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Nur mit ihr an seiner Seite kann er sein wichtigstes Spiel gewinnen
So hatte sich Ethan Kase sein Leben als Eishockey-Profi nicht vorgestellt! Nachdem er vor acht Jahren seine Heimatstadt und seine große Liebe Lilah verlassen hat, um ein erfolgreicher NHL-Spieler zu werden, ist er nun wieder zurück und hofft auf eine zweite Chance mit der Frau, die er nie vergessen konnte. Doch Lilah hat nicht vor, ihm so leicht zu verzeihen. Auch sie kann sich noch an die glückliche Zeit mit Ethan erinnern - und an die Trauer, die sie nach der Trennung empfunden hat. Ethan muss jetzt in das härteste Spiel seines Lebens einsteigen - und es geht um nicht weniger als Lilahs Herz ...
"Helena Hunting glänzt mit diesem mitreißenden Liebesroman!" PUBLISHERS WEEKLY
Band 1 der SECOND-CHANCES-Reihe von NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Autorin Helena Hunting
Dieser Roman ist bereits unter dem Titel LOVE PLAY bei LYX.digital erschienen.
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Seitenzahl: 443
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Helena Hunting bei LYX
Impressum
Helena Hunting
Lean On Me
Roman
Ins Deutsche übertragen von Barbara Först
So hatte sich Ethan Kane sein Leben als Eishockey-Profi nicht vorgestellt! Nachdem er vor acht Jahren seine Heimatstadt und seine große Liebe Lilah verlassen hat, um ein erfolgreicher NHL-Spieler zu werden, ist er nun wieder zurück. Aber seine sportlichen Leistungen sind in letzter Zeit nicht mehr das, was sie einmal waren – und er hat nie wieder eine Frau getroffen, die ihm so viel bedeutet wie Lilah. Nun hofft er, dass er in seiner Heimat eine zweite Chance bekommt, die Frau zurückzuerobern, die er einfach nie vergessen konnte. Aber auch eine zweite Chance auf eine erfolgreiche Karriere. Denn nur zusammen mit Lilah war Ethan jemals wirklich glücklich und nur mit ihr an seiner Seite hat er Höchstleistungen auf dem Eis vollbracht. Doch Lilah hat nicht vor, Ethan so einfach zu verzeihen. Auch sie kann sich noch an die glückliche Zeit mit Ethan erinnern – und an die Trauer, die sie nach der Trennung empfunden hat. Ethan muss jetzt in das härteste Spiel seines Lebens einsteigen – dabei geht es um nicht weniger als Lilahs Herz …
Meinen ganz persönlichen Glücksbringern
Hubs und Kidlet
gewidmet
Lilah
Die geronnene Milch in meinem Kaffee hätte mir eine Warnung sein sollen, dass ein grottenschlechter Tag bevorstand.
Weil ich keinen Tag ohne Koffeinkick angehen kann, stoppte ich auf dem Weg zur Arbeit an einem niedlichen kleinen Café – nur um an der Theke festzustellen, dass mein Portemonnaie nicht in meiner Handtasche steckte und ich mich außerstande sah, den überteuerten Latte zu bezahlen, ohne den ich anscheinend nicht leben konnte.
Also raste ich zurück zum Parkplatz und kratzte genug Kleingeld für das edle Gesöff zusammen. Doch als ich wieder an die Theke trat, hatte sich ein anderer meinen Latte gegrabscht, und ich musste noch einmal zehn Minuten warten, weil vor mir sieben Leute anstanden.
Zum Glück hatte ich es nicht weit zu meiner Arbeitsstelle und würde selbst mit der Verspätung noch überpünktlich ankommen. Ich hatte allerdings gehofft, vor meiner Schicht noch eine halbe Stunde Zeit übrig zu haben, um Lehrstoff für mein Statistikseminar zu lesen. Aber egal – das Lernen konnte ich in der Mittagspause einschieben, statt mit den Kolleginnen zu schwatzen.
Nur noch ein Kursus, dann würde ich die Zulassungsbedingungen erfüllt haben, um an der University of Minnesota im kommenden Herbst meinen Master in Krankenpflege zu beginnen. Seit vier Jahren arbeitete ich als Krankenschwester in Vollzeit, und jetzt, mit sechsundzwanzig, wollte ich wieder studieren und mich weiterbilden.
Mit meinem Latte in der Hand trat ich hinaus in den Nieselregen, der eingesetzt hatte, während ich in der Kaffeeschlange wartete. Düstere Wolken hingen tief am Himmel, als ich zu meinem Wagen sprintete. Ich stellte den Becher auf das Autodach und wühlte in der Handtasche nach meinen Schlüsseln. Das Geniesel schwoll zu einem Wolkenbruch an, und da stand ich nun, mit triefenden Haaren und in meiner Schwesternkluft, die mir auf der Haut klebte. Nur die verdammten Schlüssel fand ich nicht.
Dann fiel mir zu allem Überfluss auch noch die Handtasche herunter, und ihr Inhalt verteilte sich auf dem ganzen Parkplatz; die Autoschlüssel kullerten unter meinen Corolla. Auf Händen und Knien fischte ich sie hervor – ein Manöver, bei dem ich meinen Brustkorb auf den Boden pressen musste, mitten hinein in eine dreckige Pfütze.
Nachdem ich meine Habseligkeiten endlich eingesammelt hatte – abgesehen von einem Lippenstift und einer Puderdose, die durch ein Abflussgitter verschwunden waren –, stand fest, dass ich zu spät kommen würde, wenn ich mich nicht irrsinnig beeilte. Um halb zehn war Schichtbesprechung. Entnervt, wie ich war, vergaß ich den Kaffeebecher auf dem Wagendach, wo er aber wie durch ein Wunder stehen blieb – bis zur ersten roten Ampel, wo er mir die Windschutzscheibe versaute.
Ich schaffte es gerade noch, pünktlich zu kommen, wobei ich aussah wie eine ersoffene Ratte mit bedenklichem Koffeinmangel. Zum Glück hortete ich für solche Notfälle stets eine zweite Montur in meinem Spind.
Reichlich neben der Spur, aber wild entschlossen, mir mein Ungemach nicht anmerken zu lassen, föhnte ich mir die Haare mit dem Händetrockner in der Damentoilette halbwegs trocken. Die morgendliche Prozedur mit dem Glätteisen hatte sich also auch als überflüssig erwiesen.
Ich war gerade auf dem Weg zur Morgenbesprechung, als ein attraktiver Anzugträger mit Brille – ich habe schon immer eine Schwäche für Männer mit Brille gehabt – meinen Namen rief.
Wie sich herausstellte, war es der Anwalt meines Mannes, der mir die rechtskräftigen Scheidungspapiere aushändigen sollte. Nach fast sechs Jahren Ehe besaß das Arschloch nicht einmal so viel Anstand, mir die Papiere persönlich zu bringen oder ein Treffen zu arrangieren, bei dem wir sie unterzeichnen konnten. Mir war nicht klar gewesen, dass unsere Kommunikation inzwischen derartig in die Sackgasse geraten war.
Krampfhaft hielt ich während der Teambesprechung die Tränen zurück – Tränen der Scham, der Wut und der Frustration.
Den ganzen Tag über, der sich mühsam dahinschleppte, klebte an mir ein Gefühl der Leere. Nach Hause zog es mich jedoch auch nicht unbedingt, denn dort wartete nur Merk auf mich, mein Hund. Er war zwar ein superguter Zuhörer, aber heute schien mir das nicht genug zu sein.
Ich hätte nicht geglaubt, dass dieser Tag noch schlimmer werden könnte.
Doch da irrte ich mich gewaltig.
* * *
Am Ende meiner Schicht schaue ich für gewöhnlich im Stationszimmer vorbei, um den Papierkram zu erledigen. Ashley, die am Empfang sitzt, starrt auf den MRT-Scan eines Gehirns, wobei sie die Hände in die Hüften stemmt.
»Worum geht’s?«, frage ich und gehe zu ihr hinter den Tresen. Die Schatten auf dem Scan sehen gar nicht gut aus.
»Schlaganfall. Vor ’ner knappen Stunde reingekommen.« Über die Schulter wirft sie mir einen Blick zu. »Hast du Dienstschluss?«
»Ja.« Mein Blick fällt auf den Namen unter dem Scan. Das Clipboard rutscht mir aus der Hand und fällt zu Boden. »Oh Gott.«
»Lilah? Alles in Ordnung?«
Ich schüttele den Kopf. Ich will nicht glauben, was ich eben gelesen habe. Das darf doch nicht wahr sein! Nicht heute.
Ashley legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ein Bekannter von dir?«
Ich nicke und unterdrücke mit Mühe ein Aufschluchzen. Erst dann kann ich antworten. »Ja. In welchem Zimmer liegt er?«
»Lass mal sehen …« Sie huscht zur Tafel, überfliegt sie und liest mir die Zimmernummer vor, zur Sicherheit zweimal. »Soll ich mitkommen?«
»Nein. Geht schon.« Das kommt der Wahrheit nicht einmal annähernd nahe. Denn der Mann, den ich liebe wie einen Vater, hat einen Schlaganfall erlitten.
Ich wünschte, ich wäre heute gar nicht erst aufgestanden. Ich wünschte, heute gäbe es nicht.
Ich stürze zu seinem Zimmer, wobei mir vor Angst das Herz im Hals hämmert. Aber als ich dort ankomme, finde ich nicht, wie erwartet, Martin Kases Frau vor, die mir immer eine zweite Mutter gewesen ist. Nein, auf einem Stuhl neben dem Krankenbett sitzt mit gesenktem Kopf und verlorenem Ausdruck ihr beider Sohn. Mein Magen fühlt sich an wie Beton. Das da ist nicht irgendein Geist, sondern der Geist meiner Vergangenheit. Ethan.
Sogleich wird mir der Mund trocken. Meine Beine fühlen sich an wie Stöcke, auf denen ich nicht mehr gehen kann. Ich schnappe nach Luft. Heftige Gefühle steigen in mir auf, die mich überwältigen und lähmen. Mir ist zumute, als lägen sämtliche Nervenenden bloß, und die Luft im Zimmer brennt plötzlich wie Feuer auf meiner Haut.
Es ist einfach zu viel. Mein Herz hat heute schon zu viele Schläge einstecken müssen. Und der Schlag, den er mir vor acht Jahren versetzt hat, schmerzt noch immer. Der Abend, als er anrief, um mir mitzuteilen, es ginge nicht mehr. Mit uns. All unsere gemeinsamen Jahre – ich als Kind von meinem Dad verlassen; die Highschoolzeit; jede Erfahrung, die wir zusammen gemacht hatten; der Abschlussball; und wie ich ihm beim Packen fürs College half … all das zählte mit einem Mal für Ethan nicht mehr. Er musste sich auf Eishockey, auf seine Karriere in der NHL konzentrieren. Ich war für ihn nichts als eine Ablenkung, und die konnte er sich nicht leisten.
Ethan drückt sich aus dem Stuhl hoch, und sein gewaltiger Körper richtet sich langsam auf. Meine Güte, was für Muskeln er bekommen hat! Natürlich habe ich in der Zwischenzeit einige Fotos in den Social Media gesehen und auch Bilder von Ethan auf dem Eis, wenn ich durch Zufall mal ein Spiel sah – denn, wenn ich weiß, dass er spielen wird, schalte ich den Fernseher gar nicht erst an. Nichts jedoch hat mich darauf vorbereitet, dem Mann, der mir mein Herz genommen, zerbrochen und in Stücken zurückgegeben hat, unvermittelt von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.
Ethan sieht immer noch ungewöhnlich gut aus, heute sogar mehr als zu unserer Teenagerzeit. Ich schwöre, dass seine Schultern doppelt so breit sind wie vor zehn Jahren. Ich kann seinen Blick kaum aushalten, ohne in einer Flut von Erinnerungen zu ertrinken, die ich schon vor langer Zeit begraben zu haben glaubte. Ich hatte fast vergessen, wie fesselnd seine Augen sind – okay, das stimmt nicht –, es ist aber auch lange her, seit mich ihr Blick mit voller Wucht getroffen hat. Das klare Blau mit dem bernsteingelben Rand um die Iris, das flammende Gold, das fast ein Drittel seines rechten Auges ausmacht – all das zieht mich magisch an. Kurz erliege ich wieder diesem Zauber, so wie früher.
»DJ.« Er sagt nur meinen Namen. Zwei kurze Silben. Aber seine Stimme fährt mir ins Mark. Der Schmerz fühlt sich an wie Schleifpapier an meinem Herzen.
Nur mit Mühe kann ich verhindern, dass meine Stimme zittert. »Ich heiße jetzt Lilah.« Die Worte sind heraus, bevor ich sie zurücknehmen und eine passendere Begrüßung formulieren kann. Ich wende den Blick ab, um alles andere zu betrachten, nur nicht ihn. Martin in seinem Krankenhausbett sieht gebrechlich aus, und ich wünsche mir sehnlichst Jeannie herbei. Sie ist der Rettungsanker, an dem ich mich festhalten kann, damit ich nicht von Erinnerungen zerrissen werde, mit denen ich nicht umgehen kann.
»Ich hab erst vor ein paar Minuten erfahren, dass Martin eingeliefert wurde. Wie lange bist du schon da?« Ich sperre meine Gefühle weg und schalte in Berufsmodus um. Das kann ich. Darin bin ich gut. Ich überfliege den Chart am Fußende des Bettes, dann gehe ich zu den Monitoren – obwohl ich kaum fähig bin, irgendwelche Daten aufzunehmen.
»Weiß nicht. Schon ’ne ganze Weile, schätz ich. Bin grade erst heimgekommen, und dann passiert … das.« Ich spüre seinen Blick auf mir. Verlegen berühre ich das Ende meines Zopfes; gegen Mittag hatte ich es aufgegeben, mein Haar offen zu tragen. Mein Kittel ist eine Nummer zu groß und meine Joggingschuhe alt und ausgetreten, weil die guten immer noch vom Regen durchweicht sind. Ich sehe so mies aus, wie ich mich fühle, und hasse mich dafür, dass ich in Ethans Augen immer noch gut aussehen will. Und dafür, dass ich an so etwas denken kann, während Martin an Monitore angeschlossen und seine Prognose ungewiss ist.
»Seine Vitalfunktionen sind gut, aber es wird noch einige Zeit dauern, bis die Ärzte Genaueres sagen können. Wo ist Jeannie?«
»Mom wollte sich schnell einen Kaffee holen.« Er reibt sich den Nacken, als müsse er seine Verspannung lindern. »Du bist hier also Krankenschwester?«
Dass er überhaupt fragen muss und es nicht ohnehin weiß, ist wie ein Schlag vor den Bug. Vielleicht will er einfach nur Small Talk machen, aber dennoch tut es weh, dass er gar nichts mehr über mein Leben weiß.
Ich schaue an mir herab, auf meine Klinikkluft, als wäre in ihr die Antwort auf seine Frage enthalten – was ja in gewisser Weise auch stimmt, denn über meiner Brusttasche steht der Name des Krankenhauses. Als ich schweige, räuspert er sich. »Ich hab gedacht, du wärst im Mercy in Minneapolis.«
»Ich habe vor ’ner Weile hierher gewechselt.« Ich habe zum neuen Jahr in Fairview angefangen. Jeannie hat Ethan zum letzten Mal vor zwei Wochen erwähnt. Sie sagte, sie hoffe, Ethan käme noch vor dem Start der neuen Eishockey-Saison zu einem Besuch in die Stadt. Nicht, dass es für mich einen Unterschied machen würde, denn er hat nie den Versuch gemacht, mich zu sehen, wenn er hier war.
Ein sehr kleiner Teil von mir ist froh, dass Ethan nun hier ist – um Jeannies und Martins willen. Der größere Teil jedoch, jener Teil, den er vor Jahren so achtlos weggeworfen hat, ist verletzt, denn offensichtlich hat es dieses Ereignis gebraucht, damit er zum ersten Mal seit Jahren wieder in einem Raum mit mir zusammentrifft.
Ethan steckt seine Hände in die Taschen, zieht sie wieder heraus und reibt sich nervös die Oberschenkel. »Ich dachte, du wärst inzwischen längst im Studium.«
Ich weiß nicht, ob er sticheln will, oder ob das meine Interpretation ist, weil ich mich heute dermaßen vorgeführt vorkomme. »Manchmal müssen wir unsere Ziele eben anpassen.«
»Na klar. Als ob ich das nicht wüsste«, brummt er.
Ich habe keine Gelegenheit, nachzuhaken oder die Verlegenheit zwischen uns zu schüren, denn wir werden unterbrochen.
»Delilah!« Jeannie platzt herein, in jeder Hand einen Kaffeebecher. Als unsere Blicke sich treffen, lese ich in ihren Augen tiefe Sorge und jede Menge Fragen. Von ihrer Angst um Martin bis zu meiner Beziehung zu Ethan – alles steht dort geschrieben. Dann breitet sie ihre Arme aus. Wie eine Mutter. Die sie mir immer gewesen ist.
Und ich lasse mich bereitwillig von ihr trösten, denn ich komme mir vor wie ein Wollknäuel, das sich endlos aufzurollen droht. Ich schlinge meine Arme um Jeannie und suche Trost, nicht nur wegen Martin, sondern wegen allem, was heute geschehen ist.
Dass ich möglicherweise den Mann verlieren könnte, der für mich so etwas wie ein Vater ist – nachdem mein Dad Mom, mich und meine fünf Geschwister verlassen hatte, weil wir nicht mehr in sein Leben passten –, ist mir unerträglich. Selbst nachdem Ethan und ich uns getrennt hatten, war Martin stets für mich da. Er sorgte dafür, dass ich beim Kauf meines ersten Autos nicht übers Ohr gehauen wurde. Er brachte mir bei, wie ich mein undichtes Spülbecken reparieren konnte. Er begrüßte mich stets mit einem Lächeln und einer Umarmung, wenn ich ihn und Jeannie besuchte. Ich weiß nicht, ob ich mit seinem Verlust fertig würde – nicht, wenn gerade auch der Rest meines Lebens in die Brüche geht.
Und nun ist auch noch Ethan da, mit immer noch einer Spur des Jungen, den ich einst liebte, hinter seinen faszinierenden Augen. Ich habe lange genug gebraucht, die Kränkung zu verwinden, dass er aus meinem Leben verschwand, und inzwischen frage ich mich, ob ich überhaupt je über ihn hinweggekommen bin.
In meinem Kopf und meinem Herzen wirbeln Jahre aufgestauter Verzweiflung, Verbitterung und Enttäuschung durcheinander, die ich Ethan am liebsten vor die Füße werfen möchte. Aber im Moment steht Wichtigeres an.
»Ist schon gut. Schhhh, Delilah, er wird wieder gesund«, sagt Jeannie leise und streichelt mir kreisend den Rücken.
Ich ertappe mich, wie ich lautlos schluchze, so stark, dass es mich schüttelt, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich schäme mich und bin wütend, weil ich mich so gehen lasse, wo es doch ohne Zweifel Jeannie ist, die Beistand braucht.
Als ich mich endlich wieder so weit im Griff habe, dass ich sie loslassen kann, frage ich mit brüchiger Stimme: »Kann ich etwas für dich tun? Ich könnte ja bei dir vorbeifahren. Ich hab gerade Schichtende, ich könnte Flower füttern und dir Kleidung zum Wechseln und alles andere mitbringen, was du für die Nacht brauchst.« Mein Angebot ist ganz klar unnötig, schließlich ist ja Ethan da. Ich mag dieses Gefühl jedoch nicht, ich möchte nicht überflüssig sein. Ich bin immer diejenige gewesen, zu der Jeannie gekommen ist, wenn sie etwas braucht.
»Ich dachte, Flower wäre abgehauen?«, sagt Ethan hinter mir.
Was für eine normale Frage in einer ganz und gar abnormen Situation!
»Wie sich herausstellte, haben die neuen Nachbarn von gegenüber ein Katzentürchen eingebaut, und Flower hatte sich angewöhnt, in ihrem Souterrain zu schlafen. Dann haben sie gemerkt, dass die Waschbären in der Gegend das Türchen auch praktisch fanden.« Jeannie berührt meinen Arm. »Weißt du noch, wie deren Jungen in den Kühlschrank eingebrochen sind, als sie mal ein Wochenende fort waren?«
»Die ganze Küche war ein Saustall!« Wir brechen in Kichern aus, dann hält sich Jeannie die Hand vor den Mund, weil ihr Lachen in Weinen übergeht.
»Martin hat uns geholfen, alles wieder sauber zu machen bevor sie zurückkamen«, füge ich leise hinzu.
Jeannie wendet sich an Ethan, dessen Blick ich tunlichst vermieden habe, und fragt mit zitternder Stimme: »Was, wenn er nicht wieder gesund wird?«
Ethan macht einen Schritt auf Jeannie zu und zieht sie an seine breite Brust. »Ich bin ja da und helfe dir, egal, was auch geschieht.«
Ich verstehe nicht ganz, wie er das machen will, wo er doch in Chicago lebt, aber vielleicht sagt er das ja nur, um sie zu beruhigen.
»Ich bin ja so froh, dass du wieder heimkommst«, murmelt Jeannie.
Mein Magen rutscht nach unten, dann schlägt er einen Purzelbaum. Endlich hebe ich den Blick zu Ethan. Er ist dermaßen erschüttert, dass er älter wirkt als seine siebenundzwanzig Jahre. Meine Frage muss mir ins Gesicht geschrieben stehen.
»Ich bin nach Minnesota transferiert worden«, erklärt er.
Mir ist zumute, als hätte mein Herz am heutigen Tag Schlagschüsse links, rechts und in der Mitte eingesteckt. Und vielleicht ist dieser Schlag derjenige, der mir endgültig den Rest gibt.
Lilah
»Du kommst wieder nach Hause«, flüstere ich. Ein Strudel von Gefühlen liegt in meiner Stimme, auch Wut ist darunter.
»So ist es.«
Ich wende den Blick ab, während Ethan Jeannie in seine Arme schließt und tröstliche Worte murmelt. Er ist ihr fester Anker in einer stürmischen See voller Ungewissheit.
Ich konzentriere mich auf Martin, der ohne Bewusstsein da liegt. Ich fühle mich wie ein Eindringling in einem intimen Moment und meiner üblichen Rolle beraubt. Denn normalerweise bin ich für Jeannie die starke Schulter und sie umgekehrt für mich, aber die Tatsache, dass Ethan hier ist, ändert alles.
Jeannies Gefühlsausbruch löst sich in einem hörbaren Ausatmen. Sie ringt sich ein Lächeln ab und wendet sich mir zu. »Ich würde gerne über Nacht hierbleiben. Meinst du, die erlauben das?«
»Ich könnte –« Fast hätte ich ihr meine Gesellschaft angeboten, aber ich halte inne, dann zwinge ich mich zu etwas, das beinahe ein Lächeln ist. Wenn Ethan bei ihr bleibt, wird sie mich nicht brauchen. »Ich kann dir sicher eine Erlaubnis einholen. Ich sorge dafür, dass sie dir eine Liege reinstellen, damit du nicht auf einem dieser Stühle schlafen musst«, sage ich und zeige auf die Sitzgelegenheit neben Martins Bett.
Ethan drückt Jeannies Schulter. »Ich bleibe auch.«
Jeannie legt ihre Hand auf seine. »Das musst du nicht. Du kannst nach Hause gehen.«
»Ich lass dich doch nicht allein.«
Seine Worte schneiden wie ein Sägeblatt in mein Herz. Auch mir hat Ethan das einst versprochen, und sein Schwur bedeutete etwas – bis er ihn zurücknahm. »Eine zweite Person muss aber erst genehmigt werden. Das Krankenhaus könnte die Einwilligung verweigern.« Mein Zorn lässt meine Worte eher bissig und nicht nach einer sanften Mahnung klingen, und sogleich fühle ich mich mies. Hier geht es nicht um mich, sondern darum, dass Martin und Jeannie Unterstützung bekommen.
»Ich kann auch im Wartebereich bleiben, wenn’s sein muss.« Ethan sucht meinen Blick, aber ich kann den seinen nicht ertragen, sonst würde ich womöglich zusammenbrechen.
»Ich werde tun, was möglich ist«, sage ich, an Jeannie gewandt. Sie trägt ihre Lieblingsschürze, die Ethan und ich vor fast zehn Jahren als Geschenk zum Muttertag ausgesucht haben. Ich muss unbedingt hier raus, fort von all diesen Erinnerungen, die er in mir auslöst. »Ich kann bei dir vorbeifahren und dir etwas Bequemeres zum Anziehen mitbringen.«
»Das ist lieb von dir, Lilah. Du bist immer so hilfsbereit.« Jeannie schaut an sich herunter und streicht mit den Händen über die altersmürbe, verblichene Baumwolle. Plötzlich reißt sie die Augen auf und starrt Ethan voller Panik an. »Der Pie! Ich hab ihn im Ofen vergessen!«
»Ich hab ihn rausgenommen, bevor ich gegangen bin«, beruhigt er sie.
Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass das Haus nach Äpfeln, Zimt und Butter riechen wird. Apple Pie war schon immer Ethans Leibgericht, und es ist typisch für Jeannie, ihm diesen Kuchen zu backen, wenn er zu Besuch nach Hause kommt, oder, wie es jetzt eher der Fall zu sein scheint, wieder einzieht.
»Ich könnte auch etwas zum Anziehen für dich mitbringen, Ethan, wenn du willst.« Sein Name hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.
Jeannie tätschelt ihm die Brust. »Ihr könntet auch zusammen fahren.«
»Nein!« Ich will nicht laut werden, aber ich könnte es nicht ertragen, mit Ethan allein zu sein. Eingeschlossen in einem Auto mit seinem Geruch und seiner Stimme und einer Million Erinnerungen, denen ich nicht entkommen kann. Ich räuspere mich. »Ich fände es wirklich besser, wenn du nicht allein bleibst, Jeannie.«
Ethans Miene ist gelassen. Bestimmt ist er ebenso erleichtert, dass er nicht gezwungen ist, eine wie immer geartete Zeitspanne mit mir auf engstem Raum verbringen zu müssen. »Im Schlafzimmer im Souterrain steht mein Matchsack.«
Wieder bin ich erleichtert. Bevor ich dieses Jahr in ein Reihenhaus gezogen bin, habe ich einige Monate bei Martin und Jeannie in Ethans altem Zimmer gewohnt. Mag sein, dass ich dort ein paar Dinge liegen gelassen habe, und es würde mir überhaupt nicht gefallen, wenn Ethan in der Kommode Nachtwäsche vorfände.
»Ich bring also die ganze Tasche mit.« Auf keinen Fall werde ich seine Klamotten durchwühlen. Ich schalte in einen tatkräftigen Hilfe-Modus, was mir in Stresssituationen ausgezeichnet gelingt. »Jeannie, ich bring dir deine Lieblings-Yogahose und ein Sweatshirt mit. Was kannst du sonst noch brauchen?«
»Das wäre wunderbar. Meine Reisetasche steht im Schlafzimmerschrank, und vielleicht könntest du das Kreuzworträtselheft mitbringen, nur für den Fall, dass ich nicht schlafen kann?«
»Auf deinem Nachttisch?«
»Oder im Wohnzimmer. Da, wo es immer liegt.«
»Okay. Bin gleich wieder da. Schick mir ’ne SMS, wenn dir sonst noch etwas einfällt. Ich rede mit den Leuten von der Nachtschicht, dass sie euch eine Liege reinstellen, und gebe Bescheid, dass zwei Personen über Nacht hierbleiben.« Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es kompliziert sein wird, die Erlaubnis für Ethan zu bekommen, aber mir geht’s ein kleines bisschen besser, wenn ich mir vorstelle, dass er mit einem der winzigen Stühlchen im Wartebereich vorliebnehmen muss, was ziemlich schäbig von mir ist in Anbetracht von Martins Zustand.
Jeannie umarmt mich ein zweites Mal. »Bist du sicher, dass Ethan nicht mitkommen soll?«
»Ist doch besser, wenn er bei dir bleibt, meinst du nicht auch?«
Jeannie löst sich aus der Umarmung, hält mich aber noch an den Schultern fest, während sie mir besorgt ins Gesicht schaut. »Wir stehen das zusammen durch. Nichts geschieht ohne Grund, Delilah.« Sie stößt einen schmerzlichen Seufzer aus und legt eine Hand auf ihre Brust.
Ich tätschele ihre Hand und lächele, sage jedoch nichts. Ich verstehe nicht, warum an ein und demselben Tag Martin einen Schlaganfall erleiden musste, mein beinahe Ex-Mann sich als Waschlappen outet, und mein allererster Ex- und ehemals bester Freund nach Minnesota zurückkehrt – es sei denn, ich hätte eine besonders schlimme Tat begangen, um dieses höllische Karma zu verdienen. »Ich bin so schnell wie möglich zurück.«
Ich verlasse beinahe fluchtartig das Krankenzimmer und eile den Korridor entlang, lasse mit einem Atemzug die ganzen aufgestauten Gefühle aus mir heraus. Es ist wichtig, dass ich mich zusammenreiße, bis ich im Wagen sitze. Ich gehe am Stationszimmer vorbei und bitte um Polstersessel für zwei Familienmitglieder, die über Nacht bleiben. Fairview ist ein kleines Krankenhaus, die Leute kennen einander, und durch meine Beziehung zur Familie kann ich mir gewisse Freiheiten herausnehmen.
Als ich mich über die nötigen Formulare beuge, piekst Ashley mich mit ihrem Kugelschreiber. »Ich weiß ja, dass du einen heftigen Tag hattest, also werde ich dir einen kleinen Gefallen tun. Dreh dich nicht um, aber auf drei Uhr steht ein VS. Oder, halt, für mich auf drei Uhr, für dich auf neun. Guck ganz unauffällig, wenn du dich umdrehst.« Ich verdrehe die Augen und unterdrücke ein Grinsen. VS ist Ashleys Code für Vögelbare Sahneschnitte.
Sie wackelt mit den Augenbrauen. »Ich wünsch dir eine Gute Nacht.«
»Ich muss was erledigen. Bin in einer Stunde wieder da.« Ich klopfe auf den Tresen und drehe mich in die Richtung, von der ihre Augen geradezu unwiderstehlich angezogen werden.
Ich hätte wissen sollen, dass es sich bei Ashleys VS nur um Ethan handeln kann.
Er macht einen Schritt auf mich zu, hält dann inne und schiebt die Hände in die Hosentaschen. »Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«
Ich greife mir meine Handtasche und trete vom Tresen zurück. »Hat Jeannie dich rausgeschickt, damit du noch mal fragst?«
Ich bewege mich auf den Ausgang zu, wobei ich Ashley zerstreut zuwinke. Klar, dass sie mich bei meiner Rückkehr mit Fragen überschütten wird.
Ethan schließt sich mir an. »Ich dachte mir, so könnten wir mal in Ruhe miteinander reden.«
Ich beschleunige meine Schritte in Richtung Angestelltenparkplatz. Ich muss unbedingt an die frische Luft, nach der ich so offensichtlich lechze. Das Atmen fällt mir schwer. »Wegen Martin, meinst du? Bevor er aufwacht, kann man noch gar nichts sagen. Und weitere Untersuchungen finden erst morgen statt.« Ich weiß, dass Ethan nicht darüber reden will, aber ich werde es ihm nicht leichtmachen.
Die laue Sommerluft verschafft mir keine Erleichterung; ich glühe.
»DJ, warte …«
Ich schließe die Augen und atme tief durch, damit ich nicht überschnappe. Ich bin total neben der Spur. Dieser Tag war verdammt hart, und für ein Gespräch mit Ethan fühle ich mich nicht gewappnet. Und erst recht nicht jetzt, wo die Gesundheit seines Vaters auf dem Spiel steht und wir alle auf einen möglichen Verlust vorbereitet sind. Denn egal was passiert, es besteht die Möglichkeit, dass Martin nach dem Schlaganfall nie mehr der Alte sein wird.
»Bitte, DJ.« Seine Finger umspannen mein Handgelenk und ich muss die Luft anhalten.
Ich will nicht, dass diese Berührung mich förmlich elektrisiert, kann aber nichts dagegen machen. Ich will nicht die Wärme spüren, die bei seiner fremd-vertrauten Berührung durch meine Adern strömt. Ich will nicht, dass mein Körper in irgendeiner Weise auf Ethan reagiert, aber ich habe keine Kontrolle darüber. Mein Herz erinnert sich daran, dass er es gebrochen hat, doch der Rest meines Körpers scheint es vergessen zu haben.
Ich reiße mich los. »Ich hab dir gesagt, dass ich jetzt Lilah heiße.« Eine dämliche Bemerkung und obendrein albern, dass ich darauf beharre, aber ich konzentriere mich auf Banales, um nicht endgültig die Fassung zu verlieren.
»Sorry. Ist einfach ungewohnt.« Verlegen fährt er sich durch die Haare und zerwühlt dabei seine dichten dunkelbraunen Locken. »Soll ich nicht fahren?« Reue und Kummer färben seine Stimme; Gefühle, die mir nicht guttun, nicht mehr nach so langer Zeit, und vor allem nicht, weil sie nur wegen Martins Zustand an die Oberfläche dringen.
»Ich glaube nicht, dass das heute Abend eine gute Idee wäre.«
»Ich will mich doch nur entschuldigen, D- Lilah.«
Ich stoße vernehmlich den Atem aus und versuche, mich nicht von meinen Gefühlen leiten zu lassen und meinen schwelenden Zorn am Ausbruch zu hindern. Aber ich bin innerlich so angespannt, so zerrissen von den Ereignissen der letzten zwölf Stunden und diesem Menschen aus meiner Vergangenheit, dass ich wieder einmal spüre, wie ich mich zerfasere.
»Wofür willst du dich entschuldigen?« Meine Stimme ist nur ein Flüstern.
»Dafür, wie ich die Dinge angepackt habe.«
»Angepackt?«, wiederhole ich entgeistert.
Er senkt den Kopf, schaut mich durch seine langen Wimpern an. »Damals, als ich zu einem anderen Verein kam.«
Mein Vater war der erste Mann, der mich verließ, der erste Dominostein in einer umstürzenden Reihe. Ethan war der nächste, dann folgte mein Mann, Avery, und jetzt könnte mir bevorstehen, Martin zu verlieren, je nachdem, wie er seinen Schlaganfall bewältigt. Ich will nicht noch einen Mann verlieren, den ich liebe, oder noch einmal solchen Kummer erleiden.
Ich streiche mir mit dem Finger über Stirn und Nase, versuche krampfhaft, mich wieder zu beruhigen. »Keiner von uns ist in der Lage, heute Abend darüber zu sprechen.«
»Ich weiß ja, dass du wütend bist, aber …«
Ich hebe die Hand. »Du hörst mir nicht zu. Ich meine, dass ich jetzt nicht mit dir reden kann. Ich würde dieses Gespräch nicht verkraften, und du würdest nicht verkraften, was ich dir zu sagen habe.«
»Ich habe eine Menge Fehler gemacht.« Seine Stimme klingt sanft und traurig, was mich nur noch wütender macht.
»Fehler?! Du hast mich verlassen. Du warst nicht nur mein fester Freund, Ethan, sondern auch mein bester Freund seit Kindertagen. Acht lange Jahre warst du komplett aus meinem Leben verschwunden, und jetzt, nach so langer Zeit, laufen wir uns über den Weg, aber nur, weil es Martin schlecht geht. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie weh mir dein Schweigen getan hat? Jedes Mal, wenn du nach Hause gekommen bist, aber nicht angerufen hast? Und du alles dafür getan hast, um mich nicht zu sehen, nicht mit mir reden zu müssen? Das kann ich dir einfach nicht verzeihen.«
»Nie mehr?«, fragt er mit heiserer Stimme.
»Keine Ahnung. Darauf habe ich noch keine Antwort. Nicht nach all diesen Jahren, in denen du mich links liegen gelassen hast. Nicht jetzt, wo es Martin so schlecht geht.«
Er nickt langsam, während zwischen seinen Augen eine Falte erscheint. »Schön. Okay. Hast ja recht. Es ist nur … Ich wollte … Ich habe dir niemals wehtun wollen.«
»Hast du aber. Es ist ernst gemeint, wenn ich sage, dass du nicht bereit sein wirst zu hören, was ich zu sagen habe, und ganz ehrlich, ich bin auch noch nicht bereit dafür, es auszusprechen. Es ist zu viel für uns beide. Zu vieles, was gerade geschieht. Können wir uns erst einmal darauf beschränken, dass dein Dad im Krankenhaus liegt? Ich finde, das reicht fürs Erste.«
»Kann ich dich wenigstens zum Wagen begleiten? Damit du sicher dort ankommst?«
»Ich stehe gleich da drüben.« Ich zeige über den Parkplatz. »Geh du zu deiner Mutter. Sie braucht dich.« Unausgesprochene Worte hängen zwischen uns in der Luft wie eine Galgenschlinge, die auf einen Hals wartet, den sie zuschnüren kann. Die stillschweigende Folgerung steht im Raum, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob sie wahr ist: Ichbrauchedichnicht.
»Okay. Hast recht.« Ethans Niederlage verursacht mir trotz allem seelische Qualen. Ich habe ihm gegenüber immer schon viel Schwäche gezeigt, zu schnell nachgegeben.
Bevor ich mich umdrehen und zu meinem Wagen eilen kann, tritt Ethan einen Schritt auf mich zu, verringert den Abstand zwischen uns. Ich habe keine Zeit zu reagieren, zu protestieren, irgendetwas zu tun, da drückt er mich auch schon an sich, schließt mich in seine muskulösen Arme.
Ich fühle mich beschützt und verwundbar zugleich.
Im Grunde will ich ihn zurückstoßen, halte aber still. Ich spüre, wie aufgewühlt er ist, und trotz meines Zorns bin ich doch ein vertrauter Mensch, auf den er sich stützen kann. Ich weiß nur zu gut, wie schwierig die Beziehung zu seinem Vater war, und kann mir gut vorstellen, was für ein Schock das für Ethan jetzt sein muss. Wir alle leben in dem Glauben, dass unsere Eltern unsterblich sind, bis wir eines Tages erkennen müssen, dass es nicht so ist. Also lasse ich es zu, dass seine Berührung mich zugleich tröstet und erregt. Ich genieße es, ihn zu spüren, die Erinnerung an die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Einen Pulsschlag lang erlaube ich mir das Gefühl, dass mein Herz wieder heil ist.
Bartstoppeln kratzen über meine Wange. Ethan hat seinen Mund an meinen gebracht. »Es tut mir so leid.«
Ich drücke meine Hände gegen seine Brust, will ihn festhalten und gleichzeitig vor ihm fliehen. »Ich bin ja im Handumdrehen wieder zurück. Jeannie kann mir simsen, ob sie noch etwas braucht.«
Ich eile über den Parkplatz, drehe mit bebender Hand den Schlüssel im Zündschloss und fahre holpernd auf die Straße. Ich biege um die nächste Häuserecke, erst dann halte ich am Bordstein und vergrabe mein Gesicht in den Händen. »Warum? Warum, warum, warum?« Für die Dauer eines Songs im Radio nehme ich mir die Zeit, mich gründlich auszuheulen. Ich muss mich zusammenreißen, schon allein wegen Jeannie. Als der Song zu Ende ist, trockne ich mir mit dem Ärmel die Augen. Auf dem Boden meiner Handtasche finde ich ein Tempotuch und putze mir die Nase. Dann löse ich die Handbremse, setze den Blinker und fädele mich wieder in den Verkehr ein.
Den Weg zu Jeannies und Martins Haus würde ich im Schlaf finden. Als mein so gut wie Ex-Ehemann Avery und ich unsere Kräche nicht mehr in den Griff bekamen und die Situation unerträglich wurde, beschloss ich, bei Jeannie und Martin einzuziehen. Ich wäre auch bei meiner Schwester Carmen untergekommen, aber sie ist nicht gerade der ordentlichste Mensch. Ich hätte ständig geputzt und sie mit der Zeit wahnsinnig gemacht.
Ich biege in die Einfahrt der Kases ein und halte neben einem schicken Pick-up, auf dessen Ladefläche unzählige Kartons gestapelt sind. Das muss Ethans Zeug sein. Wie immer ist die Haustür nicht verriegelt. Ich trete ins Haus und atme den Duft von Zimt und Äpfeln ein. Bevor ich nach oben gehe, um die Tasche für Jeannie zu packen, steige ich hinunter in das Souterrain. Als wir auf der Highschool waren, schlichen Ethan und ich uns des Öfteren in der Mittagspause in diesen Raum, der eigentlich das Zimmer seines älteren Bruders Tyler war. Der war zu jener Zeit jedoch bereits auf dem College. Wir wollten nicht, dass Jeannie uns erwischte, wenn wir beschäftigt waren, und kletterten hinterher immer unbemerkt aus dem Fenster.
Das Souterrain ist renoviert worden – zum Teil jedenfalls. Sämtliche Pokale, die Ethan während der Highschoolzeit gewonnen hat, zieren eine Wand, darüber hängen jeweils die Mannschaftsfotos aus dem entsprechenden Jahr – die Kultstätte seiner Eltern zu Ehren ihres Sohnes, der sich so unerwartet als Wunderkind entpuppte. Ihr Ethan. Mein Ethan. Zumindest war er das – einstmals.
Ich bleibe in der Tür des holzgetäfelten Zimmers stehen. Ethans Eishockey-Quilt ist über das Doppelbett gebreitet und weitere Highschool-Devotionalien liegen im Raum verstreut, darunter auch ein Foto von uns beiden auf dem Abschlussball. Ich habe als Teenager viel Zeit auf dieser Steppdecke verbracht und versucht, Ethan zum Lernen anzuhalten. Er war nicht gerade ein einfacher Schüler, der sich allzu leicht ablenken ließ. Ich nehme seinen Matchsack vom Boden und lösche das Licht, dann gehe ich wieder nach oben. Mich in der Vergangenheit zu verlieren ist kein nutzbringender Zeitvertreib.
Ich sammele Jeannies Yogahose, ein Sweatshirt, Toilettenartikel und Kleidung zum Wechseln ein. Dann packe ich noch einen Pyjama für Martin dazu und sein Waschzeug.
Bevor ich mich auf den Rückweg zum Krankenhaus mache, gehe ich in die Küche und nehme einen kleinen Imbiss und Wasserflaschen mit. Der Apple Pie steht auf der Arbeitsplatte. Wahrscheinlich ist er kurz vor Jeannies Weggang in den Ofen geschoben worden. Ich könnte ihn mit zu mir nehmen und retten. Wäre doch eine nette Überraschung für die beiden, morgen zum Frühstück Pie serviert zu bekommen.
Ich bin froh, als ich bei meiner Rückkehr Jeannie und Ethan gemeinsam im Krankenzimmer vorfinde, denn ich will auf keinen Fall noch einmal mit ihm allein sein. Vielleicht kommt er auf die Idee, sich erneut zu entschuldigen, nur um sein Gewissen zu erleichtern. Keine Ahnung. Ich weiß bloß, dass weder ein Gespräch noch eine Entschuldigung irgendetwas bewirkt.
Er kann mir nie wieder das Herz brechen.
Ethan
»Ethan?« Meine Mutter legt mir die Hand auf den Arm, nachdem DJ unsere Taschen abgeliefert hat und gleich wieder davongestürmt ist. »Alles in Ordnung?«
Wenn das mal nicht die Preisfrage der Woche ist …?! Ich schaue meine Mutter an und frage mich, wie viel besser sie DJ kennt als ich; was sie in den vergangenen acht Jahren mit ihr erlebt hat und ich nicht. »Sie war dir und Dad sehr nah, nicht wahr?«
»Wir waren doch immer ihre Familie, und außer ihrer Schwester Carmen sind alle fortgezogen.« Es klingt wie eine Rechtfertigung.
»Ich bin froh, dass sich daran nichts geändert hat.« Ich reibe mit den Händen über meine Beine. Meine Jeans sind immer noch feucht. Ich war in den See gelaufen, um Dads Boot ans Ufer zu ziehen. Wahrscheinlich werde ich das Bild nie mehr vergessen, wie ich ihn vorgefunden habe: verwirrt und voller Angst – einer Angst, die sich in meiner spiegelte. Und nun kommt zu dem, was meinem Dad widerfahren ist, noch die Wiederbegegnung mit der Frau, die ich verlassen habe. »Sie ist immer noch verdammt böse auf mich.«
»Delilah hat viel um die Ohren, Ethan. Gib ihr etwas Zeit. Für sie ist es auch schwer.« Meine Mutter wühlt in ihrer Reisetasche und zieht die Decke von der Wohnzimmercouch heraus, schüttelt sie aus.
»Sie meint, dass ich sie im Stich gelassen habe.« Mom hält inne und sieht mich an, ihre Augen glasig vor Kummer. »Und sie hat recht, glaube ich. Das war zwar nicht meine Absicht, aber genauso ist es gekommen, richtig?«
»Du hast getan, was du für das Beste hieltest.«
»Ich habe getan, was Dad für das Beste hielt.« Ich schließe die Augen und lege den Kopf an die Rückenlehne. »Sorry. Ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden. Ich hatte einfach nur nicht erwartet, auf DJ zu treffen, oder das alles hier.« Ich mache eine vielsagende Geste zu meinem Vater.
Mom seufzt. »Ich weiß, du und dein Dad, ihr wart nicht immer einer Meinung, besonders, was deine Karriere und was Delilah angeht, aber er hat immer nur das Beste für dich gewollt.«
Ich schaue meinen Vater an, der an Maschinen angeschlossen ist. Seine Zukunft ist ebenso unsicher wie meine, und ich fürchte, dass meine Feindseligkeit ihm gegenüber sich niemals geben wird. Das ist selbstsüchtig und unfair, aber ich weiß nicht, wohin sonst mit meinem Zorn.
Mein Telefon meldet sich, und ich schaue aufs Display. Der Anruf kommt von Josh Cooper, einem ehemaligen Teamkollegen aus LA, der schon vor Jahren nach Minnesota transferiert wurde. Ich hatte ihm gesagt, dass ich heute Abend in der Stadt sei, und wir hatten ausgemacht, uns zu treffen.
»Ein Mannschaftskamerad. Bin gleich wieder da«, sage ich zu Mom und gehe zum Telefonieren vor die Tür.
»Hey, Mann, wie geht’s?«, sage ich zu Josh.
»Gut! Paar Kumpels und ich wollen ein paar Bierchen kippen. Willste mit? Hab heute Morgen mit dem Coach gesprochen: Er meint, dass er uns am Sonntag ein bisschen Eiszeit geben kann.«
»Das klingt super, aber ich hab, äh, im Moment so ’ne Familiengeschichte am Hals.«
»Oh nein – alles okay? Bist doch erst seit ein paar Stunden in der Stadt. Habt ihr wieder euren Hickhack gehabt, der Alte und du?«
Ich wünschte, es wäre so einfach. Ich berichte Josh, wie es um meinen Dad steht.
»Scheiße, Kase. Tut mir echt leid. Was für eine Scheiße, ausgerechnet dann, wenn man nach Hause kommt. Wir verschieben die Eiszeit, bis du weißt, was mit deinem Dad wird, ja? Und wenn du meinst, dass du das Trikot überstreifen und ’n bisschen Frust rauslassen willst, dann gib mir Bescheid.«
»Danke für das Angebot. Ich würd gern mal aufs Eis, bevor das Training anfängt.«
»Training ist erst in ein paar Wochen, da brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«
»Ich hätte aber gern ’n paar Stündchen, um mit der Mannschaft warm zu werden, weißt du?«
»Ja. Hab dich schon verstanden. Sind aber alles nette Kerle. Wirst dich schnell einleben.«
Hoffentlich! Im Moment habe ich kaum einen Kopf für so etwas. »Dank dir, Josh. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
»Ruf einfach an, wenn du was brauchst.«
* * *
Am nächsten Morgen holen zwei Krankenschwestern meinen Dad für weitere Untersuchungen ab; DJ ist leider nicht dabei. Dad ist verwirrt und leicht aggressiv, bis er begreift, dass er im Krankenhaus ist. Seine Artikulationsfähigkeit scheint durch den Schlaganfall beeinträchtigt zu sein, er bringt eher Laute als Worte hervor. Wir können nur hoffen, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein wird.
Wir gehen den Schwestern hinterher, bis sie Dad in einen Bereich schieben, zu dem wir keinen Zutritt haben. Ich will Mom gerade vorschlagen, dass wir einen Kaffee trinken, bevor wir im Zimmer auf Dads Rückkehr warten, als DJ um die Ecke biegt, das seidige Haar zum lockeren Pferdeschwanz gebunden. Sie sieht müde aus, lächelt uns aber an, wobei ihr Blick mich nur kurz streift. »Haben sie Martin schon zu den Untersuchungen gebracht?«
»Sie haben gerade angefangen.« Mom nimmt DJ in den Arm.
»Ich hab versucht, früher herzukommen, aber im Café war schon wieder eine Schlange. Ich hab euch Frühstück mitgebracht, damit ihr nicht auf den Fraß angewiesen seid, den man hier so bekommt.« Sie schaut sich argwöhnisch um, ob auch niemand mitbekommen hat, was sie von dem unterirdischen Essen im Gesundheitssystem hält.
»Das ist ja lieb von dir, Delilah – nicht wahr, Ethan?«
»Sehr lieb«, stimme ich zu. DJ scheint nicht in der Lage zu sein, mich länger als eine oder zwei Sekunden anzusehen.
»Keine Ursache. Ich hab dir einen schwarzen Kaffee mitgebracht, Ethan. Ich wusste nicht, ob du immer noch ein Pfund Zucker und Sahne nimmst, oder ob sich deine Geschmacksknospen seit der Highschool weiterentwickelt haben.«
»Anscheinend sind meine Geschmacksknospen immer noch so unterentwickelt wie damals«, erwidere ich mit ironischem Grinsen.
DJ wird rot und wendet sich wieder Mom zu. »Meine Schicht fängt jetzt an, ich bin aber jederzeit erreichbar, wenn ihr einen Wunsch habt. Ihr müsst nur nach mir fragen, dann werden sie mich schon auftreiben.«
»Danke dir, Delilah, aber wir wollen dich nicht bei der Arbeit stören!«
»Ihr stört nicht. Ich bin schließlich hier, um zu helfen.«
Wieder nimmt Mutter sie in die Arme. Dann sehen wir DJ davontraben, mit wippendem Pferdeschwanz.
Mom und ich setzen uns in den Wartebereich, und sie packt die Tüte aus. Es ist der Pie von gestern Abend, der etwas zu lange im Ofen gewesen ist, die Ränder sind leicht angebrannt. Aber er riecht köstlich. Keiner von uns hat Abendbrot gehabt, und zum letzten Mal gegessen habe ich irgendwann gestern Mittag. Ein kleiner Behälter mit Schlagsahne und ein zweiter mit Cheddar-Streifen liegen dem Paket noch bei. Der Käse ist für mich. Als wir jünger waren, hat DJ sich immer darüber lustig gemacht, dass ich Cheddar zum Apple Pie wollte.
Mom schnieft vernehmlich. »Sie ist so ein liebes Mädchen, sie denkt an alles.«
Ich lege den Arm um sie. »So war DJ immer schon.« Ich hoffe nur, dass sie mir eines Tages verzeihen kann, und vielleicht darf ich sie dann aufs Neue kennenlernen.
Es dauert länger als zwei Stunden, bis Dads Untersuchungen abgeschlossen sind. Seine Rekonvaleszenz wird langwierig und mühselig werden, aber sie ist möglich. Dabei könnte Vaters Sturheit sich sowohl als Segen wie auch als Fluch erweisen.
Wir werden monatelang mit Terminen, Therapeuten und Gutachten zu tun haben. Mom ist jetzt schon völlig erschlagen, und ich ebenfalls. Jetzt geht es bei der Rückkehr nach Forest Lake nicht nur um meine Aufnahme in eine neue Mannschaft.
Sobald mein Dad wieder in seinem Krankenzimmer ist, schlage ich vor, dass Mutter und ich nach Hause fahren, duschen und irgendwas zum Mittagessen holen. Sie will meinen Vater aber nicht allein lassen obwohl er schläft, und schickt mich mit einer Liste los.
Als ich den Korridor entlanggehe, meldet sich mein Handy: Es ist Selene. Ich fluche still vor mich hin und hadere mit mir, ob ich drangehen soll. Ich weiß nämlich nicht, was ich ihr sagen soll. Wir sind erst seit einem Monat zusammen.
Nie haben wir über unsere Familien oder über unsere Vergangenheit gesprochen. Unsere Beziehung bestand hauptsächlich aus Spaß und Sex, manchmal mit einem netten Dinner als Einleitung zu nettem Sex. Ich maße mir nicht an, ein derart berühmter Eishockeyspieler zu sein, dass ich für die Medien von großem Interesse wäre. Mein Transfer aus Chicago wird nicht vor Dienstag bekannt gegeben werden, also hätte ich genug Zeit, um genau zu überlegen, was ich ihr sagen soll. Andererseits weiß ich nicht, ob es sinnvoll ist, zu lange damit zu warten. Vielleicht ist es besser, das Pflaster gleich abzureißen.
Bevor ich kneife und der Anruf an meine Mailbox weitergeleitet wird, nehme ich das Gespräch an. »Hey.« Ich gehe durch die Pforte und peile die nächste Bank an.
»Hey! Bin ich froh, dass ich durchgekommen bin! Ich wollte unser Dinner für diese Woche festmachen, falls du noch interessiert bist.«
Ich reibe mir den Nacken. »Ja, was das angeht … Ich bin spontan mit dem Auto nach Minnesota gefahren.«
»Minnesota? Ganz schön weite Fahrt. Was gibt’s denn so Wichtiges in Minnesota?«
»Meine Familie.« Es sagt schon viel über unsere Beziehung aus, dass ich es nicht einmal für nötig befunden habe, Selene solche trivialen Details mitzuteilen.
»Oh. Wow. Warum hab ich davon nichts gewusst? Wirst du länger bleiben?«
»Ein paar Tage schon.« Vielleicht hätte ich dieses Gespräch auf heute Abend verschieben sollen. Oder es gar nicht erst annehmen dürfen.
»Na gut. Alles okay soweit?«
Sekunden verstreichen in verlegenem Schweigen. Ich fühle mich ein wenig hilflos und überlege fieberhaft, wie viel ich Selene überhaupt erzählen soll. »Nicht wirklich. Mein Dad liegt im Krankenhaus.«
»Oh Gott! Das tut mir leid, Ethan. Das ist ja furchtbar! Was ist denn passiert?«
»Er hatte einen Schlaganfall.«
»Einen Schlaganfall? Ist er nicht zu jung dafür?«
»Er ist über siebzig, also …«
»Oh, das wusste ich nicht. Ist es ernst? Ich meine, na ja, ein Schlaganfall ist wohl immer etwas Ernstes.« Sie lacht nervös. »Es tut mir so leid für dich. Wird er wieder gesund? Kann ich irgendwas für dich tun?«
Es scheint so etwas wie ein Reflex zu sein: Dass die Leute dir Hilfe anbieten, wenn sie ihr Repertoire an Entschuldigungen und Mitleidsfloskeln aufgebraucht haben. »Das ist lieb von dir, aber wir kommen schon zurecht. Es geht jetzt darum, einen Behandlungsplan zu erstellen.«
»Okay. Da bin ich aber froh, dass er wieder gesund wird.«
Das ist nicht ganz genau das, was ich gesagt habe, aber ich mache mir nicht die Mühe, ihre Fehleinschätzung zu korrigieren. »Ja. Ich auch.«
»Es steht also in gewisser Weise in den Sternen, wann du zurückkommst?«
»Ja. Ich will abwarten, bis er aus dem Krankenhaus entlassen ist und sich wieder zu Hause eingelebt hat.«
»Natürlich. Das macht Sinn. Schließlich dauert es bis zum Saisontraining noch eine ganze Weile, stimmt’s?«
Damit hat Selene die Tür geöffnet, und mir bleibt keine andere Wahl, als hindurchzugehen. »Da ist noch etwas, das ich dir sagen muss.« Mein Magen verkrampft sich. Mir fällt ein solches Gespräch noch schwerer als üblich – vielleicht, weil ich DJ wiedergesehen habe.
»Das klingt nach weiteren schlechten Nachrichten.« Wieder höre ich ihr verunsichertes Lachen.
»Ich wollte es dir eigentlich persönlich sagen, aber jetzt, wo mein Dad im Krankenhaus ist und ich sowieso länger hierbleiben muss … Sie werden es bald bekannt geben, ich will aber nicht, dass du es aus anderer Quelle erfährst.«
»Was bekannt geben?«
»Meinen Transfer.«
»Transfer? Du warst doch gerade erst ein Jahr in Chicago!«
»Mein Vertrag ist ausgelaufen, also komme ich in eine andere Mannschaft.«
»Ich hab nicht gewusst, dass das so kurz vor dem Start einer neuen Saison passieren kann.« Sie klingt erschrocken. Leicht unsicher fährt sie fort: »Äh, dann muss ich dir ja wohl gratulieren? War es ein guter Deal?«
»Es wäre ganz nett gewesen, in Chicago zu bleiben, aber Minnesota wollte mich haben, also bleibt mir nichts anderes übrig.« Sie muss nicht wissen, dass ich jetzt weniger verdiene, oder dass ich, wenn ich mich nicht mächtig anstrenge, meine NHL-Karriere vermutlich komplett in die Tonne kloppen kann. Innerhalb von drei Jahren dreimal transferiert zu werden, ist schon schlimm genug. Aber in dieses Team zu kommen, ist sozusagen der Todesstoß.
»Minnesota? Da, wo du jetzt bist?«
»Genau.«
»Mhm.« Nach einer kurzen Pause fährt sie fort. »Das bedeutet also, dass du nach Minnesota ziehst, oder?«
»Das bedeutet es.« Gott, ist das unangenehm, aber wirklich weh tut es mir nicht, was ja schon mal ein Vorteil ist. »Es tut mir so leid, dass du es am Telefon erfahren musstest. Ich wollte es dir sagen, sobald ich wieder in Chicago bin, wo ich noch einiges zu erledigen habe. Aber da ich jetzt eine Weile hierbleiben muss …«
»Ja. Nein. Klar. Ich versteh das. Wirklich. Solche Sachen passieren eben, nicht wahr?« Wieder ein kurzes Schweigen. »Soll ich dann jetzt auflegen?«, fragt sie dann.
»Ja. Ich hab noch zu tun.« Das klingt verdammt dürftig, auch wenn es der Wahrheit entspricht.
»Natürlich, Ethan. Tut mir echt leid wegen deinem Dad. Wir reden später noch, ja? Schaust du vielleicht mal vorbei?«
»Klar. Danke dir, Selene.«
Wir verabschieden uns voneinander und beenden das Gespräch. Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue zum Himmel auf. Ich weiß nicht, ob diese Unterhaltung tatsächlich unter die Kategorie Schlussmachen fällt. Keiner von uns hat irgendwelche persönlichen Dinge beim anderen gehortet – so weit war unsere Beziehung noch nicht gediehen. Dennoch habe ich das Gefühl, als hätte ich einiges in der Schwebe gelassen.
Fairerweise muss ich sagen, dass ich mir, nachdem ich mir nach meiner miesen Trennung von DJ geschworen hatte, nie mehr so ein Arschloch zu sein – ein Typ, der mit einem Mädchen am Telefon oder per Textnachricht Schluss macht.
»Ethan?«
Ich schaue auf, und da steht DJ, nur zwei Meter von mir entfernt. Pflegerkittel sind formlos und reine Arbeitskleidung, aber irgendwie schafft sie es, selbst in diesem Outfit wunderschön auszusehen. »Hey.«
»Alles in Ordnung?«
Darauf habe ich irgendwie keine Antwort, deshalb hebe ich meine Schultern und lasse sie wieder fallen.
»Ich habe die Untersuchungsergebnisse gesehen«, beginnt sie. »Die Chancen stehen gut, dass er wiederhergestellt wird.«
»Ist aber auch gut möglich, dass er nie wieder wird.«
»Diese Möglichkeit besteht immer, aber Martin ist halsstarrig und ansonsten gesund. Beides kommt ihm zugute.« Sie nickt zu meinem Handy. »Hast du schon mit deinen Brüdern gesprochen?«
»Dylan hat heute Morgen angerufen. Er nimmt den nächsten Flieger und Tyler ebenfalls. Immerhin ist die Lage für Dad nicht mehr lebensbedrohlich. Es wäre aber schön, wenn Mom noch ein bisschen mehr Unterstützung hätte.«
»Oder du.«
»Es wäre für uns alle schön, schätze ich.« Ich lächele schief. »Danke für den Apple Pie. Eine liebe Geste. Das hat Mom und mir sehr viel bedeutet.«
»War keine Mühe, hab ich ja schon gesagt. So konnte ich ihn am Morgen selber probieren und sichergehen, dass ich ihn nicht verdorben hatte.« Sie verdreht ironisch die Augen. »Also, bist du jetzt dauerhaft hier, oder halb hier und halb in Chicago? Wenn Martin entlassen wird, und falls Tyler oder Dylan nicht lange bleiben können, kann ich immer noch aushelfen.«
»Du hast dein eigenes Leben, D-Lilah. Ich will dir das nicht auch noch aufbürden.«
»Du bürdest mir gar nichts auf. Sonst würde ich es ja nicht anbieten. Also … Wenn ich irgendwas tun kann, bin ich zur Stelle.«
»Das weiß ich zu schätzen und Mom sicherlich auch.« Ich schenke ihr ein, wie ich hoffe, dankbares Lächeln. »Ich fahre jetzt zum Haus und hole dann etwas zum Lunch.«
»Jeannie kommt nicht mit?«
»Sie will Dad nicht allein lassen Ich könnte dir auch was besorgen.«
»Ich hab meinen eigenen Lunch dabei. Sorge dich nicht um mich.« Sie dreht sich um, will gehen.
»Nicht einmal ein Cosmo Special? Mit einer Extraportion Cornichons? Und Krautsalat?« Das war zu Highschoolzeiten DJs Lieblingsgericht.
Sie kneift die Augen zusammen. »Ich hatte bereits Pie zum Frühstück. Da sollte ich mich mittags lieber an Salat halten.«
Ich nehme mir bewusst Zeit, um sie von Kopf bis Fuß zu betrachten. Der Kittel lässt DJs Kurven nur erahnen, doch groß verändert hat sie sich nicht seit der Highschool, zumindest äußerlich nicht. »Warum denn das?«
»Kann mir doch nicht meine Jungmädchenfigur ruinieren, besonders jetzt, wo ich praktisch geschieden bin.« Sie fährt zusammen, als sie die Bitterkeit in ihrer Stimme hört. »Vergiss, was ich gesagt habe. Es klingt so furchtbar kleinlich und eitel.«
Ich habe im Grunde nur ein Wort richtig vernommen. »Geschieden?«
Sie wirft mir einen Blick zu, den ich nur allzu gut kenne. Krieg dich wieder ein, will sie mir bedeuten. »Jetzt komm schon, Ethan – Jeannie muss dir doch inzwischen davon erzählt haben.«
Ich schüttele langsam den Kopf. »Das ist das erste Mal, dass ich davon höre. Wann war denn das?«
»Wir leben schon seit einer ganzen Weile getrennt. Ich hab gestern Morgen die Scheidungspapiere bekommen.«
»Gestern? Und ich dachte, ich hätte einen Scheißtag gehabt.«
»Sie kamen nicht unerwartet.«
»Trotzdem. Tut mir leid für dich.« Zum ersten Mal fällt mir auf, dass sie keinen Ehering trägt. »Er hätte dich lieber nicht betrügen sollen.«
Sie lacht ungläubig. »Treue war nicht unser Problem. Wir wollten bloß ganz unterschiedliche Dinge vom Leben, von daher war es besser, dass unsere Wege sich getrennt haben.« Sie seufzt und schaut zum Himmel auf. »Wie dem auch sei, jetzt ist Visite, ich sollte mich also auf den Weg machen.«
Offensichtlich ist an der Story mehr dran, aber DJ hat keinerlei Grund, mich darin einzuweihen. Ich frage mich, warum Mom mir nie von ihrer Trennung erzählt hat. Vielleicht, weil ich dann in Versuchung geraten wäre, wieder bei DJ anzufragen. Vielleicht, weil ich nun unweigerlich überlege, ob der Transfer nach Minnesota eine Art Omen ist. Dagegen spricht allerdings, dass ich mit ziemlicher Sicherheit nicht zur engeren Auswahl von DJs Lieblingsmenschen gehöre, deshalb habe ich einfach keine Ahnung, ob das nun gut ist oder schlecht.
Ich kann aber etwas dafür tun, um in die engere Auswahl zu gelangen. Indem ich zum Beispiel mit dem Lunch beginne. »Ich könnte dir doch einfach ein Panini mitbringen?«
»Ich hab doch mein Mittagessen dabei. Alles gut.«
»Verwahr es für morgen. Wie kannst du zu einem Panini von Cosmo’s Nein sagen?«