Leben in Entlastung - Stefan Waller - E-Book

Leben in Entlastung E-Book

Stefan Waller

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Beschreibung

Das vorliegende Buch stellt eine den gesamten Ansatz betrachtende, systematische Analyse der Schriften Arnold Gehlens dar. In gegenseitiger Abhängigkeit werden dessen anthropologischer Ansatz und das geschichtsphilosophische Denken, in das er eingebettet ist, erschlossen. Den Hintergrund dieser sich am Begriff der Entlastung orientierenden Werkinterpretation bildet ein sich von seinen frühen Texten bis hinein in die späten Schriften ziehendes lebensphilosophisches Motiv: Arnold Gehlen geht in seiner Perspektive auf den Menschen in seinem Verhältnis zu Kultur und Natur von der Irrationalität lebendiger Prozesse aus. Diese Annahme ist nicht nur als der Schlüssel zum Verständnis seiner kulturpessimistischen Perspektive auf die Gegenwart zu verstehen. Sie erweist sich auch die angemessene Folie dafür, Arnold Gehlen in einen Dialog mit anderen Denkern wie Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Sigmund Freud, Nicolai Hartmann und Ernst Cassirer treten zu lassen. Auf diese Weise entsteht ein Bild, das sich von dem sich oft an bloßen Topoi und Formeln orientierenden Umgang mit Arnold Gehlen abhebt: Es wird die Komplexität eines großen Werkes deutlich, das nicht zuletzt dadurch wichtige Einsichten zu liefern vermag, dass es zur Kritik an seinen Grundlagen herausfordert.

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Inhalt

Einleitung: Leben in Entlastung

1 Die Stellung des Menschen in der Welt

1.1 Das Irrationale

1.2 Einstieg in Gehlens Anthropologie

1.2.1 Empirische Philosophie und Metaphysik

1.2.2 Die Sonderstellung des handelnden Wesens

1.3 Geist in der Handlung

1.3.1 Handlung als Bewegung und Vollzug

1.3.2 Aktion und Reflexion

1.4 Weltoffenheit in Kultur

1.4.1 Disharmonie und Deutung

1.5 Entlastung

1.6 Erfahrung, Wille und Bewusstsein

1.6.1 Lebenserfahrung und Charakter

1.6.2 Notwendige Belastungen und Charakterbildung

1.7 Antrieb und Bewusstsein

1.7.1 Formierte und kanalisierte Triebe

1.7.2 Distanznahme im Bewusstsein

1.8 Die Kategorie der Entlastung: Ein Schichtenmodell

1.9 Teleologisches Denken und Freiheit

2 Der Schichtenaufbau menschlichen Handelns

2.1 Handlung als kommunikative Bewegung

2.2 Kreisprozesse

2.2.1 Symbolischer Weltaufbau im Auge-Hand-System

2.3 Sprache

2.3.1 Sprachwurzeln

2.3.2 Denken als reflektiertes Sprechen

2.3.3 Sprache und Selbstbewusstsein

2.4 Erkenntnis und Gewissheit

2.4.1 Rationale Erkenntnis

2.4.2 Reflexion und Existenz

2.4.3 Irrationale Erfahrungsgewissheit

2.5 Gewissheit als augenscheinliches »Daß«

2.5.1 Selbstbild und Sollen: Phantasia certissima facultas

2.5.2 Entlastung als Freiheit aus Entfremdung

3 Leben in Kultur

3.1 Von der Entlastung im Leben zum entlasteten Geist

3.2 Die zweite Natur der Gewohnheiten

3.2.1 Gewohnheit und Freiheit

3.3 Der Schichtenaufbau in der Kultur

3.3.1 Verpflichtende Symbole im rituellen Handeln

3.3.2 Ideativer und instrumenteller Geist

3.3.3 Kulturelle Kristallisation: Corso und Ricorso

3.4 Wandel der Weltanschauungen

3.4.1 Transzendenzen

3.5 Entlastung im Leben

3.5.1 Vom Totemismus zum Mythos

3.5.2 Die Welt des Mythos

3.5.3 Entlastung im Leben und mythisches Bewusstsein

3.6 Leben als Entlastung

3.7 Das technische Zeitalter

3.7.1 Der große Handlungskreis: Die Technik der Magie

3.7.2 Der kleine Handlungskreis: Die Werkzeugtechnik

3.7.3 Verselbstständigung der Technik: Der große Automat

3.8 Leben durch Entlastung

3.8.1 Anpassung an die Organisation

3.8.2 Entlastung durch die Kunst

4 Schlussbetrachtungen

4.1 Entsubstanzialisierter Mythos

4.2 Leben in Entlastung – ein Fazit

Literatur

Schriften von Arnold Gehlen

Schriften anderer Autoren

Personenregister

Index

Als Dissertation 2014 am Fachbereich Philosophie der Universität Hamburg angenommen (Betreuerin: Prof. Dr. Birgit Recki).

Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz zu erfüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Albert Camus

Besonderer Dank gilt Birgit Recki für die Betreuung dieser Arbeit und das große Vertrauen, das sie mir als ihrem Mitarbeiter stets entgegengebracht hat. Genauso danke ich Christian Möckel für die Begutachtung dieses von der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg als Dissertation angenommen Textes. Den Kollegen am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg danke ich für die gute Zusammenarbeit und die gemeinsam verbrachte Zeit; insbesondere danke ich John-Bruce Hager, Martin Hoffmann, Anja Schwennsen, Fabian Wendt und Nathan Wildman für ihre freundschaftliche Unterstützung. Meinen Freunden Hannes Kastner, Konrad Pahlke, Christian Polke, Wiebke Reineke-Göring, Annika Unterburg und Michael Weh danke ich genauso für ihr immer offenes Ohr wie Justus Krüger für unsere über die Kontinente hinweg geführten Diskussionen. Vor allen Dingen aber danke ich meinen Eltern Renz und Anne Waller sowie meinen Brüdern Renz jun. und Achim Waller und deren Familien für ihr allumfassendes Verständnis und ihre liebevollen Entlastungen.

Einleitung: Leben in Entlastung

Philosophie ist Arbeit am Begriff und das philosophische Interesse wird nicht selten dann geweckt, wenn ein Begriff und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen nicht so recht zusammenpassen wollen. Eben dieses lässt sich über Arnold Gehlens Begriff vom Menschen als das Mängelwesen sagen, das im Unterschied zum Tier weder über spezielle körperliche Fähigkeiten verfügt, noch einen spezifischen Lebensraum hat. Die hieraus abgeleitete Annahme, dass wir den Menschen als ein Wesen verstehen müssen, das nicht in einer bestimmten Umwelt, sondern in der Kultur als einer selbst etablierten Welt lebt, ist als neutraler Befund einleuchtend: Man könnte von dieser Annahme ausgehend behaupten, dass überall dort, wo der Mensch lebt, er der an ihn gestellten Aufgabe gerecht geworden ist, sich in der Welt zu verorten. Dass Gehlen diesem Attest in einer pessimistischen Gegenwartsdiagnose nicht zustimmt, lässt die Frage danach aufkommen, welche systematischen Voraussetzungen sich dafür in seinem Werk nachweisen lassen.

Eine sich an dieser Frage aufhaltende kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Arnold Gehlens bedarf der methodologischen Vorentscheidung darüber, wie eine solche vorzugehen hat. Eine Möglichkeit bietet eine historisch informierte systematische Einführung, wie sie zuletzt von Heike Delitz1 und in einem größeren Umfang für die Denkrichtung der Philosophischen Anthropologie von Joachim Fischer2 vorgelegt wurde. Um markante Positionen dieses Autoren herauszustellen, bietet es sich an, ihn in ein Gespräch mit einem anderen Denker treten zu lassen, was Christian Thies in Gegenüberstellung zu Theodor W. Adorno3 gezeigt hat. In gewisser Hinsicht hat das Beste aus beiden Welten ein Text zu bieten, der nach einer systematischen Aufarbeitung die Anknüpfungsmöglichkeiten an mehrere Autoren aufzuzeigen in der Lage ist, wie es in eindrucksvoller Weise von Patrick Wöhrle4 geleistet wurde. Hiervon zu unterscheiden ist das Vorhaben, von einem sich in der Theorie ergebenden Problem auszugehen, wie es von Karl-Siegbert Rehberg5 mit Blick auf Gehlens Institutionsphilosophie unternommen wurde. Schließlich bietet es sich an, das Werk hinsichtlich seiner systematischen Stringenz und der Plausibilität seiner grundlegenden Begrifflichkeiten zu befragen. Dieses auch von mir gewählte Vorgehen haben Peter Jansen6 und Lothar Samson7 bereits vorgezeichnet. Im Anschluss daran besteht die Arbeitshypothese meiner Arbeit darin, dass sich in Gehlens Schriften ein leitender Gesichtspunkt nachweisen lässt, aus dessen Perspektive sich sowohl die Leistungen als auch die Aporien seiner Theorie vom Menschen nachvollziehen lassen.

Einen solchen Gesichtspunkt aufzuzeigen erscheint auf den ersten Blick nicht einfach. Gehlen zeigt sich als ein Wanderer zwischen den Welten, der sich nach seiner frühen Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie der Existenzphilosophie zuwendet, sich dann nach einer Phase der Beschäftigung mit dem deutschen Idealismus der Ausarbeitung einer originären, alle Bereiche des menschlichen Daseins beleuchtenden Philosophischen Anthropologie widmet und schließlich die Soziologie im Nachkriegsdeutschland wieder mit-begründet.8 Erschwerend kommen die verschiedenen Gesichter dieses Denkers hinzu, die die Beschäftigung mit ihm genauso erfreulich wie auch problematisch gestalten: Bei Gehlen finden sich viele Gedanken, die tragen, und etliche, die man nur sehr schwer erträgt.

Aber eben diese Schwierigkeit, den in seiner letzten großen Schrift Moral und Hypermoral geradezu mephistophelisch auftretenden Gehlen9 mit dem großen Vordenker der Philosophischen Anthropologie, den in seinen Gesellschaftsanalysen oftmals so treffsicheren Soziologen und nicht zuletzt den viel zu wenig beachteten Kunsttheoretiker zu vereinen, lässt die Frage nach einem solchen Gesichtspunkt umso dringlicher erscheinen. Und eben diese Frage ergibt sich aus seinem eigenen Anspruch – traut Gehlen sich selbst doch nicht weniger zu, als den Menschen überhaupt unter einem einzigen leitenden Gesichtspunkt zu betrachten.10 Der Mensch ist der einmalige „Naturentwurf“11 eines handelnden Wesens – eine Annahme, auf der basierend Gehlen in seinen anthropologischen Schriften12 nicht weniger als ein „vom aufrechten Gang bis zur Moral“13 reichendes, umfassendes System „aller wesentlichen Merkmale des Menschen“14 erarbeitet.

Angesichts dessen ist es mehr als nur naheliegend, Handlung und in einem spezifischeren Sinne den von Gehlen geprägten Begriff der Handlung als eigentätiger Entlastung als grundlegend für seinen gesamten Ansatz zu nehmen. Allerdings stehen Handlung und Entlastung selbst noch unter zwei systematischen Voraussetzungen, die sich in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander genauso in seinem gesamten Werk finden. Dieses ist erstens die sich gegen jedwede Form des Rationalismus wendende Annahme, dass sich die konkrete leibliche Existenz des Menschen nicht vom rationalen Bewusstsein ausgehend erschließt. Damit geht zweitens einher, dass die konkreten Vollzüge des menschlichen Daseins einem Lebensprozess zuzuschlagen sind, den Gehlen schon in seiner Dissertation Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch15 als irrational beschreibt. In ihrer Bezogenheit aufeinander erweisen sich diese Bestimmungen als prägend für Gehlens anthropologische Schriften: Der Mensch ist das unter anderem mit Verstand bzw. instrumenteller Vernunft ausgestattete, handelnde Wesen inmitten eines alles Lebendige umfassenden irrationalen Prozesses. Gehlens Theorie vom Menschen von einem leitenden Gesichtspunkt her zu betrachten bedeutet hiernach, einerseits mit Karl-Siegbert Rehberg die existenzphilosophische Perspektive als den sich durch das gesamte Werk ziehenden „Ariadnefaden“16 anzunehmen und diesen andererseits mit den von Lothar Samson herausgestellten „lebensphilosophischen Prämissen“17 in diesen Schriften zu verbinden. Die menschliche Existenz lässt sich dann in einem doppelten Sinne als »Leben in Entlastung« verstehen: Das im Kollektivsingular verstandene menschliche Individuum führt sein Leben in handelnder Entlastung von den Anforderungen des Lebens und der Mensch als Gattungswesen ist die in der Natur einmalige Gestalt des Lebens im Modus der Entlastung.

1 Heike Delitz, Arnold Gehlen, Konstanz 2011.

2 Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, München 2008.

3 Christian Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Bonn 1997.

4 Patrick Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, Frankfurt am Main 2010.

5 Karl-Siegbert Rehberg, Ansätze zu einer perspektivischen Soziologie der Institutionen, Aachen 1973.

6 Peter Jansen, Arnold Gehlen. Die Anthropologische Kategorienlehre, Bonn 1975.

7 Lothar Samson, Naturteleologie und Freiheit bei Arnold Gehlen, Freiburg/München 1976.

8 Zu dieser Entwicklung in Gehlens Denken vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 751ff. [S. 756f.]; Joachim Fischer, a.a.O., S. 152ff.

9 Diesbezüglich ist vor allem auf die Kritik von Jürgen Habermas hinzuweisen, dessen Rede von Gehlen als eines „aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen“ längst den Status eines geflügelten Wortes erreicht hat. Vgl. Jürgen Habermas, Nachgeahmte Substantialität, in: ders. Philosophisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1981, S. 107-126 [S. 108]; vgl. dazu: Karl-Siegbert Rehberg, Vorwort zur 6. Auflage, in: Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik (1969), hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main 2004, im Folgenden zitiert als »MH«, S. XVI; Patrick Wöhrle, Metamorphosen (…), a.a.O., S. 9, S. 248.

10 In diesem Sinne vertrete ich die von Karl-Siegbert Rehberg vorgebrachte Kontinuitätsthese. Die Entwicklung in Gehlens Werk, so diese These, darf nicht als eine Abkehr von seinen frühen existenzphilosophischen Überlegungen verstanden werden, sondern muss als deren Erweiterung verstanden werden. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Existenzielle Motive im Werk Arnold Gehlens. Persönlichkeit als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie, in: Klages/Quaritsch (Hg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, Berlin 1994, S. 491ff. [S. 492].

11 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940, Frankfurt am Main 1993 [1950], im Folgenden zitiert als »GA 3.1«., S. 13.

12 Gehlens Denken bewegt sich ab 1935 dezidiert im Rahmen einer Philosophischen Anthropologie. Dabei finden sich in den hier im Abschnitt 1.6.1 besprochenen Aufsätzen Vom Wesen der Erfahrung (1936) und Die Resultate Schopenhauers (1938) schon die wesentlichen Bestimmungen der in seinem Hauptwerk Der Mensch (1940) vorgestellten Anthropologie. Vgl. Lothar Samson, a.a.O., S. 35; Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 756f.; Joachim Fischer, a.a.O., S. 158.

13 GA 3.1, S. 13.

14 Ebd.

15 Arnold Gehlen, Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch (1927), in: GA 1, S. 19-95.

16 Karl-Siegbert Rehberg, Existenzielle Motive (…), a.a.O., S. 495.

17 Lothar Samson, a.a.O., S. 75.

1 Die Stellung des Menschen in der Welt

1.1 Das Irrationale

Den Zugang zu einem philosophischen Werk in einer sehr frühen Schrift des Autors zu suchen, mag in vielen Fällen nicht sinnvoll sein. Dieses gar mit einer Qualifikationsschrift zu tun, birgt die Gefahr in sich, sich zu sehr im Bereich eines noch unausgegorenen Denkens zu bewegen. Andererseits kann dieses den Vorteil mit sich bringen, den für das reife Werk relevanten Problemlagen in ihrem Ursprung zu begegnen. Letzteres lässt sich über Gehlens Dissertation Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch18 feststellen. Indem er dort den Begriff des Irrationalen entwickelt, legt er das Fundament für ein großes philosophischen Werk, das in seinen unterschiedlichen Perspektiven immer wieder auf die Grundproblematik zurückführt19, dass sich der Mensch inmitten der prinzipiell nicht mit rationalen Begriffen erfassbaren Prozesse des Lebens wiederfindet.

Ein Gefühl dafür zu entwickeln markiert Gehlen dort als den Ausgangspunkt einer jeden Philosophie. Der Philosoph staunt über die Welt, und es ist das hiermit einhergehende Gefühl der Eigenständigkeit und Fremdheit des Seienden gegenüber dem Betrachter, das ernst zu nehmen ihn gegen einen ausufernden Rationalismus verwahrt:

„Deshalb hat die Verwunderung über die vorhandene und uneinsehbare Artikulation des Seienden – als für Aristoteles der Anfang aller Philosophie und etwas durchaus anderes als jeder methodische Zweifel, wie z.B. des Descartes – ganz distinkte seinsmäßige Gründe. Das Gefühl, was hier dasteht, ist wesenhaft »fremd« und »ohne mich« – schon dieser innere Ausdruck der gegenständlichen Irrationalität macht jeden Idealismus reiner Prägung unmöglich.“20

Am Anfang auch seines Schaffens begegnen wir diesem Gefühl der Fremdheit. Im Mittelpunkt dieser frühen Schrift steht die Analyse des Verhältnisses von Begriff und Objekt, genauer: der Leistung des Begriffs angesichts der Fremdheit seines Gegenstandes. Gehlen entwickelt diese Analyse in Auseinandersetzung mit der Ordnungslehre21 seines Lehrers Hans Driesch, die über eine Kritik an dessen apriorischem Erkenntnisbegriff hinaus noch eine „positive Theorie des Irrationalen“22 als Ertrag hervorbringen soll. Entgegen dessen und überhaupt jeder rationalistischen Behauptung einer „Vernunftgemäßheit der Welt“23 sucht er hiermit die notwendige Annahme des Irrationalen und Fremden bereits aus der Verwendung rationaler Begriffe abzuleiten. Die innere Paradoxie des Begriffs ist demnach so zu beschreiben, „daß er etwas begreift, das nicht er selbst ist, daß er einen Gegenstand meint, um den ich nur durch ihn weiß; obschon er so durchaus mein Begriff ist, habe ich doch das Fremde durch ihn.“24 Dass wir uns Begriffe von der Welt machen können, bedeutet also nicht die Intelligibilität der Phänomene; ganz im Gegenteil lässt sich von der Notwendigkeit der begrifflichen Bezugnahme auf die Gegenstandswelt auf eine substanzielle Differenz zwischen Begriff und Sein schließen.

In dieser Einbettung des Rationalen in das Irrationale tritt die von Gehlen selbst mit dem Hinweis auf das „ausführliche Studium“25 herausgestellte Bezugnahme auf die Ontologie Nicolai Hartmanns zutage. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass Gehlen seine Theorie des Irrationalen in einer negativen Abgrenzung zu Driesch entwickelt und deren positiver Gehalt wesentlich der Rezeption Hartmanns26 geschuldet ist. So greift Gehlen hier in weiten Teilen auf jenen Begriff des Irrationalen zurück, den Nicolai Hartmann in der Schrift Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis27 vorstellt.

Gegenüber dem sich damit abzeichnenden, nicht zu überschätzenden Einfluss der Ontologie Nicolai Hartmanns auf Gehlens später entwickelte Philosophische Anthropologie ist die inhaltliche Bedeutung der Ordnungslehre Hans Drieschs für sein weiteres Denken eher zu vernachlässigen bzw. bloß in ihrer Negation bedeutungsvoll. Mit Rücksicht auf diese weniger inhaltliche als formale Bedeutung für Gehlens Denken sei an dieser Stelle auch nur in aller Kürze auf einige wesentliche Aspekte der Ordnungslehre hingewiesen:28 Driesch geht in einem sogenannten methodischen Solipsismus29 unter der Annahme eines überpersönlichen »Ich«30 davon aus, dass die Wirklichkeit nach einer bestimmten Ordnung strukturiert ist, die sich mithilfe der vom Ich – im subjektiven Sinne verstanden – gesetzten Begriffe vollständig erkennen lässt. Die in diesen begrifflichen Setzungen festgestellten Eigenschaften sind demnach nicht auf das Subjekt in seiner Perspektive auf die Dinge zurückzuführen, sondern kommen den Dingen selbst zu; wir finden hiernach am Gegenstand selbst die entsprechenden Zeichen vor, die dann durch die Setzung von uns gewusst werden.31 Dieses bedeutet, dass wir es im unmittelbaren Erleben und Umgang mit den Gegenständen schon mit den Entsprechungen entwickelter Begrifflichkeiten zu tun haben. Gleichzeitig muss es ob deren Erkennbarkeit schon a priori Vorstellungen von den an den Dingen feststellbaren Setzungen geben, was Driesch als ein Vorwissen um Ordnung bzw. als Urwissen32 begreift. Erkennen bedeutet hiernach, die Identität zwischen Vorwissen und Gegenstand durch die Setzung herzustellen. Als Motor dieses Vorgangs setzt Driesch schließlich ein genauso a priori vorauszusetzendes Vorwollen von Ordnung33 voraus, d.h. einen Willen zum Wissen um seiner selbst willen, was er das „ordnungsmonistische Ideal“34 nennt.

Gehlens Antwort auf diese Vorstellung vom »Ich« in seiner immer schon vorauszusetzenden Intimität mit der Wirklichkeit besteht in Grundsatz darin, die Unmittelbarkeit der individuellen Erfahrung in der Auseinandersetzung mit den an sich in keiner Weise schon geordneten Phänomenen als Bedingung alles möglichen Wissens hervorzuheben. Hiervon ausgehend kann kein letztgültiges Wissen im Sinne einer Ordnungsschau erlangt werden; vielmehr können wir uns einzig vermittels handlungsrelativer Funktionsbegriffe35 auf die Gegenstände in der Welt beziehen:

„Wir fragen: ist es unzweifelhaft, wenn Driesch sagt: »Das Rot-, Warm-, Tonsein ist gewiß empirisch wirklich, aber Moleküle, Atome, Elektronen sind das auch«. Wir sind in so radikalem Sinne Phänomenologen, daß wir diesen Satz bestreiten. Auszugehen hat unseres Erachtens die Philosophie nur von dem »unmittelbar Erfahrbaren«. In ihm liegt Alles, und keine weitere mögliche Erfahrung – selbst die historische – kann hier qualitativ Neues hinzubringen.“36

Die Eigenart dieser Gegenüberstellung wird darin deutlich, dass Gehlen hiermit nicht allein darauf abhebt, dass im unmittelbaren Erleben der Wirklichkeit keine den Dingen an sich erkennbare Ordnung angenommen werden darf; sie dergestalt erst durch unsere begrifflichen Setzungen eine bestimmte Form für uns annimmt. Vielmehr lässt sich schon aus dem Gefühl der Fremdheit des Gegebenen ableiten, dass diese Wirklichkeit als das eigenständige „Irrationale im Sinne des Wissensfremden“37 verstanden werden muss.

Mit dem so in Stellung gebrachten Begriff des Irrationalen überschreitet Gehlen offenkundig eine durch den verstehenden Begriff selbst gesetzte Grenze: Der Begriff des Irrationalen bezieht sich auf eine jenseits unseres Erkennens autark für sich seiende Substanz, die als »das Leben« bzw. »das Naturgeschehen« zu verstehen ist und damit noch jedweder begrifflichen Bezugnahme auf die Welt ontologisch vorausgeht.38 Gehlen meint also nicht nur im Anschluss an die vernunftkritische Position Kants, dass die Dinge an sich für uns nicht erkennbar sind, indem sie den Erscheinungen in der Erfahrung zugrunde liegen. Er nimmt hiermit vielmehr in einer über die negative Bestimmung des Dinges an sich als Grenzbegriff hinausgehenden Begrifflichkeit an, dass dessen Unerkennbarkeit für uns auf eine positiv bestehende, eigentümlich irrationale Struktur des Gegebenen zurückzuführen sei – und deren Anerkennung sich Kant einzig ob der antizipierten Logizität seines Systems versage:39 Wo Kant ausgehend von unseren Verstandesleistungen auf die Erkenntnis des Dinges an sich „verzichtet“, können wir dieses Seiende selbst in einer positiven Bestimmung als »das Irrationale« verstehen. Indem Gehlen das Ding an sich auf diese Weise als den positiv vorhandenen Bereich des Irrationalen in der uns begegnenden Welt begreift, lässt sich von einer Substanziierung des Noumenon sprechen, wie sei sich bei Hartmann findet:

„Das Noumenon ist im positiven Verstande gewürdigt. Zwischen dem irrationalen Bestande und seinem rationalen, erscheinenden Teil besteht dann kein Bruch, keine Metabasis von der Erscheinung zum Ansichsein; die beiden Stücke des Gegenstandes gehen kontinuierlich ineinander über, wie es die Einheit des Erkenntnisproblems verlangt.“40

Ausgehend davon und in Gegenüberstellung zu dem Identitätsverhältnis von Begriff und Gegenstand bei Driesch stellt Gehlen „vier Erscheinungsweisen des Irrationalen im Gegenstandsgebiet“41 vor. Die für unsere Untersuchung relevanten drei Momente des Irrationalen sind dabei: das vorlogische Erleben, die Irrationalität des gegebenen Materials und schließlich das Werden in der Natur.42 In der zuerst genannten Verwendung bezeichnet das Irrationale die noch nicht auf den Begriff gebrachte unmittelbare Erfahrung bzw. das vorlogische Erleben43. Im Erleben haben wir es nicht schon mit Gesetztem44, sondern mit unmittelbaren Eindrücken zu tun, deren begriffliche Kontur sich für uns erst in einer dem Erleben nachträglichen Reflexion abzeichnet.45 Gehlen beschreibt dieses als einen dreistufigen Ablauf, der durchaus grundlegend für sein Verständnis von Erleben, Reflexion und Begriffsbestimmung ist: „erst wird schlicht gegenständlich erlebt [...], dann wird auf das Erleben reflektiert, und dann steht damit der Gegenstand als gesetzter da.“46

Das sich hier anschließende zweite Moment des Irrationalen besteht darin, dass das im Erleben gegebene Substrat im Sinne der kantischen Dinge an sich verstanden werden muss und dabei für Gehlen – ganz im Gegensatz zur kantischen Transzendentalphilosophie – an sich irrational47 ist: Wir tragen in der Folge des dreistufigen Reflexionsvorgangs aus unserem Blickwinkel die entsprechenden Begriffsbestimmungen an ein uns gegenüberstehendes und an sich nicht durchsichtiges Substrat heran. Unter Berücksichtigung des Rückschlusses vom begrifflichen Umgang mit der Welt auf das Irrationale folgt hieraus auch: Begriffe werden im erfahrenden Umgang mit den Dingen hervorgebracht und wir verfügen über dieselben nur, weil wir uns angesichts eines Erlebens des Fremden in der Welt orientieren müssen.

Die damit vorgenommene Positivierung des Noumenon, dass sich das erkennende Bewusstsein nur auf einen Ausschnitt des für sich genommen irrational strukturierten Seins bezieht, drängt sich nach Gehlens Dafürhalten mit Blick auf die unerschöpfliche Komplexität des „Natur-Gegenstandes“48 auf. Hiernach ist als das dritte Moment des Irrationalen das Werden in der Natur49 der phänomenale Beleg dafür, dass sich das Sein nicht durch rationale Begriffe, d.h. idealistisch verstehen ließe, sondern als ein autarker, nicht rational strukturierter Bereich angenommen werden muss. „Wäre Natur ein ruhendes Sein“50, so der sich hier anschließende Gedanke, wären wohl noch dazu angetan, ein in sich statisches Sein zu durchdringen; die Wirklichkeit des sich stetig verändernden „Naturwerden[s]“51 versperrt sich jedoch einer begrifflichen Aufarbeitung.

Lassen wir die auf der Folie dieses Begriffs des Irrationalen angestellte Kritik an Driesch außer Acht und betrachten allein die Bedeutung der unter diesen Vorzeichen stehenden Theorie des Irrationalen für Gehlens weiteres Denken. Tatsächlich ergeben sich aus der negativen Abgrenzung zur rationalistischen Position Drieschs einige ex negativo gewonnene Konsequenzen, die in den weiteren Analysen noch von Interesse sein werden. Negativ formuliert geht hieraus zunächst nicht nur das Ablehnen des Vorwissens um Ordnung, sondern ein Absehen von irgendwelchen a priori vorauszusetzenden intellektuellen Dispositionen hervor: Gehlen erweist sich mit seiner Theorie des Irrationalen als ein Kritiker eines jedweden Idealismus und auch jeder Transzendentalphilosophie, die das Verhältnis von Mensch und Welt ausgehend von bereits vorauszusetzenden Bewusstseinsfunktionen zu rekonstruieren sucht. Die Philosophie darf demgegenüber nirgendwo anders als in der voraussetzungslosen Erfahrung52, mithin der unmittelbaren Konfrontation mit dem Irrationalen in erfahrenden Handlungen ansetzen. Das sich erst in der Auseinandersetzung hiermit entwickelnde erkennende Bewusstsein ist als Mittel zur Orientierung im Angesicht eines fremden Naturgeschehens zu verstehen und damit, wie Gehlen es in einer Vorwegnahme seiner späteren anthropologischen Untersuchungen hervorhebt, mit Schopenhauer gesprochen ein „Diener des Willens“53 bzw. mit Häberlin als „Phase der Handlung“54 zu begreifen.

Als weiteres, zunächst noch negatives Ergebnis dieser Untersuchungen geht mit der Annahme der irrationalen Struktur des Werdens der Ausschluss einer rational einsehbaren Zweckmäßigkeit im Naturgeschehen einher – was für Gehlen allerdings die Annahme einer Naturteleologie des Irrationalen nicht ausschließt. Er fasst dieses zunächst so, dass man angesichts des Problems der Prozesshaftigkeit des Naturgeschehens entweder wie Driesch, Hegel oder Leibniz ein bestimmtes „Werdensziel“55 postulieren muss, von dem ausgehend die Rationalität dieser Abläufe als Entwicklung auf dieses Ziel hin behauptet werden kann. Oder aber man folgt dem „Gedanken eines sinnlosen Werdens“56, den wir etwa bei den Lebensphilosophen Schopenhauer, Nietzsche, Bergson oder auch bei Goethe57 finden. Tatsächlich aber erscheint Gehlen diese Disjunktion nicht als alternativlos. In diesem Sinne vertritt er mit seinem positiven Begriff des Irrationalen eine in seinen späteren Überlegungen zur Naturteleologie durchgehaltene dritte Position: Die Unerkennbarkeit eines Sinns im Werden geht für ihn nicht mit einem prinzipiellen Verzicht auf die Annahme von Zweckmäßigkeit im Naturgeschehen einher. Gehlen, so lässt sich im Anschluss an Lothar Samson feststellen, „denkt im Grunde teleo-logisch“58 – und zwar indem er die metaphysische Annahme einer Zweckmäßigkeit des sich dem Erkennen verschließenden Irrationalen59 in der Natur vertritt. Er legt zwar in seiner Dissertation noch keine ausführlichen Erörterungen darüber vor, wie sich dieses im Naturgeschehen angelegte Sinnmoment in der Lebensführung des Menschen niederschlägt. In dieser Schrift finden sich jedoch richtungsweisende Bemerkungen. So spricht er von der prinzipiellen Möglichkeit, die Frage nach dem „»Sinn« bestimmter Naturgegebenheiten“60 zu beantworten, sofern wir uns auf bestimmte „außerrationale Gewissheitsquellen“61 beziehen, die hierauf eine symbolische Antwort geben.

Obwohl Gehlen die sich auch hiermit einstellenden Probleme in seiner Theorie des Irrationalen nicht erschöpfend bespricht, ist damit dennoch der Fluchtpunkt in seiner Perspektive auf den Menschen festgelegt. Wir müssen im Sinne des Rückschlusses von der Verwendung rationaler Begriffe auf das „Irrationale im Sinne des Wissensfremden“62 von einer substanziellen Differenz zwischen dem erkennenden Bewusstsein und dem Leben ausgehen. Der Mensch ist dem irrationalen Geschehen des Lebens augesetzt, bildet in seinem erfahrenden Umgang mit ihm Begriffe und wird durch eine symbolisch vermittelte Gewissheit des Sinns der Zweckmäßigkeit des Naturgeschehens gewahr. Als Teil dieses Prozesses ist er das Lebewesen, das mit den Problemlagen der ihm fremden Wirklichkeit des nicht nur außerhalb seiner selbst, sondern genauso auch in ihm vorgängigen, irrationalen Lebens umzugehen hat: „Das Irrationale, das es soweit möglich zu bewältigen gilt, findet sich also zunächst an zwei Stellen: in mir, und mir gegenüber.“63

1.2 Einstieg in Gehlens Anthropologie

Dass die Philosophie überhaupt und damit auch das Nachdenken über die Stellung des Menschen in der Welt ihren Ausgang im Gefühl der Fremdheit64 nehmen, markiert den Einstieg in Gehlens anthropologisches Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Dabei geht es ihm ganz ähnlich wie in der eben beschriebenen Theorie des Irrationalen darum, das existenzielle Problem des Menschseins in einem Rückschluss von den geistigen Leistungen her zu erörtern. An dieser Stelle ist es allerdings nicht die Paradoxie des Begriffs, sondern das zuletzt anklingende symbolische Verhältnis zur Welt, das den Ausgangspunkt für seine Überlegungen markiert. So leitet er seine Überlegungen mit der Vignette einer Wesensbestimmung des Menschen ein, die wiederum mit einem sich in der philosophischen Beschäftigung mit der eigenen Existenz einstellenden Gefühl einhergeht. Der Anlass zum weiteren Nachdenken ergibt sich hiernach aus der Empfindung, dass der Mensch seine Stellung in der Welt deuten muss, damit er sich zur Welt verhalten kann:

„Das von nachdenkenden Menschen empfundene Bedürfnis nach einer Deutung des eigenen menschlichen Daseins ist kein bloß theoretisches Bedürfnis. Je nach den Entscheidungen, die eine solche Deutung enthält, werden Aufgaben sichtbar oder verdeckt. Ob sich der Mensch als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten Affen, wird einen deutlichen Unterschied in seinem Verhalten zu wirklichen Tatsachen ausmachen; man wird in beiden Fällen auch in sich sehr verschiedene Befehle hören.“65

Grundlegend für die Bestimmung des menschlichen Daseins erscheint somit, dass sich der Mensch in ein indirekt durch bestimmte Selbstbilder vermitteltes Verhältnis zur eigenen Existenz setzt. Das bedenkenswerte Spezifikum des Menschseins besteht damit in der Aufgabe, seine Stellung in der Welt deuten zu müssen:

„Man sollte versuchen, gerade diese Umstände zur Bestimmung des Wesens des Menschen heranzuziehen; das würde bedeuten: es gibt ein lebendiges Wesen, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen, wozu eben ein »Bild«, eine Deutungsformel notwendig ist.“66

Aus dieser Überlegung heraus blickt Gehlen auf die Kultur und damit die Institutionen des Menschen als Vermittler solcher Deutungen, namentlich die „Religionen, die Weltanschauungen, die Wissenschaften“67, die sich zwar nicht in metaphysischen Aussagen über den Menschen erschöpfen, gleichwohl aber immer auch ein entsprechendes „»Bild«, eine Deutungsformel“68 des Menschen bereitstellen. Diese dort angebotenen Deutungsformeln erfüllen ihre Aufgabe nicht beziehungsweise nicht alleine in Erkenntnissen über den Menschen, sondern maßgeblich dadurch, dass sie ihm eine bestimmte Idee von sich selbst geben, an der er sich in seinem Handeln orientieren kann. Wer sich als Geschöpf Gottes versteht, für den ist es in einer ganz bestimmten Weise selbstverständlich, wie er zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, zur Welt und zum Kosmos überhaupt steht und wie er sich auf Grund dessen zu verhalten hat; von einem solchen Selbstverständnis werden sich die Bedürfnisse und die Interessen69 eines Atheisten oder eines Darwinisten maßgeblich unterscheiden.70 Die sich hier anschließende Überlegung Gehlens, dass sich in einer jeweiligen Deutung gerade nicht das Wesen des Menschen selbst findet, sondern immer nur eine Auslegung, eine Bebilderung des menschlichen Daseins durch Kategorien, die außerhalb desselben stehen, liegt auf der Hand: Wenn etwa in der Religion von der Gottesebenbildlichkeit oder im darwinistischen Sinne vom arrivierten Affen die Rede ist, dann haben wir es nicht unvermittelt mit dem Menschen in seiner unmittelbaren Konfrontation mit dem Fremden, sondern mit bestimmten, seiner Situation gegenübergestellten Deutungen zu tun. Sich selbst zu deuten heißt in diesem Sinne, dass sich der Mensch, gewissermaßen aus dem Zentrum seines Daseins heraus blickend, indirekt von bestimmten Selbstbildern her als göttliches Wesen oder als ein hoch entwickeltes Tier versteht und sich dementsprechend verhält. Diesen Selbstbildern in Religion, Wissenschaft und Weltanschauung ist damit der Zusammenhang von Deutung und Handeln gemein, der Wesentlicheres über die Natur des Menschen freilegt, als mit den jeweiligen Inhalten dieser Bilder ausgedrückt wird. In den Blick zu bekommen, was das Wesen des Menschen ist, kann sich daher gerade nicht an einem bestimmten Bild vom Menschen aufhalten, sondern muss aus dem Deutungsproblem selbst heraus entwickelt werden: „Diese Richtung der Untersuchung wird freigelegt, wenn man die Frage festhält: was bedeutet gerade das Bedürfnis der Deutung?“71

Aus dem hiermit auch deutlich werdenden Umstand, dass dem Menschen diese Deutungsformeln nicht schon in die Wiege gelegt sind, sondern dass sie selbst erst hervorgebracht werden müssen, folgert Gehlen in einem darauffolgenden Schritt, dass der Mensch im Vergleich zu jedem nicht vor eben diese Aufgabe gestellten Tier als „unfertig“72 und „nicht »festgerückt«“73 zu verstehen ist. Die Unfertigkeit bezieht sich auf den Umstand, dass der Mensch nicht wie das Tier über die entsprechende körperliche Verfassung und die nötigen Instinkte verfügt, die ihm eine Sicherheit in seinem Verhalten von Natur aus ermöglichten: Der Mensch muss selbst die Mittel finden, um sein Leben führen zu können. Nicht festgerückt zu sein hebt auf den damit einhergehenden Umstand ab, dass er nicht, wie es bei Tieren der Fall ist, fest in der Welt verortet ist, d.h., dass er keinen spezifischen Lebensraum hat. Die Aufgabe einer Philosophischen Anthropologie wäre es hiernach, angemessene Begriffe – Feststellungen im begrifflichen Sinne – über das im diesem Sinne noch nicht festgestellte Tier „Mensch“ zu treffen, wie Gehlen dieses formelhaft von Friedrich Nietzsche übernimmt:

„Genau dies hat Nietzsche einmal gesehen, als er den Menschen »das noch nicht festgestellte Tier [sic]« nannte (XIII, 276). Dieses Wort ist richtig und exakt doppelsinnig. Es meint erstens: es gibt noch keine Feststellung dessen, was eigentlich der Mensch ist, und zweitens: das Wesen Mensch ist irgendwie »unfertig«, nicht »festgerückt«. Beide Aussagen sind zutreffend und können übernommen werden.“74

Den Menschen nach Nietzsche als das noch nicht festgestellte Tier zu bestimmen bedeutet hiernach, dass der Mensch die Bewältigung seines existenziellen Problems nur auf doppelte Weise leisten kann: zur Außenwelt und zu sich selbst Stellung zu beziehen, d.h. sich genauso in der äußeren Welt wie auch in seiner inneren Disposition zur Welt durch Eigentätigkeit selbst zu verorten. Mit der so beschriebenen, sich mit der Lebensführung des Menschen stellenden Aufgabe sind wir schon beim zentralen Gedanken dieser Theorie angelangt: Der Mensch muss sich in einer ihm eigenen, ihn von jedem Tier unterscheidenden Weise selbsttätig zur Welt verhalten und sich dabei selbst noch in ihr ausrichten. Nicht festgestellt zu sein und deshalb Stellung beziehen zu müssen ist in diesem Sinne gleichbedeutend damit, dass der Mensch handelt: „Die Akte seines Stellungnehmens nach außen nennen wir Handlungen, und gerade insofern er sich selbst noch Aufgabe ist, nimmt er auch zu sich selbst Stellung, »macht sich zu etwas«.“75

Mit diesem Übergang vom Problem der Selbstdeutung zur Bestimmung des Menschen als das noch nicht festgestellte handelnde Wesen schließt Gehlens grundlegende Wesensbestimmung des Menschen. Festzuhalten ist zunächst, dass er hiermit eine Perspektivverschiebung von der Betrachtung der kulturell vermittelten Deutungen menschlichen Daseins hin zu dem im Kollektivsingular verstandenen einzelnen handelnden Subjekt vollzieht, das vor die Aufgabe gestellt ist, sich eigentätig am Leben zu erhalten. Auch zeichnet sich mit diesem Schwenk die Zielsetzung dieser Theorie ab: Gehlen geht es im Sinne einer Dialektik dieses Begriffs darum, bestimmte »Feststellungen« über das noch nicht festgestellte Tier »Mensch« zu treffen, dem es wesenhaft ist, auf eine Deutung des eigenen Seins angewiesen zu sein. Hieraus leiten sich zwei Voraussetzungen für diese Theorie ab: Die erste Voraussetzung besteht darin, eine sich nicht auf ein bestimmtes Selbstbild stützende substanzielle Bestimmung der menschlichen Natur, sondern eine sich in Funktionsbegriffen aufhaltende, empirisch informierte Theorie vom Menschen zu geben. Gehlen versteht seine Philosophische Anthropologie demnach deshalb als eine in einem angemessenen Sinne biologisch vorgehende „anthropo-biologische“76 Theorie, weil er alle am menschlichen Lebensvollzug feststellbaren körperlichen, seelischen und geistigen Probleme und Fähigkeiten ausgehend von dem Deutungsproblem und damit der noch nicht festgestellten Situation, also der Notwendigkeit zu handeln, her betrachtet. Die für Gehlens Vorgehen entscheidende zweite Voraussetzung besteht in der dabei aufrechterhaltenen Differenz zwischen den metaphysischen Deutungen des Menschen und den begrifflichen Feststellungen in dieser Theorie. Wenngleich es die einführenden Passagen in Der Mensch nahelegen könnten, begreift er seine Untersuchungen keineswegs als Antwort auf das Bedürfnis nach einer Deutung des menschlichen Dasein. Vielmehr handelt es sich um eine vom Problem der Selbstdeutung ausgehende, sich als empirische Philosophie77 verstehende Theorie vom Menschen als dem handelnden Wesen, das jenseits der möglichen Erkenntnisse über seine Stellung in der Welt noch einer Deutung seiner selbst in sich selbst gegenübergestellten Bildern bedürftig ist.

1.2.1 Empirische Philosophie und Metaphysik

Inwieweit Gehlen den so markierten Unterschied zwischen der Orientierungsleistung der Selbstdeutungen in bestimmten Bildern einerseits und dem Begriff des Menschen als das sich selbst deutende Wesen andererseits beibehält, lässt sich mit Blick auf die Methode einer „empirischen Philosophie“78 nachvollziehen. Dabei ist auf das sich damit einstellende Problem hinzuweisen, dass er alles am Menschen und damit auch seine Selbstdeutungen aus der empirisch beschreibenden Perspektive zu verstehen sucht – und auf diese Weise meint, jedwede Form von Metaphysik im Sinne einer nichtempirischen Sphäre eigenen Rechts ausschließen zu können. Dessen eingedenk stellt sich die prinzipielle Frage, ob Gehlen in seiner „philosophischen Erfahrungsforschung“79 ohne die stillschweigende Annahme einer metaphysischen Sphäre auskommt. Ein weiterführendes Problem ist, dass die Bestimmung des Lebensprozesses und damit die naturteleologischen Annahmen eine die Grenzen der empirischen Betrachtung überschreitende Metaphysik darstellen.

Zunächst aber ist diese Methode gegen den vorschnellen Vorwurf eines Biologismus in Schutz zu nehmen. So kann kein grundsätzlicher Einwand gegen diese Theorie darin bestehen, dass Gehlen sich dem Menschen und seiner Kultur aus der Perspektive der biologischen Sonderstellung80 des noch nicht festgestellten Tieres nähert und damit auch die empirisch beschreibbaren physiologischen Besonderheiten menschlichen Daseins in seinen Kulturbegriff einfließen lässt. Bei aller kritischen Überprüfung der hiermit angenommenen Kategorien wäre zu zeigen, warum eine prinzipielle Trennung zwischen der Kultur und der Natur des Menschen angenommen werden muss und wo die entsprechende Grenze verläuft. Betrachtet man Gehlens Annahme, dass sich Menschwerdung nur auf der Folie kultureller Ereignisse wie etwa der Entwicklung religiöser Selbstdeutungen81 verstehen lässt, dann zeigt sich die enge Verschränkung zwischen Natur und Kultur in dieser Theorie, die sich eher als eine kulturalistische Interpretation der menschlichen Biologie, denn als biologistische Perspektive auf die Kultur ausnimmt.82 Versteht man schließlich unter einem Biologismus die Vorstellung einer Determination menschlichen Handelns durch seine biologischen Anlagen, dann greift diese Annahme als Vorwurf gegen Gehlen zu kurz. So entwickelt Gehlen seinen Ansatz ja gerade aus der Einsicht in die Indeterminiertheit des menschlichen Verhaltens, seiner noch nicht festgestellten Situation, die er als Abwesenheit einer Determination durch Instinkte begreift und damit korrespondierend mit dem Begriff der nicht auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegten Weltoffenheit83 beschreibt.84

Das Problem einer empirischen Philosophie zeichnet sich allerdings darin ab, dass Gehlen den in der Annahme einer Indeterminiertheit des menschlichen Handelns aufscheinenden Gegensatz zwischen Naturdeterminiertheit und Willensfreiheit nicht als ein Problem begreift, das sich philosophisch etwa im kantischen Sinne transzendentaler Freiheit durch die Annahme einer metaphysischen Perspektive auflösen ließe85. Ihm geht es vielmehr im Sinne der gegenseitigen Bedingtheit von Nichtfestgestelltsein und Selbstdeutung darum, angesichts dieser Indeterminiertheit die notwendige Feststellung empirisch beschreibbarer Bedürfnisse und Interessen im Dienste eines orientierten Handelns herauszustellen86. Inwiefern hierin nicht nur eine näher zu besprechende Konzeption von Freiheit87 aufscheint, sondern sich dem noch zugrundeliegend das methodologische Problem bei Gehlen zeigt, lässt sich in Rückgriff auf Kant nachvollziehen.

Kant prägt den Begriff einer empirischen Philosophie, indem er diesen in Abgrenzung zur Erkenntnis aus reiner Vernunft in Stellung bringt: „Alle Philosophie ist entweder Erkenntnis aus reiner Vernunft, oder Vernunfterkenntnis aus empirischen Prinzipien. Die erstere heißt reine, die zweite empirische Philosophie.“88 Hiernach geht es in der reinen Philosophie um Metaphysik im Sinne von Erkenntnissen a priori89, wohingegen es eine empirische Philosophie mit Erfahrungsdaten, also Erkenntnissen a posteriori zu tun hat. Zur empirischen Philosophie zählt Kant die Naturwissenschaften, aber auch die Mathematik, die Psychologie und schließlich auch die Anthropologie als eine empirische Wissenschaft vom Menschen. Ohne den einzelnen Argumentationsschritten nachzugehen, besteht die entscheidende Pointe darin, dass Kant die empirische Philosophie in Abhängigkeit zur Metaphysik stellt. Wir benötigen reine Vernunfterkenntnisse und bewegen uns stets im Bereich der Metaphysik, wenn wir die Erkenntnisse der empirischen Philosophie in einen für uns sinnvollen Zusammenhang stellen:

„Mathematik, Naturwissenschaft, selbst die empirische Kenntnis des Menschen, haben einen hohen Wert als Mittel, größtenteils zu zufälligen, am Ende aber doch zu notwendigen und wesentlichen Zwecken der Menschheit, aber alsdenn nur durch Vermittelung einer Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen, die, man mag sie benennen, wie man will, eigentlich nichts als Metaphysik ist.“90

Die Ergebnisse einer empirischen Philosophie, so lässt sich im Anschluss an dieses Zitat feststellen, lassen sich ohne Metaphysik nicht sinnvoll verstehen. Eingedenk dessen lässt sich durchaus behaupten, dass auch Gehlen sich nicht nur im Bereich einer empirischen Philosophie bewegt: Die Bestimmung des Menschen als das einer Selbstdeutung bedürftige Wesen lässt sich als eine bemerkenswert schlanke Metaphysik91 verstehen, aus der heraus die empirisch beschreibbaren Phänomene in einen Sinnzusammenhang gestellt werden.92

Das Problem seines Ansatzes ergibt sich allerdings aus dem Umstand, dass er den eigenen metaphysischen Standpunkt nicht in seiner Theorie vom Menschen behandelt. Gehlen, so lässt sich in einer ersten Annäherung an das sich daraus ergebende Problem mit Ernst Tugendhat feststellen, versteht die empirisch vorgehende Philosophische Anthropologie in einem so radikalen Sinne als „Erbin der Metaphysik“93, dass er die für das eigene Projekt unabdinglichen metaphysischen Annahmen weder als solche kenntlich macht, noch in seine Beschreibung des Menschen einfließen lässt. Dieses hat zur Folge, dass er in seinen anthropologischen Schriften von Metaphysik ausschließlich in einem Sinne spricht, den Kant als denjenigen einer „empirische[n] Psychologie“94 beschreibt. Metaphysik ist damit nicht aus der Perspektive der Vernunfterkenntnis zu behandeln, sondern mit den konkreten Selbstdeutungen des Menschen in Verbindung zu bringen, die mit empirisch beschreibbaren psychologischen Dispositionen einhergehen: Der Mensch stellt sich fest, indem durch die metaphysischen Selbstdeutungen in Bildern bestimmte psychische Dispositionen als feste Interessen und Bedürfnisse95 an die Stelle der nicht festgestellten Indeterminiertheit im Handeln treten. Für diese konkrete Feststellung spielt die Erkenntnis, dass der Mensch das sich selbst deutende Wesen ist, genauso wenig eine Rolle, wie etwa ein Begriff tranzendentaler Freiheit im kantischen Sinne mit der Vorstellung der Indeterminiertheit des menschlichen Handelns in Zusammenhang gebracht wird. Beides hebt auf Vernunfterkenntnisse ab, denen Gehlen trotz der notwendigen metaphysischen Voraussetzungen des eigenen Zugriffs keinen Ort in seiner Anthropologie zuweist. Das konzeptionelle Problem in der Anthropologie Gehlens tritt darin hervor, dass sie jenen durch die Vernunft möglichen metaphysischen Zugriff auf das Problem des menschlichen Daseins in der Beschreibung vom Menschen ausklammert, den sich Gehlen als denkender Mensch selbst durchaus zutraut und an dessen Stelle er einen empirischen Begriff von Metaphysik im Sinne einer bestimmten Deutung des eigenen Seins setzt. Das sich hier anschließende Problem besteht darin, dass diesem Zusammenhang die uns bereits bekannte Metaphysik einer Zweckmäßigkeit des an sich irrationalen Lebensprozesses zugrunde liegt.

1.2.2 Die Sonderstellung des handelnden Wesens

Im Sinne der eben kenntlich gemachten Methode einer empirischen Philosophie widmet Gehlen sich der grundlegenden Frage seiner anthropologischen Untersuchungen: „Wie kann ein so schutzloses, bedürftiges, so exponiertes Wesen sich überhaupt am Leben erhalten?“96 Als nähere Bestimmung der physiologischen Unfertigkeit des Menschen wird damit vorausgesetzt, dass er im Vergleich zu jedem Tier als ein „Mängelwesen“97 zu verstehen ist. Gehlen meint hiermit im Anschluss an Herder98, dass der Mensch nicht den entsprechenden Körperbau und die Instinktsicherheit eines Tieres mitbringt, das sich mit dieser Ausstattung in einer ihm zugehörigen Umwelt zurechtfindet. Wäre der Mensch ein Tier in freier Wildbahn, dann hätten wir es mit einem äußerst schlecht auf die sich stellenden Aufgaben vorbereitetes Wesen zu tun, wie Gehlen es in dem Aufsatz Ein Bild vom Menschen99 betont:

„Er ist »organisch mittellos«, ohne natürliche Waffen, ohne Angriffs- oder Schutz- oder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeutender Leistungsfähigkeit, denn jeder unserer Sinne wird von »Spezialisten« im Tierreich weit übertroffen. Er ist ohne Haarkleid und ohne Anpassung an die Witterung, und auch viele Jahrhunderte Selbstbeobachtung haben ihn nicht belehrt, ob er nun eigentlich Instinkte hat und welche. Man hat dies schon lange bemerkt, und Herder (1772) sowie Kant (1784) haben darauf hingewiesen.“100

Angesichts dessen ist es für das Verständnis der Bezeichnung Mängelwesen wichtig, dass es sich dabei um einen Konjunktiv handelt, eine hypothetische Negativbestimmung, die als heuristisches Prinzip Auskunft über die positiv bestehende Wirklichkeit des Lebensvollzugs des Menschen geben soll. Der Mensch ist substanziell betrachtet keineswegs dysfunktional eingerichtet. Er ist vielmehr ein ganz einmaliges lebens- und äußerst leistungsfähiges Naturwesen:

„Denn man gebe mir einmal die Voraussetzung zu – die Hypothese, die in dieser Schrift durch alles das sichergestellt werden wird, was man mit ihr erkennen und übersehen kann – nämlich die Voraussetzung: im Menschen liegt ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur vor.“101

Um sich allerdings klar zu machen, was genau die Besonderheit dieser Lebensführung ausmacht, ist es hilfreich, eine Vergleichsbeziehung zum Tier herzustellen, unter deren Bedingungen der Mensch dann als ein Wesen voller Mängel erscheinen muss. Die Dialektik des Begriffs Mängelwesen lässt sich in diesem Sinne so verstehen, dass der Mensch kein Mängelwesen ist, sich seine zum Handeln bestimmte Existenz jedoch positiv auf der Folie der Arbeitshypothese vom Mängelwesens verstehen und in ihrer Funktion empirisch beschreiben lassen. Gehlen nennt dieses den „transitorischen Wert“102 des Begriffs »Mängelwesen«, den er, ohne dass er den Namen Ernst Cassirer fallen ließe, explizit nicht als einen Substanzbegriff103 aufgefasst wissen will – und der daher, so können wir ergänzen, als ein Funktionsbegriff104 zu verstehen ist:

„Wenn der Mensch hier und in dieser Beziehung, im Vergleich zum Tier als »Mängelwesen« erscheint, so akzentuiert eine solche Bezeichnung eine Vergleichsbeziehung, hat also nur einen transitorischen Wert, ist kein »Substanzbegriff« [...] »Man setzt den Menschen fiktiv als ein Tier, um dann zu finden, daß er als solches höchst unvollkommen und sogar unmöglich ist«. Eben das soll der Begriff leisten: die übertierische Struktur des menschlichen Leibes erscheint schon in enger biologischer Fassung im Vergleich zum Tier als paradox und hebt sich dadurch ab. Selbstverständlich ist der Mensch mit dieser Bezeichnung nicht ausdefiniert, aber die Sonderstellung bereits in enger, morphologischer Hinsicht ist markiert.“105

Indem der Mensch mit dieser vergleichsweise mangelhaften biologischen Konstitution nicht aus der Welt des Lebendigen herausfällt, muss daher von einer näher zu bestimmenden, naturbedingten „»Sonderstellung« des Menschen“106 ausgegangen werden, die darin besteht, dass die Natur mit seiner Konstitution als das nicht festgestellte, handelnde Wesen „ein neues Organisationsprinzip zu erschaffen beliebt“107 hat. Auch hier argumentiert Gehlen also naturteleologisch, indem alles im und am Menschen in seiner Sonderstellung als Mängelwesen zweckmäßig darauf ausgerichtet ist, dass er handeln kann und ob seiner nicht festgestellten Situation auch muss.

1.3 Geist in der Handlung

Nimmt man ausgehend von dieser zweckmäßigen Einrichtung zum Handeln den Allgemeinheitsanspruch des Handlungsbegriffs so ernst wie Gehlen, dann scheint mit der Bestimmung des Menschen als das in seiner Sonderstellung zum Handeln bestimmte Wesen auch das Leib-Seele-Problem lösbar. Die nach dem Denkmuster des cartesianischen Dualismus auseinanderfallenden Instanzen »Köper und Geist« bzw. »Leib und Seele« müssten sich innerhalb eines einzigen Zusammenhangs als Momente des Handelns rekonstruieren lassen, sodass der Mensch als leibliches Wesen über die ihm eigentümlichen Bewusstseinsfunktionen und seelischen Dispositionen verfügt, um zu handeln. In dieser integrierenden Funktion erweist sich der Handlungsbegriff überdies als adäquater Gesichtspunkt in einer Untersuchung des menschlichen Lebensvollzugs, indem er mehr inhaltliche Auskunft über die spezifisch menschlichen Lebensform zu geben vermag, als es durch die bloße Hypostase des Menschen als einer „Leib-Seele-Geist-Einheit“108 geleistet werden kann:

„Auch die allgemeine Behauptung: der Mensch ist eine Leib-Seele-Geist-Einheit muß abstrakt bleiben; sie ist zwar richtig, aber sie ist logisch nur verneinend: die Ablehnung des abstrakten Dualismus ist darin ausgesprochen. Über die positive Seite ist dagegen nichts gesagt. Diese Formel bleibt wie jede Ganzheitsformel abstrakt, sozusagen zu wahr, um richtig zu sein, und kann auf die nächste konkrete Frage von sich aus nichts antworten.“109

Eine dergestalt abstrakte These von der Leib-Seele-Geist-Einheit kann nur vermitteln, dass das leibliche Dasein des Menschen ganzheitlich betrachtet werden muss; sie kann als solche allerdings überhaupt nicht angeben, genau wie wir uns diesen Zusammengang vorstellen können, d.h. wo wir für seine Integration anzusetzen haben. Eine Auskunft darüber zu geben ist demgegenüber unter dem leitenden Gesichtspunkt möglich, die Handlung als den besonderen Modus der Lebensführung dieses in seiner unfertigen und nicht festgestellten Verfassung einmaligen Lebewesens zu verstehen; im Handeln vollzieht sich jederzeit der Übergang zwischen Körper und Seele bzw. Leib und Geist – und damit deren Integration zur Ganzheit. Den Menschen als handelndes Wesen zu verstehen hat zudem gegenüber jeder Wesensbestimmung als eines intelligenten, verständigen, vernünftigen Wesens den Vorteil, dass keine besondere Fähigkeit als die eine exklusiv menschliche Eigenschaft betrachtet werden muss, die sich gegen alle anderen auch im Menschen anzutreffenden Eigenschaften abgrenzt. Der Mensch hat vielmehr unterschiedliche körperliche und geistige Fähigkeiten, die ihn in Abstimmung aufeinander in die Lage versetzen zu handeln:

„Man kann zeigen, warum diese besondere biologische, ja anatomische Leiblichkeit des Menschen seine Intelligenz notwendig macht, und eine gerade so funktionierende. Man kann zeigen, wie die Sprache ein System tieferliegender Bewegungs- und Empfindungszusammenhänge fortsetzt, wie das Denken, Vorstellen sich aufbauen, wie die unvergleichliche Wahrnehmungswelt des Menschen mit all dem zusammenstimmt.“110

Diese den Menschen als zweckgerichtet zum Handeln betrachtende Untersuchung wehrt sich offenkundig auch dagegen, ein ganz bestimmtes Merkmal des Menschen herauszunehmen und dieses dann als die Kausalursache für seine besondere Stellung in der Welt zu erklären. Es ist nicht das Hirn, der opponierbare Daumen, die menschliche Intelligenz oder das Ohrläppchen, die als conditio sine qua non des Menschseins verstanden werden müssen. Diese und alle anderen Merkmale des Menschen müssen vielmehr final in Bezug auf die Zweckbestimmung zum Handeln als Kreis derjenigen Bedingungen verstanden werden, vermittels derer dieses Wesen sein Leben zu führen vermag:

„Eine äquivalente Behandlung, welche die Fehler solcher »Kausalfragen« vermeidet und von vornherein im Sinne unserer biologischen Fragestellung liegt, ist die folgende: daß man auf den Zusammenhang von Bedingungen abhebt. Man formuliert also: ohne A kein B, ohne B kein C, ohne C kein D usw. Läuft diese Reihe in sich zurück – ohne N kein A –, so ist ein totales Verständnis des betrachteten Systems gelungen, ohne daß irgendwo die Metaphysik einer einzelnen Ursache Platz hätte.“111

Indem die Besonderheit menschlicher Existenz also nicht auf eine bestimmte Eigenschaft reduziert werden kann, da jede einzelne davon auf das Grundproblem des Menschen als handelnden Wesens zurückführbar ist, grenzt Gehlen sich auch gegen all jene Auffassungen ab, die von einem Stufenschema unterschiedlicher, auch bei Tieren anzutreffenden Seelenvermögen ausgehen, die sich dann schrittweise bis hin zum menschlichen Geist anreicherten. „Es gibt kein Tier in uns“112! Die aristotelische Auffassung also, nach der der Mensch unterhalb seines Intellekts noch die instinkthaften Eigenschaften des Tieres in sich vereine, erscheint für Gehlen unzutreffend. Dessen und andere Ansätzen, die von dem mehr oder minder immer gleichen „Stufenschema“113 ausgehen, „dessen Abschnitte Instinkt, Gewohnheit, praktische Intelligenz und menschliche Intelligenz heißen“114, können den Menschen gerade nicht in der ihm angemessenen Weise vom Tier unterscheiden. Vielmehr können sie im Menschen entweder nur eine „Anreicherung oder Verfeinerung, Komplizierung tierischer »Eigenschaften«“115 erkennen und verlieren damit das spezifisch Menschliche aus den Augen oder sie schreiben die in besonderer Weise menschliche Eigenschaft allein seinen Intelligenzleistungen zu, suchen diese mithin „in irgendeiner besonderen Qualität »Geist«“.116

Gehlen bestreitet damit natürlich nicht, dass der Mensch das verständige, vernunftbegabte Wesen ist; wir haben uns diese Vermögen allerdings als spezifische Formen des Geistes vorzustellen, die inmitten eines Zusammenhangs des Handelns stehen, das als solches noch von anderen Formen von Geist bzw. Bewusstsein vermittelt wird. Der Verstand ist, mit Nietzsche gesprochen, ein Element der „große[n] Vernunft des Leibes“117, in die noch andere Formen von Bewusstsein eingehen. In diesem Sinne sprich Gehlen in einem späteren Aufsatz als Explikation des Theorems vom Mängelwesen mit Nietzsche davon, dass das rationale Denken in den Gesamtzusammenhang des menschlichen Daseins „hineinkomponiert“118 ist:

„Man sieht nämlich, daß in diesem Schema die menschliche »Intelligenz«, die »Vernunft«, Denkkraft usw. durchaus berücksichtigt ist, aber sie erscheint hier sozusagen als hineinkomponiert in die biologischen Lebensbedingungen. Unsere Theorie enthält gar keine Ansätze zu einem »Dualismus«, sondern entgeht ihm (in einer erweiterten Formel Nietzsches) in dem Rückschluß vom Bewußtsein auf den, der es nötig hat.“119

Analog zu dem uns schon bekannten Schluss vom Begriff auf die Irrationalität des Seins bedeutet dieser Rückschluss auch, dass »Geist« im Sinne von Verstand bzw. Vernunft als „Werkzeug des Leibes“120 eine Form der bewussten Bezugnahme auf die Welt auf der Grundlage von anderen, substanziell davon unterschiedenen und nicht rational zu nennenden Formen des leiblich vermittelten Bewusstseins vorzustellen ist, die in das Handeln involviert sind.

1.3.1 Handlung als Bewegung und Vollzug

Angesichts dieses Rückschlusses wird zunächst die Bandbreite der unterschiedlichen Leistungen deutlich, die Gehlens Handlungsbegriff als Strukturgesetz menschlichen Lebensvollzugs abdecken muss – Handlungen einzig als Folge bewusster, rationaler Entscheidungen zu verstehen, kann hiermit nicht gemeint sein. Gehlen operiert vielmehr mit einem völlig entgrenzten Handlungsbegriff, indem auch die nicht schon durch das rational zweckgerichtete Kalkül des bewussten Nachdenkens geprägten Vollzüge menschlichen Daseins als Handlungen zu verstehen sind.121 Dasjenige also, was die kritisierten Stufenlehrenals die unterhalb des Verstandes liegenden auch im Tierreich wiederzufindenden Anlagen im Menschen verstehen, muss in einen einzigen, spezifisch menschlichen Zusammenhang des Handelns mit den höheren geistigen Funktionen gestellt werden. Die grundlegende Bestimmung des von Gehlen vorgestellten Handlungsbegriffs besteht hiernach darin, Handlungen als die spezifische Form der den Menschen vom Tier unterscheidenden Bewegungen in der Welt vorzustellen: „Man kann dann den Unterschied keineswegs allein mehr in den »Geist« setzen, sondern er wäre genau so schon in physischen Bewegungsformen aufweisbar.“122 Die hier als »Geist« apostrophierten verständigen Funktionen sind demnach nur dann angemessen verstehbar, wenn man sie ins Verhältnis zu denjenigen Handlungsvollzügen setzt, die in dem Sinne als niedere Stufen zu verstehen sind, dass sie als Formen geistig vermittelter Bewegungen in den Aufbau der spezifisch menschlichen Leistungen eingehen: „ein physisch so verfaßtes Wesen ist nur als handelndes lebensfähig; und damit ist das Aufbaugesetz aller menschlichen Vollzüge, von den somatischen bis zu den geistigen, gegeben.“123

Will man bei dieser Herleitung nicht unter der Hand erneut in eine Bestimmung des Menschen als mit Verstand ausgestattetes Wesen bzw. als Vernunftwesen verfallen, ist es unabdingbar, die Bedingtheit höherer Funktionen aufgrund der physiologischen Sonderstellung des Menschen aufzuweisen, ohne zu behaupten, dass alle körperlichen Funktionen zielgerichtet auf diese hin angelegt sind. Es gilt also zu zeigen, dass der Mensch über Verstandesleistungen verfügt, weil er diesen so und nicht anders beschaffenen Leib hat, und zwar ohne damit zu sagen, dass dessen Funktionen bloße Vorstufen auf dem Weg zum verständigen Weltumgang sind, und noch weniger, dass er diesen Körper besitzt, damit sich in ihm Vernunft realisierte. Die zweckmäßige Einrichtung des menschlichen Leibes erfüllt sich demnach in seinem Handeln, verstanden als unterschiedliche Formen seiner geistig vermittelten Bewegungen und nicht in der verständigen bzw. vernünftigen Selbstbestimmung.

Um dieser in allen Bewegungen vorauszusetzenden Einheit von Handlung und Geist in seinen Feststellungen über den Menschen Rechnung zu tragen, sucht Gehlen diese in der Nachfolge Max Schelers im Rückgriff auf »psycho-physisch neutrale« Begriffe zu beschreiben. So spricht Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos davon, dass ein bestimmtes Verhalten immer sowohl physiologisch als auch psychologisch beschrieben werden kann, wobei der damit beschriebene wirkliche Handlungsvollzug als die im Verhalten vorliegende Einheit aus Bewusstsein und körperlicher Bewegung jenseits dieser Beschreibungen gedacht werden muss:

„Es ist ein Irrtum der »Behaviouristen«, wenn sie in den Begriff des Verhaltens bereits den physiologischen Hergang seines Zustandekommens aufnehmen. Wertvoll an dem Begriff ist gerade dies, daß es ein psychophy-sisch indifferenter Begriff ist. D.h. jedes Verhalten ist immer auch Ausdruck von Innenzuständen; denn es gibt kein Innerseelisches, das sich nicht im Verhalten unmittelbar oder mittelbar »ausdrückt«. Es kann und muß daher immer doppelt erklärt werden, psychologisch und physiologisch zugleich; es ist gleich falsch, die psychologische Erklärung der physiologischen wie die letztere der ersteren vorzuziehen. Das »Verhalten« ist das des deskriptiv »mittlere« Beobachtungsfeld, von dem wir auszugehen haben.“124

Im Anschluss daran ist bei Gehlen mit der Berufung auf die psychophysische Neutralität der von ihm verwendeten Begriffe die Absicht gekennzeichnet, den menschlichen Bewegungsvollzug als das Dritte zwischen den psychologischen Bezugnahmen und physiologischen Bedingungen desselben zu verstehen: Die Handlung ist eine jenseits der begrifflichen Bezugnahme zu verortende Aktion, die sich vermittels physischer und geistiger Momente vollzieht.125 Psychophysisch neutrale Begriffe sollen darauf hinweisen, dass diese Aktion als die noch vor jeder bewussten Bezugnahme auf dieselbe liegende Leib-Seele-Geist-Einheit im tätigen Vollzug des Menschen zu verstehen ist:

„Wenn daher die von uns verwendeten Kategorien, wie Entlastung, Kommunikation, Retardation (Verjugendlichung) usw. »psychophysisch neutral« sind, wie Scheler das nannte, indem jeder Bewußtseinsaspekt hier sein Antriebskorrelat und seine morphologische Entsprechung hat, so ist dies der positive, in den Phänomenen selbst liegende Grund, der uns hindert, das Leib-Seele-Problem anzutreffen, solange wir an den Phänomenen selbst bleiben.“126

Auf ein konkretes Phänomen, etwa eine Armbewegung, bezogen bedeutet psychophysische Neutralität, den Handlungsvollzug nicht in den Termini »ich bewege meinen Arm« zu verstehen und damit schon einen Unterschied zwischen Selbst und Körper mitzudenken. Psychophysisch neutral und ohne jeglichen Aspekt des Bewusstseins beschrieben haben wir es mit einem Bewegungsvollzug zu tun, in dem sich ein bestimmter Antrieb, d.h. eine geistig vermittelte Willensleistung im Körper vollzieht. Eben diese Einheit versteht Gehlen als den wirklichen Zusammenhang der tatsächlichen Bewegung, auf die sich das erkennende Bewusstsein von außen mit den ihm eigenen, psycho-physisch determinierten begrifflichen Unterscheidungen bezieht und sagt: »Ich bewege meinen Arm«. Gehlens Auflösung des Leib-Seele-Dualismus stützt sich hiernach darauf, dass die in der Reflexion unterscheidbaren Instanzen tatsächlich nur unterschiedliche Momente des wirklichen Bewegungsvollzugs des Menschen sind.127 Er versteht die in Der Mensch vorgelegte Untersuchung des handelnden menschlichen Individuums und anschließend die in Urmensch und Spätkultur ausgearbeitete Theorie des kulturell vermittelten Verhaltens demnach immer im Sinne einer Untersuchung psychophysisch neutraler Vollzüge.128

1.3.2 Aktion und Reflexion

Trotz dieser vielversprechenden Konzeption des in unterschiedlichen Formen des Handelns eingebundenen Geistes erhebt sich schon bei den einleitenden Ausführungen in Gehlens Hauptwerk der leise Verdacht, dass hiermit keine wirkliche Überwindung des cartesianischen Dualismus geleistet werden kann. Ein Verdacht freilich, der sich nicht auf Grund dessen erhebt, dass hier überhaupt der Begriff der Handlung in einem sehr weiten Sinne ins Zentrum der Betrachtung gestellt wird und schon gar nicht deswegen, weil der Mensch in einer Sonderstellung als Mängelwesen begriffen werden soll. Einerseits ist nachvollziehbar, dass Gehlen hiermit ein vielversprechendes heuristisches Prinzip und keinen Substanzbegriff vom Menschen einführt, und andererseits lässt sich an diesem Punkt seiner Ausführungen schwerlich dafür argumentieren, dass er einen jenseits der Handlungsvollzüge des Menschen zu verortenden Geist präferiert. Gehlen hat also eigentlich alle Karten in der Hand – womit es seltsam genug erscheint, dass sich der Verdacht gerade auf die Konsistenz seiner Herangehensweise an den Menschen als Leib-Seele-Geist-Einheit richtet, genauer: darauf, wie das Verhältnis von Handlungsvollzug und erkennendem Bewusstsein zu denken ist. Der auf diese Weise zu formulierende Verdacht, dass das Verhältnis von Bewusstsein und Bewegung selbst wieder auf einen Dualismus hinausläuft, kündigt sich schon in dem programmatischen, mit allen Dualismen aufräumenden Kapitel seines Hauptwerks an. Gehlen hebt dort auf einen Gegensatz zwischen dem Zusammenhang des Leib-Seelischen im Handlungsvollzug und dem in seinen Analysen von außen auf diesen Zusammenhang blickenden Erkennen ab:

„Dieser Zusammenhang selbst ist unserer Erkenntnis transzendent. Von ihm gilt, was Heisenberg (Die Einheit des naturw. Weltbildes, 1942, p. 32) sagt: daß »die Wirklichkeit für unser Denken zunächst in getrennten Schichten zerfällt, die sozusagen erst in einem abstrakten Raum hinter den Phänomenen zusammenhängen«, so daß »alle Erkenntnis gewissermaßen über einer grundlosen Tiefe hängen muß«. Andererseits wird dieser Zusammenhang selbstverständlich in jeder gewollten Armbewegung fortdauernd vollzogen, ist also eine Tatsache und Erfahrung. Die Analyse der Handlungsvollzüge des Menschen lässt also erhoffen, diesen »dunkelsten aller Räume« wenigstens approximativ und von den Rändern her zu beleuchten.“129

Hiermit steht allerdings zu befürchten, dass der weitreichende Begriff der Handlung selbst auf einer dualistischen Konzeption beruht: Dem tätigen, die seelischen und physischen Momente in sich aufnehmenden Vollzug einerseits und der erkennenden Bezugnahme auf denselben andererseits, das sich von außen und hiervon unterschieden auf die zu untersuchenden Handlungen des Menschen bezieht. Sollte sich dieser Verdacht bestätigen, dann haben wir es in der Anlage dieser Theorie keineswegs mit einem anticartesianischen Ansatz zu tun, sondern ganz im Gegenteil mit dessen Bestätigung in einer anderen Form. Dabei hätten wir es mit einem ausgesprochen schwer zu lösenden Fall zu tun, da sich diese Trennung mitten durch den menschlichen Geist zöge: Sofern diese Handlungsvollzüge immer auch geistig sind, liefe der Gegensatz von Erkennen und Handeln auf einen Dualismus innerhalb dessen hinaus, was Gehlen unter Geist versteht. Es entstünde dann ein näher zu beschreibender Riss zwischen einem ins Handeln eingebundenen, tätigen und einem in der Reflexion hierauf untätigen Geist.

Dass Gehlens Ansatz tatsächlich mit dem Problem eines solchen Dualismus behaftet ist, lässt sich besonders deutlich anhand seiner Bezugnahme auf Arthur Schopenhauer in dem Aufsatz Die Resultate Schopenhauers130 nachweisen. Gehlen entnimmt diesem in Der Mensch nicht nur eine ganze Passage, sondern bezieht sich auch an mehreren anderen Stellen in seinem Hauptwerk affirmativ auf diese anthropologische Frühschrift.131 Dort stellt er die ihm wichtig erscheinenden vier Resultate der Philosophie Schopenhauers wie folgt vor: Das erste Resultat Schopenhauers besteht darin, den subjektiven Willen in der Bewegung des Leibes in den Vordergrund gestellt und sich im Anschluss daran mit der „Entdeckung der realen Handlung als Ausgangsfrage der Philosophie“132 erfolgreich gegen die Bewusstseinsphilosophie Descartes, Kants und Fichtes gestellt zu haben. Das Bewusstsein, mithin die menschliche Vernunft bzw. seinen Verstand, haben wir uns mit Schopenhauer nicht als eine für sich selbst stehende Größe, sondern als in den Handlungsvollzug eingebunden vorzustellen:

„Kein Denker vor ihm hat das Vollzugsbewußtsein der Handlung an den Anfang der Philosophie gestellt, und darin liegt sein erstes Resultat, wenn er es auch sofort nach den Interessen seiner Metaphysik ausdeutet: kommt er doch von hier aus zu der These, daß der ganze Leib ebenfalls Objektivation des Willens, und daher, nach Analogieschluss, alle Organismen und endlich auch die anorganische Natur eben Objektivationen des Willens sind.“133

Darauf aufbauend besteht das zweite Resultat in der Einsicht in „die vollkommene Harmonie des Willens, des Charakters – also des Trieb- und Instinktsystems – einer jeden Tierart, seiner organischen Spezialisierung und seiner Lebensumstände.“134 Dieses zweite Resultat wird uns nicht nur hinsichtlich einer vermeintlichen Disharmonie135 des menschlichen Daseins noch interessieren; es nimmt, so Gehlen, überdies auch den von Jacob von Uexküll vorgestellten Begriff der Einpassung des Tieres in sein Milieu136 schon vorweg, den wir im nächsten Abschnitt erörtern werden. An dieser Stelle soll uns das Problem des hier vorgestellten Handlungsbegriffs zunächst ausgehend von Schopenhauers dritten wichtigen Einsicht interessieren. Sie besteht darin, die „»Oberflächlichkeit« des Intellekts“137 erkannt zu haben, indem die intellektuellen Kapazitäten sowohl des animalischen als auch des menschlichen Bewusstseins als „Medium der Motive“138 auf die tatsächliche, nicht im Geiste vollzogene leibliche Aktion bezogen sind. Gehlen meint damit, dass das menschliche Bewusstsein in Analogie zu den instinktiv festgelegten „Triebziele[n]“139beim Tier von den einfachen Bewegungen bis hinein in das begriffliche Denken in dem oben bereits anklingenden Sinne als Diener des Willens wesentlich zur Steuerung der hiervon zu unterscheidenden körperlich vollzogenen Bewegungen, also seiner Handlungen dienlich ist:

„Die Erkenntnis schon im tierischen Bereich [...] ist Steuerung und Orientierung der Triebe nach den Inhalten der gegenwärtigen Umgebung. Da nun Begriffe nur »Vorstellungen von Vorstellungen« sind, Vernunft als Vermögen der Begriffe nur eine sekundäre Erkenntnis ist, so bleiben auch die Begriffe des Menschen wesentlich Motive, sie sind ebenfalls nur Auslösungen, Orientierungen von Handlungen.“140

Im Anschluss an diese Erkenntnis ist es schließlich als das wichtigste, jede Anthropologie revolutionierende vierte Resultat der Philosophie Schopenhauers zu verstehen, hiermit das Problem des Leib-Seele-Dualismus überwunden zu haben:

„Unmittelbar aus diesem Komplex folgt ein viertes Resultat, und ein höchst überraschendes, das die größte Revolution der Anthropologie seit den Griechen einleitet: es fällt nämlich die Unterscheidung von Leib und Seele in jedem bisherigen Sinne.“141

Diese Revolution besteht darin, den Geist in seiner Funktion als in das Handeln involviert zu begreifen, indem das reflektierende Erkennen als dem wirklichen Vollzug in der leiblichen Tätigkeit nachgelagert zu verstehen ist. Die uns bereits bekannte Annahme, dass der Handlungsvollzug als dem Erkennen transzendent vorgestellt werden muss, verdichtet sich hiermit zu der Feststellung, dass sich Handlung und Reflexion gegenseitig ausschließen:

„In der Handlung dagegen ist die Reflexion unvollziehbar und ausgehängt, und weder im aufmerksamen Hinsehen nach einem interessierenden Gegenstand, noch im Zugreifen, noch auch in der Gesamtbewegung nach etwas hin ist es möglich, eine »bewußte« von einer »materiellen« Seite zu trennen."142