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Die Folgen des Klimawandels, das Fortschreiten antidemokratischer Tendenzen, die Corona-Pandemie aber auch tiefgreifende technologische Entwicklungen lassen die gesellschaftliche Gegenwart als multiple Krise erscheinen. Wie bearbeiten Theater diese Herausforderungen? Welche Fähigkeiten entwickeln Theaterschaffende dabei? Vom 15. bis zum 17. Juni 2022 trafen sich Praktiker:innen und Forschende mit internationalen Studierenden an der Theaterakademie August Everding, um verschiedene Visionen für die Kunst, ihre Institutionen und die Ausbildung zu diskutieren. Die Publikation dokumentiert ihre differenzierten Analysen und originellen Zukunftsideen mit dem Ziel, daraus für die Gegenwart zu lernen. Mit Beiträgen u.a. von Sivan Ben Yishai, Amelie Deuflhard, Jennifer Gunkel, Adrienne Goehler, Pınar Karabulut, Friedrich Kirschner, Tine Milz, Jasmin Maghames, Manolis Tsipos, Yener Bayramoğlu, Lisa Jopt und Barbara Gronau.
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Seitenzahl: 345
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Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste
Herausgegeben vonHans-Jürgen Drescher,Johannes Hebsacker,Antonia Leitgeb undDaniel Richter
Edition BayerischeTheaterakademieAugust Everding
Learning for the Future
Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste
Herausgegeben von Hans-Jürgen Drescher, Johannes Hebsacker, Antonia Leitgeb und Daniel Richter
© 2024 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
tdz.de
Layout: Florian Fischer
Lektorat: Iris Weißenböck
Englischsprachige Korrektur: James Conway
Projektleitung: Johannes Hebsacker
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-508-2 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-510-5 (EPUB)
ISBN 978-3-95749-509-9 (ePDF)
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bayerischen Landtags.
Grußwort
Barbara Gronau
Grußwort
Robert Brannekämper
Zukunft erzählen. Konferenz zur Zukunft des Theaters und der Ausbildung für die Darstellenden Künste
Hans-Jürgen Drescher
Für die Zukunft lernen, schon heute. Die Dokumentation
Johannes Hebsacker, Hans-Jürgen Drescher, Antonia Leitgeb und Daniel Richter
1 Wissen produzieren
(Un)Learning for the Future. Transformation der Wissensproduktion in Hochschulen und Theatern
Amelie Deuflhard, Hayat Erdoğan, Barbara Gronau, Marijke Hoogenboom, Steffen Jäger und Antonia Tretter
Kunst als Wissen, als Experiment, als Studium
Friedrich Kirschner
Kunstprozesse vor Kunstproduktion. In die Zukunft geschrieben
Adrienne Goehler
Reality Check. Ehemalige Studierende über ihre ersten Jahre im Beruf
Demjan Duran, Jana Gmelin, Danae Kontora, Antonia Tretter und Nicolas Fethi Türksever
103 Words of Friendship. A Lexicon for a Theatre Academy of the Future
Manolis Tsipos
2 Diversität entwickeln
All in. Inklusion im Theater und in der Theaterausbildung
Max Dorner, Angelica Fell, Nele Jahnke, Malte Jelden, Johanna Kappauf, Georg Kasch und Jutta Schubert
Queering Identity and Art. Körper auf der Bühne
Josef Bairlein, Pınar Karabulut, Georg Kasch und Philipp Moschitz
Vielfalt ist mehr als ein Trend. Wie ein Schauspielstudium wirklich divers werden könnte
Çağla Şahin
Eine Politik der Fragilität
Yener Bayramoğlu
Combining Art with Political and Social Claims
Clothilde Sauvages
Aktivismus im Theater
Carolin Wirth
Partizipatives Musiktheater. Von Aktionstickets, Live-Abstimmungen und der Partitur als Material
Teresa Martin
3 Theater organisieren
Theater zukunftsfähig machen. Öffnen, flexibilisieren, lernen
Antigone Akgün, Benedikt Kosian, Jasmin Maghames, Tine Milz, Moritz von Rappard, Anke Schmitz, Maximilian Sippenauer und Anne Wiederhold-Daryanavard
Das Ende der Arbeitswelt, wie wir sie kennen
Jennifer Gunkel
The Blob und das Lachen der Medusen. Eine Gedankenskizze über das egalitäre Gagensystem am Theater Neumarkt
Tine Milz
No Reason To Get Excited. Kollektive Praxis
Kollektiv Common Ground
Wie Theater ökologisch nachhaltig handeln können
Vera Hefele
Das vernetzende Theater als lernfähiges Theater. Kultureinrichtungen in Zeiten der Krise
Johannes Hebsacker
Kulturpolitik der Zukunft. Neue Rahmenbedingungen für das Theater im 21. Jahrhundert
Georg Diez, Hans-Jürgen Drescher, Ute Gröbel, Lisa Jopt und Jonas Zipf
4 Digitalität gestalten
Uncanny Valley. Konzepte von Mensch und Technologie im Theater
Malena Große, Benno Heisel, Tina Lorenz, Ilja Mirsky und Chris Salter
Acting Robots
Jakob Altmayer
Wearable AR – Textile Image Marker für Augmented-Reality-Anwendungen. Eine Prozessbeschreibung
Lea Unterseer
E-Textiles
Simon Rauch
Komponieren im Metaverse. Wie kollaboratives Arbeiten auf verschiedenen Plattformen funktionieren könnte
Matthias Röder
5 Zukunft denken
Kreativwirtschaft als Motor des Wandels. Eine Vision für das Jahr 2040
Christina Zimmer
Infrastrukturen der Demokratie. Theater im Zeitalter der Komplexität
Georg Diez
Zukunftsvorstellungen. Was Theaterschaffende von der Zukunftsforschung lernen können
David Weigend
Wissen für die Zukunft
Andreas Wehrl
Rebuilding the Future in an Adjacent Area
Sivan Ben Yishai
Anhang
Konferenzprogramm
Autor:innen
Herausgeber:innen
Nachweise
Barbara Gronau
Der vorliegende Band ist die zweite Publikation der Schriftenreihe der Bayerischen Theaterakademie August Everding. Ihr Ziel es ist, aktuelle Diskurse des Theaters mit Fragen der Ausbildung, des institutionellen Wandels und der künstlerischen Praxis zu verknüpfen. Anlässlich des 30. Jubiläums der Theaterakademie fragte der Band Das Flüchtige gestalten (2023) nach der wechselvollen Geschichte des Lehrens und Lernens der Darstellenden Künste. Im vorliegenden Buch Learning for the Future richtet sich der Blick nun nach vorn, in die Zukunft.
Wie alle Ausbildungseinrichtungen steht auch die Theaterakademie inmitten eines gesellschaftlichen Wandels. Mit ihm verbunden sind Veränderungen des Theaters als Kunstform, als Ausbildungsgegenstand und als Institution. In unserer Zeit, die von Umbrüchen und Krisen gekennzeichnet ist, sind wir aufgefordert, Antworten auf viele Fragen zu finden: Wie wollen wir als Theaterschaffende zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen? Welche künstlerischen Formen beschreiben unsere Gegenwart? Wer hat an ihnen teil und wer nicht? Welche Horizonte kann das Theater eröffnen?
Zu diesen Fragen versammelt der vorliegende Band ein breites Spektrum luzider Analysen, persönlicher Statements und künstlerischer Positionierungen. Er präsentiert kollektive Arbeitsstrukturen und nachhaltiges Produzieren ebenso wie die Überlegungen zu neuen Ästhetiken und Techniken der VR-Brille.
Die Zukunft – so zeigt sich darin exemplarisch – beginnt schon in der Gegenwart. Wie wir das Kommende denken und beschreiben, mit welchen Hoffnungen, Befürchtungen oder Forderungen wir es verbinden, hängt von den Bedingungen ab, unter denen wir es imaginieren. Theater sind Seismografen der Gegenwart, sie machen Krisen, Bedürfnisse, Entwicklungen oder auch das Übersehene, Verdrängte sichtbar. Zugleich sind sie Ausblicke, oder, wie Everding sagte: „Kunst stellt nicht fest, sie ahnt, was sein wird.“ Zukunft, so zeigt sich deutlich, ruft permanent zu ihrer Gestaltung auf. Das Theater hat deshalb immer mehr als eine rein abbildende Funktion. Es ist das Labor, in dem Zukünftiges ausprobiert und entworfen werden kann. Die Bayerische Theaterakademie entwirft diese Zukünfte im Kollektiv.
Barbara Gronau
Präsidentin der Bayerischen
Theaterakademie August Everding
Robert Brannekämper
Es war richtig und wichtig, dass die Bayerische Theaterakademie August Everding sich an drei Tagen im Juni 2022 in einer Zukunftskonferenz ebenso vielfach wie vielfältig mit der Frage auseinandersetzte, wie das Theater im Jahr 2040 wohl aussehen werde. Zwei Dekaden im Voraus wollte man eigentlich denken – dass es wegen Corona letztlich nur noch 18 Jahre waren, zeigt, wie fragil die Kunst gegenüber äußeren Einflüssen sein kann.
Um nicht von Pandemien, digitalen Quantensprüngen und einem unvorhersehbaren Zeitgeist getrieben zu werden, haben Kultur- und Theaterschaffende gemeinsam mit Studierenden und Lehrenden über alternative Zukunftsentwürfe nachgedacht und debattiert, damit am Ende – im Jahr 2040 – nicht die Dystopie auf den Bühnen regiert, sondern kreative Utopien von heute dem Theater den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft gezeigt haben werden.
Eines wurde dabei rasch klar: Das Theater der Zukunft wird kein Kokon des Bewahrens sein, sondern ein Raum, der jene Themen, welche die Gesellschaft gerade aktuell prägen, viel umfassender als bisher aufgreifen wird. Dies bedingt wiederum Akteure, die darauf vorbereitet sein müssen, weshalb die Zukunftskonferenz viel Zeit und Kreativität mit der Frage verbrachte, wie sich die Ausbildung der Theaterschaffenden verändern muss. Dabei waren Schauspielschüler in die diversen Gesprächs- und Diskussionsforen ebenso eingebunden wie gestandene Mimen, die jene Ausbildung, die man ihnen einst angedeihen ließ, mit Blick auf ihre heutige Tätigkeit reflektierten. Mit so viel Praxisbezug hat man sich dieses Themas selten angenommen.
Dass diese Zukunftskonferenz aber zugleich den Blick über den künstlerischen Tellerrand gewagt hat, zeigt, wie umfassend der visionäre Ansatz hier verfolgt wurde. Da ging es um Fragen der künftigen Arbeitszeiten und der Entlohnung ebenso wie um Ökologie und Inklusion, als etwa erörtert wurde, wie sich der Theaterbetrieb mit energetischen Einsparungen in Einklang bringen lässt oder wie nicht nur der Zuschauerraum, sondern auch der Bereich hinter dem Vorhang so zu gestalten ist, dass sich auch Menschen im Rollstuhl dort barrierefrei bewegen können. Hält man sich dabei das ehrwürdige Prinzregententheater als Spiel- und Ausbildungsstätte der Bayerischen Theaterakademie August Everding vor Augen, wird plötzlich deutlich, welche Herkulesaufgabe damit verbunden ist. Antworten auf diese Herausforderungen zu finden, ist aber nicht nur Sache der Theaterleute alleine, sondern zugleich Auftrag an eine verantwortungsvolle und vorwärts schauende Kulturpolitik.
Die Zukunft kommt, ob wir das wollen oder nicht. Welche Zukunft kommt, können wir jedoch mitgestalten und mitentscheiden. Diesen Ansatz hat die Zukunftskonferenz pragmatisch verfolgt – und zwar dergestalt, dass ein Zukunftsforscher seine Methodik vorgestellt und die Frage in den Raum gestellt hat, was davon für das Theater der Zukunft interessant sein könnte. Ein Denken in Szenarien also, ein Blick in das Theater von morgen, verbunden mit dem festen Vorsatz, die Lehren für die Zukunft bereits in der Gegenwart zu ziehen.
Eine wahrlich verlockende Herangehensweise, die angesichts einer vom rasanten technologischen Fortschritt geprägten Welt äußerst interessante Ergebnisse hervorgebracht hat. Angesichts von in immer kürzeren Intervallen auf uns hereinbrechenden Veränderungsprozessen wird dieser Blick vorwärts in die Zukunft und danach sogleich rückwärts in die Gegenwart zu einer Daueraufgabe werden – nicht nur für das Theater.
Die Zukunftskonferenz des Jahres 2022 hat eindrucksvoll gezeigt, dass unser Theater bestens für die vor ihm liegenden Herausforderungen gerüstet ist: mit Mut zur Veränderung und mit Elan für Neues.
Robert Brannekämper, MdL
Ehemals Vorsitzender, nun stellvertretender
Vorsitzender des Ausschusses für Wissenschaft
und Kunst im Bayerischen Landtag
Konferenz zur Zukunft des Theaters und der Ausbildung für die Darstellenden Künste
Hans-Jürgen Drescher
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit als heterogen, diskontinuierlich und kontingent dazu geführt, dass Modelle systematischer und vereinheitlichender Welterklärung und der politischen Umsetzungen, für die sie das theoretische Fundament bildeten, in Zweifel gezogen wurden. So konnte poststrukturalistische Theorie vom Ende der großen Erzählungen sprechen, vom Ende der Metaerzählungen der Moderne, die dazu dienten, gesellschaftliche Institutionen, politische Praktiken, Ethik und Denkweisen zu legitimieren. Die Theorie vom Ende der großen Erzählungen hat nicht nur die Postmoderne eingeläutet, sondern auch das Bewusstsein dafür geschärft, dass unsere gesellschaftliche Gegenwart von Erzählungen konstituiert wird.
Es ist ein wirkmächtiges Narrativ, das die Wahrnehmung unserer Lebenswelt beherrscht und weitgehend unser Denken und Handeln, unsere Diskurse bestimmt: Es ist das Narrativ der Krise. Die Flüchtlingskrise, die durch den radikalen Klimawandel verursachte Krise, die durch die Coronapandemie und durch den Krieg in Europa ausgelösten globalen Krisen haben dazu geführt, dass die Fortschrittserzählung der Aufklärung, die über einen langen Zeitraum die Triebkraft westlich-kapitalistischer Gesellschaft bildete, in unserer Gegenwart zunehmend von der Krisenerzählung abgelöst wird.
Wenn die Fortschrittserzählung der Aufklärung, die geschichtsphilosophische Metanarration von der teleologischen Bestimmtheit des Weltenlaufs, die die Entwicklung vom Niederen zum Höheren, die zunehmende Verbesserung menschlicher Lebenswirklichkeiten noch garantierte – wenn diese Erzählung ihre Geltung verliert, dann geht die auf die Zukunft gerichtete zuversichtliche Perspektive menschlichen Denkens und Handelns verloren.
Dass die Krisenerzählung die Oberhand über die Fortschrittserzählung gewinnt, nimmt nicht wunder, sind wir doch in unserer hypermedialen Gesellschaft permanent katastrophalen Bildern ausgesetzt, die Befürchtungen wecken, Angst erzeugen und Perspektiven verengen und damit das, was uns lebendig hält, unser Future Mind, unseren Zukunftssinn, lähmen.
Sinn der Konferenz war, sich nicht von den Dystopien unserer Gegenwart vereinnahmen zu lassen, sondern utopischem Denken und seinen Transformationspotenzialen Raum zu geben. Worum es ging, hat Joseph Beuys formuliert: „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“ Zukunft muss gestaltet werden, mehr noch: Sie entsteht im Prozess des Gestaltens. Doch wo setzt Gestaltung an, wie und unter welchen Konditionen wird sie vollzogen? Welchen gegenwärtigen Bedingungen ist sie unterworfen? Wie erhalten wir uns unsere gestalterische Freiheit und vermeiden, uns vor den Karren einer transformation by desaster spannen zu lassen? Wie verändern wir uns im Prozess der Gestaltung? Diese Fragen wurden im Hinblick auf die Zukunft des Theaters und die Ausbildung für die Darstellenden Künste gestellt.
Gleichsam als Basso continuo begleitete uns während der Konferenz die Frage: „Wie sieht das Theater im Jahr 2040 aus?“ und indizierte damit unser methodisches Vorgehen. Wir ließen uns als bekennende Star Trek-Fans nicht nur vom legendären Intro zu den Filmen – „Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200“ – inspirieren, sondern auch von der Methode der Re-Gnose. Der Trendforscher Matthias Horx war es, der dem bereits vorbestehenden Begriff mit seinen Schriften einen größeren Raum des Diskurses eröffnet hatte.
„Wir schreiben das Jahr 2040“ – das war das Mantra, das die Speculative Thinkings, die Table Talks, die Open Tables und all die Diskurse unserer Konferenz begleiten sollte. Wir trauten uns, den Weg der Re-Gnose, der „Wieder-Schöpfung“ zu gehen, geistig in die Zukunft zu springen, die wir wollen, und von dort aus auf unsere Gegenwart zurückzublicken. Dabei fragten wir uns, auf welchem Weg wir den zukünftigen Standpunkt erreichen konnten und was sich unterwegs alles verändert hat. Im Gegensatz zur Prognose stellt die Re-Gnose nicht die Frage, wie die Zukunft selbst beschaffen sein könnte. Matthias Horx sagt: „In der Re-Gnose erkennen wir, dass wir selbst es sind, die die Zukunft erzeugen. […] Die Zukunft wird zum Wandel, der wir selbst sind.“
Da wir behaupteten, das Jahr 2040 zu schreiben, blickten wir von der Warte der Zukunft aus auf die Geschichte des Theaters zurück und erzählten, wie es sich entwickelt, wie es sich verändert hat. Hervorheben möchte ich, dass diese Erzählungen vom Möglichkeitssinn bestimmt wurden. Aus Perspektive des Jahres 2040 hat das Theater die Tiefenkrisen als Chance begriffen, sich strukturell und inhaltlich zu erneuern:
Theater hat sich zur Inklusion bekannt, lebt Diversität und Vielfalt in allen erdenklichen Bereichen und bekämpft jede Form des Ausschlusses. Wertebasierte Verhaltenskodizes haben dazu beigetragen, alle Formen von Machtmissbrauch zu überwinden. Auch wenn Theater nicht aus dem Auge verloren hat, dass Verausgabung und Verschwendung zum Spiel gehören, haben seine Bemühungen um Nachhaltigkeit Früchte getragen. Es hat nicht nur energieeffiziente Technologien genutzt, sondern auch in seiner thematischen Ausrichtung den Post-Wachstumsdiskurs befördert.
Theater hat Digitalität schätzen gelernt. Über ihren technologischen Aspekt hinaus ist sie zur künstlerischen Triebkraft geworden. Sie hat Anteil an den Strukturen und Inhalten des Spiels und der Erzählungen und hat die Ästhetik des Theaters in Theorie und Praxis bereichert.
Theater hat die klassischen Spielstätten verteidigt und gleichermaßen den Stadtraum erobert. Theater hat neue architektonische und soziale Räume geschaffen – Proberäume zur Gestaltung von Kunst und Kommunität. Es hat künstlerischen Potenzialen für gesellschaftliche Transformation eine Bühne eingeräumt und dabei auf kollektive Prozesse der Interaktion zwischen Darstellenden und Zuschauenden gesetzt. Theater hat seine Vorreiterrolle in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel wahrgenommen und erweitert und ist zum Experimentierraum für gesellschaftliche Transformationsprozesse geworden.
Mit Unterstützung der Kulturpolitik sind auch im Theater selbst die notwendigen strukturellen und inhaltlichen Veränderungen verwirklicht worden. Bei allem Wandel hat Theater die Gewissheit bewahrt, dass es ein Ort der Kunst ist, ein Ort der Differenz und des Nicht-Affirmativen.
Wenn wir aus der Perspektive des Jahres 2040 auf die Ausbildung fürs Theater schauen, wird uns klar, dass sie dessen Wandel vorangetrieben und den Studierenden als personifizierter Zukunft die Gestaltungshoheit überlassen hat. Theaterhochschulen sind zu Laboratorien für künstlerische Forschung und gesellschaftliche Transformation geworden.
Verlassen wir das Morgen, überspringen das Heute und begeben uns ins Gestern, genauer ins Jahr 2012: Vor zehn Jahren fand an der damals noch sehr jungen Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg eine erste Zukunftskonferenz unter dem Titel Wie? Wofür? Wie weiter? – Ausbildung für das Theater von morgen statt. Weniger in der Hoffnung, konkrete Antworten auf die Frage nach der besten und zukunftsfähigsten Ausbildung geben zu können, als vielmehr angetrieben von dem Wunsch, überhaupt erst einmal den Gedankenaustausch zwischen den öffentlichen Theaterhochulen im deutschsprachigen Raum zu beleben, hat die ADK Ludwigsburg, die ich seinerzeit als Künstlerischer Direktor und Geschäftsführer aufbauen durfte, in Kooperation mit der Dramaturgischen Gesellschaft eine Konferenz zu den Perspektiven der Ausbildung für die Darstellenden Künste veranstaltet. In Ludwigsburg trafen sich Dozierende und Studierende deutschsprachiger Theaterhochschulen, Theaterpraktiker:innen, Expert:innen aus anderen Disziplinen sowie Vertreter:innen von Kunsthochschulen aus dem europäischen Ausland, um zu diskutieren, vor welchen Herausforderungen die künstlerische Ausbildung heute steht: Für welches Theater bildet man eigentlich aus – für welche Kunst also, aber auch für welchen Markt? Wie bildet man am besten aus? Welche Voraussetzungen, Fähigkeiten und Kenntnisse benötigen junge Künstler:innen jetzt – angesichts der verschiedenartigen Erscheinungs- und Produktionsformen von Theater, die wir bereits heute verzeichnen, sowie den daraus resultierenden Beschäftigungsverhältnissen? Wie ermächtigt man angehende Theaterschaffende, selbst herauszufinden, welcher Weg, welche Ästhetik, welche Arbeitszusammenhänge für sie die richtigen sind, und diese dann zu beschreiten bzw. zu praktizieren? Wie begleitet man junge Künstler:innen bei ihren ersten beruflichen Schritten? Mit welchen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen kann man sie in ihrer künstlerischen Entwicklung unterstützen? Welche Auswirkungen haben schließlich die europäischen Harmonisierungsprozesse im Bereich der Hochschulbildung für die künstlerische Ausbildung?
Die Münchner Zukunftskonferenz Learning for the Future baute auf den Ludwigsburger Fragestellungen auf, stellte aber die Frage nach der Zukunft des Theaters und der Ausbildung für die Darstellenden Künste wesentlich deutlicher in den Kontext sich radikal wandelnder gesellschaftlicher Entwicklungen und Erfordernisse. Es ging um die Gestaltung unserer Zukunft und um den Beitrag, den das Theater und die Ausbildung fürs Theater dazu leisten können. Das vielgestaltige und umfangreiche Programm der Konferenz versuchte, getragen von Studierenden, Theaterschaffenden, von Expert:innen verschiedener Disziplinen, Perspektiven für die anstehenden Transformationsprozesse zu eröffnen.
Ich komme zum Schluss zur Ausgangsüberlegung, dass die gesellschaftliche Gegenwart von Narrativen bestimmt ist, zurück. Den Erzählungen trauen wir nicht nur eine große Wirkmächtigkeit, sondern auch bedeutende gestalterische Potenziale zu. Die Theatererzählung nimmt dabei aufgrund ihrer Struktur eine außergewöhnliche Stellung ein. Denn sie erwächst aus dem Spiel der Fiktionen auf der Bühne und eröffnet dadurch unendliche Möglichkeiten der Gestaltung. Wenn es darum geht, Zukunft zu gestalten, spielt die Theatererzählung eine der Hauptrollen. Theatererzählungen sind Zukunftserzählungen.
Open Table Founding an International University for Performing Arts
Die Dokumentation
Johannes Hebsacker, Hans-Jürgen Drescher, Antonia Leitgeb und Daniel Richter
In einer sich permanent wandelnden Umgebung ist zentral, mit immer wieder neuen Situationen umgehen zu können und auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren zu können. Lernfähigkeit wird zu einer vorrangigen Fähigkeit von Theaterschaffenden und Theaterbetrieben, aber auch zu einem wichtigen Ausbildungsinhalt für Theaterstudierende.
Für die Zukunft zu lernen bedeutet dabei nicht nur, als Individuum oder Organisation Veränderung oder Wandel zu üben, mit Komplexität umzugehen und Neues aufzunehmen. Lernfähig zu sein bedeutet, sich Zeit zu nehmen und Zeit zu geben1, Fehler zu machen, Fehlerkulturen zu pflegen2 und Feedbackprozesse zu gestalten. Es bedeutet, in Szenarien denken und Perspektiven wechseln zu können. Lernfähigkeit erfordert demnach innere Diversität und interdisziplinären Austausch, aber auch Konnektivität von Individuen, Organisationen oder Systemen zwischen ihrem jeweiligen Innen und Außen.3 Lernfähig zu sein bedeutet, offen und damit verletzlich zu sein.4 Lernfähigkeit beschreibt in diesem Sinne ein bestimmtes „Weltverhältnis“: Lernfähige Individuen oder Betriebe sind responsiv, sie lassen sich von ihrer Umwelt betreffen, sie gehen auf Äußeres ein, reagieren,5 sie sind flexibel und beweglich. Lernfähige Menschen oder Betriebe begreifen die Prämissen ihrer Arbeit und ihres Handelns als kontingent,6 das bedeutet, dass auch professionelles Wissen nicht mehr als vorgegeben, sondern ebenfalls als kontingent verstanden wird.7 Die Frage: „Könnte es anders sein?“8 wird zur ständigen Begleiterin in Lernprozessen. Lernfähig zu sein ist demnach kein Zustand und keine Methode, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern ein nie abgeschlossener Prozess.9
Vom 15. bis zum 17. Juni 2022 trafen sich Praktiker:innen und Forschende mit internationalen Studierenden an der Theaterakademie August Everding, um verschiedene Visionen für die Darstellenden Künste, ihre Institutionen und die Ausbildung zu diskutieren. In Workshops, bei Open Tables, Impulsvorträgen, Tischgesprächen und künstlerischen Interventionen wurde deutlich: Lernen bedeutet, Wissen zu produzieren, Digitalität zu gestalten, Diversität zu entwickeln, Theater neu zu organisieren und Zukunft gemeinsam zu denken. Der vorliegende Band dokumentiert Visionen und Wünsche, bereits erprobte oder noch zu erprobende Strategien, Impulse aus (vermeintlich) theaterfernen Disziplinen mit dem Ziel, davon schon heute für die Zukunft zu lernen.
In (Un)Learning for the Future betonen Amelie Deuflhard, Hayat Erdoğan, Barbara Gronau, Marijke Hoogenboom, Steffen Jäger und Antonia Tretter die Notwendigkeit des bewussten Abbaus oder der kritischen Infragestellung von bestimmten Machtstrukturen, Gewohnheiten oder Überzeugungen. Die Teilnehmer:innen betonen, dass „Unlearning“ kein einmaliges Ereignis ist, sondern ein fortlaufender, manchmal schmerzhafter Prozess des Hinterfragens von etabliertem Wissen und Normen, der zu einer inklusiven und diversen Praxis von Theatern und Theaterhochschulen beiträgt. Wissen wird durch künstlerische Praxis hergestellt und erfahrbar. In Kunst als Wissen, als Experiment, als Studium unterstreicht er deshalb die Notwendigkeit, Studierende zu ermächtigen, ihre eigene Praxis des Wissenserwerbs zu gestalten, anstatt vorgefertigtes Wissen zu konsumieren. Aus einer soziologischen Perspektive plädiert er für einen Übergang von einer institutionalisierten Weitergabe von Wissen zu einer Praxis der Wissenserkundung, in der Studierende aktiv an der Strukturierung, Subjektivierung und Pluralisierung von Wissen teilhaben. Adrienne Goehler entwirft in ihrem Brief Kunstprozesse vor Kunstproduktion, die Lernumgebung junger Theaterschaffender und Studierender als geprägt von vielfältigen Herausforderungen wie der Coronapandemie, der Klimakrise und gesellschaftlichen Veränderungen. In diesem Umfeld können junge Menschen besonders dazu befähigt werden, etablierte Normen zu hinterfragen, neue Allianzen zu bilden und den Fokus auf künstlerische Prozesse über den Produktionszwang zu stellen. In Reality Check reflektieren ehemalige Studierende der Theaterakademie August Everding ihre Ausbildung anhand ihrer Erfahrungen in ihren ersten Berufsjahren. Demjan Duran, Jana Gmelin, Danae Kontora, Antonia Tretter und Nicolas Fethi Türksever fragen sich: Worauf habe ich mich vorbereitet gefühlt, worauf nicht? Was hätte ich gerne früher gewusst? Ihre Auseinandersetzung verdeutlicht die Komplexität der Theaterwelt und die vielfältigen Herausforderungen, mit denen Absolvent:innen beim Berufseinstieg konfrontiert sind. Sie wirft auch Fragen nach der Weiterentwicklung der Theaterausbildung und den Arbeitsbedingungen in der Branche auf. Sieben Theaterstudierende aus verschiedenen europäischen Ländern erörtern im Rahmen eines mehrtägigen Workshops während der Zukunftskonferenz, wo sie bereits in der Gegenwart Zukunft entdecken, was an ihren Hochschulen schon heute gut funktioniert, was sie dort vermissen und wodurch sich gute Freund:innen auszeichnen. Manolis Tsipos dokumentiert ihren gemeinsamen Arbeitsprozess. Das entstandene Lexikon 103 Words of Friendship gruppiert sich um Begriffe wie Sensibilität, Kooperation, Vertrauen, Unsicherheit, Flexibilität oder Neugier. Es beschreibt die Suche nach einer gemeinsamen Sprache über die Zukunft und einer geteilten Vision für eine neuartige Theaterakademie.
Wie gelingt All in im Theater? Max Dorner, Angelica Fell, Nele Jahnke, Malte Jelden, Johanna Kappauf, Georg Kasch und Jutta Schubert diskutieren den Begriff Inklusion, Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung, das Werkstattsystem, in dem Menschen mit Behinderung meist arbeiten, und die Herausforderungen auf dem Weg zu einem inklusiven Theaterbetrieb. Die mangelnde Verfügbarkeit von Ausbildungsangeboten sowie finanzielle und bürokratische Hürden werden als zentrale Barrieren identifiziert. Die Diskussionsteilnehmer:innen sprechen sich dafür aus, dass Menschen mit Behinderung Zugang zu bestehenden Arbeits- und Ausbildungssystemen erhalten sollten, anstatt für sie separate Systeme aufzubauen. In Queering Identity and Art zeichnen Josef Bairlein, Pınar Karabulut, Georg Kasch und Philipp Moschitz die Geschichte der Queerness im Theater von Shakespeare bis heute nach, diskutieren Rollenfächer, Rollenklischees und Besetzungspolitiken auf der Bühne und in der Theaterausbildung, im Schauspiel und in der Oper. Die Gesprächspartner:innen weisen darauf hin, dass das Leitungspersonal in Theatern und Hochschulen institutionelle Veränderungen fördern muss, um Queerness besser zu integrieren. Çağla Şahin beobachtet jedoch, dass sich gerade Theaterhochschulen zwar vielfältiger präsentieren, für gelebte Diversität erforderliche Anpassungen im Lehr- und Probenbetrieb jedoch ausbleiben. In Vielfalt ist mehr als ein Trend plädiert sie für umfassende Veränderungen in der Schauspielausbildung, um Diversität nachhaltig zu integrieren. Sie beschreibt Konzepte queerer Lehre, inklusiver Lehre und antirassistischer Lehre und fordert geschulte Dozierende, einen bewussten Umgang mit Queerness, Anpassungen für Studierende mit Behinderung und eine Auseinandersetzung mit rassistischen Denkstrukturen. Yener Bayramoğlu skizziert Eine Politik der Fragilität, eine Vision für das Jahr 2040, in der die Gesellschaft gelernt hat, die Fragilität des eigenen Seins, die Verletzlichkeit der Demokratie und die Fragilität der Hoffnung anzuerkennen. Vor dem Hintergrund der queeren und der postkolonialen Theorie plädiert er für einen epistemischen Wandel, der Peripherien in den Mittelpunkt rückt und eingeübte Grenzziehungen hinterfragt. In Combining Art with Political and Social Claims präsentiert Clothilde Sauvages mit dem Leitbild der Ouishare Community einen Ansatz, künstlerische und politische Praktiken zu verbinden. Das internationale Netzwerk vernetzt Akteur:innen aus unterschiedlichen Bereichen und versucht so, Themen möglichst ganzheitlich zu betrachten. Dass Diversität nicht nur hinsichtlich der im Theater versammelten Personen gedacht werden kann, sondern auch hinsichtlich der dort vertretenen Formen und Dramaturgien, zeigen zwei Beiträge von Carolin Wirth und Teresa Martin. Carolin Wirth weist darauf hin, wie immersive Bühnenanordnungen, in denen sich ein Publikum frei bewegen kann, eine Möglichkeit von Aktivismus im Theater darstellen können. Teresa Martin plädiert in Partizipatives Musiktheater für eine aktive Teilhabe des Publikums am künstlerischen Prozess, indem Zuschauer:innen an einer Szene mitwirken, indem unterschiedliche stellvertretende Akteur:innen in die Konzeption und/oder Probenarbeit eingebunden werden oder indem Teilhabe durch unterschiedliche Angebote der Barrierearmut ermöglicht wird. Sie illustriert ihre Argumentation anhand konkreter Produktionen, die verschiedene Formen der Partizipation nutzen und einen tradierten Werkbegriff hinterfragen. Martin unterstreicht, dass eine Zukunft für die Oper in einer Vielseitigkeit liegt, die das heterogene Publikum einbezieht.
Wie können wir Theater zukunftsfähig machen? Antigone Akgün, Benedikt Kosian, Jasmin Maghames, Tine Milz, Moritz von Rappard, Anke Schmitz, Maximilian Sippenauer und Anne Wiederhold-Daryanavard diskutieren, wie sich Theater anhand der Parameter Personal, Programm, Publikum, Ort, Kommunikation und Partnerschaften wandeln können. Als gute Beispiele beschreiben sie unter anderem: demokratische Kommunikation etablieren, strategische Kooperationen mit anderen (Kultur-)Institutionen eingehen, um voneinander lernen zu können, die Einführung von Wahlpreismodellen, die Berufung kollektiver Leitungen und die Verankerung von Transformationsmanager:innen oder Prozessstellen, die Veränderung in Theatern initiieren, kommunizieren und begleiten. Nur wenn Theaterbetriebe flexibel und lernfähig werden, können sie auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren. Jennifer Gunkel beschreibt in Das Ende der Arbeitswelt, wie wir sie kennen eine volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige Welt, in der die Arbeitsweisen der New Work zum Standard werden und Organisationen demokratischer und flexibler werden. Die Fähigkeit, kreativ mit Veränderungen umzugehen, Ideen zu generieren und flexibel zu agieren, wird als essenziell für den Erfolg in einer sich rasch wandelnden Arbeitsumgebung angesehen.
Tine Milz stellt in The Blob und das Lachen der Medusen das transparente Gagensystem des Theater Neumarkt vor, das auf Fairness, Vergleichbarkeit und Kooperation abzielt. Durch die klare Kommunikation und Gleichbehandlung aller Künstler:innen, unabhängig von ihrem Status, wird versucht, einem tradierten Geniekult entgegenzuwirken. Wie kollektives Arbeiten funktionieren kann, wird anhand der Praxis des Münchner Kollektivs Common Ground deutlich. Common Ground engagiert sich in der Aktivierung von Leerständen für Kunst und politisches Engagement. Sein Fokus liegt auf integrativem, kreativem und gemeinschaftlichem Arbeiten. Durch selbstorganisierte Projekte in ungenutzten Gebäuden schafft es neue Umgebungen für Experimente. In No Reason To Get Excited reflektierten die Mitglieder ihre kollektive Praxis. Wie Theater ökologisch nachhaltig handeln können, veranschaulicht Vera Hefele in ihrem gleichnamigen Beitrag. Sie benennt zentrale Parameter und Hebel, die Theatern dabei helfen können, ökologisch nachhaltig zu handeln. Durch die Erstellung einer Klimabilanz können Kulturbetriebe gezielt Maßnahmen zur Reduzierung ihres CO2-Fußabdrucks ergreifen, insbesondere in emissionsstarken Bereichen wie Publikumsmobilität und Energiebezug. Sie diskutiert, ob das Ziel der Emissionsreduktion auch künstlerische Freiheit einschränkt, und skizziert Strategien für eine partizipative ökologische Transformation von Betrieben: Ausprobieren, Fehler machen, Verwerfen und Neuansetzen sind wichtige Bausteine, um Neues zu lernen. Johannes Hebsacker dokumentiert in seinem Beitrag, wie deutsche Theater im Kontext des Ukrainekriegs agieren. Seine Untersuchung zeigt, wie die Theater für ihre Ukraineaktionen verschiedene Akteur:innen versammeln, die Kontakte, Wissen, Geld, Räume oder Ideen für Aktionen teilen und damit ihre Handlungsoptionen erweitern. Dabei treffen die Theater immer auch politische Entscheidungen und entwerfen sich selbst: Sie entwickeln eine Vorstellung davon, was Theater ist (sein soll) und wer bzw. was dort handelt (handeln soll), welchen Themen sich Theater öffnet (öffnen soll). In diesem Sinne beschreibt er Das vernetzende Theater als lernendes Theater, das Möglichkeitsraum sein kann, Impulsgeber und Ressource für politische Initiativen, Austragungsort von Konflikten oder Akteur in der Kulturdiplomatie. Denn Theater stehen vor zahlreichen großen Aufgaben: Sie wollen ihre Emissionen reduzieren, diverser werden, attraktiv sein für Kreative, sie wollen als Betrieb agiler und lernfähig werden. Wie können öffentliche Träger die Theater dabei unterstützen? Wie könnten gemeinsam erarbeitete Zielvereinbarungen Theater stärken? Kurz: Wie funktioniert die Kulturpolitik der Zukunft? Georg Diez, Hans-Jürgen Drescher, Ute Gröbel, Lisa Jopt und Jonas Zipf heben das Innovationspotenzial von Theater und der Freien Szene hervor. Sie problematisieren, dass die Darstellenden Künste einerseits auskömmlich finanziert werden müssen, um die Tarifsteigerungen des NV-Bühne genauso zu ermöglichen wie Mindesthonorare in der Freien Szene, eine echte Veränderung starrer Strukturen andererseits jedoch nicht mit Geld erreicht werden kann.
Im Gespräch über das Uncanny Valley im Theater und der Technologie erörtern Ilja Mirsky, Tina Lorenz, Malena Große, Benno Heisel und Chris Salter Wechselwirkungen zwischen Mensch/Technologie oder Körper/Maschine. Wie denken Menschen Technologie, wie interagieren sie mit ihr und wie funktioniert Digitalität im Theater? Die Gesprächsteilnehmer:innen betonen, inwiefern Vertrautes in Neues eingeschrieben wird und menschliche Fantasie ein integraler Bestandteil von Technologie ist. Jakob Altmayer berichtet in Acting Robots von seiner Teilnahme am gleichnamigen Workshop, bei dem ein Roboterarm als kreatives Gegenüber im Theater untersucht wurde. Vor dem Hintergrund einer eigenen Produktion mit einem Industrieroboter reflektiert er die Herausforderungen der Probenarbeit mit Robotern. Lea Unterseer dokumentiert in Wearable AR – Textile Image Marker für Augmented Reality Anwendungen die Arbeit mit textilen Markern auf Kostümen, die Live-Interaktionen ermöglichen, und Simon Rauch beschreibt E-Textiles als Kostüme mit eingewebten elektronischen Elementen, die mithilfe von leitfähigem Garn und einem programmierbaren Controller gesteuert werden können. Er betont die kreative Vielfalt solcher Kostüme, die beispielsweise leuchten oder tönen können, und sieht in der Möglichkeit, diese Effekte mit den eigenen Bewegungen zu steuern, neue Ausdrucksweisen für Schauspieler:innen. Mathias Röder entwirft in Komponieren im Metaverse schließlich eine Vision über den künstlerisch-produktiven Alltag einer ko-komponierenden Person im Jahr 2040. Er zeigt, wie Künstler:innen in dieser Zukunftsumgebung kollaborieren, Musik generieren, Verträge gestalten und ihre Werke auf vielfältige Weise präsentieren können.
Krisen beschleunigen Transformation, schreibt Christina Zimmer. In Kreativwirtschaft als Motor des Wandels weist sie jedoch darauf hin, dass die gegenwärtige multiple Krise nicht allein mit technischen Mitteln zu bearbeiten ist, zu komplex sind ihre Herausforderungen. Sie hebt die Rolle der Kreativwirtschaft für die Gestaltung von Wandel hervor. Diese verfügt über die Kompetenzen und das Wissen, Lösungsansätze ganzheitlich zu denken und komplexe Prozesse und Strukturen zu gestalten. Denn Kreativität ist nach Zimmer die Fähigkeit, sich an die Gegebenheiten einer sich permanent verändernden Welt anpassen zu können, um handlungs- und so zukunftsfähig zu sein. In ihrer Vision für 2040 wachsen Wohnen, Leben und Arbeiten zusammen, werden Städte zu essbaren Gärten und vertrauen Gesellschaften auf ihre Handlungsfähigkeit. Geht es nach Georg Diez, wird sich das deutsche Theater bis 2040 in eine Arena des kollektiven Lernens und demokratischen Experiments verwandeln. Nach der Krise der repräsentativen Demokratie in den 2020er Jahren wird das Parlament an Bedeutung verlieren und Bürger:innenräte werden zur Normalität. Diese Entwicklung führt zu einer radikalen Neudefinition von Bürgerlichkeit und dem Verständnis, dass alle Bürger:innen den Staat repräsentieren. Theaterleiter:innen werden ihre gesellschaftliche Verantwortung erkennen und ihre Häuser für Diskussionen, Workshops und demokratische Prozesse öffnen. Die Theater dienen so als Infrastrukturen der Demokratie, als Laboratorien für die Bewältigung komplexer Herausforderungen. David Weigend stellt fest, dass Menschen häufig von ganz bestimmten Zukunftsvorstellungen geprägt sind, wenn sie sich Zukünfte ausmalen, zum Beispiel aus Science-Fiction-Filmen oder Romanen. Solche Zukunftsbilder würden häufig reproduziert und seien meist erstaunlich traditionell. Er stellt deshalb verschiedene Methoden der Zukunftsforschung vor, die dabei helfen sollen, komplexer und differenzierter über Zukunft nachzudenken, darunter das Denken in Szenarien, die Verbindung von Wünschen und Fakten, das Einbeziehen verschiedener Perspektiven, die Bildung kreativer Teams und die Gestaltung von Settings für kritische Reflexion. Weigend betont die Bedeutung partizipativer Ansätze und hebt den Einsatz von spielerischen Strategien zur Förderung des Verständnisses komplexer Systeme hervor. Er schließt mit der These, dass sich gerade Theater solcher partizipativer und kreativer Methoden bedienen und damit neue Zukunftsvorstellungen fördern kann. Andreas Wehrl berichtet in Wissen für die Zukunft von der Schwierigkeit, Überlegungen über die Zukunft anzustellen, insbesondere hinsichtlich der Grenzen menschlichen Wissens. Eine Möglichkeit, dieser Schwierigkeit zu begegnen, liegt darin, diverse Wissensformen für das Nachdenken über Zukunft oder für in die Zukunft gerichtetes Handeln produktiv zu machen. Neben dem wissenschaftlichen Wissen nennt er unter anderem: das spielerische Wissen, das unsichtbare Wissen (wie beispielsweise indigenes Wissen), das narrative Wissen, das oral oder performativ verbreitet wird, und das ertrunkene oder verlorene Wissen. In Rebuilding the Future in an Adjacent Area erzählt Sivan Ben Yishai Zukunft. Sie erzählt von einer gebauten Struktur, von der Zeit, vom Verfall und vom Werden, von Veränderung, vom Neuen und Alten, vom Leben, vom Körper, von Erinnerung, von Auflösung und Rekonstruktion, vom Paaren und Gebären und vom Wachsen.
Der vorliegende Band Learning for the Future. Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste ist Produkt zahlreicher Handlungen, Verbindungen und Arbeitsstunden. Wir Herausgeber:innen danken allen Autor:innen, die ihre Vorträge oder Diskussionsbeiträge überarbeitet oder neue Texte verfasst haben. Namentlich danken möchten wir Inge Schielein und Constanze Sünwoldt für die Organisation der Konferenz, Iris Weißenböck für das sorgfältige Lektorat, Paul Tischler vom Verlag Theater der Zeit, der die Dokumentation mit ermöglicht hat, Florian Fischer, der die grafische Gestaltung verantwortet, und Paula Krapp, die uns tatkräftig bei den Transkriptionen der lebhaften Diskussionen unterstützt hat.
1Vgl. u.a. Brocchi, Davide: By Disaster or by Design? Transformative Kulturpolitik: Von der multiplen Krise zur systemischen Nachhaltigkeit, Wiesbaden 2023, https://doi.org/10.1007/978-3-658-38965-9, S. 558f.
2Vgl. u.a. Birnkraut, Gesa: „Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb“, in: Museen der Zukunft. Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements, hrsg. v. Henning Mohr und Diana Modarressi-Tehrani, Bielefeld 2022, S. 129.
3Vgl. u.a. Schneider, Martin und Markus Vogt: „Selbsterhaltung, Kontrolle, Lernen. Zu den normativen Dimensionen von Resilienz“, in: Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, hrsg. v. Maria Karidi, Martin Schneider und Rebecca Gutwald, Wiesbaden 2017, S. 116f.
4Vgl. u.a. ebd., S. 114f.
5Vgl. u.a. ebd., S. 110 und 114f.
6Vgl. Pors, Justine Grønbæk und Niels Åkerstrøm Andersen: Potentialisierung organisieren. Die Entstehung eines neuen Wohlfahrtstaatsregimes?, Wiesbaden 2019, S. 305f.
7Vgl. ebd., S. 4.
8Pors und Andersen, S. 299f, 305f.
9Vgl. u.a. Schneider und Vogt: „Selbsterhaltung, Kontrolle, Lernen. Zu den normativen Dimensionen von Resilienz“, S. 114f.
Workshopatmosphäre, Drama! Reflexionsraum für junge Theatermacher:innen
Transformation der Wissensproduktion in Hochschulen und Theatern
Amelie Deuflhard, Hayat Erdoğan, Barbara Gronau, Marijke Hoogenboom, Steffen Jäger und Antonia Tretter
Antonia Tretter Was möchtet ihr verlernen?
Hayat Erdoğan Ich würde gerne Antworten verlernen, die eine absolute Gewissheit vorgeben. Etwa, dass es nicht eine Antwort auf die Frage gibt, was Theater ist. Nur diese Frage zu stellen, zeigt schon die Komplexität auf. Von welchen Ästhetiken, welchem Kanon, welchen Spielweisen, welchen Arbeitsweisen, welchen Produktionsbedingungen, welchen Sprachen usw. geht man aus, wenn man darauf antwortet? Ich bin als Theaterdozentin an der Hochschule gelandet, weil ich dachte, wenn man Theater als Kunstapparate, als Kunstproduktionsstätten und auch die Kunstform und die Ästhetiken verändern, weiterentwickeln möchte, dann muss man da ansetzen, wo der Nachwuchs ausgebildet wird. Welche Inhalte werden dort gesetzt, welche Ästhetiken und Traditionen werden weitergegeben und reproduziert? Welche Bildungstheorien sind am Werk? Denn Bildungstheorien festigen gewisse Machtstrukturen, die Asymmetrien enthalten, weil sie vielleicht an einem Bildungskanon festhalten, der unbeweglich, gar hegemonial erscheint. Das sind gewissermaßen Antworten, die ich verlernen möchte. Was nicht bedeutet, dass ich sie vergessen oder gar ersetzen möchte. Es geht mir eher darum, diese zu erweitern, in ein Verhältnis zu setzen, zu befragen, was sie vielleicht mit einer eigenen privilegierten Position zu tun haben. So gesehen bin ich in Hinsicht auf die Frage des Unlearnings mit Sicherheit auch von Gayatri Spivak beeinflusst. Aus ihrer Perspektive hat Unlearning etwas damit zu tun, dass man versteht zu lernen, die eigenen Privilegien als Verlust anzuerkennen. Also die Fähigkeit, uns als historische Subjekte zu verstehen, die immer Teil sind von gesellschaftlichen Prozessen, in denen wir bestimmte Positionen einnehmen. Dass ich Europäerin bin, bedeutet, dass ich eine gewisse Handlungsmacht habe. Mir dies bewusst zu machen und mich dazu ins Verhältnis zu setzen und dieses wiederum in einen größeren Kontext, ist Teil des Unlearnings.
Marijke Hoogenboom Ich habe in der Vorbereitung eine Liste zusammengestellt mit allem, was ich schon verlernt habe. Dabei habe ich festgestellt, dass davon sehr wenig für meine Arbeit relevant ist und viel mehr für mein Privatleben. Das finde ich eigentlich schade, weil ich glaube, es wäre sehr relevant, dass wir benennen können, was wir auf unserem professionellen Weg verlernt und uns bewusst abgewöhnt haben. Ich habe während der Konferenz beobachtet, dass wir schon sehr systemimmanent miteinander sprechen. Wir stellen unsere Institutionen und unsere eigene Position kaum infrage, „we take it for granted“. Aber ich würde schon zur Diskussion stellen wollen, welche Erwartungen wir zum Beispiel an eine Kunsthochschule haben. Ich würde mich wirklich sehr gerne dafür einsetzen, dass dieses Monopol aufgebrochen wird. So wie sich die Kunsthochschule als Apparat entwickelt hat, haben wir uns sehr dazu verpflichtet, immer eine Antwort parat zu haben und immer irgendwie aufzeigen zu können, wie wir etwas machen, und dass wir etwas richtig machen. Die Kunsthochschule ist ein unglaublich regulierter Betrieb geworden.
Müssten wir uns nicht gemeinsam für eine deutlich vielfältigere Bildungslandschaft einsetzen? Wenn wir diese vergleichen mit dem professionellen Feld, dann reden wir immer von Stadttheater, Freier Szene und Festivals. Es wäre doch fantastisch, wenn wir so ein Äquivalent auch in der Bildungslandschaft hätten. Ich glaube, nicht alle müssen diesen Apparat durchlaufen, wie wir ihn heute haben. Wir könnten mehr Diversität in Bildungsbiografien erlauben. Ich möchte aber auch das Potenzial einer lernenden Institution nicht vergessen: Herausforderungen anzuerkennen und weiter zu lernen hat auch eine Qualität.
Amelie Deuflhard Wir arbeiten international und da ist das Verlernen ein wichtiger Begriff. Denn sobald man mit Künstler:innen aus der ganzen Welt arbeitet, sobald man mit der Diaspora in unseren Großstädten arbeitet, mit internationalen Künstler:innen aus unseren Städten, mit geflüchteten Künstler:innen, lernt man sehr schnell, dass wir unsere Privilegien verlernen müssen. Hayat hat Spivak erwähnt. Pointiert formuliert: Wir müssen erkennen, dass uns unsere Privilegien nichts nützen, weil sie uns die Sicht auf die Welt versperren.
Und wenn wir das jetzt auf Theater übertragen, dann müssen wir feststellen, dass die Theater weiterhin unglaublich privilegierte Betriebe sind. Sie haben ein sehr bürgerliches Publikum. Es wird viel zu wenig gemacht, um diese hochsubventionierten Betriebe so zu gestalten, dass alle Steuerzahler:innen Zugang haben, egal, aus welcher Schicht, egal, welcher Herkunft, egal, ob sie behindert oder nicht-behindert sind. Unsere Betriebe sollen in Bezug auf Publikum, in Bezug auf die beteiligten Bühnenkünstler:innen, in Bezug auf unsere eigenen Mitarbeiter:innen das widerspiegeln, was unsere Gesellschaft ausmacht.
Steffen Jäger Was ich verlernen will, ist etwas, was ich selbst in meiner Regieausbildung vermittelt bekommen habe und woran ich mich jetzt in meiner Arbeit am meisten stoße. Es ist eine Art Selbstbild oder eine Selbstgewissheit, die wir als Universitäten, aber auch als Theatermenschen häufig in gesellschaftspolitische Debatten einbringen. Wir sehen uns als per se tolerant, progressiv und weltoffen an. Das ist ein Image, das irgendwie nicht hinterfragt oder angekratzt werden darf, von dem einfach ausgegangen werden soll. Ein oft genutztes geflügeltes Wort beschreibt diese Haltung ganz gut: Wir vom Theater halten der Gesellschaft den Spiegel vor, damit die Gesellschaft eine Erkenntnis hat oder mit Widerstand reagiert oder Besserung gelobt. In diesem Sinnbild positionieren wir uns nicht als Teil der Gesellschaft, sondern als ein Gegenüber, das sie betrachtet und reflektiert. Auf uns selbst muss das Ganze aber überhaupt keinen Effekt haben: Wir müssen uns nicht verändern, wir kommen ja unserer Aufgabe nach. Ich würde diese Haltung gerne hinterfragen und das Theater wie auch die Universitäten stärker in der Gesellschaft verorten. Dafür können wir zum Beispiel fragen, wer eigentlich beteiligt ist an dem, was hier besprochen wird, wer mitgedacht wird und wer sich eingeladen fühlen darf. Für mich ist Theater häufig eine Art öffentlich finanzierter Polo-Club. Nicht alle Menschen verstehen, wie das Spiel funktioniert. Nicht alle Menschen kommen rein. Nicht einmal alle Menschen wissen, wo er ist. Aber alle finanzieren den Club. Und ich bin offen dafür, die Universitäten wie auch die Theater zu öffnen.
Barbara Gronau Wie geht eigentlich aktives Verlernen? Kann das ein Ich überhaupt? Wir können aktiv verdrängen, wir können passiv vergessen, aber aktiv verlernen können wir eigentlich nicht. Jedenfalls nicht nach gängigen Lerntheorien. Was verstehen wir also unter Verlernen, was ist das für ein Prozess? Darauf habe ich im Laufe der Arbeit der letzten Jahre vielleicht zwei Antworten für mich gefunden. Ich arbeite als Wissenschaftlerin an einer Kunsthochschule. Das hat dazu geführt, dass ich gelernt habe, die Habitualisierung, die Hierarchisierung und die Formen von Erkenntnis, mit denen ich aufgewachsen bin, infrage zu stellen. Ich habe gelernt, wissenschaftliche Erkenntnisse als Ergebnisse historischer und kultureller Zusammenhänge zu verstehen. Wir haben vor zehn Jahren ein Graduiertenkolleg an der Universität der Künste gegründet, es heißt Wissen der Künste. Dort haben wir untersucht, inwiefern die Künste selbst Wissen produzieren, inwiefern sie Wissen verschieben, inwiefern sie neue Wissensfelder generieren und damit eine ganz wichtige gesellschaftliche Schnittstelle besetzen. Dennoch ist die Hierarchie der Wissensformen immer noch wirksam.
Meine zweite Antwort rührt aus der Erfahrung, die sich in den letzten Jahren verstärkt hat. Themen wie Machtkritik, Diversität, dekoloniale Ästhetik werden zunehmend von weißen, heteronormativ positionierten Wissenschaftlerinnen, Theoretikerinnen, als Thema eingebracht. Problematisch ist das, wenn quasi appropriativ ein Thema aufgegriffen wird, ohne dass sich die Strukturen ändern. Verlernen könnte also bedeuten, das eigene Ich durch ein Wir zu ersetzen und die Verpflichtung anzuerkennen, anderen Perspektiven Platz zu machen. Das ist in Institutionen viel schwerer als gedacht. Denn das heißt, ich werde ersetzt durch jemand anderes oder dieses Modul wird ersetzt durch ein anderes. Es bedeutet die Umgestaltung von Curricula, von Strukturen, von Personalbesetzungen. Und ich denke, das ist die Aufgabe der Institutionen in den kommenden Jahren.
Antonia Tretter Ich stelle fest, dass ich immer wieder versuchen muss, mich von meinen eigenen Sozialisationsprozessen zu lösen, seien es Konkurrenzdenken, Leistungsdruck oder auch hegemoniale Strukturen, in denen ich aufgewachsen bin. Damit meine ich konkret, dass unsere Schulen und Universitäten nach bestimmten Normen strukturiert sind, die sexistisch, rassistisch, klassistisch und ableistisch sind. Das muss ich anerkennen und fragen, welche Konsequenzen das hat. Das ist aber kein Prozess, den ich einmal anfange und der irgendwann erledigt ist. Der Prozess ist schmerzvoll und anstrengend. Doch ich finde es sehr ermutigend, dass wir hier offen darüber reden und nicht so tun, als hätten wir das Unlearning heute erledigt.
Antonia Tretter Wir haben während dieser Konferenz immer wieder benannt, dass Hochschulorte weiße Orte sind, exklusive Orte, gekennzeichnet von Dominanzstrukturen.1 Wir müssen von den dominanten Bildern, die wir im Kopf haben, wegkommen. Deshalb die ganz interessierte Frage an die Vertreter:innen der Hochschulen: Wie kommen wir denn davon weg?
Marijke Hoogenboom