckt. Dann wird es vielleicht auch möglich sein, ein Mittel dagegen zu finden. Für mich aber ist es zu spät. Mein Schicksal ist nicht mehr abzuwenden.« Sie brach ab und ihr bleiches Antlitz schien noch fahler zu werden.
Wortlos ergriff das Mädchen die Hand des Bruders, der sich neben sie gesetzt hatte, und drückte sie ganz fest. Das Sprechen bereitete der Mutter zunehmend Mühe. Nur stockend kamen die Worte über ihre durchscheinenden Lippen. »Ihr müsst weiter fliehen und euch in Sicherheit bringen, meine Kinder. Auch wenn ich noch keinerlei Zeichen an euch entdecken kann, seid auch ihr vom Vergessen bedroht. Versucht Seperanza so schnell wie möglich zu erreichen. Nur in dieser Stadt seid ihr sicher vor dem Vergessen. Wartet dort in aller Ruhe ab, bis der Ruf wieder an euch herangetragen wird. Dann erst könnt ihr euch aufs Neue in die Weiten Phantásiens hinauswagen.« Ein wehmütiges Lächeln tanzte über ihr Gesicht, dessen Konturen nun immer mehr verblassten. »Kayún?«
Der Junge senkte den Kopf, bis sich sein Ohr ganz dicht am Mund der Mutter befand.
»Du bist um einiges älter als deine Schwester und schon weit herumgekommen in Phantásien«, flüsterte sie ihm mit schwindender Stimme zu. »Elea benötigt deine Hilfe und deinen Beistand. Versprich mir, dass du deine Schwester beschützen wirst, bis ihr die sichere Obhut der Stadt erreicht habt.«
»Ja, Mutter.«
»Schwöre es – beim Andenken deines Vaters!«
»Ich schwöre es beim Andenken meines Vaters«, wiederholte der Junge und schloss die Augen. »Ich werde dafür sorgen, dass Elea nichts zustößt – und wenn ich mein Leben dafür geben müsste.«
»Gut«, wisperte die Frau zurück.
Als Kayún die Augen öffnete, war nichts mehr von der Mutter zu sehen. Sie hatte sich vollständig aufgelöst. Nur ihre Stimme war noch zu vernehmen, wenn auch kaum mehr hörbar. »Vergesst mich nicht«, hauchte sie. »Und denkt immer daran, dass ich euch lieb …« Aber da wurde ihr ersticktes Raunen auch schon ins Nichts verweht und verstummte für immer.
»Mutter?«, rief Kayún voller Verzweiflung. Während Elea zu schluchzen begann, griff er zur Decke und zog sie zur Seite – doch darunter war nichts. Nicht die geringste Spur der Mutter war mehr auf dem Lager zu erkennen – und da wusste Kayún, dass sie von nun an ganz auf sich gestellt sein würden.
*
Im Hohen Haus, dem Magistratsgebäude von Seperanza, waren nicht nur der Sitzungssaal, in dem der Rat der Hohen regelmäßig tagte, sondern auch die Amtsstuben und sonstigen Kammern und Räume der vielköpfigen Verwaltung untergebracht. Seinem Namen zum Trotz war das Hohe Haus allerdings schon lange nicht mehr das höchste Gebäude der Stadt. In grauer Vergangenheit, als es errichtet worden war, hatte es alle anderen Häuser um Längen überragt. Doch daran konnte sich kaum noch jemand erinnern. Und Saranya natürlich schon gar nicht. Dabei war das Hohe Haus nach wie vor ein recht imposanter Bau. Von Weitem gesehen wies es eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem überdimensionalen Spitzhut auf. Es stand mitten auf dem Magistratsplatz, war kreisrund und ragte von einem flach ansteigenden Steinsockel, der an eine Hutkrempe erinnerte, in die Höhe. In den ersten drei Stockwerken verringerte sich der Durchmesser des Gebäudes stetig, während er in den darüber liegenden sechs Etagen nahezu gleich blieb. Das Dach des Hauses schließlich bildete eine spitz zulaufende Kuppel. Diese für ein Gebäude recht eigenartige Form war allerdings nicht etwa einer schrulligen Laune seiner Erbauer entsprungen. Sie war vielmehr den hohen, aus dünnem Goldblech getriebenen Hüten nachempfunden, die die Mitglieder des Rates bei ihren Sitzungen zum Zeichen ihrer Amtswürde zu tragen pflegten. Weshalb die Außenwände des Hohen Hauses auch mit einem Anstrich aus glänzender Goldfarbe versehen worden waren, in die man winzige Partikel feinsten Flussgoldes gemischt hatte. Die Zahl seiner Etagen entsprach nicht nur der Anzahl der Ratsmitglieder: Neun Jahre dauerten auch die Amtsperioden, für die sie von den Einwohnern der Stadt jeweils gewählt wurden.
Nach der Wahl bestimmten die neun Hohen einen aus ihrer Mitte zum Hohen Herrn, der als ihr Ranghöchster einen Hut tragen durfte, welcher die Kopfbedeckungen der anderen um mehr als zwei Handbreit überragte. Wie schon in den beiden Amtsperioden davor nahm auch gegenwärtig wieder Saranyas Vater Asmus diese verantwortungsvolle Position ein, und alle Einwohner Seperanzas waren sich sicher, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändern würde. Denn der Hohe Herr Asmus übte seine vielfältigen Ämter sehr gewissenhaft und umsichtig aus, und es gab kaum Klagen über ihn zu hören.
Die Wachen am Eingangsportal – wie alle ihre Kollegen zählten auch sie zu den Adlerleuten, die so genannt wurden, weil auf ihren Schultern imposante Adlerköpfe saßen – ließen Saranya anstandslos passieren. Alle Mitglieder der Magistratswache kannten das Mädchen, das seinem Vater jeden Tag das Mittagessen brachte. Auch der Portier, der seinen Platz gleich hinter dem Eingang der geräumigen Halle hatte, begrüßte sie mit einem freundlichen Nicken, bevor er sich wieder dem Besucher aus Sassafranien zuwandte, der vor seiner Loge stand. »Vergesst nicht«, schärfte er diesem ein, »Euren Passierschein wieder bei der Torwache abzugeben.«
»Wieso das denn?«, fragte der Mann. Saranya wollte über so viel Unwissenheit schon die Nase rümpfen, als ihr sein zerfurchtes Gesicht auffiel. Da die Sassafranier als Greise geboren wurden und als Babys starben, musste er noch sehr jung sein. Wahrscheinlich handelte es sich um seinen ersten Besuch in Seperanza, weshalb er mit den hiesigen Gepflogenheiten noch nicht so recht vertraut schien.
»Ganz einfach«, begann der Pförtner seine Erklärung, aber da war Saranya bereits außer Hörweite. Schließlich wusste sie seit Langem, aus welchem Grund die Gardisten den Passierschein von jedem, der die Stadt verließ, wieder einsammelten: Wenn das Stadttor bei Einbruch der Nacht geschlossen wurde, konnten sie anhand der Dokumente leicht nachprüfen, ob keine auswärtigen Besucher in der Stadt geblieben waren. Fehlte eines der ausgestellten Papiere, so wurde der Betreffende unverzüglich zur Fahndung ausgeschrieben und ein Suchtrupp nach ihm ausgeschickt.
Für einen Augenblick überlegte Saranya, ob sie sich über die Treppe ins oberste Stockwerk begeben oder sich lieber der Laufenden Stufen bedienen sollte, die in jeder Etage des Hohen Hauses bereitstanden. Sie ersparten einem das mühselige Steigen, weil sie jeden, der sie betrat, geschwind ins gewünschte Geschoss schleppten. Saranya entschied sich für die Laufenden Stufen. Kaum trat sie auf eine der fußbreiten Schwellen, als ihr auffiel, dass die Laufende Stufe pitschenass war. »Was ist passiert? Hat jemand Wasser auf Euch vergossen?«
»Das nicht«, antwortete die Angesprochene, »aber vorhin musste ich drei Kiemlinge transportieren. Sie verlangten zum Hohen Herrn gebracht zu werden. Und sie waren nicht nur überaus feucht, sondern auch ganz schön schwer, Mademoiselle.« Dann erkundigte sie sich höflich nach Saranyas Ziel: »Wohin darf ich Sie bringen, Mademoiselle?«
»Ebenfalls zum Hohen Herrn Asmus, bitte.«
»Oje«, seufzte die Stufe, »schon wieder ins oberste Geschoss. Heute bleibt mir auch gar nichts erspart. Zum Glück scheint Ihr mir nicht allzu schwer zu sein, Mademoiselle.« Damit setzte sie sich in Bewegung und huschte flink über die Treppe nach oben.
Im neunten Geschoss angelangt, bedankte sich Saranya bei der Laufenden Stufe und eilte auf den Amtssalon des Hohen Herrn zu. Bereits von Weitem konnte sie sehen, dass heute wieder Bubu zur Türwache eingeteilt war. Saranya kannte den alten Eulenkopf schon lange. Im Inneren des Hohen Hauses taten nicht die scharfsichtigen Adlerleute Dienst, sondern ihre Vettern, die Eulenköpfe. Die konnten zwar nicht so gut sehen wie die Adlerleute, waren dafür aber um vieles klüger, sodass sie gleichzeitig als Amtsdiener gebraucht werden konnten. Saranya nickte Bubu freundlich zu und wollte schon zur Klinke greifen, als der Eulenkopf sie ansprach: »Du wirst doch nicht kneifen wollen, oder?«
Saranya verzog das Gesicht. »Bitte nicht, Bubu«, sagte sie gequält. »Nicht schon wieder.«
»Stell dich nicht so an«, entgegnete der oberste Amtsdiener. »Wir haben’s doch bisher immer so gemacht, oder?«
»Ja, schon. Aber heute ist mir einfach nicht danach. Außerdem bin ich spät dran, glaube ich.«
»Bist du nicht!«, wischte Bubu ihre Bedenken zur Seite. »Du bist pünktlich wie immer. Außerdem hat der Hohe Herr noch Besuch. Was aber das Wichtigste ist: Brauch ist Brauch, und deshalb wollen wir es auch heute so halten wie immer. Oder gibt es einen Grund, davon abzuweichen?«
Das Mädchen verdrehte die Augen. »Also gut«, seufzte sie und ergab sich in ihr Schicksal. »Dann mach schon, Bubu.«
»Wusste ich doch, dass du einsichtig bist.« Der Eulenkopf grinste. »Dann mal los: Ein jeder Vogel hat’s in seinem Nest; im Kelch von jeder Blume sitzt es fest, du siehst’s im Spiegel, hast es im Gesicht; und nur in deiner Hand entdeckst du’s nicht!«
Hätte ich mich bloß nicht darauf eingelassen, ging es Saranya durch den Kopf. Seit sie vor geraumer Zeit Bubus eher scherzhaft gemeintem Vorschlag zugestimmt hatte, erst nach Lösung eines Rätsels das Zimmer ihres Vaters betreten zu dürfen, hatte sich daraus ein Ritual entwickelt, an dem der Eulenkopf unerbittlich festhielt. An jedem Tag, an dem er Dienst tat, stellte er ihr ein neues Rätsel. Manchmal leichter, manchmal schwerer, gab es Saranya stets Anlass zum Nachdenken. Glücklicherweise kam sie diesmal recht schnell auf die Lösung.
»Willst du mich beleidigen, Bubu?«, sagte sie und tat entrüstet. »Oder glaubst du, ich wäre noch ein Kleinkind? Dein Rätsel ist nicht halb so schwer, wie es im ersten Moment den Anschein hat. Man muss es nur wörtlich nehmen: Die Lösung ist der Buchstabe E. Er kommt in den Wörtern ›Vogel‹, ›Nest‹, ›Kelch‹, ›Spiegel‹ und auch ›Gesicht‹ vor, nicht aber in ›Hand‹ – habe ich recht?«
»Ist ja gut, ist ja gut«, antwortete der Eulenkopf kleinlaut, bevor er dem Mädchen die Tür öffnete. »Aber warte nur bis morgen. Dann werde ich dir eine Aufgabe stellen, die deinen Kopf zum Qualmen bringt.«
Als Saranya in das geräumige Gelass trat, das dem Hohen Herrn nicht nur als Amtsstube diente, sondern in dem er auch die Gäste des Magistrats empfing, verabschiedete Asmus gerade eine dreiköpfige Delegation von froschgesichtigen Kiemlingen. Diese dickbäuchigen Geschöpfe, die von einigen auch Süßwassermänner genannt wurden, waren im Land der Glitzernden Seen beheimatet, wie das Mädchen wusste. Es war eine der wasserreichsten Regionen des Phantásischen Reichs, die von Hunderten von Flussläufen und Tausenden von Seen durchzogen wurde. In diesen wimmelte es von Getier aller Art, besonders aber von Glitzerfischen, deren glänzende Schuppen die Gewässer aussehen ließen, als seien sie mit flüssigem Silber gefüllt. Wodurch sich natürlich der Name der Region erklärte. Diese Glitzerfische waren nicht nur prächtig anzusehen, sondern auch äußerst schmackhaft und bei den Einwohnern von Seperanza überaus begehrt. Der Hohe Herr Asmus hatte mit den Kiemlingen, die über die Fischereirechte in der Region verfügten, Gespräche über ein langfristiges Handels- und Lieferabkommen führen wollen. Seiner Miene nach zu urteilen, mussten die Verhandlungen erfolgreich verlaufen sein, denn Asmus strahlte übers ganze Gesicht, während er den drei Süßwassermännern die mit Schwimmhäuten versehenen Hände drückte und ihnen einen guten Nachhauseweg wünschte. Die grünhäutigen Besucher, auf deren kiemenbewehrten Köpfen sich Algen und Tang kringelten – ihr Anführer trug sogar eine grellrote Seerose auf dem froschähnlichen Haupt –, bedankten sich und platschten zur Tür. Jeder Schritt ihrer schwimmhäutigen Füße hinterließ eine kleine Pfütze auf dem Marmorboden.
Bevor sie den Raum verließen, gab Asmus ihnen noch einen Rat mit auf den Weg: »Hütet Euch vor den Optasomniern, meine Herren. Sie lagern in großer Zahl vor den Mauern unserer Stadt und haben sich zu einer wahren Landplage entwickelt. Diese gedankenlosen Nachäffer sind zwar nicht weiter gefährlich, aber manchmal genügt ihr bloßer Anblick, um Übelkeit und Erbrechen hervorzurufen, und das möchte ich Euch ersparen, Eure Feuchtigkeiten.«
Der Sprecher der Wassermänner verzog belustigt das Froschmaul: »Platscheraplatsch, Herr Asmus – wir sind schon mit viel übleren Kreaturen fertig geworden, sodass wir die Optasomnier nun wirklich nicht fürchten. Für Euch und Eure Stadt jedoch scheinen sich die Herrschaften langsam zu einem echten Problem zu entwickeln, wie mich dünkt?«
Der Hohe Herr zog ein gequältes Gesicht. »Wie recht Ihr doch habt, Eure Feuchtigkeit. Und leider ist uns noch keine überzeugende Lösung eingefallen.« Dann bemühte er sich wieder zu lächeln. »Aber lasst unsere Sorgen nicht die Euren sein und gehabt Euch wohl!« Damit verbeugte er sich, und die Besucher verließen den Raum.
Nachdem die Kiemlinge die Tür hinter sich geschlossen hatten, begab sich Herr Asmus an den langen Holztisch, den eine Abordnung von mondäugigen Nachtalpen vor einigen Sommern als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Sanft strich er Saranya, welche die mitgebrachte Suppe gerade in einen Teller füllte, übers Haar und schnupperte. »Hmm! Riecht das wieder köstlich!«, schwärmte er und schloss mit verzückter Miene die Augen.
Saranya lächelte. »Lasst es Euch schmecken«, sagte sie. Anders als bei ihrer Mutter, gebrauchte sie beim Vater nicht das vertrauliche Du, sondern, wie in Seperanza zwischen Eltern und Kindern allgemein üblich, das förmliche Ihr. Nicht dass Herr Asmus das von ihr verlangt hätte. Aber Saranya war zu dem Eindruck gelangt, dass diese Anrede ihm besser gefiel und auch seiner Amtswürde eher entsprach.
Während der Vater stumm seine Suppe löffelte, strich Saranya in seinem Salon umher. Herr Asmus konnte es nicht ausstehen, sich während des Essens zu unterhalten, und so ließ das Mädchen ihn währenddessen lieber in Ruhe. Das Gelass des Hohen Herrn, dessen Wände mit Goldfarbe gestrichen waren, nahm eine Hälfte des obersten Stockwerks des Hohen Hauses ein. Von den Fenstern aus hatte man nicht nur einen ausgezeichneten Blick über die Stadt, sondern konnte auch bis weit über den dichten Trugwald sehen, der Seperanza von allen Seiten umschloss.
Saranya lehnte sich an die Scheibe und kniff die Augen zusammen. Ganz in der Ferne, am Horizont, schimmerte ein schmaler Streifen gelben Landes auf. Das war die Gggrrrpfffüüü-Wüste, die zwischen dem Trugwald und dem Großen Schlafmeer lag. Saranyas Augen glitzerten in der spiegelnden Scheibe. Ob ich wohl jemals erfahren werde, wie es dort aussieht, kam es ihr kurz in den Sinn, bevor sie den törichten Gedanken wieder aus ihrem Kopf verscheuchte. Schließlich wusste sie längst, dass es für alle in Seperanza lebenden Insomnier, die den Ruf noch nicht vernommen hatten, äußerst gefährlich war, die schützenden Mauern der Stadt zu verlassen. Weiter als bis in den Trugwald hatte sie sich deshalb auch noch nicht gewagt. Doch selbst diese seltenen Ausflüge hatte sie stets nur in Begleitung von Erwachsenen unternommen. In dem dichten Wald, der noch dazu ständig sein Aussehen änderte, konnte man sich leicht verirren, und so war schon manch ein Unglücklicher auf Nimmerwiedersehen darin verschwunden. Zudem setzte man sich mit jedem Schritt, den man sich von der Stadtgrenze entfernte, der Gefahr aus, vom Vergessen befallen zu werden.
Das Mädchen seufzte. Warum nur, ging es ihr durch den Kopf, warum müssen ausgerechnet wir Insomnier mit diesem Schicksal leben? Warum sind nicht auch die anderen Völker Phantásiens von dem schrecklichen Vergessen bedroht? Die Grasleute, die Sassafranier, die Amargánther und wie sie sonst noch alle heißen mögen? Und wieso kann mir keiner erklären, warum das so ist? Selbst mein Vater nicht!
Saranya drehte sich um und warf dem Hohen Herrn Asmus einen verstohlenen Blick zu. Der löffelte mit zufriedenem Gesicht seine Suppe und merkte anscheinend nicht, dass er beobachtet wurde. Er muss doch ein kluger Mann sein, überlegte sie, denn sonst hätte man ihn kaum zum Hohen Herrn gewählt. Wusste er also wirklich nicht, was es mit diesem rätselhaften Vergessen auf sich hatte? Glaubte er tatsächlich, dass es schlichtweg nur »Schicksal« war, wie er auf ihre Fragen zu antworten pflegte – oder wollte er es ihr nicht sagen? Machte er, wie alle Erwachsenen, vielleicht nur deshalb ein großes Geheimnis darum, weil er glaubte, sie sei noch viel zu jung, um es verstehen zu können?