Leben - Karl Ove Knausgård - E-Book

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Karl Ove Knausgård

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Beschreibung

Karl Ove Knausgård über die Entdeckung des Lebens.

Es ist eine Zeit des Umbruchs und der Veränderungen. Das Abitur hat er in der Tasche, die Eltern haben sich getrennt, die Begegnungen mit dem Vater sind spannungsgeladen, die ersten Schritte hinein in ein selbstbestimmtes Leben begleitet von Alkoholräuschen, die der junge Karl Ove in seiner Not immer öfter sucht, weil er diese mit einem Gefühl von Freiheit verbindet – verheißen sie ihm doch Befreiung von all den Komplexen, Unsicherheiten und Nöten, die ihn plagen und noch lange Jahre plagen werden. Lebenslust sieht anders aus.

Unschlüssig, was er mit seinem Leben beginnen soll, beschließt Knausgård ein Jahr als Aushilfslehrer an eine Dorfschule nach Nord-Norwegen zu gehen. Dabei wird er nicht nur mit Schülern konfrontiert, die ihn verständlicherweise als Autoritätsperson nicht ernstnehmen, sondern auch mit einer überwältigenden, für ihn ebenso neuen wie faszinierenden Natur. Bald bildet sich ein Lebensmuster heraus. Den Job erledigt er mit möglichst wenig Aufwand, danach versucht er sich mittels Schreibversuchen an der Etablierung einer Autorenidentität. An den Wochenende wird hemmungslos getrunken, wobei die älteren Kollegen keinerlei Versuche machen, ihren jugendlichen Aushilfslehrer zu mäßigen. Statt dessen trinken sie mit. Am Ende des Jahres steht die Rückkehr in südlichere Regionen an – und die Aufnahme an der neu gegründeten Akademie für Schreibkunst in Bergen ...

Was war das für ein Jahr? Und inwiefern ist es exemplarisch für andere Anfänge? Für unseren Start ins Erwachsenenleben? Wer Knausgård liest, wird schnell gefangengenommen von eigenen Erinnerungen, die Fragen aufwerfen, die weit über eine gewöhnliche Lektüre hinausgehen.

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KARL OVE KNAUSGÅRD

Leben

ROMAN

Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg

Luchterhand

LANGSAM GLITTEN MEINE BEIDEN KOFFER auf dem Gepäckband durch die Ankunftshalle. Sie waren alt und stammten aus den späten sechziger Jahren; ich hatte sie am Tag, bevor der Lastwagen kam und wir umziehen sollten, unter Mutters Sachen im Schuppen gefunden und sofort in Besitz genommen. Sie passten zu mir und meinem Stil, dieser nicht ganz gegenwärtigen, nicht ganz stromlinienförmigen Art, für die ich mich entschieden hatte.

Ich drückte die Zigarette im Standaschenbecher an der Wand aus, hob die Koffer vom Band und trug sie nach draußen auf den Platz.

Es war fünf vor sieben.

Ich zündete mir eine neue Zigarette an. Nichts musste überstürzt werden, es gab keinen Termin einzuhalten, niemanden, mit dem ich verabredet war.

Der Himmel war bedeckt, die Luft aber dennoch scharf und klar. Die Landschaft hatte etwas Hochgebirgsartiges, obwohl der Flugplatz, auf dem ich stand, nur wenige Meter über dem Meeresspiegel lag. Die wenigen Bäume, die ich sehen konnte, waren klein und knorrig, die Berggipfel, an denen die Aussicht endete, weiß vor Schnee.

Direkt vor mir füllte sich ein Flughafenbus.

Sollte ich mitfahren?

Das Geld, das Vater mir widerwillig für die Reise geliehen hatte, musste reichen, bis ich in einem Monat mein erstes Gehalt bekam. Andererseits wusste ich nicht, wo die Jugendherberge lag, und in einer unbekannten Stadt mit zwei Koffern und einem Rucksack umherzuirren, schien mir kein sonderlich guter Start in mein neues Leben zu sein.

Nein, ich konnte ebenso gut ein Taxi nehmen.

Abgesehen von einem kurzen Spaziergang zu einem Imbiss, an dem ich zwei Würstchen aß, die in einem Schälchen mit Kartoffelbrei lagen, blieb ich den ganzen Abend in der Jugendherberge, lag mit der Bettdecke im Rücken auf dem Bett und hörte Musik aus dem Walkman, während ich Briefe an Hilde, Eirik und Lars schrieb. Ich begann auch einen an Line, mit der ich den Sommer über zusammen gewesen war, legte ihn aber nach einer Seite fort, zog mich aus und löschte das Licht – ohne dass ich irgendeinen Unterschied bemerkte: Die Sommernacht war hell, und die orangefarbene Gardine glühte wie ein Auge im Raum.

Normalerweise schlafe ich unter allen Bedingungen problemlos, in dieser Nacht jedoch blieb ich wach. In nur vier Tagen begann mein erster Arbeitstag. In nur vier Tagen sollte ich den Klassenraum einer Schule in einem kleinen Ort an der Küste von Nord-Norwegen betreten, einem Ort, an dem ich nie zuvor gewesen war und von dem ich überhaupt nichts wusste; nicht einmal Fotos hatte ich gesehen.

Ich!

Ein achtzehn Jahre alter Kerl aus Kristiansand, der gerade das Gymnasium beendet hatte, gerade von zu Hause ausgezogen war, ohne jede Erfahrung im Arbeitsleben, außer einigen Abenden und Wochenenden in einer Papierfabrik, ein bisschen Journalismus in der Lokalzeitung und einem soeben beendeten einmonatigen Sommerjob in einem psychiatrischen Krankenhaus, sollte Klassenlehrer an der Schule von Håfjord werden.

Nein, schlafen konnte ich nicht.

Was würden die Schüler von mir halten?

Wenn ich in der ersten Stunde in den Klassenraum komme und sie auf ihren Plätzen sitzen, was soll ich zu ihnen sagen?

Und die anderen Lehrer, was um Himmels willen werden sie über mich denken?

Im Flur wurde eine Tür geöffnet, ich hörte Musik und Stimmen. Jemand ging leise singend über den Korridor. Ein Ruf: »Hey, shut the door.« Kurz darauf war es wieder still. Ich drehte mich auf die andere Seite. Das eigenartige Gefühl, in einer erleuchteten Nacht zu liegen, trug wohl auch dazu bei, dass es mir schwerfiel zu schlafen. Und wenn der Gedanke, dass es schwierig ist einzuschlafen, sich erst einmal festgesetzt hat, dann ist es absolut unmöglich.

Ich stand auf, zog mich an, setzte mich auf den Stuhl am Fenster und fing an zu lesen. Dødt løp von Erling Gjelsvik.

Im Grunde ging es in allen Büchern, die mir gefielen, um dasselbe. Weiße Nigger von Ingvar Ambjørnsen, Yesterday von Lars Saabye Christensen, Jack von Ulf Lundell, On the Road von Jack Kerouac, Letzte Ausfahrt Brooklyn von Hubert Selby, Roman mit Kokain von M. Agejew, Koloss von Finn Alnæs, Liebe ist eine einsame Sache von Agnar Mykle, die drei Bücher über die Geschichte der Bestialität von Jens Bjørneboe, Gentlemen von Klas Östergren, Ikaros von Axel Jensen, Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger, Humlehjertene von Ola Bauer, Der Mann mit der Ledertasche von Charles Bukowski. Bücher über junge Männer, die sich in der Gesellschaft nicht zurechtfanden und etwas mehr vom Leben wollten als Routine und Familie, kurz gesagt, junge Männer, die Bürgerlichkeit verabscheuten und die Freiheit suchten. Sie reisten, sie betranken sich, sie lasen, und sie träumten von der großen Liebe oder dem großen Roman.

Alles, was sie wollten, wollte ich auch.

Die große Sehnsucht, die ich ständig in meiner Brust verspürte, verschwand, wenn ich diese Bücher las; aber nur, um zehnfach zurückzukehren, sobald ich sie beiseitelegte. So war es während meiner ganzen Gymnasialzeit gewesen. Ich hasste alle Autoritäten und war ein Gegner dieser ganzen verdammten stromlinienförmigen Gesellschaft, in der ich aufgewachsen war, mit ihren bürgerlichen Werten und ihrer materialistischen Sicht auf die Menschen. Ich verachtete, was ich auf dem Gymnasium lernte, sogar wenn es sich um Literatur handelte; alles, was ich wissen wollte, alle wirklich notwendigen, einzig wesentlichen Dinge fanden sich in den Büchern, die ich las, und in der Musik, die ich hörte. Ich machte mir nichts aus Geld oder Statussymbolen, ich wusste, dass der Wert des Lebens woanders lag. Ich wollte nicht studieren, ich wollte nicht an einer konventionellen Institution wie einer Universität ausgebildet werden, ich wollte durch Europa reisen, an Stränden schlafen, in billigen Hotels oder bei Freunden, die ich unterwegs kennenlernte. Ich wollte verschiedene kleine Jobs annehmen, um zu überleben, im Hotel Teller waschen, Schiffe löschen oder beladen, Apfelsinen pflücken … In diesem Frühjahr hatte ich mir ein Buch gekauft, das Listen über alle denkbaren und undenkbaren Jobs enthielt, die man in den europäischen Ländern bekommen konnte. Und das Ganze sollte in einem Roman enden. Ich wollte in einem spanischen Dorf sitzen und schreiben, ich wollte nach Pamplona reisen und vor den Stieren herlaufen, nach Griechenland weiterziehen und auf einer der Inseln schreiben, um dann nach einem oder vielleicht zwei Jahren mit einem Roman im Rucksack nach Norwegen zurückzukehren.

So war der Plan. Daher hatte ich mich nach dem Abitur nicht wie viele meiner Schulkameraden zum Militär gemeldet, und ich hatte mich auch nicht wie der Rest an der Universität immatrikuliert, sondern war stattdessen zum Arbeitsamt von Kristiansand gegangen und hatte um eine Liste aller freien Lehrerstellen in Nord-Norwegen gebeten.

»Wie ich höre, willst du Lehrer werden, Karl Ove?«, fragten die Leute gegen Ende des Sommers.

»Nein«, antwortete ich. »Ich will Schriftsteller werden. Aber bis dahin muss ich von irgendetwas leben. Ich werde dort oben ein Jahr arbeiten, ein bisschen Geld beiseitelegen und dann durch Europa reisen.«

Und nun war es nicht mehr nur eine Idee, die ich hatte, sondern die Realität, in der ich lebte: Am nächsten Tag würde ich in Tromsø zum Hafen gehen, mit der Hurtig-Route nach Finnsnes fahren und von dort den Bus in Richtung Süden nehmen; bis zu dem kleinen Ort Håfjord, wo der Hausmeister der Schule mich laut Plan in Empfang nehmen sollte.

Nein, schlafen konnte ich nicht.

Ich nahm die halbe Flasche Whisky aus dem Koffer, holte mir ein Glas aus dem Bad, goss ein, zog die Gardine zur Seite und trank den ersten Schluck, der mich zusammenzucken ließ, dabei blickte ich über das eigenartig beleuchtete Wohngebiet vor dem Fenster.

Als ich am nächsten Morgen gegen zehn erwachte, war die Unruhe verschwunden. Ich packte meine Sachen, bestellte vom Münztelefon an der Rezeption ein Taxi, stellte die Koffer vor die Tür und rauchte, während ich wartete. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich irgendwo hinfuhr, ohne wieder nach Hause zurückkehren zu müssen. Es gab kein »zu Hause« mehr, wohin ich hätte fahren können. Mutter hatte unser Haus verkauft und war nach Førde gezogen. Vater lebte mit seiner neuen Frau noch weiter nördlich in Nord-Norwegen. Yngve wohnte in Bergen. Und ich, ich war auf dem Weg zu meiner ersten eigenen Wohnung. Dort würde ich meine eigene Arbeit haben und mein eigenes Geld verdienen. Zum allerersten Mal bestimmte ich über alle Bereiche meines Lebens selbst.

Verflucht, Mann, das war ein echt starkes Gefühl!

Das Taxi kam den Hügel herauf, ich warf die Zigarette auf den Boden, trat sie aus und legte die Koffer in den Kofferraum, den der Fahrer, ein älterer, korpulenter Mann mit weißen Haaren und einem Goldkettchen um den Hals, für mich geöffnet hatte.

»Zum Hafen«, sagte ich und setzte mich auf den Rücksitz.

»Der Hafen ist groß«, erwiderte er und drehte sich zu mir um.

»Ich muss nach Finnsnes. Zum Anleger des Hurtigboots.«

»Das werden wir schon schaffen.«

Er fuhr bergab.

»Willst du dort aufs Gymnasium?«, erkundigte er sich.

»Nein«, antwortete ich. »Ich muss weiter nach Håfjord.«

»Oh? Etwa Fischer? Nein, wie ein Fischer siehst du nicht aus!«

»Ich werde dort als Lehrer arbeiten.«

»Ah ja, ah ja. Machen ja viele, die aus dem Süden kommen. Aber bist du nicht verdammt jung dafür? Man muss achtzehn sein, oder?«

Er lachte und betrachtete mich im Spiegel. Ich lachte ebenfalls.

»Ich bin im Sommer mit dem Gymnasium fertig geworden. Ich würd mal sagen, das ist doch besser als nichts.«

»Ja, da hast du wohl recht«, sagte er. »Aber denk auch mal an die Kinder, die dort draußen aufwachsen. Lehrer direkt vom Gymnasium. Jedes Jahr neue. Nicht überraschend, dass sie nach der Neunten Fischer werden.«

»Nein«, sagte ich. »Aber das ist nicht unbedingt meine Schuld.«

»Deine Schuld? Nein, nein! Wer redet denn von Schuld! Fischen ist so viel schöner als studieren, weißt du! Als nur dazusitzen und zu lesen, bis man dreißig ist.«

»Ja, ich werde nicht studieren.«

»Aber Lehrer willst du sein!«

Wieder betrachtete er mich im Spiegel.

»Ja.«

Ein paar Minuten blieb es still. Dann hob er die Hand vom Schaltknüppel und zeigte nach vorn.

»Da unten liegt deine Fähre.«

Er hielt vor dem Terminal, stellte die Koffer auf den Boden, warf die Heckklappe zu. Ich bezahlte und wusste nicht genau, wie viel Trinkgeld man gab, auf der ganzen Fahrt hatte ich mir darüber Gedanken gemacht. Ich löste das Problem, indem ich sagte, er könne den Rest behalten.

»Vielen Dank!«, erwiderte er. »Und viel Glück!«

Es waren exakt fünfzig Kronen gewesen.

Als er zurück auf die Straße fuhr, blieb ich stehen und zählte mein restliches Geld. Es sah nicht besonders gut aus, aber ich konnte bestimmt einen Vorschuss haben, wenn ich ankam; vermutlich verstanden sie, dass ich kein Geld haben konnte, bevor ich die Arbeit antrat.

Mit seiner einen Hauptstraße, den vielen einfachen, vermutlich hastig errichteten Betonbauten und seiner kargen Umgebung mit den Bergketten in der Ferne ähnelte Finnsnes am ehesten einem Dorf in Alaska oder Kanada, ging mir durch den Kopf, als ich einige Stunden später mit einer Tasse Kaffee in einer Konditorei saß und auf die Abfahrt des Busses wartete. Von einem Zentrum konnte keine Rede sein, die Stadt war so klein, dass alles zum Zentrum gehörte. Die Stimmung war hier vollkommen anders als in den Städten, die ich gewohnt war; bestimmt weil der Ort so klein war, aber auch, weil niemand irgendwelche Anstrengungen unternommen hatte, die Stadt hübsch oder gemütlich aussehen zu lassen. Die meisten Städte haben eine Vorder- und eine Rückseite, aber hier sah alles gleich aus.

Ich blätterte in den beiden Büchern, die ich nebenan in der Buchhandlung gekauft hatte. Eins hieß Schweigen am See von einem mir unbekannten Autor namens Roy Jacobsen, das andere war Sennepslegionen von Morten Jørgensen, der in einer der Bands mitspielte, die ich vor ein paar Jahren oft gehört hatte. Vielleicht war es nicht sonderlich klug, Geld für Bücher auszugeben, aber schließlich wollte ich Schriftsteller werden. Es war wichtig zu lesen, nicht zuletzt, um zu sehen, wo die Messlatte lag. Könnte ich so schreiben? war die Frage, die ich mir die ganze Zeit stellte, während ich in den Büchern blätterte.

Dann schlenderte ich zum Bus, rauchte eine letzte Zigarette, stellte die Koffer in den Gepäckraum, bezahlte den Fahrer und bat ihn, mir Bescheid zu geben, wenn wir nach Håfjord kamen. Ich ging nach hinten und setzte mich auf die linke Seite direkt vor die hinterste Bank, dies war mein bevorzugter Platz, solange ich denken konnte.

Schräg vor mir auf der anderen Seite des Mittelgangs saß ein hübsches blondes Mädchen, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als ich, auf dem Sitz neben ihr stand ein Rucksack; ich vermutete, dass sie in Finnsnes aufs Gymnasium ging und nun auf dem Heimweg war. Sie hatte mich angesehen, als ich einstieg, und als der Fahrer den Gang einlegte und der Bus rumpelnd vom Halteplatz fuhr, drehte sie sich um und sah mich noch einmal an. Nicht lange, nur ganz kurz, ihr Blick streifte mich kaum, aber lange genug, dass ich einen Ständer bekam.

Ich steckte meine Ohrstöpsel ein und legte eine Kassette in den Walkman. The Smiths, The Queen is Dead. Um nicht aufdringlich zu wirken, konzentrierte ich mich die nächsten Kilometer darauf, auf meiner Seite aus dem Fenster zu schauen und gegen sämtliche Impulse anzukämpfen, in ihre Richtung zu sehen.

Nach einer Art Reihenhausviertel, das direkt hinter dem Zentrum begann und sich einige Kilometer erstreckte – die Hälfte der Passagiere stieg aus –, fuhren wir auf einer langen, öden und vollkommen geraden Straße. Über Finnsnes war der Himmel blass gewesen, und der Ort darunter erfüllt von diesem gleichgültigen Licht; hier draußen war die Blaufärbung tiefer und intensiver, und die Sonne, die im Südwesten über den Bergen hing, deren niedrige, aber steile Hänge durchgehend die Sicht auf das dahinterliegende Meer versperrten, brachte das rotgesprenkelte, an einigen Stellen fast lilafarbene, dichte Heidekraut zum Glühen, das zu beiden Seiten der Straße wuchs. Bei den Bäumen, die hier wuchsen, handelte es sich überwiegend um knorrige Kiefern und Zwergbirken. Auf meiner Seite stiegen die grün überzogenen Höhenzüge, die sich aus dem Tal erhoben, sanft an, während sie auf der anderen Straßenseite steil, wild und gebirgig waren, obwohl ihre eigentliche Höhe eher bescheiden schien.

Nicht ein Mensch war zu sehen, nicht ein Haus.

Aber ich war nicht gekommen, um neue Menschen kennenzulernen, ich war gekommen, um Ruhe zum Schreiben zu finden.

Beim Gedanken daran durchfuhr mich Freude.

Ich war auf dem Weg, ich war auf dem Weg.

Ein paar Stunden später sah ich, noch immer gefangen genommen von der Musik, weit vorne ein Straßenschild. Aus der Länge des Namens schloss ich, dass dort Håfjord stand. Die Straße, auf die das Schild zeigte, führte direkt in den Berg. Eigentlich konnte von einem Tunnel nicht die Rede sein, eher von einem Loch: Die Wände sahen aus, als hätte man sie herausgesprengt, und es gab auch kein Licht. Vom Dach lief dermaßen viel Wasser, dass der Fahrer die Scheibenwischer einsetzen musste. Als wir auf der anderen Seite herauskamen, schnappte ich nach Luft. Zwischen zwei langen zerklüfteten, steilen und baumlosen Bergketten erstreckte sich ein schmaler Fjord, und davor, wie eine gewaltige blaue Fläche, das Meer.

Oooh.

Die Straße, auf der der Bus fuhr, lag eingeklemmt zwischen den Bergen. Um so viel wie möglich von der Landschaft zu sehen, stand ich auf und ging hinüber zur anderen Sitzreihe. Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, dass das blonde Mädchen sich zu mir umdrehte und lächelte, als sie sah, wie ich mit dem Gesicht am Fenster klebte. Unterhalb der Felsen erkannte ich eine kleine Insel, in deren Mitte eine Menge Häuser dicht an dicht standen, in Ufernähe schien sie jedoch vollkommen unbewohnt zu sein, zumindest sah es von hier aus so aus. Einige Fischerboote lagen in einem Hafen hinter einer Mole. Die Berge zogen sich etwa einen Kilometer ins Wasser. An der Landseite waren die Hänge grün bedeckt, weiter draußen waren sie vollkommen nackt und grau und stießen direkt ins Meer.

Der Bus fuhr durch einen weiteren grottenartigen Tunnel. Auf der anderen Seite, in einem verhältnismäßig sanft abfallenden, fast schalenförmigen Tal, lag der Ort, in dem ich das kommende Jahr verbringen sollte.

Mein Gott.

Es war fantastisch!

Die meisten Häuser lagen an einer Straße, die sich wie ein U durch den Ort schlängelte. An der Straße darunter fiel mir ein fabrikartiges Gebäude vor einem Kai auf, vermutlich handelte es sich um die Fischhalle, davor lagen eine Menge Schiffe. Am Ende des U stand eine Kapelle, und an der Straße darüber sah ich einige Häuser, dahinter Heidekraut, Gestrüpp und Zwergbirken bis zu dem Punkt, an dem das Tal aufhörte und sich zu beiden Seiten ein großer Berg auftürmte.

Mehr gab es nicht.

Doch: Über der Stelle, wo die obere auf die unteren Straße stieß, direkt am Tunnel, standen zwei große Gebäude, bei denen es sich um die Schule handeln musste.

»Håfjord!«, rief der Fahrer. Ich steckte die Kopfhörer in die Tasche und ging nach vorn, er stieg hinter mir aus und öffnete die Klappe zum Gepäckraum; ich bedankte mich für die Fahrt, er erwiderte, ohne zu lächeln, »keine Ursache«, und stieg wieder ein. Kurz darauf drehte der Bus auf dem Platz und fuhr zurück in den Tunnel.

Mit einem Koffer in jeder Hand und dem Seesack auf dem Rücken hielt ich nach dem Hausmeister Ausschau, ich blickte die Straße erst hinauf und dann hinunter, während ich die frische, salzige Luft tief in die Lunge einsog.

Im Haus unterhalb der Bushaltestelle ging eine Tür auf. Heraus kam ein kleiner Mann, der lediglich ein T-Shirt und eine Jogginghose trug. Der Richtung, in die er ging, entnahm ich, dass es sich um den Mann handelte, auf den ich wartete.

Abgesehen von einem kleinen Haarkranz rund um die Ohren war er vollkommen kahl. Ein milder Gesichtsausdruck mit breiten Zügen, wie man sie mit Mitte fünfzig bekommt, allerdings waren die Augen hinter der Brille klein und stechend – auf eine Weise, die mit dem Rest nicht richtig zusammenpasste, dachte ich, als er näher kam.

»Knausgård?«, fragte er und streckte mir die Hand entgegen, ohne mir in die Augen zu sehen.

»Ja«, sagte ich und ergriff sie. Klein, trocken, wie eine Tierpfote. »Und Sie müssen Korneliussen sein?«

»Stimmt«, erwiderte er und lächelte, ließ die Arme hängen und schaute über den Ort. »Was meinen Sie?«

»Über Håfjord?«

»Es ist schön hier, nicht?«

»Fantastisch.«

Er drehte sich um und wies den Hügel hinauf.

»Dort werden Sie wohnen«, erklärte er. »Wir sind Nachbarn. Ich wohne gleich hier, sehen Sie? Gehen wir hoch und sehen es uns an?«

»Ja«, sagte ich. »Wissen Sie, ob meine Sachen gekommen sind?«

»Soweit ich weiß, nicht«, entgegnete er.

»Dann kommen sie Montag«, sagte ich, als ich neben ihm den Weg hinaufging.

»Soweit ich’s verstanden habe, werden Sie meinen Jüngsten in der Klasse haben. Stig. Er geht in die Vierte.«

»Haben Sie viele Kinder?«, erkundigte ich mich.

»Vier«, antwortete er. »Zwei wohnen zu Hause. Johannes und Stig. Tone und Ruben leben in Tromsø.«

Ich blickte über den Ort, während wir hinaufgingen. Ein paar Leute standen vor einem Haus, in dem der Kaufmann seinen Laden haben musste, davor parkten einige Autos. Vor einer Bude an der oberen Straße standen einige Jungen mit Fahrrädern.

Weit draußen kam ein Boot auf dem Fjord herein.

Unten am Hafen schrien die Möwen.

»Wie viele Einwohner hat der Ort eigentlich?«, erkundigte ich mich.

»Ungefähr zweihundertfünfzig«, sagte er. »Es kommt darauf an, ob man die Jugendlichen, die außerhalb zur Schule gehen, mitzählt oder nicht.«

Wir blieben vor einem schwarz gebeizten Haus aus den Siebzigern stehen, dessen Eingangstür hinter einem Windfang lag.

»Hier ist es«, erklärte er. »Gehen Sie ruhig rein. Es müsste offen sein. Aber Sie können auch gleich den Schlüssel haben.«

Ich öffnete die Tür und trat in den Flur, stellte meine Koffer ab und nahm den Schlüssel entgegen. Es roch, wie es in Häusern riecht, in denen eine Weile niemand gewohnt hat. Ein schwacher, fast waldartiger Geruch nach Feuchtigkeit und Schimmel.

Ich schob die halb offene Tür auf und betrat das Wohnzimmer. Orangefarbene Auslegeware auf dem Fußboden. Ein dunkelbrauner Schreibtisch, ein dunkelbrauner Wohnzimmertisch und eine kleine Sofagruppe mit dunkelbraunen und orangefarbenen Bezügen, ebenfalls aus dunklem Holz. Zwei große sprossenlose Fenster nach Norden.

»Sieht doch toll aus«, sagte ich.

»Die Küche ist hier.« Er wies auf eine Tür am Ende des kleinen Wohnzimmers. Dann drehte er sich um. »Und das Schlafzimmer dort.«

Die Tapete in der Küche zeigte ein bekanntes Muster aus den Siebzigern, gelblich, braun und weiß. Ein kleiner Tisch stand unter dem Fenster. Ein Kühlschrank mit einem kleinen Gefrierschrank darüber. Eine Spüle auf einer niedrigen Bank aus marmoriertem Kunststoff. Auf dem Boden graues Linoleum.

»Und jetzt noch das Schlafzimmer«, sagte er. Und blieb in der Tür stehen, als ich hineinging. Der Teppich auf dem Boden war dunkler als im Wohnzimmer, die Tapete hell, und abgesehen vom Bett bestand der Raum aus dem gleichen Material wie die übrigen Möbel. Teak oder Teakimitation.

»Perfekt!«, sagte ich.

»Haben Sie Bettzeug dabei?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das kommt mit dem Umzugswagen.«

»Wenn Sie wollen, können wir Ihnen etwas leihen.«

»Das wäre schön.«

»Ich werd damit hochkommen«, sagte er. »Und wenn Sie irgendetwas wissen wollen, was auch immer, kommen Sie einfach runter. Wir haben hier keine Angst, uns gegenseitig zu besuchen!«

»Nein, sicher nicht. Vielen Dank.«

Durch eines der Fenster im Wohnzimmer sah ich ihm nach, während er zu seinem Haus hinunterging, das vielleicht zwanzig Meter unterhalb von meiner Wohnung lag.

Meiner!

Wahnsinn, ich hatte eine eigene Wohnung!

Ich ging ein bisschen umher, öffnete ein paar Schubläden und sah in ein paar Schränke, bis der Hausmeister mit einem Haufen Bettwäsche im Arm zurückkam. Als er gegangen war, begann ich die paar Sachen, die ich mitgebracht hatte, auszupacken. Meine Klamotten, ein Handtuch, die Schreibmaschine, ein paar Bücher, einen Stapel Schreibmaschinenpapier. Ich zog den Schreibtisch unter eines der Fenster im Wohnzimmer, stellte die Schreibmaschine darauf, zog die Stehlampe heran und legte die Bücher aufs Fensterbrett, dazu die Ausgabe der literarischen Zeitschrift Vinduet, die ich in Oslo gekauft hatte und abonnieren wollte. Daneben stapelte ich die fünfzehn, zwanzig Kassetten, die ich mitgenommen hatte, und neben den Papierstapel legte ich den Walkman und die Ersatzbatterien auf den Schreibtisch.

Als mein Arbeitsplatz so weit eingerichtet war, packte ich meine Sachen in den Schrank im Schlafzimmer, verstaute die Koffer auf dem obersten Schrankbrett und blieb eine Weile im Zimmer stehen, ohne zu wissen, was ich nun tun sollte.

Ich hätte gern jemanden angerufen und erzählt, wie es hier war, aber in der Wohnung gab es kein Telefon. Sollte ich im Ort nach einer Telefonzelle suchen?

Außerdem hatte ich Hunger.

Vielleicht an der imbissähnlichen Bude? Sollte ich dorthin gehen?

Hier gab es jedenfalls nichts mehr zu erledigen.

Vor dem Spiegel des kleinen Badezimmers, das vom Flur abging, setzte ich mir die schwarze Baskenmütze auf. Draußen blieb ich ein paar Sekunden auf der kleinen Treppe vor der Haustür stehen und blickte hinunter. Das Dorf und alle, die darin wohnten, ließen sich mit einem Blick übersehen. Nicht gerade ein Ort, an dem man sich verstecken konnte. Als ich die asphaltierte Straße hinunterging, auf der ganz oben eine Kiesschicht lag, fühlte ich mich vollkommen durchsichtig.

Vor dem Imbiss hingen ein paar Jungs herum, die vielleicht fünfzehn Jahre alt sein mochten. Ihre Unterhaltung geriet ins Stocken, als ich erschien. Ich ging vorbei, ohne sie anzusehen, stieg die Treppe zu der verandaartigen Plattform hinauf und trat an die Öffnung, die in dem bleichen, beinahe niedrigen Spätsommerabendlicht gelblich aufleuchtete.

Das Fenster war so gut wie komplett von Fett verschmiert. Ein Kerl, ungefähr so alt wie die Jungs hinter mir, tauchte an der Fensteröffnung auf. Lange schwarze Koteletten, braune Augen, schwarze Haare.

»Einen Hamburger und eine Cola«, sagte ich. Und hörte genau hin, ob das Murmeln hinter mir sich auf mich bezog. Aber nein. Ich zündete eine Zigarette an und ging auf der Terrasse ein wenig auf und ab, während ich wartete. Der junge Kerl hängte eine netzähnliche Vorrichtung voller roher Kartoffelstreifen ins kochende Fett. Legte einen Hamburger auf die Grillplatte. Abgesehen von dem leisen Zischen und den jetzt hektischen Stimmen hinter mir war es ganz ruhig. In den Häusern auf der Fjordinsel brannte Licht. Der Himmel darüber kam mir niedrig vor, dafür aber umso höher an der Mündung zum Meer, blaugrau und ein wenig verschleiert, allerdings noch lange nicht dunkel.

Die Stille war nicht erdrückend, sie war weit.

Aber nicht für uns, dachte ich aus irgendeinem Grund. Hier war die Stille schon immer so gewesen, lange bevor es Menschen gab; und sie würde noch genauso sein, lange nachdem die Menschen verschwunden waren. Hier in dieser Bergschale, mit dem Meer direkt davor.

Wo endete es eigentlich? Amerika?

Ja, so musste es sein. Neufundland.

»Hier ist dein Hamburger«, sagte der junge Kerl und stellte eine Styroporschachtel mit einem Hamburger, ein paar Salatblättern, einer Vierteltomate und einem Haufen Pommes frites auf das Brett vor der Luke. Ich bezahlte, nahm die Schachtel und wollte gehen.

»Bist du der neue Lehrer?«, fragte einer der Jungs, der über seinem Fahrradlenker hing.

»Ja«, antwortete ich.

»Du kriegst uns«, sagte er, spuckte aus und schob seine Kappe in die Stirn. »Wir gehen in die Neunte. Und er geht in die Achte.«

»Ach ja?«

»Ja«, sagte er. »Du kommst aus dem Süden?«

»Aus Sørlandet.«

»Ja, ja«, nickte er, als würde er mir gerade mitteilen, dass die Audienz vorbei ist und ich gehen dürfe.

»Wie heißt ihr?«, erkundigte ich mich.

»Das erfährst du noch früh genug.«

Sie lachten. Ich lächelte, als wäre es mir egal, aber ich fühlte mich dumm, als ich an ihnen vorbeiging. Er hatte mich ausgetrickst.

»Und wie heißt du?«, schrie er mir nach.

Ich drehte mich im Weitergehen um.

»Micky«, sagte ich. »Micky Maus.«

»Und Komiker ist er auch noch!«, brüllte der Junge.

Nachdem ich zu Hause den Hamburger gegessen hatte, zog ich mich aus und ging zu Bett. Es war erst neun und das Zimmer so hell wie um die Mittagszeit eines graubedeckten Tags. Die Stille, die sich über alles gelegt hatte, verstärkte die Geräusche jeder meiner Bewegungen, und obwohl ich müde war, dauerte es auch an diesem Abend einige Stunden, bevor ich einschlief.

Ich erwachte mitten in der Nacht, als irgendwo eine Tür ging. Unmittelbar danach ertönten Schritte auf dem Stockwerk über mir. Im Halbschlaf stellte ich mir vor, ich läge in Vaters Büro im Haus in Tybakken und er ginge oben auf und ab. Wie um alles in der Welt war ich hier gelandet? Dieser Gedanke spukte mir noch durch den Kopf, bevor ich wieder in der Dunkelheit verschwand. Das nächste Mal erwachte ich in Panik.

Wo war ich?

Im Haus in Tybakken? Im Haus in Tveit? In Yngves möbliertem Zimmer? Der Jugendherberge von Tromsø?

Ich setzte mich im Bett auf.

Meine umherirrenden Blicke blieben nirgendwo hängen, nichts von dem, was ich sah, ergab irgendeinen Sinn. Als würde mein ganzes Ich eine glatte Wand hinuntergleiten.

Dann fiel es mir ein.

Håfjord, ich war in Håfjord.

In meiner eigenen Wohnung in Håfjord.

Ich ließ mich ins Bett zurücksinken und rekapitulierte noch einmal die Reise hierher. Dann stellte ich mir den Ort dort draußen vor den Fenstern vor, all die Menschen in all den Häusern, die ich nicht kannte und die mich nicht kannten. Ein Gefühl, das Erwartung sein konnte, aber auch Furcht oder Unsicherheit. Ich stand auf und ging in das winzige Badezimmer, duschte und zog das grüne, fast seidenartige Hemd und die schwarze weite Jeans an, dann stand ich eine Weile am Fenster und sah hinunter zum Kaufmann; dort musste ich mir etwas zum Frühstück kaufen, aber nicht sofort.

Ein paar Autos standen auf dem Parkplatz vor dem Laden. Zwischen den Wagen eine kleine Gruppe Menschen. Hin und wieder kam jemand mit Einkaufstüten aus der Tür.

Nein, ich könnte es ebenso gut auch sofort erledigen.

Ich ging in den Flur und zog meinen Mantel, die Baskenmütze und die weißen Basketballschuhe an, warf einen Blick in den Spiegel, korrigierte den Sitz der Mütze, zündete mir eine Zigarette an und ging hinaus.

Der Himmel war ebenso mild und grau wie gestern. Auf der gegenüberliegenden Seite des Fjords versanken die Berge senkrecht im Meer. Sie hatten etwas Brutales, plötzlich sah ich es vor mir, sie nahmen keine Rücksicht, als wären sie an einem anderen Ort und gleichzeitig hier.

Fünf Leute standen jetzt dort unten. Zwei waren alt, bestimmt fünfzig, die übrigen drei sahen aus, als wären sie ein paar Jahre älter als ich.

Ich wusste, dass sie mich längst gesehen hatten, es ließ sich gar nicht vermeiden; vermutlich passierte es auch nicht jeden Tag, dass eine unbekannte Person in einem langen schwarzen Mantel den Hügel herunterkam.

Ich steckte mir die Zigarette in den Mund und zog so fest, dass der Filter heiß wurde.

Rechts und links von der Tür hingen weiße Plastikfahnen mit Reklame für die Zeitung Verdens Gang. Das Fenster war übersät von grünen und orangefarbenen Pappschildern mit verschiedenen handschriftlichen Angeboten.

Ich war jetzt fünfzehn Meter entfernt.

Sollte ich grüßen?

Mit einem freundlichen, einfachen Hej?

Stehen bleiben und mit ihnen reden?

Sagen, dass ich der neue Lehrer bin, ein paar Witze darüber reißen?

Einer von ihnen sah mich an. Ich nickte.

Er nickte nicht zurück.

Hatte er es nicht gesehen? War mein Nicken so beiläufig gewesen, dass es aussah, als hätte ich nur meine Kopfhaltung ein wenig geändert? Oder wie ein Zucken?

Ihre Anwesenheit war wie ein Messerstich. Einen Meter vor der Ladentür warf ich meine Zigarette auf den Boden, blieb stehen und trat sie aus.

Konnte ich die Kippe liegen lassen? Abfall produzieren? Oder sollte ich sie aufheben?

Nein, das schien mir dann doch etwas zu pedantisch, oder?

Scheiße, ich lass sie liegen, das sind Fischer, die schmeißen ihre Zigarettenkippen auch einfach weg!

Ich legte die Hand auf die Tür und schob sie auf, nahm einen der roten Einkaufskörbe und ging zwischen den Regalen den Gang hinunter. Eine vielleicht fünfunddreißig Jahre alte rundliche Frau hielt eine Packung Brühwürstchen in der Hand und sagte etwas zu einem Mädchen, bei der es sich offensichtlich um ihre Tochter handelte. Dünn und schlaksig stand sie mit einem mürrischen, widerwilligen Gesichtsausdruck neben ihrer Mutter. Auf der anderen Seite der Frau beugte sich ein vielleicht zehnjähriger Junge über den Ladentisch und suchte irgendetwas. Ich legte ein Weizenkornbrot in den Korb, eine Tüte Ali-Kaffee und eine Packung Earl-Grey-Tee. Die Frau warf mir einen Blick zu und ließ die Würstchenpackung in den Korb fallen, dann ging sie mit dem Mädchen zum anderen Ende des Ladens, der Junge zockelte hinter ihr her. Ich ließ mir Zeit, ging umher, sah mir das Angebot an und nahm mir einen Käse, eine Packung Leberpastete und eine Tube Mayonnaise aus der Kühltruhe. Dann legte ich einen Karton Milch und eine Packung Margarine in den Einkaufskorb und ging an den Tresen, wo die Frau gerade ihren Einkauf in einer Tüte verstaute, während ihre Tochter neben ihr stand und irgendetwas auf einem Anschlagbrett mit Kleinanzeigen an der Tür las.

Der Kaufmann nickte mir zu.

»Hej«, grüßte ich und legte meinen Einkauf vor ihn.

Er war von kleiner, gedrungener Statur, mit einem breiten Gesicht und einer gebogenen Nase, das kräftige Kinn bedeckte ein Teppich schwarzer und grauer Bartstoppel.

»Sie sind wohl der neue Lehrer?«, fragte er, während er die Preise in die Kasse eintippte. Bei den Kleinanzeigen drehte sich das Mädchen um und sah mich an.

»Ja«, sagte ich. »Bin gestern angekommen.«

Der Junge fasste nach ihrem Arm, sie zog ihn hastig zurück und verließ den Laden. Der Junge folgte ihr, einen Augenblick später auch die Mutter.

Apfelsinen brauchte ich. Und Äpfel.

Ich lief zu der kleinen Obsttheke, steckte vorsichtig einige Apfelsinen in eine Tüte, griff nach ein paar Äpfeln und ging zurück zur Kasse, wo der Kaufmann gerade die letzten Zahlen eintippte. »Und eine Packung Drehtabak und Papier. Und das Dagbladet.«

»Sie kommen aus dem Süden?«, fragte er.

Ich nickte. »Kristiansand.«

Ein älterer Mann mit Schiebermütze betrat den Laden.

»Tag Bertil!«, rief er.

»Ach, du bist’s!«, erwiderte der Kaufmann und blinzelte mir zu. Ich lächelte, bezahlte, packte den Einkauf in eine Tüte und ging nach draußen. Einer von denen, die vor der Tür standen, nickte, ich nickte zurück, dann war ich außerhalb ihrer Reichweite.

Oben auf dem Hügel blickte ich auf den Berg, der sich am Ende des Orts erhob. Er war bis obenhin grün, und das war vielleicht das Überraschendste an dieser Landschaft hier. Ich hatte etwas Karges und Farbloses erwartet, nicht diesen Grünton, der sich hier fast überall ergoss – übertönt nur vom gewaltigen Grau und Blau des Meeres.

Es war ein gutes Gefühl, in die Wohnung zurückzukommen. Schließlich war es die erste Wohnung, die ich als meine eigene bezeichnen konnte, und ich genoss selbst die trivialsten Handbewegungen wie das Aufhängen des Mantels oder das Einräumen der Milch in den Kühlschrank. Sicher, im Sommer hatte ich einen Monat in einer kleinen Wohnung des psychiatrischen Krankenhauses von Eg verbracht; Mutter hatte mich hingefahren, als ich aus dem Haus zog, in dem wir die letzten fünf Jahre gewohnt hatten. Aber das war keine richtige Wohnung gewesen, nur ein Zimmer auf einem Flur mit anderen Zimmern, in denen früher alleinstehende Krankenschwestern gewohnt hatten, daher der Name »Hühnerhaus«. So wie auch der Job, den ich dort hatte, kein ordentlicher Job gewesen war, sondern nur eine kurze Sommervertretung ohne irgendwelche Verantwortung. Außerdem hatte dieses Zimmer in Kristiansand gelegen. Es war mir unmöglich, mich in Kristiansand frei zu fühlen, dort gab es zu viele reale und eingebildete Verbindungen mit zu vielen Menschen; in dieser Stadt hätte ich nie tun können, was ich wollte.

Aber hier!, dachte ich und aß eine Scheibe Brot, während ich aus dem Fenster sah. Das Spiegelbild der Berge auf der anderen Seite des Fjords wurde kaleidoskopisch von den kleinen Bewegungen im Wasser gebrochen. Hier wusste niemand, wer ich war, hier gab es keine Verbindungen, keine festgelegten Muster, hier konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Ich würde ein Jahr im Verborgenen leben und schreiben, heimlich etwas aufbauen. Oder es einfach ruhig angehen lassen und Geld zur Seite legen. Es war nicht so wichtig. Das Wichtigste war, dass ich hier war.

Ich goss mir Milch ins Glas und leerte es in wenigen langen Zügen. Stellte es zusammen mit dem Teller und dem Messer in die Spüle, legte den Aufschnitt in den Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer. Ich steckte den Stecker der Schreibmaschine in die Steckdose, setzte meine Kopfhörer auf, drehte auf volle Lautstärke, zog ein Blatt in die Walze der Schreibmaschine, schob den Kopf in die Mitte und schrieb ganz oben auf die Seite eine Eins. Blickte auf das Haus des Hausmeisters. Ein Paar grüne Gummistiefel standen auf dem Trittbrett zur Haustür. Ein Besen mit roten Borsten lehnte an der Wand. Ein Paar kleine Spielautos lagen in der Mischung aus Kies und Sand, die den Platz vor der Tür überzog. Zwischen den beiden Häusern wuchsen Moos, Flechten, ein bisschen Gras, einige wenige dürre Bäume. Ich schlug im Takt der Musik mit dem Zeigefinger auf die Schreibtischkante. Und schrieb einen Satz. »Gabriel stand am Ende der Ebene und blickte mit einem missmutigen Gesichtsausdruck über das Neubaugebiet.«

Ich rauchte eine Zigarette, ich kochte eine Kanne Kaffee, ich schaute über den Ort und den Fjord und hinauf zu den Bergen auf der anderen Seite. Und schrieb einen weiteren Satz. »Hinter ihm tauchte Gordon auf.« Sang den Refrain mit. Schrieb. »Er grinste wie ein Wolf.« Schob den Stuhl zurück, legte die Füße auf die Schreibtischkante, zündete eine neue Zigarette an.

Das war doch nicht schlecht, oder?

Ich griff nach Hemingways Der Garten Eden und blätterte ein bisschen darin herum, um ein Gefühl für die Sprache zu bekommen. Hilde hatte mir das Buch vor zwei Tagen zum Abschied geschenkt, auf dem Bahnhof von Kristiansand, als ich nach Oslo fuhr, um von dort aus nach Tromsø zu fliegen. Lars war auch gekommen, und Eirik, Hildes Freund. Außerdem Line, die mich bis Oslo begleitete und dort Abschied nahm.

Erst jetzt entdeckte ich die Widmung auf dem Vorsatzblatt. Ich hätte eine ganz besondere Bedeutung für sie, hatte sie geschrieben.

Ich zündete eine weitere Zigarette an und sah aus dem Fenster, während ich darüber nachdachte.

Was konnte ich ihr bedeuten?

Sie hatte etwas in mir gesehen, das ahnte ich, aber ich wusste nicht, was sie in mir gesehen hatte. Mit ihr befreundet zu sein, hieß, von ihr umsorgt zu werden. Doch Fürsorge, die aus Verständnis herrührt, führt gleichzeitig auch immer dazu, dass derjenige, der sie erlebt, kleiner wird. Eigentlich war das kein Problem, und doch hatte ich dieses Gefühl.

Ich war es nicht wert. Ich tat so, als wäre ich es, und merkwürdigerweise hielt sie an mir fest, denn im Grunde begriff sie solche Dinge genau. Hilde war die Einzige, die ich kannte, die vernünftige Bücher las, und die Einzige, von der ich wusste, dass sie auch schrieb. Wir waren zwei Jahre in dieselbe Klasse gegangen, und sie war mir sofort aufgefallen, sie hatte eine ironische, hin und wieder auch rebellische Einstellung zu dem, was im Klassenzimmer gesagt wurde. So etwas hatte ich bei einem Mädchen noch nie erlebt. Sie verachtete es, wenn die anderen Mädchen sich schminkten oder stets bescheiden und höflich auftraten, sie wirkten ihrer Meinung nach dadurch so kindlich. Allerdings sagte sie es ihnen nicht aggressiv oder verbittert, nein, dafür war sie zu schlau und zu fürsorglich. Im Grunde hatte sie ein sanftes Wesen, allerdings gab es darin auch eine gewisse Schärfe, etwas ungewohnt Eigensinniges, das mich immer häufiger in ihre Richtung blicken ließ. Sie war blass und dünn, mit hellen Sommersprossen und rotblonden Haaren. Ganz im Gegensatz zu ihrer robusten Art war sie körperlich geradezu zerbrechlich. Bei einem weniger scharfen und selbstständigen Charakter hätte man möglicherweise das Bedürfnis gehabt, sich um sie zu kümmern und auf sie achtzugeben; aber das war überhaupt nicht notwendig, ganz im Gegenteil, es war Hilde, die sich um die Menschen kümmerte, die ihr nahe kamen. Meist trug sie eine grüne Militärjacke und einfache Blue Jeans, ihre Kleidung sollte ihre linke Einstellung signalisieren – wenn es allerdings um Kultur ging, stand sie auf der anderen Seite, da war sie gegen Materialismus und für den Geist. Sie stellte also das Innere über das Äußere. Deshalb machte sie sich auch über Autoren wie Solstad und Faldbakken lustig, Fallosbäcker nannte sie ihn. Sie mochte Bjørneboe, Kaj Skagen und André Bjerke.

Hilde war meine engste Vertraute gewesen. Eigentlich war sie meine beste Freundin. Ich ging bei ihr ein und aus, ich lernte ihre Eltern kennen, und es kam vor, dass ich bei ihnen zu Abend aß und übernachtete. Hilde und ich redeten, manchmal mit Eirik, dann wieder allein. Mit einer Flasche Wein zwischen uns saßen wir im Schneidersitz auf dem Boden ihrer Kellerwohnung, vor den Fenstern dunkle Nacht, wir sprachen über Bücher, die wir gelesen hatten, über politische Fragen, die uns beschäftigten, was uns im Leben erwartete, was wir wollten und was wir konnten. Sie betrachtete das Leben mit einer großen Ernsthaftigkeit, im Grunde war sie die einzige mir bekannte Gleichaltrige, die so etwas tat; und sie empfand wohl dasselbe bei mir. Gleichzeitig lachte sie viel und konnte sehr schnell ironisch werden. Es gab nur wenige Dinge, die ich lieber mochte, als mit ihr und Eirik, hin und wieder auch mit Lars, bei ihr zu Hause zu sein. Allerdings passierten gleichzeitig auch andere Dinge in meinem Leben, die damit unvereinbar waren, und so hatte ich ein konstant schlechtes Gewissen: Ich trieb mich herum und trank in Diskotheken, und wenn ich die Mädchen anzubaggern versuchte, hatte ich ein schlechtes Gewissen gegenüber Hilde und all dem, was uns verband. War ich bei Hilde und unterhielt mich mit ihr über Freiheit oder Schönheit oder den Sinn des Ganzen, bekam ich ein schlechtes Gewissen jenen gegenüber, mit denen ich ausging. Oder ich hatte ein schlechtes Gewissen einfach nur wegen meines Verhaltens, weil die Doppelmoral und die Heuchelei, über die Hilde, Eirik und ich so oft redeten, auch in meinem eigenen Herzen zu finden waren. Politisch orientierte ich mich weit links, an der Grenze zum Anarchismus; ich hasste das Konforme und Stereotype, und wie alle anderen alternativen Jugendlichen aus Kristiansand verachtete ich das Christentum und all die Idioten, die daran glaubten und zu den Treffen mit diesen stupid-charismatischen Pastoren gingen.

Allerdings verachtete ich nicht die Mädchen, die sich als Christinnen verstanden. Nein, aus irgendeinem merkwürdigen Grund zogen sie mich besonders an. Wie sollte ich das Hilde erklären? Und obwohl ich wie sie immer versuchte, nicht nur das Oberflächliche zu sehen, sondern ob es eine darunterliegende, unausgesprochene Einsicht in das Wahre oder Eigentliche gab, und obwohl Hilde immer nur das Sinnvolle zu finden suchte, auch wenn es nur in der Erkenntnis des Sinnlosen bestand, wollte ich in dieser glitzernden und verlockend schönen Oberflächlichkeit leben und den Becher der Sinnlosigkeit leeren – kurz gesagt zogen mich all die Diskotheken und Lokale der Stadt an, in denen ich nichts anderes wollte, als mich sinnlos zu betrinken und auf die Jagd nach Mädchen zu gehen, die ich vögeln oder zumindest küssen konnte. Wie sollte ich das Hilde erklären?

Ich konnte es nicht, und ich tat es auch nicht. Stattdessen eröffnete ich eine neue Unterabteilung in meinem Leben. »Suff und Hoffnung auf Hurerei« hieß sie und lag direkt neben der Abteilung für »Einsicht und Innerlichkeit«, getrennt nur durch eine kleine, gartenzaunartige Persönlichkeitsänderung.

Line war Christin. Nicht unbedingt auffällig, aber sie war es, und ihre Anwesenheit am Bahnhof, so dicht bei mir, war mir in gewisser Hinsicht unangenehm.

Sie hatte schwarze lockige Haare, markante Augenbrauen und klare blaue Augen. Sie bewegte sich graziös und war auf diese seltene Art selbstständig, mit der man niemanden belästigt. Sie zeichnete gern, und möglicherweise hatte sie sogar Talent; nach meiner Abreise wollte sie eine Kunsthochschule besuchen. Ich war nicht verliebt in sie, aber sie war hübsch; ich hatte sie unglaublich gern, und hin und wieder, wenn wir uns etwas Weißwein geteilt hatten, bekam ich durchaus intensivere Gefühle für sie. Das Problem bestand darin, dass sie klare Grenzen hatte, wie weit wir gehen durften. In den Wochen, in denen wir zusammen waren, hatte ich sie zwei Mal angebettelt, als wir bei ihr zu Hause oder in meinem Zimmer im Hühnerhaus halbnackt im Bett lagen und uns küssten. Aber nein, nicht für mich hatte sie sich aufgespart.

»Aber ich kann dich doch von hinten nehmen!«, rief ich einmal in meiner Verzweiflung, ohne wirklich zu wissen, was das bedeutete. Line legte sich mit ihrem geschmeidigen Körper zu mir und bedeckte mich mit Küssen. Wenige Sekunden später spürte ich dieses verhasste Zucken im Unterleib, die Unterhose füllte sich mit Samen, und ich rückte diskret von ihr ab. In ihrer Lust, mich zu necken, merkte sie nicht, dass meine Stimmung sich von einem Augenblick zum anderen vollkommen verändert hatte.

Auf dem Bahnsteig stand sie mit den Händen in den Gesäßtaschen und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken neben mir. In sechs Minuten sollte der Zug abfahren. Noch immer stiegen Leute ein.

»Ich gehe noch mal kurz zum Kiosk«, sagte sie und sah mich an. »Möchtest du auch etwas?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Oder vielleicht doch, eine Cola.«

Sie lief zum Kiosk der Narvesen-Kette. Hilde sah mich an und lächelte. Lars zwinkerte mit den Augen. Eirik blickte über das Hafengebiet.

»Ich werde dir einen Rat geben, jetzt, wo du auf eigene Faust ins Leben trittst«, sagte er und drehte sich um.

»Ja?«

»Denk nach, bevor du handelst. Und sorg dafür, dass du nie auf frischer Tat ertappt wirst. Dann schaffst du es. Wenn du zum Beispiel möchtest, dass eine deiner Schülerinnen dir einen bläst, dann um Gottes willen hinter dem Lehrerpult. Nicht davor. Verstehst du?«

»Fällt das nicht unter Doppelmoral?«, sagte ich.

Er lachte.

»Und wenn du dort oben eine Freundin findest, die du schlagen musst, dann verprügle sie so, dass man die blauen Flecken nicht sieht«, fügte Hilde hinzu. »Nie ins Gesicht, egal wie gern du es auch möchtest.«

»Du meinst, ich sollte zwei Freundinnen haben? Eine hier unten und eine dort oben?«

»Warum nicht?«, sagte sie.

»Eine, die du verprügelst, und eine, die du nicht verprügelst«, sagte Eirik. »Ausgeglichener geht es nicht.«

»Weitere Ratschläge?«, fragte ich.

»Ich habe im Fernsehen mal ein Interview mit einem alten Schauspieler gesehen«, sagte Lars. »Er wurde gefragt, ob er im Laufe seines langen Lebens Erfahrungen gemacht habe, die er dem Publikum mitteilen wolle. Aber gern, hat er gesagt. Es gehe um Duschvorhänge. Sie müssten immer hinter dem Rand der Duschkabine hängen, nicht davor. Wenn sie vor dem Rand hängen, ist hinterher der gesamte Fußboden nass.«

Wir lachten. Lars sah sich amüsiert um.

Hinter ihm tauchte Line auf, mit leeren Händen.

»Die Schlange war zu lang«, sagte sie. »Aber es gibt sicher ein Bordbistro.«

»Bestimmt«, sagte ich.

»Wollen wir?«

»Okay«, sagte ich. »Das war’s, wie Fleksnes in seiner Comedy-Serie immer sagt. Für mich nie wieder Kristiansand!«

Einer nach dem anderen umarmte mich. Ich hatte damit in der Oberstufe angefangen, jedes Mal, wenn wir uns sahen, umarmten wir uns.

Ich schnallte mir den Rucksack um, nahm meine beiden Koffer und folgte Line in den Zug. Sie winkten ein paar Mal, dann setzte sich der Zug in Bewegung, und sie gingen langsam in Richtung Parkplatz.

Kaum zu glauben, dass dies erst zwei Tage her war.

Ich legte das Buch beiseite und las die drei Sätze, die ich geschrieben hatte, dabei drehte ich mir eine neue Zigarette und trank einen Schluck lauwarmen Kaffee.

Unten am Laden war nicht mehr so viel Betrieb. Ich holte mir einen Apfel aus der Küche und setzte mich wieder an den Schreibtisch. In der folgenden Stunde schrieb ich drei Seiten. Es ging um zwei Kerle in einem Wohnviertel, und soweit ich es beurteilen konnte, war es gut. Vielleicht noch drei Seiten, dann wäre es fertig. Gar nicht übel, gleich am ersten Tag hier oben eine Erzählung zu beenden. Wenn es so weiterging, hätte ich bis Weihnachten einen ganzen Band mit Erzählungen!

Als ich den Kaffeesatz aus dem Kessel spülte, sah ich, wie ein Auto vom Laden die Straße herauffuhr. Es hielt vor dem Haus des Hausmeisters, zwei Männer, die ungefähr Mitte zwanzig sein mochten, stiegen aus. Beide waren kräftig gebaut, der eine großgewachsen, der andere etwas kleiner und rundlicher. Ich hielt den Kessel unter den Wasserhahn, bis er voll war, und stellte ihn auf den Herd. Die beiden Männer kamen den Hügel herauf. Ich trat einen Schritt beiseite, damit sie mich nicht durchs Fenster sahen.

Ihre Schritte stoppten direkt vor dem Windfang.

Wollten sie zu mir?

Der eine sagte etwas zu dem anderen. Der Klingelton der Türklingel schrillte durch die Wohnung.

Ich trocknete mir die Hände an den Oberschenkeln ab, ging in den Flur und öffnete die Tür.

Der Kleinere streckte die Hand aus. Ein viereckiges Gesicht, schiefes Kinn, kleiner Mund, wachsame Augen. Er hatte einen schwarzen Oberlippenbart und Bartstoppeln auf den Wangen. Um den Hals eine dicke Goldkette.

»Remi«, stellte er sich vor.

Verwirrt griff ich nach seiner Hand.

»Karl Ove Knausgård«, erwiderte ich.

»Frank«, sagte der Große und streckte eine enorme Pranke aus. So viereckig das Gesicht Remis war, so rund war seins. Rund und fleischig. Große Lippen, die Haut schimmerte beinahe rosa. Helle, dünne Haare. Er sah aus wie ein großes Kind. Seine Augen waren freundlich, auch wie bei einem Kind.

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte der, der Remi hieß. »Wir haben gehört, dass du allein bist, und dachten, vielleicht hättest du gern ein bisschen Gesellschaft. Du kennst ja noch niemanden hier im Ort.«

»Oh«, sagte ich. »Das ist aber nett. Kommt rein!«

Ich trat einen Schritt zurück. Nett! Woher zum Teufel hatte ich denn diesen Ausdruck? War ich fünfzig?

Sie blieben im Wohnzimmer stehen und sahen sich um. Remi nickte ein paar Mal.

»Harrison hat letztes Jahr hier gewohnt«, sagte er.

Ich sah ihn an.

»Der letzte Aushilfslehrer«, erklärte er. »Wir haben oft hier gesessen. War ein Pfundskerl.«

»Ein Supertyp«, fügte Frank hinzu.

»Hat nie nein gesagt«, sagte Remi. »Viele vermissen ihn. Dürfen wir uns setzen?«

»Ja, sicher. Wollt ihr einen Kaffee? Steht drüben.«

»Kaffee, ja, danke.«

Sie zogen ihre Jacken aus, legten sie auf die Armlehne und setzten sich aufs Sofa. Ihre Körper ähnelten Tonnen. Die Oberarme von Frank waren so dick wie meine Oberschenkel. Selbst als ich mit dem Rücken zu ihnen vor der Spüle stand, spürte ich ihre Anwesenheit, sie füllte die gesamte Wohnung aus und gab mir das Gefühl, schwach und mädchenhaft zu sein.

»Das ist aber nett.« »Wollt ihr einen Kaffee?«

Ach verflucht, ich hatte ja gar keine Tassen! Nur die eine, die ich mitgenommen hatte.

Ich öffnete die Schränke über der Spüle. Leer, natürlich. Ich sah in den Unterschränken nach. Dort, direkt neben dem Abwasserrohr, stand ein Glas. Ich spülte es, streute ein bisschen Kaffee in den Kessel, stupste ihn ein paar Mal auf die Platte und trug ihn ins Wohnzimmer. Ich sah mich nach etwas um, worauf ich den Kessel abstellen konnte.

Es wurde Der Garten Eden.

»Na«, sagte Remi. »Weißt du was, Karl Ove?«

Unangenehm berührt, dass ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, meinen Namen so vertraulich aussprach, spürte ich, wie ich rot wurde.

»Nein, keine Ahnung.«

»Wir gehen heute Abend auf eine Fete«, erklärte Frank. »In Gryllefjord. Kommst du mit?«

»Im Auto ist noch ein Platz frei, und du hast ja noch keine Zeit gehabt, zum Alkoholladen zu gehen. Deshalb haben wir auch Schnaps für dich dabei. Was sagst du?«

»Ich weiß nicht recht.«

»Weißt nicht recht? Willst du lieber in dieser leeren Wohnung hocken und ersticken?«

»Lass den Mann selbst entscheiden!«, warf Frank ein.

»Ja, ist schon klar.«

»Ich wollte eigentlich ein bisschen arbeiten«, sagte ich.

»Arbeiten? Was denn?«, fragte Remi. Doch sein Blick ruhte längst auf der Schreibmaschine. »Schreibst du?«

Wieder wurde ich rot.

»Ein bisschen«, erwiderte ich und zuckte die Achseln.

»Ah, ein Schriftsteller!«, sagte Remi. »Nicht schlecht.«

Er lachte.

»Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein einziges Buch gelesen. Nicht mal, als ich zur Schule ging. Ich hab’s immer vermeiden können. Du etwa?« Er sah Frank an.

»Ja, viele. Die ganzen Cocktail-Bücher, weißt du.«

Beide lachten laut auf.

»Zählen Pornos?«, fragte Remi und sah mich an. »Du bist doch Schriftsteller. Ist Cocktail Literatur?«

Ich lächelte angestrengt.

»Ein Buch ist ein Buch«, sagte ich.

Es entstand eine Pause.

»Du kommst aus Kristiansand, wie ich höre?«, erkundigte sich Frank.

ENDE DER LESEPROBE

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Die norwegische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Min Kamp 4« im Verlag Oktober, Oslo.Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich dafür.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2010

Forlaget Oktober as, Oslo

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Regina Kammerer

Herstellung: hag

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-10207-4www.luchterhand-literaturverlag.de

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