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Die Nobelpreis-Schmiede Massachusetts Institute of Technology ist der bedeutendste technologische Think Tank der USA. Dort arbeitet Professor Max Tegmark mit den weltweit führenden Entwicklern künstlicher Intelligenz zusammen, die ihm exklusive Einblicke in ihre Labors gewähren. Die Erkenntnisse, die er daraus zieht, sind atemberaubend und zutiefst verstörend zugleich. Neigt sich die Ära der Menschen dem Ende zu? Der Physikprofessor Max Tegmark zeigt anhand der neusten Forschung, was die Menschheit erwartet. Hier eine Auswahl möglicher Szenarien: - Eroberer: Künstliche Intelligenz übernimmt die Macht und entledigt sich der Menschheit mit Methoden, die wir noch nicht einmal verstehen. - Der versklavte Gott: Die Menschen bemächtigen sich einer superintelligenten künstlichen Intelligenz und nutzen sie, um Hochtechnologien herzustellen. - Umkehr: Der technologische Fortschritt wird radikal unterbunden und wir kehren zu einer prä-technologischen Gesellschaft im Stil der Amish zurück. - Selbstzerstörung: Superintelligenz wird nicht erreicht, weil sich die Menschheit vorher nuklear oder anders selbst vernichtet. - Egalitäres Utopia: Es gibt weder Superintelligenz noch Besitz, Menschen und kybernetische Organismen existieren friedlich nebeneinander. Max Tegmark bietet kluge und fundierte Zukunftsszenarien basierend auf seinen exklusiven Einblicken in die aktuelle Forschung zur künstlichen Intelligenz.
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Das Buch
Künstliche Intelligenz wird die Zukunft des Lebens in unserem Universum verändern. Wird sie uns ins Verderben stürzen oder zur Weiterentwicklung des Homo Sapiens beitragen? Wie wird sie unsere Arbeitswelt, die Demokratie und die Gesellschaft als Ganzes beeinflussen, wie die Kriegsführung von morgen prägen und unser Verständnis von Gerechtigkeit verändern? Werden wir intelligente Maschinen kontrollieren – oder werden sie uns kontrollieren? Was bleibt vom Menschen, wenn er Maschinen entwickelt, die die Macht übernehmen und sich der Menschheit entledigen könnten?
Niemand hat diese Fragen tiefer durchdrungen als Max Tegmark, einer der engagiertesten Forscher auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz.
Der Autor
Max Tegmark wurde 1967 in Schweden geboren. Er studierte am Royal Institute of Technology in Stockholm sowie an der University of California, Berkeley, und ist Professor für Physik am MIT. Tegmark ist Mitglied der American Physical Society und der wissenschaftliche Leiterdes Foundational Questions Institute. Er hat zwei Söhne.
Für das FLI-Team, das alles möglich machte
Max Tegmark
Leben 3.0
Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz
Aus dem Amerikanischen von Hubert Mania
Ullstein
Die Originalausgabe erschien 2017
unter dem Titel Life 3.0
bei Alfred A. Knopf, New York.
Von Max Tegmark ist in unserem Hause bereits erschienen:
Unser mathematisches Universum
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ISBN: 978-3-8437-1670-3
© 2017 by Max Tegmark
© der deutschsprachigen Ausgabe
2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Lektorat: Tanja Ruzicska
Umschlaggestaltung: Rudolf Linn, Köln
Umschlagfoto: © Brad Pict - Fotolia
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Dank
Ich danke allen, die mich ermutigt und mir geholfen haben, dieses Buch zu schreiben: meiner Familie, meinen Freunden, Lehrern, Kollegen und Mitarbeitern für die Unterstützung und die Inspiration über die Jahre hinweg, Mom, weil sie meine Neugier für Bewusstsein und Bedeutung geweckt hat, Dad für den Kampfgeist, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, meinen Söhnen Philip und Alexander, weil sie mir das Wunder der in Erscheinung tretenden menschlichen Intelligenz zeigten, allen begeisterten Wissenschaftlern und Technikern auf der ganzen Welt, die mich im Lauf der Jahre kontaktiert, mir Fragen gestellt, Kommentare abgegeben und mich ermutigt haben, meine Ideen weiter zu verfolgen und zu veröffentlichen, meinem Agenten John Brockman, der so lange auf mich eingeredet hat, bis ich einverstanden war, dieses Buch zu schreiben, Bob Penna, Jesse Thaler und Jeremy England für hilfreiche Diskussionen über Quasare, Sphaleronen und Thermodynamik, jenen, die sich zu Teilen des Manuskripts äußerten, zu denen Mom, mein Bruder Per, Luisa Bahet, Rob Bensinger, Katerina Bergström, Erik Brynjolfsson, David Chalmers, Daniela Chita, Nima Deghani, Henry Lin, Elin Malmsköld, Toby Ord, Jeremy Owen, Lucas Perry, Anthony Romero, Nate Soares und Jaan Tallinn gehören, jenen Superhelden, die Entwürfe des ganzen Buchs kommentierten, und zwar Meia, Dad, Anthony Aguirre, Paul Almond, Matthew Graves, Phillip Helbig (auch die deutsche Übersetzung), Richard Mallah, David Marble, Howard Messing, Luiño Seoane, Marin Soljačić und mein Lektor Dan Frank, vor allem aber Meia, meine geliebte Muse und Gefährtin für ihre fortwährende Ermutigung, Unterstützung und Inspiration, ohne die dieses Buch nicht zustandegekommen wäre.
Einleitung
Die Geschichte des Omega-Teams
Das Omega-Team war die Seele der Firma. Während der Rest des Unternehmens mit unterschiedlichen kommerziellen Anwendungen schmalspuriger KI (Künstliche Intelligenz) das Geld verdiente, um den Betrieb am Laufen zu halten, verfolgte das Omega-Team den langgehegten Traum des Firmenchefs: die Entwicklung einer Allgemeinen Künstlichen Intelligenz. Die meisten anderen Angestellten betrachteten »die Omegas«, wie man sie liebevoll nannte, als einen Haufen Träumer im Wolkenkuckucksheim, ständig Jahrzehnte von ihrem Ziel entfernt. Dennoch waren sie ihnen freundlich gesinnt, weil sie das Prestige genossen, das die Firma mit der innovativen Arbeit der Omegas gewann. Außerdem wussten sie die verbesserten Algorithmen zu schätzen, die ihnen die Omegas gelegentlich überließen.
Allerdings erkannten sie nicht, dass das Omega-Team sein Image so überzeugend aufgebaut hatte, um ein Geheimnis zu bewahren: Sie standen unmittelbar vor der Verwirklichung des verwegensten Plans der Menschheitsgeschichte. Ihr charismatischer Chef hatte sie sorgfältig ausgewählt, nicht nur weil sie herausragende Forscher waren, sondern weil sie Ehrgeiz, Idealismus und eine unbedingte Verpflichtung gegenüber der Menschheit auszeichneten. Er erinnerte sie daran, wie gefährlich ihr Plan war, und falls eine mächtige Regierung ihn je entdeckte, diese praktisch alles tun würde, auch Entführungen gehörten dazu, um den Laden dichtzumachen oder am liebsten gleich ihren Code zu stehlen. Aber die Omegas waren alle hundertprozentig dabei, und zwar aus demselben Grund, warum viele der weltbesten Physiker beim Manhattan-Projekt, aus dem die Atombombe hervorging, mitgearbeitet hatten: Sie waren überzeugt, dass es jemand mit zweifelhaften Idealen tun würde, wenn sie ihm nicht zuvorkämen.
Die KI, die sie konstruiert und der sie den Spitznamen Prometheus verpasst hatten, wurde immer leistungsfähiger. Obwohl ihre kognitiven Fähigkeiten in vielen Bereichen wie zum Beispiel bei der Sozialkompetenz noch weit hinter denen des Menschen zurückblieben, hatten die Omegas den Schwerpunkt darauf gelegt, sie bei einer ganz speziellen Aufgabe Außergewöhnliches leisten zu lassen, nämlich bei der Programmierung von KI-Systemen. Diese Strategie hatten sie absichtlich verfolgt, denn sie teilten die Vorstellung einer Intelligenzexplosion, die der englische Mathematiker Irving Good bereits 1965 formuliert hatte:
Lassen Sie uns eine ultraintelligente Maschine als eine Maschine definieren, die bei weitem jegliche intellektuelle Aktivität eines beliebigen Menschen übersteigt, wie intelligent dieser auch sein mag. Da der Entwurf von Maschinen zu diesen intellektuellen Aktivitäten gehört, könnte eine ultraintelligente Maschine noch bessere Maschinen konstruieren. Dann gäbe es zweifellos eine »Intelligenzexplosion«, die die menschliche Intelligenz weit hinter sich ließe. Deshalb ist die erste ultraintelligente Maschine die letzte Erfindung, die der Mensch je machen muss, vorausgesetzt, die Maschine ist fügsam genug, um uns zu sagen, wie man sie unter Kontrolle behält.1
Falls sie dieses rekursive Selbstverbesserungssystem in Gang setzen könnten, würde die Maschine, so vermuteten sie, schon bald klug genug sein, um sich selbst all die menschlichen Fähigkeiten beibringen zu können, die hilfreich wären.
Die ersten Millionen
An einem Freitagmorgen um neun Uhr beschlossen sie, die KI aus der Taufe zu heben. Prometheus summte in seinem eigens für ihn angefertigten Rechnerverbund vor sich hin, der sich in einem großzügig dimensionierten, streng bewachten und klimatisierten Raum auf langen Regalen ausbreitete. Aus Sicherheitsgründen war er vollständig vom Internet getrennt, doch enthielt er zu Trainingszwecken, quasi um sich in Schwung zu bringen, eine lokale Kopie eines großen Teils des Netzes (Wikipedia, die Bibliothek des US-Kongresses, Twitter, eine YouTube-Auswahl, einen großen Teil von Facebook und dergleichen).2 Sie hatten diese Startzeit gewählt, um ungestört arbeiten zu können. Ihre Familien und Freunde glaubten, sie wären auf einem betrieblichen Wochenendausflug. Die Teeküche war vollgestopft mit Energydrinks und Mikrowellen-Fertiggerichten, und alle waren wild entschlossen, sich richtig reinzuknien.
Als sie Prometheus starteten, war er ihnen bei der Programmierung von KI-Systemen geringfügig unterlegen, machte das aber wett, indem er wesentlich schneller war und sich mit dem Gegenwert von einigen Tausend Personenjahren in der Zeitspanne ein Problem zu Gemüte führte, die sie brauchten, um eine Dose Red Bull auf Ex zu trinken. Um zehn Uhr vormittags hatte er Version 2.0 gestaltet, das erste Neudesign seiner selbst, was schon etwas besser, aber immer noch unter menschlichem Niveau arbeitete. Als dann um 14 Uhr Prometheus 5.0 an den Start ging, erstarrten die Omegas in Ehrfurcht: Das System hatte ihre Leistungsmaßstäbe einfach weggefegt, und die Fortschrittsgeschwindigkeit schien sich noch zu beschleunigen. Als die Dämmerung einsetzte, beschlossen sie, Prometheus 10.0 zu installieren, um zu Phase 2 ihres Plans überzugehen, nämlich Geld zu verdienen.
Ihr erstes Ziel war MTurk, der Amazon Mechanical Turk. Nach seinem Start im Jahr 2005 als Internetmarktplatz auf Crowdsourcing-Basis war er rasch angewachsen und hatte Zehntausende Menschen aus aller Welt angezogen, die anonym und rund um die Uhr miteinander konkurrierten, um hochstrukturierte Aufgaben zu erledigen, die HITs genannt wurden, »Human Intelligence Tasks«. Dabei ging es um das Transkribieren von Audiodateien, die Kategorisierung von Bildern und die Beschreibung von Websites. Alle Arbeiten hatten eines gemeinsam: Wenn du sie gut machtest, ahnte niemand, dass du eine KI warst. Prometheus 10.0 war imstande, ungefähr die Hälfte der Aufgabenkategorien akzeptabel durchzuführen. Die Omegas ließen Prometheus für jede Aufgabenkategorie ein schlankes, maßgeschneidertes, begrenztes KI-Softwaremodul schreiben, das genau solche Arbeiten und sonst nichts erledigen konnte. Anschließend luden sie dieses Modul auf die Amazon Web Services hoch, eine Rechnerplattform in der Cloud, die auf so vielen virtuellen Maschinen laufen konnte, wie man zu mieten bereit war. Für jeden Dollar, den sie der Rechnerabteilung in der Amazon-Cloud zahlten, verdienten sie mehr als zwei Dollar in Amazons MTurk-Abteilung. Amazon hatte keinen Schimmer, dass eine derart verblüffende Möglichkeit zur Gewinnerzielung in ihrem eigenen Unternehmen existierte!
Um ihre Spuren zu verwischen, hatten sie in den vergangenen Monaten insgeheim im Namen fiktiver Personen Tausende von MTurk-Konten eingerichtet, und die von Prometheus gebauten Module übernahmen jetzt deren Identitäten. Normalerweise zahlten die MTurk-Kunden nach ungefähr acht Stunden. Dieses Geld reinvestierten die Omegas in weitere Cloud-Rechenzeit und setzten verbesserte Aufgabenmodule ein, die von der neuesten Version des sich fortwährend verbessernden Prometheus erzeugt worden waren. Da sie ihr Geld alle acht Stunden verdoppeln konnten, war das Aufgabenangebot von MTurk bald gesättigt. Sie stellten fest, dass sie nicht mehr als eine Million Dollar pro Tag verdienen konnten, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber es reichte voll aus, um ihren nächsten Schritt zu finanzieren, so dass sie den Finanzabteilungsleiter der Firma nicht um Bargeld bitten mussten.
Gefährliche Spiele
Den größten Spaß – abgesehen von den Durchbrüchen im Bereich der KI – hatten die Omegas, als sie planten, wie sie nach dem Start von Prometheus so schnell wie möglich Geld verdienen konnten. Im Prinzip war die ganze digitale Wirtschaft zum Greifen nahe, aber war es besser, mit Computerspielen, Musik, Filmen und Software anzufangen, Bücher und Artikel zu schreiben, an der Börse zu spekulieren oder Erfindungen voranzutreiben und sie anschließend zu verkaufen? Es lief schließlich darauf hinaus, die Kapitalrendite zu maximieren, aber normale Anlagestrategien waren nur eine Zeitlupenparodie dessen, was sie jetzt tun konnten: Wären normale Investoren über eine Rendite von 9 Prozent im Jahr froh gewesen, hatten ihre MTurk-Investitionen 9 Prozent pro Stunde eingebracht, womit sie achtmal so viel Geld pro Tag erwirtschafteten.
Ihr erster Gedanke war gewesen, einen Riesenreibach an der Börse zu machen. Immerhin hatten sie fast alle zu irgendeinem Zeitpunkt lukrative Jobangebote ausgeschlagen, eine KI für Hedgefonds zu entwickeln, deren Manager enorm viel Geld in genau diese Idee steckten. Einige erinnerten sich, dass die KI in dem Film Transcendence genau so ihre ersten Millionen verdient hatte. Doch die neuen Vorschriften für Derivate nach dem Crash im Jahr zuvor hatten ihre Chancen verringert. Schon bald stellten sie Folgendes fest: Obwohl sie viel größere Renditen erzielten als andere Investoren, würden sie höchstwahrscheinlich in keinem Bereich auch nur annähernd so viel verdienen wie mit dem Verkauf ihrer eigenen Produkte. Ließ man die erste superintelligente KI der Welt für sich arbeiten, war man bessergestellt, wenn man in seine eigenen Unternehmen investierte statt in fremde! Wenngleich es gelegentlich Ausnahmen gegeben haben mochte (wie zum Beispiel die übermenschliche Hackerkompetenz von Prometheus einzusetzen, um Insiderinformationen zu bekommen und anschließend Bezugsoptionen auf Aktien zu kaufen, deren Kurs bald ansteigen würde), hatten die Omegas das Gefühl, dass sich diese Strategie wegen der damit eventuell verbundenen unerwünschten Aufmerksamkeit nicht auszahlte.
Als sie ihren Schwerpunkt auf Produkte verlagerten, die sie selbst entwickeln und verkaufen konnten, waren zunächst Computerspiele die erste Wahl. Prometheus wurde schnell außerordentlich geschickt darin, ansprechende Spiele zu gestalten. Die Programmierung, das Grafikdesign, das Raytracing von Bildern sowie alle anderen Aufgaben, die nötig waren, um ein endgültiges, versandfertiges Produkt herzustellen, gingen Prometheus leicht von der Hand. Obendrein hatte sich die KI sämtliche Daten, die im Netz über die Vorlieben der Nutzer verfügbar waren, einverleibt, so dass sie ganz genau wusste, was sich die Spieler jeder Kategorie wünschten. So konnte sie eine übermenschliche Fähigkeit entwickeln, ein Spiel für Verkaufserlöse zu optimieren. The Elder Scrolls V: Skyrim, ein Spiel, mit dem viele aus dem Omega-Team mehr Stunden verplempert hatten, als sie zugeben mochten, hatte in der ersten Woche nach der Veröffentlichung im Jahr 2011 mehr als 400 Millionen Dollar eingespielt. Jetzt waren sie überzeugt, dass Prometheus mit 1 Million Dollar Rechenzeit in der Cloud innerhalb von 24 Stunden ein ähnlich süchtig machendes Spiel kreieren könnte. Das würden sie dann online verkaufen, während Prometheus in die Rolle von Menschen schlüpfte, die in der Blogosphäre das Spiel anpriesen. Wenn ihnen das 250 Millionen Dollar pro Woche einbrächte, hätten sie ihre Investitionen acht Mal in acht Tagen verdoppelt, was einer Rendite von 3 Prozent pro Stunde entspräche – etwas schlechter als ihr Start mit MTurk, aber wesentlich nachhaltiger. Wenn sie täglich eine Suite neuer Spiele entwickelten, dann wären sie imstande, so vermuteten sie, in Kürze 10 Milliarden Dollar zu verdienen, ohne den Spielemarkt auch nur annähernd gesättigt zu haben.
Doch eine Spezialistin für Internetsicherheit in ihrem Team redete ihnen diese Strategie aus. Sie wies darauf hin, dass sie das unannehmbare Risiko eines Ausbruchs bedeutete und Prometheus die Kontrolle über sein eigenes Schicksal ergreifen könnte. Weil sie nicht sicher waren, welche Ziele sich während seiner rekursiven Selbstverbesserung herausbilden würden, hatten sie beschlossen, die sichere Variante zu wählen und Prometheus mit großem Aufwand »einzusperren«, so dass er nicht ins Internet entkommen konnte. Für die wichtigste Prometheus-Maschine, die in ihrem Serverraum lief, setzten sie auf eine physisch greifbare Einschränkung: Es gab einfach keine Internetverbindung, und der einzige Output von Prometheus landete in Form von Botschaften und Dokumenten auf einem Computer, den die Omegas unter Kontrolle hatten.
Ließ man andererseits irgendein von Prometheus erzeugtes, kompliziertes Programm auf einem mit dem Internet verbundenen Computer laufen, war das ein riskantes Unterfangen. Da die Omegas keine Möglichkeit hatten, umfassend zu verstehen, was er tun würde, konnten sie auch nicht wissen, ob er nicht zum Beispiel anfangen würde, sich online viral auszubreiten. Als die Omegas die Software testeten, die Prometheus für die MTurk-Aufgaben geschrieben hatte, schützten sie sich vor dieser Möglichkeit und ließen sie lediglich auf einer virtuellen Maschine laufen. Das ist ein Programm, das einen Computer simuliert. So kaufen beispielsweise etliche Mac-Nutzer virtuelle Maschinensoftware, mit deren Hilfe sie Windows-Programme einsetzen können, da die Software den Programmen vorgaukelt, sie befänden sich in einer Windows-Maschine. Die Omegas hatten sich ihre eigene virtuelle Maschine geschaffen, der sie den Spitznamen »Büchse der Pandora« gaben. Sie simulierte eine äußerst vereinfachte Maschine ohne den ganzen Schnickschnack, den man sonst mit einem Computer verbindet: keine Tastatur, keinen Monitor, keine Lautsprecher, keine Internetverbindung – rein gar nichts. Für die Audiotranskriptionen von MTurk arrangierten die Omegas das Ganze so, dass lediglich eine einzelne Audiodatei in Pandoras Büchse hineinging, und das Einzige, was herauskam, war ein einzelnes Textdokument – nämlich die Transkription. Diese Gesetze der Büchse waren für die darin arbeitende Software das, was die Naturgesetze für uns in unserem Universum sind: Die Software konnte genauso wenig der Büchse entkommen, wie wir uns nicht schneller als das Licht fortbewegen können, ganz gleich, wie schlau wir sind. Abgesehen von dieser einzigen Datenein- und -ausgabe, war die Software in der Büchse der Pandora praktisch in einem Paralleluniversum mit eigenen Rechenvorschriften gefangen. Die Omega-Leute hatten eine derart gravierende Paranoia hinsichtlich eines Ausbruchs entwickelt, dass sie obendrein noch ein Zeitlimit hinzufügten, um die Lebensdauer eines nicht vertrauenswürdigen Codes abzukürzen. Jedes Mal, wenn beispielsweise die eingeschränkte Transkriptionssoftware eine Audiodatei umgewandelt hatte, wurde der gesamte Speicherinhalt von Pandora automatisch gelöscht und das Programm von Grund auf neu installiert. Auf diese Weise wusste die Maschine nichts über vorangegangene Ereignisse, wenn sie eine neue Transkriptionsaufgabe begann. So war sie auch der Fähigkeit beraubt, im Lauf der Zeit etwas zu lernen.
Als die Omegas die Amazon-Cloud für ihr MTurk-Projekt benutzten, waren sie in der Lage, all ihre von Prometheus kreierten Aufgabenmodule in solchen virtuellen Büchsen in der Cloud unterzubringen, weil Dateneingaben und -ausgaben für MTurk so einfach konzipiert waren. Diese Vorgehensweise funktionierte allerdings nicht für grafiklastige Computerspiele, die nicht eingeschränkt werden konnten, weil sie Zugriff auf die gesamte Hardware des Spielercomputers benötigten. Außerdem wollten sie nicht riskieren, dass ein paar versierte Nerds ihren Spielcode analysierten, die Büchse der Pandora entdeckten und beschlossen, deren Inneres zu untersuchen. Das Ausbruchsrisiko verschloss ihnen also vorerst nicht nur den Zugang zum Spielemarkt, sondern auch den Einstieg in enorm lukrative Geschäfte mit anderer Software, deren Umsätze von etlichen Hundert Milliarden Dollar zum Greifen nahe waren.
Die ersten Milliarden
Die Omegas hatten ihre Suche nach Produkten auf solche eingeschränkt, die hochwertig, rein digital (um eine langsame Herstellung zu vermeiden) und leicht verständlich waren (zum Beispiel Texte oder Filme, die, wie sie wussten, kein Ausbruchsrisiko darstellten). Letztlich hatten sie beschlossen, ein Medienunternehmen aufzubauen und mit Zeichentrickfilmen anzufangen. Die Website, der Marketingplan und die Presseankündigungen waren fertiggestellt worden, noch bevor Prometheus superintelligent wurde – das Einzige, das fehlte, waren Inhalte.
Obwohl Prometheus am Sonntagmorgen erstaunliche Kompetenzen zeigte und kontinuierlich Geld von MTurk scheffelte, waren seine intellektuellen Kapazitäten eher begrenzt: Prometheus war absichtlich dafür optimiert worden, KI-Systeme zu entwerfen und Software zu schreiben, die ziemlich nervtötende MTurk-Aufgaben erledigte. Als Filmemacher hingegen war er miserabel. Miserabel nicht aus irgendwelchen fundierten Gründen, sondern aus demselben Grund, weshalb James Cameron ein schlechter Filmemacher war, als er geboren wurde: weil es eine Fähigkeit ist, für die man Zeit benötigt, um sie zu erlernen. Prometheus konnte, wie ein Kind, lernen, was immer er wollte. Er musste nur Zugriff auf die entsprechenden Daten haben. Während James Cameron Jahre gebraucht hatte, um Lesen und Schreiben zu lernen, hatte Prometheus das im Lauf des Freitags erledigt, als er noch die Zeit fand, die ganze Wikipedia und ein paar Millionen Bücher zu lesen. Filme zu drehen war schon etwas anspruchsvoller. Ein Drehbuch zu schreiben, das Menschen interessant fanden, war genauso schwer, wie ein Buch zu schreiben, und erforderte ein detailliertes Verständnis der menschlichen Gesellschaft. Obendrein musste man wissen, was Menschen unterhaltsam fanden. Für die Umsetzung des Drehbuchs in ein fertiges Video waren Unmengen von Raytracing-Darstellungen simulierter Schauspieler und der komplexen Szenen erforderlich, durch die sie sich bewegten. Auf dieselbe Weise wurden simulierte Stimmen, die Produktion fesselnder Soundtracks und dergleichen berechnet. Nachdem Prometheus einige Hundert Filme am Stück verschlungen hatte, stellten die Omegas fest, dass er ziemlich gut vorhersagen konnte, welche Art von Rezensionen ein Film bekommen und wie er unterschiedlichen Zuschauern gefallen würde. Tatsächlich lernte Prometheus, seine eigenen Rezensionen zu schreiben, die echtes Verständnis zeigten und alles kommentierten – von den Handlungsabläufen über die Leistung der Schauspieler bis zu solch technischen Details wie Beleuchtung und Kameraperspektive. Das Team deutete dies so: Falls Prometheus seine eigenen Filme drehte, würde er wissen, was erfolgversprechend war.
Die Omegas wiesen Prometheus an, sich zuerst auf Animationsfilme zu konzentrieren, um peinliche Fragen nach der Identität der simulierten Schauspieler zu vermeiden. Am Samstagabend krönten sie ihr turbulentes Wochenende, schnappten sich Bier und Mikrowellen-Popcorn, dämpften das Licht und sahen sich Prometheus’ Debütfilm an. Es war ein Zeichentrickfilm und eine Fantasy-Komödie, inspiriert von Disneys Die Eiskönigin (Frozen). Das Raytracing war von einem verschleierten und von Prometheus entwickelten Code in der Amazon-Cloud durchgeführt worden, was den größten Teil des MTurk-Tagesprofits von einer Million Dollar verschlungen hatte. Als der Film anfing, fanden sie ihn faszinierend und beunruhigend zugleich, weil er ohne menschliche Anleitung von einer Maschine kreiert worden war. Schon bald jedoch lachten sie über die Gags und hielten während der dramatischen Momente die Luft an. Manche von ihnen bekamen beim gefühlvollen Ende sogar feuchte Augen und waren so sehr in die fiktive Wirklichkeit versunken, dass sie ihren Schöpfer ganz und gar vergaßen.
Die Omegas legten den Start ihrer Website auf den nächsten Freitag fest, um Prometheus Zeit zu geben, noch mehr Inhalte zu produzieren. Sie brauchten Zeit, um selbst Dinge zu erledigen, die sie Prometheus nicht anvertrauen wollten: zum Beispiel Werbung zu schalten und mit der Einstellung von Personal für die Briefkastenfirmen zu beginnen, die sie im Lauf der vergangenen Monate eingerichtet hatten. Um ihre Spuren zu verwischen, sollte es in der offiziellen Legende darum gehen, dass ihr Medienunternehmen (das keine öffentlich sichtbare Verbindung zu den Omegas hatte) den größten Teil seines Angebots von unabhängigen Produzenten kaufte, von typischen Hightech-Start-ups in Regionen mit niedrigem Einkommen. Diese vorgetäuschten Lieferanten waren praktischerweise in fernen Weltgegenden wie im indischen Tiruchirappalli und Jakutsk im Osten Russlands beheimatet, wohin die meisten neugierigen Journalisten bestimmt nicht reisen würden. Die einzigen Mitarbeiter, die sie wirklich dort einstellten, arbeiteten in den Bereichen Marketing und Verwaltung und würden jedem, der nachfragte, erzählen, ihr Produktionsteam halte sich gerade an einem anderen Ort auf und könne augenblicklich keine Interviews geben. Damit ihre Legende plausibel klang, wählten sie den Firmenslogan »Inspiriert durch die kreativen Talente der Welt« und bezeichneten ihr Unternehmen als umwälzend anders, da sie mit dem Einsatz innovativer Technik kreative Menschen vor allem in Entwicklungsländern ermutigen wollten.
Als der Freitag kam und neugierige Menschen ihre Website besuchten, stießen diese auf etwas, das sie an die Online-Unterhaltungsangebote von Netflix und dem Videoportal Hulu erinnerte, allerdings mit interessanten Unterschieden. Sämtliche Zeichentrickserien waren neue Filme, von denen sie nie zuvor gehört hatten. Sie waren hinreißend. Die meisten Serien bestanden aus fünfundvierzigminütigen Episoden mit einem starken Handlungsstrang, und jede Episode endete mit einem Cliffhanger. Außerdem waren sie billiger als die Konkurrenz. Die erste Episode jeder Serie war kostenlos, die anderen kosteten 49 Cents, und auf die komplette Serie gab es Rabatt. Anfangs waren nur drei Serien mit jeweils drei Folgen verfügbar, doch täglich kamen sowohl neue Episoden als auch neue Serien hinzu, die auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zugeschnitten waren. Im Lauf der ersten zwei Wochen von Prometheus’ Existenz verbesserten sich seine Kompetenzen als Filmemacher rasch. Das betraf nicht nur die Filmqualität, sondern auch die Algorithmen für die Simulation der Filmfiguren und das Raytracing, was die Kosten für die Cloud-Rechenzeit und damit die Produktionskosten jeder neuen Episode drastisch reduzierte. Dadurch waren die Omegas in der Lage, im ersten Monat Dutzende neuer Serien auf den Markt zu bringen und Bevölkerungsgruppen vom Kleinkind bis zum Erwachsenen anzusprechen. Außerdem gelang es ihnen, in allen wichtigen Weltsprachenmärkten Fuß zu fassen, was ihrer Website im Vergleich zu allen Konkurrenten einen bemerkenswert internationalen Anstrich verlieh. Etliche Kommentatoren waren von der Tatsache beeindruckt, dass nicht allein die Soundtracks mehrsprachig waren, sondern auch die Videos selbst. Sprach beispielsweise eine Filmfigur Italienisch, dann stimmten die Mundbewegungen mit den italienischen Worten überein, was auch für die typisch italienischen Handzeichen galt. Obwohl Prometheus jetzt imstande war, Filme mit simulierten Schauspielern zu drehen, die sich nicht von Menschen unterscheiden ließen, vermieden die Omegas deren Einsatz, um sich nicht zu verraten. Stattdessen brachten sie viele Serien mit halbrealistischen menschlichen Figuren heraus, und zwar in Genres, die traditionellen Fernsehshows mit Live-Action und Filmen Konkurrenz machten.
Ihr Netzwerk erwies sich als hochgradig suchterzeugend und erfreute sich spektakulär anwachsender Zuschauerzahlen. Viele Fans fanden die Figuren und Handlungsstränge cleverer und sogar interessanter als Hollywoods teuerste Großleinwandproduktionen und waren entzückt, dass sie viel erschwinglicher waren. Gepuscht durch offensive Werbung (die sich die Omegas wegen ihrer annähernd bei null liegenden Produktionskosten leisten konnten), ausgezeichnete Medienberichterstattung und schwärmerische Mundpropaganda, war ihre globale Rendite einen Monat nach dem Start auf zehn Millionen Dollar am Tag emporgeschossen. Zwei Monate später hatten sie Netflix übernommen, und nach drei Monaten scheffelten sie hundert Millionen Dollar am Tag und wurden als eines der größten Medienimperien der Welt zu ernsthaften Konkurrenten von Time Warner, Disney, Comcast und Fox.
Ihr sensationeller Erfolg führte zu unerwünschter Aufmerksamkeit und heizte Spekulationen über den möglichen Besitz von schlagkräftiger KI an, doch da die Omegas nur einen Bruchteil ihres Gewinns ausgaben, brachten sie eine recht erfolgreiche Desinformationskampagne ins Rollen. In einem schicken neuen Büro in Manhattan ließen sich ihre frisch engagierten Sprecher detailliert über die Legenden des Unternehmens aus. Viele Leute wurden als Strohmänner eingestellt. Dazu gehörten echte Drehbuchautoren aus aller Welt, die neue Serien entwickeln sollten und die nichts über Prometheus wussten. Das aus Subunternehmern bestehende internationale Netzwerk stiftete Verwirrung und bestärkte die meisten Angestellten in der Annahme, dass andere Kollegen irgendwo anders auf der Welt den größten Teil der Arbeit leisteten.
Um sich selbst weniger verwundbar zu machen und Stirnrunzeln wegen exzessiver Datenverarbeitung in der Cloud zu vermeiden, stellten sie Ingenieure ein, die eine Reihe gewaltiger Computeranlagen auf der ganzen Welt errichteten, deren Eigentümer scheinbar nicht angegliederte Briefkastenfirmen waren. Obwohl sie den Einheimischen als »grüne Datenzentren« verkauft wurden, weil sie größtenteils mit Solarenergie betrieben wurden, lag ihr Schwerpunkt eher auf Datenverarbeitung als auf Speicherung. Prometheus selbst hatte ihre Baupläne bis ins kleinste Detail entworfen, wobei er ausschließlich handelsübliche Hardware benutzte und sie optimierte, um die Konstruktionszeit zu minimieren. Die Leute, die diese Zentren bauten und leiteten, hatten keine Ahnung, was hier berechnet wurde. Sie glaubten, sie managten kommerzielle Einrichtungen für Cloud-Datenverarbeitung, die denen von Amazon, Google und Microsoft ähnelten. Sie wussten lediglich, dass alle Umsätze aus der Ferne organisiert wurden.
Neue Technologien
Innerhalb weniger Monate fasste das Geschäftsimperium der Omegas dank Prometheus’ übermenschlicher Planungen in immer mehr Bereichen der Weltwirtschaft Fuß. Anhand sorgfältiger Analysen weltumspannender Daten hatte er bereits im Lauf der ersten Wochen dem Omega-Team einen detaillierten Schritt-für-Schritt-Plan präsentiert, den er mit zunehmenden Rechner- und Datenressourcen verbesserte und verfeinerte. Obwohl Prometheus von Allwissenheit noch weit entfernt war, waren seine Kompetenzen jetzt denen der Menschen so haushoch überlegen, dass die Omegas ihn als das perfekte Orakel betrachteten, das pflichtbewusst bedeutsame Antworten auf all ihre Fragen gab und ihnen Ratschläge erteilte.
Prometheus’ Software war inzwischen hochgradig optimiert worden, um das Beste aus der von Menschen erfundenen und ziemlich mittelmäßigen Hardware herauszuholen, auf der sie lief, und für deren deutliche Verbesserung er, wie es die Omegas vorhergesehen hatten, fruchtbare Methoden ersann. Aus Furcht vor einem Ausbruch lehnten sie es ab, Anlagen zum Bau von Robotern zu errichten, die Prometheus direkt kontrollieren konnte. Stattdessen stellten sie an mehreren Standorten eine Menge erstklassiger Wissenschaftler und Ingenieure ein und versorgten sie mit Forschungsberichten, die Prometheus geschrieben hatte, taten aber so, als kämen sie von Wissenschaftlern aus anderen Einrichtungen. In diesen Berichten wurden detailliert neue physikalische Effekte und Herstellungstechniken beschrieben, die die Ingenieure sogleich testeten, verstanden und zu beherrschen lernten. Normalerweise brauchen menschliche Zyklen für Forschung und Entwicklung Jahre, hauptsächlich deshalb, weil mit ihnen viele langsame Kreisläufe von Versuch und Irrtum einhergehen. Die augenblickliche Situation war eine völlig andere: Prometheus hatte bereits die nächsten Schritte geplant, so dass der einschränkende Faktor lediglich aus dem Tempo bestand, in dem die Leute angeleitet werden konnten, die Dinge richtig zu verstehen und zu konstruieren. Ein guter Lehrer kann seinen Schülern helfen, sich wissenschaftliche Kenntnisse viel schneller anzueignen, als wenn sie auf sich allein gestellt alles von Grund auf selbst entdecken müssen. Prometheus machte insgeheim dasselbe mit diesen Forschern. Da er genau vorhersagen konnte, wie lange Menschen brauchten, um mit Hilfe verschiedener Werkzeuge Dinge zu verstehen und herzustellen, erarbeitete er den schnellsten Weg zu diesem Ziel. Neuen Hilfsmitteln, die schnell verstanden und hergestellt werden konnten und die nützlich für die Entwicklung noch fortschrittlicherer Werkzeuge waren, räumte er Priorität ein.
Im Geist der »Macher-Bewegung« wurden die Ingenieurteams ermutigt, ihre eigenen Maschinen zu benutzen, um bessere Maschinen zu konstruieren. Diese Art wirtschaftlicher Unabhängigkeit sparte nicht nur Geld ein, sondern machte sie auch weniger anfällig für künftige, von außen kommende Bedrohungen. Innerhalb von zwei Jahren produzierten sie bessere Computer-Hardware, als die Welt sie je zuvor gesehen hatte. Um Konkurrenz von außen zu vermeiden, hielten sie diese technischen Errungenschaften aber unter Verschluss und benutzten sie nur, um Prometheus damit aufzurüsten.
Was die Welt jedoch bemerkte, war ein einzigartiger Technikboom. Neue Firmen in aller Welt brachten in fast allen Bereichen revolutionäre neue Produkte auf den Markt. Ein südkoreanisches Start-up stellte eine neue Batterie vor, die doppelt so viel Energie wie ein Laptop-Akku in der Hälfte der Masse speicherte und in weniger als einer Minute wiederaufgeladen werden konnte. Eine finnische Firma stellte einen billigen Sonnenkollektor her, der doppelt so effizient war wie seine Konkurrenzprodukte. Ein deutsches Unternehmen kündigte die Massenherstellung eines neuen Drahttyps an, der bei Zimmertemperatur supraleitend war und den Energiesektor revolutionierte. Eine Biotech-Gruppe in Boston berichtete von einer klinischen Phase-II-Studie über ein Medikament, das, wie sie behauptete, das erste wirksame und nebeneffektfreie Präparat zur Gewichtsabnahme sei, während Gerüchte die Runde machten, dass ein indisches Team bereits etwas Ähnliches auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Eine Firma aus Kalifornien konterte mit der Phase-II-Studie eines kommerziell vielversprechenden Krebsmedikaments, das das Immunsystem des Körpers veranlasste, Zellen mit den geläufigsten krebsartigen Mutationen zu identifizieren und anzugreifen. Fortwährend kamen weitere Neuheiten ans Tageslicht, die Debatten über ein neues goldenes Zeitalter der Wissenschaft auslösten. Zu guter Letzt schossen auf der ganzen Welt Roboterunternehmen wie Pilze aus dem Boden. Keiner der Bots kam der menschlichen Intelligenz nahe, und die meisten von ihnen sahen dem Menschen auch nicht ähnlich. Aber sie brachten die Wirtschaft auf dramatische Weise ins Wanken, und im Verlauf der nächsten Jahre ersetzten sie allmählich die meisten Arbeiter in der Herstellung, im Transportwesen, in der Lagerhaltung, im Einzelhandel, auf dem Bau, im Bergbau, in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und in der Fischerei.
Dank der harten Arbeit eines Spitzenteams von Rechtsanwälten bemerkte die Welt jedoch nicht, dass all diese Firmen über etliche Vermittler von den Omegas kontrolliert wurden. Prometheus überflutete mit Hilfe unterschiedlicher Vertretungen die Patentbüros in aller Welt mit sensationellen Erfindungen, und es waren diese Innovationen, die allmählich zur Dominanz auf allen Gebieten der Technik führten.
Obwohl sich diese revolutionären neuen Unternehmen mächtige Feinde unter ihren Konkurrenten machten, gewannen sie noch mächtigere Freunde hinzu. Sie waren außerordentlich profitabel, und mit Werbeslogans wie »In unsere Gemeinde investieren« gaben sie einen beträchtlichen Teil ihrer Profite aus, um Leute für Gemeinschaftsprojekte einzustellen – häufig waren es dieselben Leute, die von nicht mehr konkurrenzfähigen Unternehmen entlassen worden waren. Sie verwendeten detaillierte, von Prometheus angefertigte Analysen, um Jobs zu ermitteln, die bei geringsten Kosten für die Angestellten und die Gemeinschaft am einträglichsten und auf die jeweiligen örtlichen Umstände zugeschnitten waren. In Regionen mit einem hohen Niveau staatlicher Dienstleistungen lag der Schwerpunkt häufig auf Städtebau, Kultur und Krankenpflege, während in ärmeren Gegenden auch der Bau und die Instandhaltung von Schulen, das Gesundheitswesen, Tagesstätten, Altenheime, erschwingliche Wohnungen, Parks und die elementare Infrastruktur in Angriff genommen wurden. Fast überall waren sich die Menschen einig, dass diese Dinge längst hätten erledigt werden müssen. Lokalpolitiker erhielten großzügige Spenden, und es wurde darauf geachtet, dass sie eine gute Figur machten, um diese unternehmerischen Investitionen in die Gemeinschaft zu unterstützen.
Machtzuwachs
Das Omega-Team hatte ein Medienunternehmen gegründet, um nicht nur seine frühen Tech-Projekte, sondern auch den nächsten Schritt seines verwegenen Plans zu finanzieren, der auf die Übernahme der Weltherrschaft hinauslief. Ein Jahr nach der Markteinführung hatten sie ihrem ausgestrahlten Programm auf der ganzen Welt bemerkenswert gute Nachrichtenkanäle hinzugefügt. Im Gegensatz zu ihren anderen Kanälen waren diese ins Leben gerufen worden, um absichtlich Verluste zu machen, wobei sie als öffentliche Dienste angepriesen wurden. Genau genommen erzielten ihre Nachrichtenkanäle überhaupt keinen Gewinn. Es gab keine Werbung, und sie waren für jeden Bürger mit einer Internetverbindung kostenlos zu empfangen. Der Rest ihres Medienimperiums war eine so profitable Geldmaschine, dass sie viel mehr Ressourcen für ihre Nachrichtendienste aufwenden konnten, als es je irgendeine journalistische Bemühung in der Weltgeschichte getan hatte – und es machte sich bemerkbar. Mit offensiver Anwerbung von Journalisten und Enthüllungsreportern durch verlockende Gehälter brachten sie erstaunliche Talente und Ergebnisse auf den Schirm. Mit Hilfe eines globalen Netzdienstes, der jeden bezahlte, der etwas Berichtenswertes – von lokaler Korruption bis zu herzerwärmenden Ereignissen – mitteilen konnte, waren sie normalerweise die Ersten, die über eine Neuigkeit berichteten. Zumindest glaubten das die Menschen. In Wirklichkeit waren sie häufig deshalb die Ersten, weil die den Graswurzel-Journalisten zugeschriebenen Geschichten eigentlich von Prometheus mit Hilfe von Echtzeitüberwachung des Internets entdeckt worden waren. Auf all diesen Videonachrichten-Websites konnte man auch Podcasts und Texte abrufen.
In Phase 1 ihrer Nachrichtenstrategie wollten sie das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen, womit sie sehr erfolgreich waren. Ihre beispiellose Bereitschaft, Verluste zu machen, führte zu bemerkenswert sorgfältigen Regional- und Lokalnachrichten, wobei Enthüllungsjournalisten häufig Skandale aufdeckten, die ihr Publikum ernsthaft beschäftigten. Wann immer ein Land politisch tief gespalten und an parteiische Nachrichten gewöhnt war, eröffneten sie einen Nachrichtenkanal, der auf jedes Lager einging. Vordergründig gehörten diese Kanäle unterschiedlichen Gesellschaften und erwarben allmählich das Vertrauen jener Interessengruppe. Wo es möglich war, erreichten sie dies mit Hilfe von Vermittlern, die die einflussreichsten existierenden Kanäle kauften, sie allmählich verbesserten, indem sie keine Werbung mehr brachten, und schließlich ihre eigenen Inhalte vorstellten. In Ländern, wo Zensur und politische Einmischung diese Bemühungen bedrohten, nahmen sie stillschweigend hin, was die Regierung von ihnen verlangte, um im Geschäft zu bleiben, und hielten sich an den geheimen internen Slogan »die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, aber vielleicht nicht die ganze Wahrheit«. Prometheus war in solchen Situationen stets mit ausgezeichnetem Rat zur Stelle, empfahl, welche Politiker in einem guten Licht dargestellt werden mussten und welche bloßgestellt werden sollten – normalerweise die korrupten Lokalpolitiker. Prometheus lieferte außerdem unschätzbare Hinweise darauf, welche Beziehungen man spielen lassen sollte, wen man bestach und wie man am besten dabei vorging.
Diese Strategie war auf der ganzen Welt überaus erfolgreich, und die von Omega kontrollierten Kanäle gingen als vertrauenswürdigste Nachrichtenquellen daraus hervor. Selbst in Ländern, in denen die Regierungen bisher ihre Massenrezeption vereitelt hatten, erwarben sie sich den Ruf, glaubwürdig zu sein, und etliche ihrer Berichte verbreiteten sich per Mundprogaganda. Konkurrierende Nachrichtenchefs hatten das Gefühl, auf verlorenem Posten zu kämpfen. Wie sollte man denn Profit machen, wenn die Konkurrenz mit besseren finanziellen Mitteln ausgestattet war und ihre Produkte auch noch verschenkte? Immer mehr Sendeanstalten mit schwindenden Zuschauerzahlen beschlossen, ihre Nachrichtenkanäle zu verkaufen – meistens an irgendeine Unternehmensgruppe, die, wie sich später herausstellte, von den Omegas kontrolliert wurde.
Ungefähr zwei Jahre nach dem Start von Prometheus, als die Phase des Vertrauensgewinns zum größten Teil abgeschlossen war, hoben die Omegas Phase 2 ihrer Nachrichtenstrategie aus der Taufe: Überzeugung. Schon vor dieser Phase hatten scharfsinnige Beobachter Hinweise auf eine politische Agenda hinter den neuen Medien entdeckt. Offenbar gab es einen sanften Ruck hin zur Mitte, weg von Extremismen jeder Art. Ihre Bandbreite von Kanälen, die auf unterschiedliche Gruppen eingingen, spiegelte immer noch die Feindseligkeit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland, zwischen Indien und Pakistan, unterschiedlichen Religionen und politischen Lagern wider, aber die Kritik war jetzt ein wenig abgeschwächt und konzentrierte sich auf konkrete Anlässe, bei denen es um Geld und Macht ging, anstatt Menschen persönlich anzugreifen, Panik zu schüren und kaum bestätigte Gerüchte in die Welt zu setzen. Sobald Phase 2 ernsthaft in Gang gesetzt wurde, kam dieser Vorstoß, alte Konflikte zu entschärfen, offensichtlicher zum Vorschein. Häufig wurden bewegende Geschichten über die Zwangslage traditioneller Widersacher erzählt, versetzt mit investigativen Reportagen darüber, wie sehr etliche lautstarke Konfliktschürer von persönlichem Profitstreben motiviert gewesen waren.
Politische Kommentatoren bemerkten, dass es parallel zum Abklingen regionaler Konflikte einen konzertierten Vorstoß zur Reduzierung globaler Bedrohungen gab. So wurden beispielsweise plötzlich überall die Risiken eines nuklearen Kriegs diskutiert. In etlichen erfolgreichen Filmen gab es Szenarien, wo per Zufall oder absichtlich ein Atomkrieg ausgelöst und die dystopischen Folgen mit nuklearem Winter, dem Zusammenbruch der Infrastruktur und Hungersnöten dramatisiert wurden. Raffinierte neue Dokumentarfilme schilderten detailliert, wie sich der nukleare Winter auf alle Länder auswirken würde. Wissenschaftler und Politiker, die die nukleare Deeskalation befürworteten, bekamen reichlich Sendezeit, nicht zuletzt, um die Ergebnisse einiger neuer Studien zu diskutieren, in denen es um Maßnahmen ging, die geeignet wären, die Deeskalation zu unterstützen. Die Untersuchungen waren von Wissenschaftsorganisationen finanziert worden, die großzügige Spenden von neuen Tech-Unternehmen bekommen hatten. Daraufhin entwickelte sich eine politische Eigendynamik, die dazu führte, Raketen aus der Alarmbereitschaft herauszunehmen und die Kernwaffenarsenale zu verringern. Auch dem globalen Klimawandel wurde wieder mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht. Wiederholt würdigte man die jüngst durch Prometheus ermöglichten Durchbrüche, die die Kosten erneuerbarer Energie drastisch reduzierten und Regierungen anspornten, in solch eine neue Infrastruktur zu investieren.
Parallel zu ihrer Medienübernahme spannte das Omega-Team Prometheus für die Revolutionierung der Bildung ein. Angesichts der Fähigkeiten und des Wissens einer beliebigen Person bestimmte Prometheus die effektivste Methode, wie sie jedes beliebige Fachgebiet so studieren konnte, dass sie hochengagiert und motiviert am Ball blieb. Prometheus stellte dafür die entsprechend optimierten Videos, passende Lektüre, Übungen und andere Lernhilfsmittel zur Verfügung. Von Omega kontrollierte Firmen brachten deshalb Online-Kurse für praktisch alles Mögliche auf den Markt, die nicht nur hinsichtlich der Sprache und des kulturellen Hintergrunds auf den Kunden zugeschnitten waren, sondern auch sein Einstiegsniveau berücksichtigten. Prometheus hatte immer den perfekten Kurs parat, ob man nun ein vierzigjähriger Analphabet war, der lesen lernen wollte, oder ein promovierter Biologe, der das Neueste über Krebsimmuntherapie suchte. Diese Angebote hatten wenig Ähnlichkeit mit dem heute verfügbaren Material. Da Prometheus sich sein Filmemachertalent zunutze machte, fesselten die Videobeiträge den Kunden mit beeindruckenden Metaphern. Man konnte sich mit ihren Inhalten identifizieren und wollte um jeden Preis weiter lernen. Manche Kurse wurden um des Profits willen verkauft, aber viele waren kostenlos erhältlich, was jeden, der erpicht darauf war, etwas zu lernen, erfreute, genauso wie Lehrer auf der ganzen Welt, die sie in den Klassenzimmern verwenden konnten.
Diese superklugen Bildungsangebote erwiesen sich als leistungsfähige Hilfsmittel für politische Zwecke. Sie machten im Internet Platz für eine Videoplattform mit »Überzeugungsserien«, wo Erkenntnisse Einzelner die Meinungen anderer auf den neuesten Stand brachten und sie motivierten, sich ein weiteres Video zu einem verwandten Thema anzusehen, durch das sie voraussichtlich in ihrer Überzeugung bestärkt wurden. Wenn es beispielsweise erwünscht war, einen Konflikt zwischen zwei Nationen zu entschärfen, wurden unabhängig voneinander historische Dokumentationen in beiden Ländern veröffentlicht, in denen Ursprünge und Verlauf des Konflikts etwas differenzierter dargestellt wurden. Pädagogische Berichte erklärten, wer auf eigener Seite vom fortgesetzten Konflikt profitierte und welche Mittel er einsetzte, um ihn anzuheizen. Gleichzeitig traten charismatische Personen der anderen Nation in populären Sendungen der Unterhaltungskanäle auf, ähnlich wie sympathisch porträtierte Vertreter von Minderheiten die Bewegungen für die Rechte von Bürgern und Homosexuellen in der Vergangenheit gestärkt hatten.
Schon bald mussten die politischen Kommentatoren eingestehen, dass sie anwachsende Unterstützung für eine politische Agenda bemerkten, die sich um sieben Slogans drehte:
1.Demokratie
2.Steuersenkungen
3.Kürzungen der staatlichen Sozialleistungen
4.Senkungen des Militärbudgets
5.Freier Handel
6.Offene Grenzen
7.Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen
Weniger offensichtlich war das zugrunde liegende Ziel, nämlich alle früheren Machtstrukturen in der Welt zu untergraben. Die Punkte 2–6 schwächten die staatliche Macht, und die Demokratisierung der Welt gab dem Geschäftsimperium der Omegas mehr Einfluss auf die Auswahl der politischen Anführer. Unternehmen mit gesellschaftlicher Verantwortung höhlten die Staatsmacht weiter aus, da sie immer mehr Leistungen, die der Staat zur Verfügung stellte (oder zumindest stellen sollte), selbst übernahmen. Die traditionelle Geschäftselite war schlicht deshalb geschwächt, weil sie mit den von Prometheus unterstützten Firmen auf dem freien Markt nicht konkurrieren konnte und daher ihr Anteil an der Weltwirtschaft kontinuierlich schrumpfte. Den angestammten Meinungsmachern in den politischen Parteien und Glaubensgemeinschaften fehlte die Überzeugungsmaschinerie, um mit dem Medienimperium der Omegas in Wettbewerb treten zu können.
Wie bei jeder umwälzenden Veränderung gab es Gewinner und Verlierer. Obwohl in den meisten Ländern ein neuer Optimismus spürbar wurde, weil sich Bildung, Sozialleistungen und Infrastruktur verbesserten, Konflikte abebbten und Unternehmen wegweisende, die Welt erobernde Technologien herausbrachten, waren nicht alle glücklich und zufrieden. Während viele Arbeitslose für Gemeinschaftsprojekte eingestellt wurden, sahen die bisher Mächtigen und Reichen ihre Felle davonschwimmen. Es begann in den Bereichen Medien und Technik, breitete sich aber praktisch überall aus. Der Rückgang der Weltkonflikte führte zu Kürzungen der Verteidigungsetats, was die Zulieferer für das Militär in Verlegenheit brachte. Boomende sogenannte Upstarts waren nicht börsennotiert. Die Rechtfertigung lautete, dass profitmaximierende Aktionäre die enormen Ausgaben für Gemeinschaftsprojekte blockieren würden. Deshalb verlor der globale Aktienmarkt zunehmend an Wert und bedrohte Finanzmagnaten, aber auch normale Bürger, die sich auf ihre Pensionsfonds verlassen hatten. Und als wären die schrumpfenden Profite börsennotierter Unternehmen noch nicht schlimm genug, bemerkten Investmentfirmen auf der ganzen Welt einen beunruhigenden Trend: All ihre früher einmal erfolgreichen Handelsalgorithmen versagten offenbar und brachten sogar weniger ein als einfache Indexfonds. Irgendjemand da draußen schien sie stets zu überlisten und mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
Obwohl sehr viele mächtige Leute Widerstand gegen die Welle des Wandels leisteten, blieben ihre Reaktionen auffällig ineffektiv, so als seien sie in eine sorgfältig präparierte Falle getappt. Gewaltige Veränderungen fanden mit einer verblüffenden Geschwindigkeit statt, so dass es schwerfiel, damit Schritt zu halten und eine koordinierte Reaktion auszuarbeiten. Außerdem blieb es äußerst unklar, worauf man drängen sollte. Die traditionelle politische Rechte hatte die meisten ihrer Slogans bestätigt gefunden, dennoch halfen die Steuersenkungen und das verbesserte Geschäftsklima zum größten Teil ihren Konkurrenten, die sich fortschrittlicher Hightech verschrieben hatten. Praktisch jede traditionelle Branche schrie jetzt nach finanziellen Rettungsschirmen, doch wegen begrenzter staatlicher Mittel befanden sie sich untereinander in aussichtslosem Kampf, während die Medien sie als Dinosaurier darstellten, die staatliche Unterstützung forderten, einfach weil sie nicht wettbewerbsfähig waren. Die traditionelle politische Linke lehnte den freien Handel und die Kürzungen der staatlichen Sozialleistungen ab, freute sich aber über Einschnitte im Militärhaushalt und über den Rückgang der Armut. Tatsächlich verloren sie eine Menge Zunder durch die unleugbare Tatsache, dass die Sozialleistungen verbessert worden waren, weil sie inzwischen von idealistischen Unternehmen anstatt vom Staat zur Verfügung gestellt wurden. Eine Wahl nach der anderen zeigte, dass die meisten Wähler auf der Welt das Gefühl hatten, ihre Lebensqualität habe sich verbessert und dass die Dinge sich generell in eine gute Richtung bewegten. Dafür gab es eine einfache mathematische Erklärung: Vor Prometheus hatten die ärmsten fünfzig Prozent der Erdbevölkerung nur rund vier Prozent des globalen Einkommens erzielt. Da nun die von Omega kontrollierten Unternehmen einen wenn auch nur bescheidenen Bruchteil ihrer Profite mit den Armen teilten, gewannen sie ihre Herzen (und Stimmen).
Konsolidierung
In Folge dieser Entwicklung meldete eine Nation nach der anderen Erdrutschsiege für Parteien, die sich die sieben Omega-Slogans zu eigen gemacht hatten. In sorgfältig optimierten Kampagnen porträtierten sie sich selbst als das Zentrum des politischen Spektrums, denunzierten die Rechte als gierige, Rettungsschirme fordernde Konfliktschürer und schalten die Linke als Büttel der Steuer- und Ausgabenpolitik eines übermächtigen Staates und als Verhinderer von Innovationen. Niemand bemerkte, dass Prometheus sorgfältig die am besten geeigneten Leute ausgesucht hatte, um sie als Kandidaten aufzubauen. Er zog alle Fäden, um ihre Siege zu sichern.
Vor Prometheus hatte das bedingungslose Grundeinkommen immer mehr Unterstützung erfahren. Dabei ging es um ein steuerfinanziertes Mindesteinkommen für jeden, als Abhilfe für technologiebedingte Arbeitslosigkeit. Diese Bewegung brach in sich zusammen, als die von Unternehmen finanzierten Gemeinschaftsprojekte starteten, denn das von Omega kontrollierte Geschäftsimperium bot faktisch genau diese Unterstützung an. Mit dem Vorwand, die Koordinierung ihrer Gemeinschaftsprojekte zu verbessern, rief eine internationale Unternehmensgruppe die »Humanitäre Allianz«ins Leben, eine Nichtregierungsorganisation, deren Ziel es war, die wertvollsten humanitären Bemühungen weltweit zu ermitteln und zu finanzieren. Schon bald wurde die Allianz (wie sie umgangssprachlich bekannt wurde) praktisch vom ganzen Omega-Imperium unterstützt. Globale Projekte wurden in einem beispiellosen Ausmaß ins Leben gerufen, selbst in Ländern, die den Tech-Boom verpasst hatten, was auch dort Bildung, Gesundheit, Wohlstand und Staatsführung verbesserte. Selbstverständlich stellte Prometheus hinter den Kulissen sorgfältig ausgearbeitete Projektpläne bereit, in einer Rangordnung aufgereiht nach positivem Effekt pro Dollar. Anstatt einfach nur Bargeld auszuhändigen, wie es das bedingungslose Grundeinkommen vorsah, stellte die Allianz jene ein, die sie unterstützte, damit diese sich für ihre Ziele einsetzten. Deshalb kam es letztlich so, dass ein großer Teil der Weltbevölkerung der Allianz gegenüber dankbar und loyal war – oftmals mehr als gegenüber ihrer eigenen Regierung.
Mit der Zeit übernahm die Allianz zunehmend die Rolle einer Weltregierung, während die Macht der Nationalregierungen kontinuierlich schwand. Wegen der Steuersenkungen schrumpften auch die staatlichen Budgets, während der Etat der Allianz wuchs und die Haushalte aller Regierungen zusammengenommen übertraf. Die herkömmlichen Rollen nationaler Regierungen wurden im Lauf der Zeit überflüssig und bedeutungslos. Die Allianz sorgte für die bei weitem besten Sozialleistungen, Bildungsmöglichkeiten und Infrastrukturen. Die Medien hatten die internationalen Konflikte so weit entschärft, dass Militärausgaben größtenteils unnötig waren, während wachsender Wohlstand die meisten Wurzeln alter Konflikte beseitigt hatte, die sich auf den Kampf um knappe Ressourcen zurückführen ließen. Ein paar Diktatoren und andere Querköpfe hatten gewaltsam Widerstand gegen die neue Weltordnung geleistet, aber sie waren alle in sorgfältig orchestrierten Coups und Massenerhebungen gestürzt worden.
Die Omegas hatten jetzt den dramatischsten Wandel in der Geschichte des irdischen Lebens vollendet. Zum ersten Mal überhaupt wurde unser Planet von einer einzigen Macht regiert, verstärkt durch eine so unermessliche Intelligenz, dass sie potentiell das Leben in die Lage versetzen konnte, Milliarden von Jahren auf der Erde und im ganzen Universum zu gedeihen – aber was genau war ihr Plan?
***
Das war die Geschichte des Omega-Teams. Im Rest des Buches geht es um eine andere Geschichte – eine, die noch nicht geschrieben worden ist: die Geschichte unserer eigenen Zukunft mit Künstlicher Intelligenz. Wie sollte sie sich Ihrer Meinung nach abspielen? Könnte etwas so fern Liegendes wie die Omega-Geschichte tatsächlich passieren und, wenn dem so ist, wären Sie mit diesem Ablauf einverstanden? Abgesehen von Spekulationen über übermenschliche KI, womit würden Sie die Erzählung dieser Geschichte beginnen? Welche Auswirkungen der KI auf Jobs, Gesetze und Waffen möchten Sie im kommenden Jahrzehnt verwirklicht sehen? Wie würden Sie bei einem noch tieferen Blick in die Zukunft das Ende gestalten? Diese Geschichte hat wahrhaft kosmische Dimensionen, denn letztendlich geht es dabei um nichts Geringeres als um die Zukunft des Lebens in unserem Universum. Und es ist unsere Aufgabe, diese Geschichte zu schreiben.
Anmerkungen Kapitel Einleitung
1Irving J. Good, »Speculations Concerning the First Ultraintelligent Machine«, in: Advances in Computers, Bd. 6, 1965. (Übersetzung: Hubert Mania).
2Der Einfachheit halber bin ich von der heutigen Wirtschaft und Technologie ausgegangen, auch wenn die meisten Forscher glauben, dass allgemeine KI mindestens noch einige Jahrzehnte braucht, um menschliches Niveau zu erreichen. Der Omega-Plan sollte sich in der Zukunft eigentlich noch wesentlich leichter durchführen lassen, falls die digitale Wirtschaft weiterhin so wächst wie bisher und immer mehr Dienstleistungen mit zugesicherter Diskretion online abgerufen werden können.
Kapitel 1
Willkommen zum wichtigsten Gespräch unserer Zeit
Die Technologie verleiht dem Leben das Potential, zu gedeihen wie nie zuvor – oder sich selbst zu zerstören.
Future of Life Institute
13,8 Milliarden Jahre nach seiner Geburt ist das Universum erwacht und sich seiner selbst bewusst geworden. Von einem kleinen, blauen Planeten aus haben winzige, bewusste Elemente unseres Universums angefangen, mit Teleskopen ins Weltall hinauszuschauen, und wiederholt entdeckt, dass alles, was ihrer Ansicht nach existierte, lediglich ein kleiner Teil von etwas Großartigerem ist: ein Sonnensystem, eine Galaxie und ein Universum mit über einhundert Milliarden anderer Galaxien, arrangiert zu einem komplizierten Muster aus Gruppen, Haufen und Superhaufen. Wenngleich diese bewusstseinsfähigen Sterngucker über manche Dinge uneins sind, neigen sie doch alle dazu, diese Galaxien schön und ehrfurchtgebietend zu finden.
Schönheit liegt jedoch im Auge des Betrachters und nicht in den Naturgesetzen, so dass es, bevor unser Universum erwachte, keine Schönheit gab. Das macht unser kosmisches Erwachen umso großartiger und bewundernswerter: Es verwandelte unser Universum von einem stumpfsinnigen Zombie ohne Bewusstseinsfähigkeit in ein lebendiges Ökosystem, das Selbstreflexion, Schönheit und Hoffnung zulässt – sowie das Verfolgen von Zielen, Bedeutung und Absicht. Hätte es dieses Erwachen nicht gegeben, dann wäre unser Universum, zumindest meiner Meinung nach, völlig sinnlos gewesen – lediglich eine gigantische Platzverschwendung. Sollte es wegen kosmischer Katastrophen oder selbstverschuldeten Missgeschicks dauerhaft wieder einschlafen, wird es leider erneut der Bedeutungslosigkeit verfallen.
Andererseits könnte alles sogar noch besser werden. Bis jetzt wissen wir noch nicht, ob wir Menschen die einzigen oder gar die ersten Sterngucker im Weltall sind, aber wir haben bereits genug über unser Universum herausgefunden, um zu wissen, dass es das Potential hat, ein noch vollständigeres Erwachen zu erreichen als bisher. Vielleicht gleichen wir dem ersten schwachen Schimmer einer Bewusstseinsfähigkeit, ähnlich der, die Sie heute früh erlebt haben, während Sie aus Ihrem Schlaf erwachten: eine Vorahnung des viel größeren Bewusstseins, das einsetzen würde, sobald Sie Ihre Augen öffnen und ganz erwachen. Vielleicht wird sich das Leben über das ganze Weltall hinweg ausbreiten und viele Milliarden und Billionen Jahre gedeihen – und womöglich wird es deshalb so kommen, weil wir hier, auf unserm kleinen Planeten, zu unseren Lebzeiten die entsprechenden Entscheidungen getroffen haben.
Eine kurze Geschichte der Komplexität
Wie kam es also zu diesem erstaunlichen Erwachen? Es war kein isoliertes Ereignis, sondern bloß ein Schritt in einem unermüdlichen, 13,8 Milliarden Jahre dauernden Prozess, der unser Universum immer komplexer und interessanter machte – und sich mit beschleunigtem Tempo fortsetzt.
Als Physiker hatte ich das Glück, im letzten Vierteljahrhundert viel Zeit damit zu verbringen, einen Beitrag zur näheren Bestimmung unserer kosmischen Geschichte zu leisten. Es ist eine faszinierende Entdeckungsreise gewesen. Seit meiner Zeit als Doktorand ist aus dem Streit darüber, ob das Universum 10 oder 20 Milliarden Jahre alt ist, die Frage geworden, ob es 13,7 oder 13,8 Milliarden Jahre sind, was wir besseren Teleskopen, besseren Computern und einem besseren Verständnis zu verdanken haben. Wir Physiker können trotzdem noch nicht mit Sicherheit sagen, was unseren Urknall verursachte, ob das wirklich der Beginn von allem oder lediglich die Fortsetzung eines früheren Stadiums war. Immerhin haben wir dank einer Lawine qualitativ hochwertiger Messungen ein ziemlich detailliertes Verständnis der Ereignisse seit unserem Urknall erworben. Also geben Sie mir bitte ein wenig Zeit, um 13,8 Milliarden Jahre kosmischer Geschichte zusammenzufassen.
Am Anfang war das Licht. Im ersten Sekundenbruchteil nach unserem Urknall war der gesamte Teil des Raums, den unsere Teleskope im Prinzip beobachten können (»unser beobachtbares Universum« oder kurz und gut: »unser Universum«), viel heißer und heller als der Kern der Sonne und dehnte sich rasch aus. Das mag spektakulär klingen, war aber auch insofern langweilig, als unser Universum nichts weiter als eine leblose, dichte, heiße und stinknormal gleichförmige Suppe aus Elementarteilchen war. Alles sah überall ziemlich gleich aus, und die einzig interessante Struktur bestand aus schwachen Schallwellen, die die Suppe an einigen Stellen um 0,001 Prozent dichter machten und schienen, als seien sie willkürlich angeordnet. Es wird allgemein angenommen, dass diese schwachen Wellen aus sogenannten Quantenfluktuationen hervorgingen, weil das Heisenberg’sche Unbestimmtheitsprinzip der Quantenmechanik es nicht zulässt, dass irgendetwas ganz und gar langweilig und einheitlich ist.
Als unser Universum expandierte und abkühlte, wurde es interessanter, da sich seine Teilchen zu immer komplizierteren Objekten zusammenfügten. Während des ersten Sekundenbruchteils fasste die starke Kernkraft Quarks zu Protonen (Wasserstoffatomkernen) und Neutronen zusammen, wovon einige wiederum innerhalb weniger Minuten zu Heliumkernen verschmolzen. Rund 400 000 Jahre später brachte die elektromagnetische Kraft diese Atomkerne mit Elektronen zusammen, um die ersten Atome hervorzubringen. Während unser Universum weiter expandierte, kühlten diese Atome allmählich zu einem kalten, dunklen Gas ab, und die Dunkelheit dieser ersten Nacht dauerte etwa 100 Millionen Jahre. Sie führte zu unserer kosmischen Morgendämmerung, da es der Gravitation gelang, die Fluktuationen im Gas zu verstärken, wodurch die Atome zusammengezogen wurden, um die ersten Sterne und Galaxien zu bilden. Diese ersten Sterne gaben Wärme und Licht ab, indem sie Wasserstoff zu schwereren Atomen wie Kohlenstoff, Sauerstoff und Silizium verschmolzen. Als diese Sterne starben, wurden viele der von ihnen erzeugten Atome ins Weltall geschleudert und bildeten Planeten, die nun um Sterne der zweiten Generation kreisten.
Irgendwann wurden einzelne Atome zu einem komplexen Muster arrangiert, das sich sowohl selbst erhalten als auch vervielfältigen konnte. Dieses Muster kopierte sich, und weitere Verdopplungen waren die Folge. Lediglich vierzig Verdopplungen ergeben schon eine Billion Exemplare, so dass dieser Selbstreplikator schon bald eine Kraft wurde, mit der man rechnen musste. Das Leben hatte begonnen.
Die drei Stufen des Lebens
Die Frage nach der Definition des Lebens ist bekanntermaßen umstritten. Konkurrierende Definitionen sind reichlich vorhanden, und manche verlangen nach hochspezifischen Voraussetzungen wie etwa der, aus einer Zellzusammensetzung zu bestehen, was sowohl künftige intelligente Maschinen als auch außerirdische Zivilisationen ausschließen würde. Da wir unser Nachdenken über die Zukunft des Lebens nicht auf die Spezies beschränken wollen, denen wir bisher begegnet sind, sollten wir das Leben stattdessen eher umfassend definieren, nämlich schlicht als einen Prozess, der seine Komplexität bewahren und sich reproduzieren kann. Was reproduziert wird, ist nicht (aus Atomen bestehende) Materie, sondern (aus Bits bestehende) Information, die festlegt, wie die Atome angeordnet, werden. Wenn ein Bakterium eine Kopie seiner DNS herstellt, werden keine neuen Atome erschaffen, sondern eine neue Anzahl von Atomen wird in demselben Muster angeordnet, wie es auch das Original aufweist, wodurch die Information kopiert wird. Mit anderen Worten: Wir können uns das Leben als ein sich selbst kopierendes Informationsverarbeitungssystem vorstellen, dessen Informationen (Software) sein Verhalten und die Entwürfe für seine Hardware bestimmen.
Wie unser Universum selbst erwies sich auch das Leben als kompliziert und interessant,1 und um das zu erklären, finde ich es hilfreich, diese Lebensformen in drei Stufen der Ausgereiftheit einzuteilen: Leben 1.0, 2.0 und 3.0. In Abbildung 1.1 habe ich diese drei Stufen zusammengefasst.
Abb. 1.1 Die drei Stufen des Lebens: biologische Evolution, kulturelle Evolution und technische Evolution. Leben 1.0 kann während seiner Lebensspanne weder seine Hardware noch seine Software selbst gestalten. Beide Komponenten werden durch seine DNS bestimmt und verändern sich nur im Lauf der Evolution über mehrere Generationen hinweg. Im Gegensatz dazu kann Leben 2.0 einen großen Teil seiner Software neu gestalten: Menschen können komplexe neue Kompetenzen erwerben – zum Beispiel Sprachen, Sportarten und Berufe – und ihre Weltanschauungen und Ziele prinzipiell auf den neuesten Stand bringen. Leben 3.0, das noch nicht auf der Erde existiert, kann auf grundlegende Art und Weise nicht nur seine Software, sondern auch seine Hardware neu entwerfen, anstatt darauf warten zu müssen, dass sie sich allmählich über Generationen hinweg entwickelt.
Noch immer ist die Frage nicht ganz geklärt, wie, wann und wo das Leben zum ersten Mal in unserem Universum aufgetaucht ist, aber es gibt starke Indizien, dass hier, auf der Erde, das Leben vor rund 4 Milliarden Jahren begann. Bald darauf wimmelte der Planet nur so von unzähligen Lebensformen. Die erfolgreichsten, die bald den Rest aus dem Feld schlugen, waren in der Lage, in irgendeiner Form auf ihre Umwelt zu reagieren. Sie waren vor allem das, was Informatiker intelligente Agenten nennen: Gebilde, die mit Hilfe von Sensoren Informationen über ihre Umwelt sammelten und diese anschließend verarbeiteten, um zu entscheiden, wie sie auf ihre Umwelt reagieren sollten. Damit kann hochkomplexe Informationsverarbeitung verbunden sein, etwa wenn Sie die von Ihren Augen und Ohren kommenden Informationen benutzen, um zu entscheiden, was Sie in einem Gespräch sagen wollen. Aber es kann sich auch um ganz simple Hard- und Software handeln.
So haben beispielsweise viele Bakterien einen Sensor, der die Zuckerkonzentration in der sie umgebenden Flüssigkeit misst. Außerdem können sie mit Hilfe einer propellerartigen Struktur namens Flagellen oder Geißeln schwimmen. Die den Sensor mit den Flagellen verbindende Hardware könnte den folgenden einfachen, aber nützlichen Algorithmus in die Tat umsetzen: »Falls mein Zuckerkonzentrationssensor einen niedrigeren Wert meldet als vor ein paar Sekunden, dann kehre die Drehbewegung meiner Flagellen um, so dass ich die Richtung ändern kann.«
Sie haben Sprechen und zahlreiche andere Fähigkeiten erlernt. Bakterien hingegen sind nicht sehr lernbegabt. Ihre DNS gibt nicht nur das Design ihrer Hardware vor – siehe Zuckersensoren und Flagellen –, sondern legt auch das Design ihrer Software fest. Sie lernen nie, auf den Zucker zuzuschwimmen, stattdessen ist dieser Algorithmus von Anfang an fest in ihrer DNS verankert. Natürlich gab es eine Art Lernprozess, aber der fand nicht in der Lebensspanne dieses einen, bestimmten Bakteriums statt. Vielmehr trat er in der vorangegangenen Evolution dieser Bakterienspezies auf, und zwar mittels eines langsamen Vorgangs von Versuch und Irrtum, der mehrere Generationen umspannte, wobei die natürliche Selektion jene zufälligen Mutationen bevorzugte, die den Zuckerverbrauch verbesserten. Einige dieser Mutationen trugen zur Verbesserung des Designs der Flagellen und anderer Hardware-Bestandteile bei, während andere Mutationen neben anderer Software das bakterielle Informationsverarbeitungssystem verbesserten, das den Algorithmus zur Suche von Zucker in die Tat umsetzt.
Solche Bakterien sind ein Beispiel für das, was ich »Leben 1.0« nenne: Leben, in dem sich sowohl Hardware als auch Software herausbilden, anstatt gestaltet zu werden. Andererseits sind Sie und ich Beispiel für das »Leben 2.0«: Leben, dessen Hardware sich entwickelt hat, dessen Software aber größtenteils entworfen wurde. Mit Ihrer Software meine ich all die Algorithmen und Kenntnisse, die Sie benutzen, um die von Ihren Sinnen zur Verfügung gestellten Informationen zu verarbeiten, um zu entscheiden, was Sie tun wollen. Das umfasst alles, von Ihrer Fähigkeit, Ihre Freunde zu erkennen, wenn Sie sie sehen, bis zu Ihrer Befähigung zu gehen, lesen, schreiben, rechnen, singen und Witze zu erzählen.
Als Sie geboren wurden, waren Sie außerstande, irgendeine dieser Aufgaben zu erfüllen, also wurde diese Software später über den Prozess, den wir Lernen nennen, in Ihr Gehirn programmiert. Während der Lehrplan Ihrer Kindheit größtenteils von Ihren Eltern und Lehrern gestaltet wird, die entscheiden, was Sie lernen sollten, erwerben Sie allmählich mehr Selbstbestimmung, um Ihre eigene Software zu gestalten. Vielleicht erlaubt Ihnen Ihre Schule, eine Fremdsprache zu wählen: Möchten Sie ein Softwaremodul in Ihrem Gehirn installieren, das Sie befähigt, Französisch oder Spanisch zu sprechen? Möchten Sie Tennis oder Schach spielen lernen? Möchten Sie studieren, um Koch, Rechtsanwalt oder Pharmazeut zu werden? Möchten Sie etwas über Künstliche Intelligenz (KI) und die Zukunft des Lebens erfahren, indem Sie ein Buch darüber lesen?
Die Fähigkeit von Leben 2.0, seine eigene Software zu entwerfen, ermöglicht ihm, viel klüger als Leben 1.0 zu sein. Hohe Intelligenz erfordert sowohl eine Menge (aus Atomen bestehende) Hardware als auch eine Menge (aus Bits bestehende) Software. Die Tatsache, dass der größte Teil unserer menschlichen Hardware (durch Wachstum) nach der Geburt hinzugefügt wird, ist nützlich, da unsere endgültige Größe nicht durch die Breite des Geburtskanals unserer Mütter eingeschränkt ist. Genauso sinnvoll ist die Tatsache, dass der größte Teil unserer menschlichen Software nach der Geburt (durch Lernen) hinzugefügt wird, da unsere endgültige Intelligenz nicht durch die Menge an Informationen beschränkt ist, die uns bei der Empfängnis über unsere dem 1.0-Leben zugehörige DNS vermittelt werden kann. Ich wiege ungefähr 25 Mal mehr als bei meiner Geburt, und die synaptischen Verbindungen, die die Neuronen in meinem Gehirn miteinander verknüpfen, können etwa einhunderttausend Mal mehr Informationen speichern als die DNS, mit der ich geboren wurde. Ihre Synapsen speichern Ihr ganzes Wissen und Ihre Fähigkeiten als rund 100 Terabytes an Informationen, während Ihre DNS lediglich etwa ein Gigabyte speichert, kaum genug, um einen einzigen Filmdownload unterzubringen. Deshalb ist es physikalisch für ein kleines Mädchen unmöglich, bei seiner Geburt die Muttersprache perfekt zu beherrschen und bereit für seine College-Aufnahmeprüfung zu sein. Es ist unmöglich, schon zuvor diese Informationen in sein Gehirn hochzuladen, da es dem Hauptinformationsmodul, das es von seinen Eltern erhielt (seine DNS), an ausreichender Informationsspeicherkapazität mangelt.