Leben mit einem Navy Seal - Jesse Itzler - E-Book

Leben mit einem Navy Seal E-Book

Jesse Itzler

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Beschreibung

Das ist 100 Prozent Jesse. Mache es anders und du erhältst andere Ergebnisse. So hat er es sein ganzes Leben lang gemacht und es hat wunderbar funktioniert.“ – Mike “Trainer K” Krzyzewski, Cheftrainer von Duke Basketball Der erfolgreiche US-Unternehmer Jesse Itzler hasst das Leben mit Autopilot. Wenn Routine droht, steigt er aus. Über seine extremste Erfahrung hat er Tagebuch geführt: Einen Monat lang stellte er sich einem erbarmungslosen Fitnesstraining mit einem Navy SEAL als „Untermieter“, der als der härteste Athlet auf dem Planeten gilt! Itzlers Buch wurde in Amerika prompt zum Bestseller! Der geheimnisvolle Navy SEAL ist kein geringerer als David Goggins, ehemaliger Guinness-Weltrekordhalter, der in siebzehn Stunden 4030 Klimmzüge absolvierte, gefragter Redner und selbst Bestsellerautor. Er brachte Itzler die 40-Prozent-Regel der Navy SEALs bei: „Mental stärker werden! Wenn Du aufgeben willst, denk daran: Du bist erst bei 40 Prozent Deines Potenzials.“ LEBEN MIT EINEM NAVY SEAL zeigt, wie großartig es sich anfühlt, die eigene Komfortzone zu verlassen , über sein Limit hinauszugehen und außer Muskelmasse noch ein neues Mindset und eine echte Freundschaft aufzubauen – witzig, schnörkellos und unverstellt!

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LEBEN

MIT EINEM NAVY

SEAL

31 TAGE MIT DAVID GOGGINS, DEM HÄRTESTEN MANN DER WELT

JESSE ITZLER

Jesse Itzler

Leben mit einem Navy Seal

31 Tage mit David Goggins, dem härtesten Mann der Welt

1. deutsche Auflage 2019

ISBN: 978-3-96257-088-0

© Narayana Verlag, 2019

Titel der Originalausgabe:

Living with a SEAL

31 Days Training with the Toughest Man on the Planet

© 2015 by Jesse Itzler

Übersetzung aus dem Englischen: Carla Gröppel-Wegener

Coverlayout: Jesse Itzler

Coverfoto: © Deana Levine

Abbildungen im Buch: © Jesse Itzler, Foto Jesse Itzler Seite 272: © Mekayla Roy

Herausgeber:

Unimedica im Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2, 79400 Kandern

Tel.: +49 7626 974 970-0

E-Mail: [email protected]

www.unimedica.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlags darf kein Teil dieses Buches in irgendeiner Form – mechanisch, elektronisch, fotografisch – reproduziert, vervielfältigt, übersetzt oder gespeichert werden, mit Ausnahme kurzer Passagen für Buchbesprechungen.

Sofern eingetragene Warenzeichen, Handelsnamen und Gebrauchsnamen verwendet werden, gelten die entsprechenden Schutzbestimmungen (auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind).

Die Empfehlungen dieses Buches wurden von Autor und Verlag nach bestem Wissen erarbeitet und überprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Dieses Buch widme ich meiner Mom und meinem Dad, die bei jedem Spiel, jedem Ereignis und jedem GROSSEN Moment in meinem Leben dabei waren. Und meiner Frau, die mich jeden Tag lehrt, was unerschütterliche Unterstützung und Liebe bedeuten. Außerdem erträgt sie mich so geduldig.

Meinungen zu Jesse und seinem Buch:

»George Foreman hat mir mal einen tollen Tipp gegeben. Als ich ihm erzählte, dass mein Mann 100 Meilen ohne Unterbrechung gelaufen ist, sagte er: ‚Sara, versuche gar nicht erst, so einen Mann zu verstehen. Liebe ihn einfach‘.«

— Sara Blakely, Gründerin von Spanx und Jesses’ Frau

»Die meisten von uns leben wie auf Autopilot. Neuer Tag … dieselbe Routine. Dieser Mann beamte sich für 31 Tage einen ‚realen Actionhelden‘ ins Wohnzimmer, um sein Leben durchzuschütteln. Manchmal muss man Radikales wagen, um Resultate zu sehen.«

— Dolvett Quince, Gesundheits- und Fitnesscoach bei The Biggest Loser

»Die Beziehung zwischen diesen beiden Typen ist krass … Doch zwischen all dem Wahnsinn finden sich wichtige Botschaften fürs Leben, Momente zum Totlachen und großartige Lektionen. Wie Jesse ist dieses Buch ein HIT!«

— Jake Steinfeld, Vorsitzender und Gründer von Body by Jake

Wichtiger Hinweis für die Leser

Die in diesem Buch beschriebenen Ereignisse wurden aus dem Gedächtnis wiedergegeben und in manchen Fällen gekürzt, um die Essenz des Geschehenen oder Gesagten zu vermitteln. Ich habe versucht, die zeitliche Abfolge meiner Erlebnisse nicht durcheinanderzubringen, aber es kann sein, dass sich manches in der Realität früher oder später als im Buch ereignete. Jede beschriebene Trainingseinheit ist wahr und hat sich so ereignet, trotzdem empfehle ich euch – nein, ich befehle euch – keinen der Workouts aus diesem Buch nachzumachen. Erstens will ich nicht, dass sich jemand verletzt. Zweitens will ich nicht verklagt werden.

Wie jede Aktivität, die Faktoren wie Geschwindigkeit, Ausrüstung, Ausdauer und Umwelt mit einbezieht, sind die in Living with a SEAL beschriebenen Trainingseinheiten mit einem sehr ernsten Risiko verbunden. Jeder Leser sollte die volle Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen und seine persönlichen Grenzen kennen. Als Trainer kannte sich SEAL mit der Materie aus und für jeden meiner Workouts kalkulierte er meine Erfahrung, meine Tauglichkeit und mein Fitnesslevel mit ein – und wie viel ich aushalte.

Während meiner Zeit mit SEAL führte ich detailliert Tagebuch, woraus schnell ein Blog wurde. Er war primär für Freunde und Familie gedacht, doch umso wahnsinniger das Training wurde, umso größer wurde das Publikum. Daraus entstand dieses Buch.

Euch wird sicher gleich auffallen, dass der Navy SEAL, mit dem ich trainierte, auf den folgenden Seiten nur als »SEAL« bezeichnet wird. Er forderte mich auf, hier nicht mit Namen genannt zu werden. Und »bitte« hat er auch nicht gesagt.

Inhalt

Prolog

TAG 1: Die Ankunft

TAG 2: Natürliches Gatorade

TAG 3: Meine Eier

TAG 4: Fitnesstest

TAG 5: Fluchtfahrzeug

TAG 6: Dieser verdammte Finger

TAG 7: Abwechslung

TAG 8: Pissen verboten

TAG 9: Sauerstoffentzug

TAG 10: Der Ehrenkodex

TAG 11–12: Genieß den Schmerz

TAG 13: Freak-Freitag

TAG 14: Gamstragegriff

TAG 15: Liegestütze sind alles

TAG 16: Leicht bleiben

TAG 17: Selbstmordattentäter

TAG 18: Fünf Minuten können alles ändern

TAG 19: Meine Schultern

TAG 20: Wenn der große Zeiger oben ist

TAG 21: Eine Wiederholung nach der anderen

TAG 22–23: Nachttraining

TAG 24: Eingeschneit

TAG 25: Mach dir die Eier nass

TAG 26: Primärziel

TAG 27: 1000 Liegestütze

TAG 28: Leg noch einen drauf

TAG 29: Schlammschlacht

TAG 30: Ein letzter Lauf

TAG 31: Ein trauriger Tag

Epilog

Fünf Jahre später

SEAL: Enthüllt

Dank

Über den Autor

Einleitung

Viele haben mich gefragt, warum ich mich von SEAL trainieren lassen wollte. Eine Antwort lautet: Wenn es um meine körperliche Fitness geht, bin ich ein Gewohnheitstier. Verglichen mit den meisten anderen Leuten in meiner Altersgruppe war ich vermutlich ausgezeichnet in Form und hatte auch in meinem Privatleben einen guten Punkt erreicht. Zu der Zeit war ich (und bin es auch heute noch) mit einer fantastischen Frau verheiratet und wir hatten unseren ersten, wunderschönen 18 Monate alten Sohn (seitdem folgten noch zwei weitere). 1992, kurz nach meinem Uniabschluss, fing ich mit dem Laufen an. Bis heute sind vielleicht eine Handvoll Tage vergangen, an denen ich nicht gejoggt bin. Ich habe achtzehnmal in Folge am New York City Marathon teilgenommen und jedes Jahr war es der gleiche Drill: Der Laden, in dem ich am Tag vorher meine Bananen kaufe: derselbe. Meine Route: dieselbe. Die Pizza, die ich am Abend vor jedem Rennen bei Patsy’s bestelle: die gleiche.

Ich mag Routine.

Routine kann gut sein, insbesondere, wenn es ums Training geht. Aber Routine kann auch bedeuten, dass man sich in einer Spur festgefahren hat.

Viele von uns leben wie auf Autopilot. Wir machen jeden Tag das Gleiche: Aufstehen, zur Arbeit gehen, nach Hause kommen, zu Abend essen. Und dann das Ganze wieder von vorne. Und ich stellte fest, dass auch ich dazu tendierte. Es war, als wäre mein Geschwindigkeitsregler fixiert worden und ich machte keine Fortschritte mehr. Ich wollte raus aus dieser Spur. Ich musste etwas verändern. Das Leben, das ich am Central Park West lebte und SEALs kompromissloses Nomadendasein verschmolzen für einige Zeit. Besser gesagt, sie kollidierten. Genau das hatte ich mir gewünscht – genau das brauchte ich. Es war unerwartet, es war einzigartig, es war wahnsinnig (ja, ich gebe es zu), aber es ist wissenschaftlich bewiesen, dass es für Körper, Verstand und Geist gut ist, sich von der Routine des Alltags zu lösen – also probiert mal was Neues! Macht etwas Unfassbares, denkt quer! Das Leben ist kurz, also warum nicht? Um an dieser Stelle SEAL zu zitieren: »Wir sind hier nicht bei der Generalprobe, Bitch.«

Der Monat, den wir zusammen verbrachten, war wie eine Premierenvorstellung vor Live-Publikum. Bei jeder Vorstellung. Die Kameras liefen die ganze Zeit über, und es gab keine zweite Klappe. Und das Projekt entwickelte sich zu mehr als nur Workouts sowie mentalen und körperlichen Herausforderungen. Sowohl SEAL als auch ich mussten unsere Komfortzone verlassen. SEAL und ich. SEAL waren Pförtner, Köche und Chauffeure ungefähr so angenehm wie mir, in einem Stuhl zu schlafen oder absichtlich mitten in der Nacht aufzustehen und unter den erdenklich schlimmsten Bedingungen joggen zu gehen. Seine Herangehensweise an unser Trainingsprogramm machte für mich keinen Sinn, brachte aber eine Menge Klarheit in mein Leben.

SEAL hatte etwas, das ich wollte, aber ich war mir nicht sicher, was das war. Das wollte ich herausfinden. Könnt ihr euch an Mr. Miyagi aus Karate Kid erinnern? Nein? Sein Trainingsansatz war auf jeden Fall ziemlich unorthodox. Daniel LaRusso, gespielt von Ralph Macchio, will Kampfsport lernen, aber Mr. Miyagi lässt ihn zunächst nur einfache Arbeiten verrichten. Unbewusst entwickelt Daniel dabei mithilfe seines motorischen Gedächtnisses nicht nur Verteidigungstechniken, sondern lernt letztendlich viel mehr als nur Kampfsport. Das schwebte mir in etwa vor, als ich SEAL bat, mich zu trainieren. Ich wollte meinen Körper trainieren und gleichzeitig meinen Kopf und Geist. Der Unterschied war, dass ich nicht für meinen persönlichen Schutz oder einen Pokal trainierte. Und ein Mädchen hatte ich auch schon. Ich wollte einfach nur besser werden.

Meine Herangehensweise ans Geschäft und ans Leben war immer schon unorthodox. Und damit war ich erfolgreich. Einige Geschichten über meine berufliche Entwicklung stehen in diesem Buch; alle führten sie dazu, dass ich in einer Position bin, aus der heraus ich Risiken eingehen kann, wie z. B. das Anheuern eines Navy SEAL. Ich glaube nicht an »Lebensläufe« im traditionellen Sinn; ich glaube an Lebensläufe. Mache mehr! Erschaffe Erinnerungen! Erst im Rückblick auf meine Erfolge und Fehlschläge macht alles Sinn. Ich hätte nie vorhersagen oder vorausplanen können, dass ich vom Rapper auf MTV während der 1990er-Jahre zum Besitzer einer Firma für Privatflugzeuge werden würde. Mein Normalzustand war schon immer unnormal. Ich bin um die Welt gereist. Ich habe Sportstars und Berühmtheiten kennengelernt und mit ihnen zusammengearbeitet. Aber ich stand auch öfter mal richtig dumm da. Und für all das bin ich dankbar.

Ich weiß nicht, ob ich vielleicht über meine eigene Sterblichkeit nachdachte oder mich darum sorgte, wie viele Spitzenjahre mir wohl noch blieben, oder so was in der Art. Ich glaube, ich dachte einfach, dass es an der Zeit wäre, noch mal richtig etwas zu verändern. Eben mit dieser Routine zu brechen.

Und meine SEAL-zum-Mieten-Idee hat meine Routine definitiv aufgemischt. Ich glaube, die besten Ideen sind die, die man nicht zu lange überdenkt. Das habe ich auch in diesem Fall nicht getan und es hat mich ganz schön kalt erwischt. Die meisten meiner Erfolge im Leben sind darauf zurückzuführen, dass ich gelernt habe, auch in unbequemen Situationen zurechtzukommen. Wie gesagt, ich wollte einfach nur besser werden.

Das Wichtigste, was ich aus meiner Zeit mit SEAL mitnahm, ist wahrscheinlich, dass er Schwierigkeiten wertschätzt. Je härter das Training, umso mehr Überwindung war nötig und umso größer meine Zufriedenheit hinterher.

Das ist sein Lebensmotto.

Und es hat ein bisschen auf mich abgefärbt.

Tue jeden Tag etwas, das dir unangenehm ist.

— SEAL

PROLOG

Im Dezember 2010 zog SEAL bei mir zu Hause ein, um mich zu trainieren. Es sollte einer der schneereichsten Winter seit den Wetteraufzeichnungen werden. Geschlossene Flughäfen. Verspätete Züge. Ein Schneesturm aus dem Nordosten überschüttete New York innerhalb eines Tages mit mehr als 50 Zentimetern Schnee. Der Wind war so stark, dass es bis zu 1 Meter hohe Schneeverwehungen gab. In der Stadt ließen Busfahrer ihre Fahrzeuge mitten auf der Straße stehen. Autofahrer taten es ihnen gleich. Schneepflüge konnten den Schnee tagelang nicht räumen. Ich war mir sicher, dass meine Mission mit SEAL gefährdet war. Aber das war, bevor ich ihn kannte.

TAG 1

Die Ankunft

Ich wurde ausgebildet zu verschwinden.

— SEAL

New York - 10° 0638

Ich schütte Haferflocken in eine Schüssel, setze einen Topf Wasser auf, mache den Herd an und stelle den Timer ein. Ich drücke »Play« auf der Fernbedienung und positioniere Lazer (meinen achtzehn Monate alten Sohn) so, dass er sein Baby-Einstein-Video anschauen kann. Ich werfe einen kurzen Blick ins Gästezimmer, um mich zu vergewissern, dass das Bett gemacht ist. Mein Sohn kichert vor sich hin – das ermutigt mich. Ich sehe nach meiner Frau Sara, die noch schläft, und überprüfe dann erneut das Gästezimmer, um sicherzugehen, dass alles »shipshape« ist, oder wie auch immer die in der NAVY das nennen. Der Timer klingelt. Ich schnippele ein paar Bananenscheiben und gieße Honig darüber. Ich gucke auf die Mikrowellenuhr: 6:38 Uhr.

ETA: zweiundzwanzig Minuten.

Ich schäume fast über vor nervöser Energie.

Ich setze mich zu meinem Sohn, füttere ihn und gucke den Rest von Baby Einstein mit. Die Bananen sind immer noch in meiner Schüssel. Ich habe keinen Hunger. Ich gehe ins Bad und schaue in den Spiegel. Ich fahre mit den Händen durch meine Haare, um sie aus dem Gesicht zu bekommen. Ich grinse mich im Spiegel an, um meine Zähne zu überprüfen. Sie sind sauber.

Ich gehe zurück ins Wohnzimmer.

Ich mache so viele Liegestütze, wie ich schaffe: zweiundzwanzig.

Ich gucke auf die Uhr: 6:44 Uhr.

Was, wenn er Probleme hat, ein Taxi zu bekommen? Fährt jemand wie er überhaupt Taxi? Vielleicht joggt er zu mir nach Hause. Der Flug könnte verspätet sein. Hat er’s sich anders überlegt? Vielleicht sollte ich ihn anrufen. Was rede ich denn? Der Typ ist vermutlich schon mit dem Fallschirm in anderen Ländern gelandet. Er wird schon wissen, wie er pünktlich zu mir kommt. Oder?

Aber er hat NIE nach meiner Adresse gefragt, hat sich NIE erkundigt, was er mitbringen soll. Er hat sich geweigert, mir seine Fluginformationen zu geben, und hat nicht darum gebeten, abgeholt zu werden. NICHTS. Das Einzige, was er sagte, war:

»Ich komme um Null Siebenhundert an.« Das entspricht im Militär 7 Uhr morgens.

* * *

Zum ersten Mal sah ich »SEAL« bei einem Vierundzwanzig-Stunden-Staffellauf in San Diego. Nach mehreren Marathons war das mein erster »Ultra«. Ich war in einem Team aus sechs Ultra-Marathonläufern und wir würden abwechselnd immer wieder Abschnitte von zwanzig Minuten laufen. Das Ziel: Innerhalb von vierundzwanzig Stunden mehr Meilen zurücklegen als die anderen Teams.

Mit dabei waren Teams aus dem ganzen Land.

Ist nichts Neues, dass Freunde zusammenkommen, um sich körperlich und mental herauszufordern. SEAL hingegen hatte kein Team. Er hatte keine Freunde. Er lief das gesamte Rennen. Allein!

Es war eine Low-Budget-Veranstaltung mit wirklich kleinem Budget. Der gesamte Lauf fand auf einer 1 Meile langen Laufbahn auf einem unbeleuchteten Parkplatz in der Nähe des Zoos von San Diego statt. Es gab keine Sponsoren, das heißt, Verpflegung musste selbst organisiert werden. Für alles, was man brauchte, war man selbst verantwortlich.

Mein Team und ich flogen am Abend zuvor nach San Diego, um uns vorzubereiten. Als wir ankamen, liefen wird die Strecke ab und planten unsere Strategie. Vor dem Schlafengehen legten wir unsere Laufausrüstung und den Proviant zurecht, um nach dem Aufstehen sofort loslegen zu können. Wasser. Gatorade. Bananen. PowerBars. Pflaster. Wir waren bereit.

Vor dem Rennen dehnten wir uns in einem kleinen Kreis auf dem Rasen. Ich war nervös und aufgeregt, trotzdem fiel mir dieser Typ drei Meter weiter sofort auf. Zu behaupten, dass er unter allen anderen herausstach, wäre eine Untertreibung. Erstens war er der einzige afro-amerikanische Teilnehmer. Zweitens wog er bestimmt mehr als 115 kg und das Körpergewicht aller anderen Läufer lag eher zwischen 70 kg und 75 kg. Drittens waren alle anderen kommunikativ und freundlich, dieser Typ wirkte hingegen genervt. Er sah richtig wütend aus.

Er saß einfach alleine in seinem Klappstuhl, mit verschränkten Armen, und wartete auf den Startschuss. Kein Stretching, keine Vorbereitung, keine schicken Laufschuhe und keine Teamkollegen. Kein Lächeln. Er saß einfach ruhig da, mit einem »Leg dich bloß nicht mit mir an«-Gesichtsausdruck. Seine Verpflegung für vierundzwanzig Stunden: eine Packung Kräcker und Wasser. Das war’s. Er hatte sie neben seinen Stuhl gestellt.

Der Typ war eine Kreuzung zwischen einem Gladiator und der G.I.-Joe-Actionfigur meines Sohnes – aber in Lebensgröße. Er schien unzerstörbar. Kampferprobt. Gefährlich. Allein. Entschlossen.

Schon wie er ausspuckte war beklemmend. Würde er einen damit treffen, bliebe wahrscheinlich eine Narbe zurück. Er hatte eine einschüchternde Wirkung. Sein ganzer Körper sah so aus, als hätte ihm jemand mit Farbe Muskeln aufgesprüht. Waschbrettbauch. Makellos.

Als das Rennen begonnen hatte, verbrachten wir die Zeit zwischen unseren jeweiligen Abschnitten damit, uns zu dehnen und ausreichend zu trinken, um Verletzungen zu vermeiden, und wir schmierten uns großzügig mit Vaseline ein. Wie ein Freund von mir zu sagen pflegt: »Alter, als Ultra läufst du dir ’nen Wolf.« Im Verlauf des Rennens, als ich meine Teamkollegen anfeuerte, behielt ich auch den einsamen Läufer im Auge. Wer war dieser Typ?

Sein Kampfgeist zog mich an. Hinter seinem finsteren Blick lag etwas verborgen, das ich nicht fassen konnte. Vielleicht ein Gefühl von Ehre oder Integrität. Oder Mission. Ja, das musste es sein. Er lief mit einer Mission, die mir verborgen blieb. Er lief, als würden Leben davon abhängen, als würde er in ein brennendes Haus rennen, um jemanden zu retten – ein Kätzchen oder eine alte Frau. Mit jedem seiner Schritte schien er Mini-Erdbeben unter seinen Füßen auszulösen, aber seine Haltung war dabei die ganze Zeit perfekt, sein Blick starr – ein Fokus mit der PRÄZISION eines geschliffenen Diamanten. Er lief einfach … prüfte die Anzahl seiner Runden mit seiner Armbanduhr … und lief einhundert Meilen ohne Unterbrechung.

Nach Ende des Vierundzwanzig-Stunden-Rennens war ich vollkommen durch. Meine Oberschenkel waren so hart, dass ich kaum gehen konnte. Während meine Teamkollegen und ich langsam unsere Zweitschuhe, Klappstühle und persönliche Gegenstände einpackten, fiel er mir wieder auf, dieser zweihundert Pfund schwere Block Stahl, dem eine Frau (über die ich später herausfand, dass es sich um seine Ehefrau handelte) dabei half, zum Parkplatz zu gehen. Er sah aus, als hätte er gerade einen Flugzeugabsturz überlebt.

Daraus folgerte ich zwei Dinge:

So jemanden hatte ich noch nie gesehen.

Ich musste ihn kennenlernen.

Zurück zu Hause, nach einigem Nachforschen und Googeln, konnte ich einige sachdienliche Fakten über ihn in Erfahrung bringen, unter anderem, dass er ein Navy SEAL war – und zwar ein hochdekorierter Navy SEAL. Dann machte ich seine Telefonnummer ausfindig und rief ihn einfach an. Er war an der Westküste.

Das ist eine meiner Angewohnheiten. Wenn ich jemanden sehe oder über jemanden lese, den ich interessant finde, rufe ich diese Person an, um sie im Grunde genommen darum zu bitten, dass wir Freunde werden. Meine Frau sagt, das erinnert sie an die Schule, als man sich Zettel zusteckte, auf denen stand »Willst du mein Freund sein?«, mit den Optionen »Ja« oder »Nein« zum Ankreuzen. Offensichtlich habe ich diese Phase nie ganz überwunden.

»Ja?«, meldete er sich am Telefon.

»Ist das SEAL?«

»Kommt ganz drauf an, wer das wissen will«, antwortete er.

Das letzte Mal, dass ich am Telefon so nervös war, war gegen Ende meiner Highschool-Zeit, als ich Sue anrief, um zu fragen, ob sie mit mir zum Abschlussball gehen will.

Ich fing an, von dem Lauf zu reden und faselte vor mich hin, bis mir auf halber Strecke bewusst wurde, dass ich an seiner Stelle längst aufgelegt hätte. Tatsächlich war ich mir nicht mal ganz sicher, dass er nicht bereits aufgelegt hatte – an seinem Ende herrschte absolute Totenstille.

Das war viel schlimmer als der Anruf bei Sue.

»Hallo?«, fragte ich.

»Ja.«

»Gib mir einfach fünfzehn Minuten, damit ich dir persönlich was vorschlagen kann«, sagte ich schließlich. »Ich bin in New York, kann aber morgen rüberfliegen.«

Stille.

»Hallo?«

Stille.

»SEAL?«

Stille.

Schließlich: »Du willst rüberkommen … ist deine Entscheidung«, sagte er.

Vierundzwanzig Stunden später war ich in Kalifornien.

Wir trafen uns in einem Restaurant in San Diego. Nach kurzem Smalltalk – ich redete, er blieb stumm – bat ich ihn, bei mir einzuziehen, um mich zu trainieren.

Er starrte mich mit kalten, ausdruckslosen Augen an. Ich war mir nicht sicher, ob er mich für vollkommen verrückt hielt oder ob er überlegte, ob ich seine Zeit verschwendete. Er musterte mich.

Eine Minute verstrich. Und noch eine.

»Okay. Unter einer Bedingung«, sagte er in einem Tonfall, der leicht motivierend war – im Stil eines »psychopathischen Drill-Sergeants«.

»Du machst alles, was ich dir sage.«

»Ja.«

»Ich meine wirklich ALLES.«

»Okay.«

»Ich kann dich jederzeit aus dem Bett schmeißen. Dich bis zum Äußersten treiben.«

»Ähm.«

»NICHTS ist tabu. NICHTS.«

»Na ja …«

»Wenn wir fertig sind, schaffst du tausend Liegestütze am Tag.«

»Tausend?«

Das wird ganz anders als der Abschlussball, dachte ich.

* * *

Um genau 7 Uhr klopft es an der Tür.

Er hat KEIN Gepäck. KEINEN Koffer. KEINEN Gesichtsausdruck. Obwohl es Dezember und bitterkalt ist, trägt er KEINE Jacke. KEINE Mütze. KEINE Handschuhe. Und es gibt KEINE Begrüßung.

Er sagt einfach: »Bereit?«

Das war’s? Keine Motivationsrede zum Aufwärmen? Kein »Schön, dich wiederzusehen«? Kein »Kalt draußen, was?« Anstatt dass er mir den ersten Ball locker zuwirft, damit ich ihn gut fangen kann, schleudert er ihn mir entgegen, als wäre er Mariano Rivera.

»Willkommen«, sage ich. »Wenn du irgendwas brauchst, bediene dich einfach. Fühl dich wie zu Hause. Unser Zuhause ist dein Zuhause.«

»Nee, Mann. Stimmt nicht. Das ist dein Zuhause. Ich habe kein Zuhause.«

Ich lache.

SEAL lacht nicht.

»Ist nur eine Redewendung«, antworte ich. »Fühl dich wie zu Hause – das sagt man so.«

»Redewendungen gibt’s bei mir nicht, Alter. Für mich gibt’s nur Taten. Das muss sofort klar sein«, sagt er. »Kapiert?«

»Okay.«

»Was?«

»Ja … Sir?«

»Ich wurde dazu ausgebildet, nicht aufzufallen. Ihr werdet überhaupt NIE wissen, ob ich hier bin oder nicht.«

»Okay.«

»Alles klar. Legen wir los mit dem Shit. Wir treffen uns hier in neun Minuten. Und lass deine cowfuck Redewendungen zu Hause.«

Cowfuck?

Ich ziehe mir meine normalen Winter-Trainingsklamotten über: Das sind zwei Sweatshirts, zwei Mützen und Handschuhe. SEAL wartet an der Haustür bereits auf mich und schaut auf seine Uhr. Es sind zehn Grad minus, also frisch. Er trägt Shorts, ein T-Shirt und eine Strickmütze. Sonst nichts.

»Mann, vielleicht muss ich mir’n paar Handschuhe leihen«, sagt SEAL.

»Vielleicht brauchst du Handschuhe?«

»Ja, oder Fäustlinge oder so’n Scheiß.«

»Mehr nicht? Nur Handschuhe?«

»Mehr nicht.«

»Es sind minus zehn Grad«, sage ich.

»Für dich sind es minus zehn Grad, weil du dir einredest, dass es minus zehn Grad sind!«

»Nein, es sind wirklich minus zehn Grad. Das ist tatsächlich die reale Außentemperatur, sagt mein Computer.«

SEAL sagt einen Moment nichts, als hätte ich ihn enttäuscht. »Sagt dein Computer?«

Er fängt an zu lachen, gespenstisch zu lachen, wie Graf Zahl aus der Sesamstraße.

»Die Temperatur ist, was du meinst zu fühlen, Alter, nicht das, was dein Computer dir sagt. Wenn du meinst, es sind minus zehn Grad, dann sind es minus zehn. Für mich persönlich sind es so um die plus zwölf.«

Statt ihm zu widersprechen – wir lernen uns schließlich gerade erst kennen – sage ich einfach: »Verstanden.«

»Hast du je ’ne gewisse Zeit in eiskaltem Wasser verbracht, Jesse?«, fragt SEAL.

Im Stillen denke ich mir: absichtlich? Wieso sollte ich? Aber ich antworte mit einem »Nein«.

»Die Frage ist: Ist das Wasser wirklich eiskalt? ODER sagt dir bloß dein Verstand, dass es eiskalt ist? Was ist real?« Er lacht wieder. »Kontrolliere deinen Verstand, Jesse.«

»Verstanden.« (Das gehört auf meine To-do-Liste: Verstand kontrollieren.)

»Genau. Genieße diesen Shit. Wenn du dir wünschst, es wären einundzwanzig Grad und sonnig … dann sind es einundzwanzig Grad bei Sonne. Lauf’ einfach. Das Wetter ist in deinem Verstand. Ich sehe nie nach, welche Temperatur draußen herrscht, bevor ich laufen gehe. Wen interessiert’s, welche Temperatur der Computer anzeigt? Der Computer ist nicht draußen, um zu laufen, oder?«

Ist mir schleierhaft. Aber anstatt wieder einfach »Verstanden« zu sagen, versuche ich, einzusteigen.

»Funktioniert das auch bei Hitze? Ich meine, wenn es draußen fünfunddreißig Grad sind, kannst du’s in deinem Verstand schneien lassen?«

»Nee, Mann. Ist ’ne Einbahnstraße, Alter. Geht nur von kalt nach heiß. Wenn’s draußen heiß ist … ist es verdammt noch mal einfach nur heiß!«

Wenn mir einer meiner Freunde mit derselben Logik käme, würde ich lachen, aber aus SEALs Mund klingt es beinahe glaubhaft.

Allerdings spüre ich den kalten Luftzug durch unsere Fenster und mir ist egal, was SEAL sagt – es sind wirklich minus zehn Grad draußen.

»Und was ist dann die Strategie bei Hitze?«

»In extremer Hitze brauchst du ’ne ganz andere Denkweise, Alter. Da musst du mittelalterlich rangehen. Nimm die Hitze an. Augen zu und durch! Stell dir vor, wie andere darunter leiden. Genieß den Schmerz.«

»Meinen oder den der anderen?«, frage ich.

SEAL starrt mich an.

»Beides«, sagt er. Dann nickt er mir zu – das Signal, dass es losgeht.

Wir machen uns auf den Weg zum Central Park und laufen sechs Meilen im Tempo von neun Minuten und zwanzig Sekunden pro Meile. Ich glaube, SEAL will erst mal sehen, was ich drauf habe. Ich bin zwar ein erfahrener Marathonläufer, aber ich war nie besonders schnell. Ich kann eine Meile in sieben Minuten zurücklegen, mache das aber lieber nicht. Ich nehme mir beim Laufen gerne Zeit und bevorzuge die Laufgeschwindigkeit, in der man sich noch unterhalten kann. Das macht mehr Spaß. Ich bin der Ausdauer-Typ, kein Sprint-Typ. Meiner Meinung nach ist Ausdauerlaufen eher eine geistige Herausforderung als eine körperliche, und es gelingt mit ziemlich gut, Schmerzen und Langeweile auf langen Strecken zu ignorieren.

Mit diesem Tempo komme ich gut klar. Und ich denke mir, das schaffe ich.

Eine Stunde später …

Nach einer kurzen Dusche und nachdem ich schnell ein paar geschäftliche E-Mails beantwortet habe, gebe ich SEAL eine kurze Führung durch unser Apartment. Wir wohnen in der Upper West Side von Manhattan, 15 Central Park West.

Über diesen Gebäudekomplex ist geschrieben und gebloggt worden. Er ist bekannt für seine atemberaubende Aussicht, großartige Architektur und berühmten Bewohner. Viele CEOs, Sportler und Entertainer der weltweiten Spitzenklasse wohnen hier.

Vor zwei Jahren überzeugte ich Sara davon, in diesen Gebäudekomplex einzuziehen, weil es hier einen Swimmingpool gibt. »Wir können jeden Tag schwimmen gehen, Honey.« Und jetzt, zwei Jahre später, haben wir das Apartment zwar gekauft, waren aber noch kein einziges Mal im Pool.

Meine Frau und ich halten uns zwar nicht für besonders schick, dieses Gebäude ist es aber. Als wir einzogen, wurde ich vom Aufzugs-Concierge (nicht vom Aufzugführer, vom Aufzugs-Concierge) aufgefordert, den Aufzug zu verlassen, weil er »nur für Bewohner« ist. Vermutlich sah ich mit Skimütze und Shorts nicht aus wie die anderen Bewohner.

Zuerst zeige ich SEAL, wie man die Fernbedienungen für den Fernseher benutzt. Ich denke mir, jemand, der über einen Monat lang unser Gast sein wird, will das sicher wissen?

»So schaltest du ihn ein«, sage ich, und zeige auf den Power-Knopf.

»Wir werden nicht viel fernsehen«, unterbricht er mich.

»Okay … Also weiter«, sage ich.

Ich lege die Fernbedienung weg und führe ihn in die Küche. Auch wenn wir nicht viel fernsehen werden, werden wir sicher essen, meine ich. Ich öffne die erste Schublade.

»Hier sind Gabeln, Löffel und Messer«, erkläre ich.

»Ich werde euer Besteck nicht benutzen«, sagt er.

Was? Ich schließe die Schublade.

Vielleicht habe ich in der Wäschekammer mehr Glück.

Ich will ihm gerade zeigen, wie man die Waschmaschine und den Trockner bedient, da unterbricht er mich wieder und sagt: »Yo, man, du kannst dir den ganzen Tour-Scheiß sparen. Sag mir einfach, wo das Fitnessstudio ist.«

Okay. Die Tour ist damit offiziell vorbei und wir machen uns auf den Weg ins Fitnessstudio. Es ist das erste Mal, dass ich SEALs Vorderzähne sehen kann, da sich ein Lächeln auf seinen Lippen formt. Er ist wie in Ekstase. Alleine das Betreten des Fitnessstudios verändert seinen Gesichtsausdruck. Fast so, wie wenn man den Zauberer von Oz das erste Mal sieht und das Schwarz-Weiß-Bild ins Farbige wechselt. Eine völlig neue Welt. Er geht zur Klimmzugstange, springt hoch, greift die Stange und lässt sich hängen. Er fängt an zu schwingen, schwingt etwas mehr und noch mehr und springt dann wieder herunter. Ich vermute, er ist zufrieden, denn sein Lächeln ist breiter geworden.

»Die ist perfekt. Bist du bereit?«, fragt er.

»Wofür?«

»Deine Klimmzüge.«

»Wie, jetzt sofort?«

»Zehn Stück. Ganz runter und wieder ganz hoch. Ich will sehen, was du klimmzugmäßig drauf hast.«

Ich springe an die Stange und ziehe meine zweihundert Pfund Körpergewicht nach oben, bis mein Kinn über die Stange ragt. »Eins.«

Ich lasse mich sinken. Als ich bei Nummer acht ankomme, strample ich wie wild mit den Beinen, in der Hoffnung, etwas Schwung zu bekommen. Ich muss mein Kinn über diese verdammte Stange bekommen, aber ich schaff’s nicht. Ich lasse mich auf den Boden fallen. SEAL sagt, nach fünfundvierzig Sekunden Pause soll ich es noch mal machen.

Fünfundvierzig Sekunden später springe ich also wieder an die Stange. Klimmzüge waren noch nie meine Stärke. Um ehrlich zu sein, hasse ich Klimmzüge. Irgendwie gelingt es mir, sechs Stück mehr zu machen, bevor ich mich wieder auf den Boden fallen lassen muss. Das war’s, denke ich. SEAL fordert mich auf, es nach fünfundvierzig Sekunden Pause noch mal zu machen.

Weitere fünfundvierzig Sekunden verstreichen und dieses Mal gelingen mir drei ordentliche Klimmzüge, bevor ich mich wieder zu Boden fallen lassen muss. Jedes Mal, wenn ich falle, geben meine Beine ein bisschen mehr nach. Das sind siebzehn Klimmzüge. Ich bin durch. Buchstäblich am Ende. Ich glaube nicht, dass ich vorher schon mal so schnell – oder überhaupt – siebzehn Klimmzüge gemacht habe. Mit meiner rechten Hand greife ich an meinen linken Bizeps, mit meiner linken Hand an meinen rechten und drücke. Fühlt sich an, als wären Nägel in meinen Bizeps.

»Siebzehn! Cool, das ist mein Maximum. Hätte nicht gedacht, dass ich so viele schaffe. Hervorragend! Gehen wir wieder nach oben.«

SEAL starrt mich ausdruckslos an. Völlig unbewegt. »Wir bleiben hier, bis du hundert gemacht hast.«

WAS?

»Ich schaffe keine hundert Klimmzüge. Das ist unmöglich«, sage ich.

»Dann machst du es besser möglich«, sagt er zu mir wie ein Vater, der seinen Sohn auffordert, sein Zimmer aufzuräumen. »Du hast ’ne beschissene Einstellung.«

Ich mache einen Klimmzug und falle zurück auf den Boden.

Ich laufe im Fitnessstudio hin und her, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Meine Arme hängen leblos an meinen Seiten und SEAL beobachtet mich. Ich kann’s nicht länger aufschieben. Ich gehe zurück zur Stange. Ich mache einen Klimmzug und lande wieder auf dem Boden. Ich drehe noch eine Runde durchs Fitnessstudio, dann bin ich wieder an der Stange. Ich lasse mich fallen. Laufe … Klimmzug … Fallen … laufe … Klimmzug … Fallen …

Neunzig Minuten später bin ich bei siebenundneunzig.

Das Training ist definitiv in vollem Gange.

Trainingsbilanz: 6 Meilen und 100 Klimmzüge.

Kein Novocain

Ich lehne mich zurück und genieße den Schmerz. Ich habe ihn mir verdient. — SEAL

Ich bin in Roslyn auf Long Island (im Bundesstaat New York) aufgewachsen, habe zwei ältere Schwestern und einen Bruder. Ich bin der Jüngste, mit einem Abstand von fünf Jahren. Roslyn ist eine typische Vorstadt. Die Wohnsiedlungen sehen praktisch alle gleich aus, die Gärten hinter den Häusern sind miteinander verbunden und wurden damals von einer ganzen Armee von Kids meines Alters patrouilliert. Meine Mutter besaß eine Kuhglocke. Auch sechs oder sieben Häuser weiter konnte ich Moms Kuhglocke hören, mit der sie mich aufforderte, nach Hause zu kommen. Ich war abgerichtet wie eine Kuh – das war leicht peinlich. Die Regel lautete: Mache deine Hausaufgaben, dann darfst du raus, aber wenn du die Glocke hörst, kommst du nach Hause – und zwar besser innerhalb von fünf Minuten. Meine Mom liebte uns bedingungslos, konnte aber auch beinhart sein. Man legte sich nicht mit ihr an. Fluchen habe ich sie nie gehört, aber sie hatte diesen bestimmten Blick – ihre übliche Taktik. Stille. Das wirkte immer auf mich.

Wenn es um die traditionelle Gesundheitsvorsorge ihrer Kinder ging, gab es bei meiner Mom einige Widersprüche. Einerseits durfte ich Cheeseburger, Speck, Eis und Oreos essen, worauf immer ich Lust hatte und auch alles auf einmal. Röntgenmaschinen, Fluorid und dem Betäubungsmittel Novocain hingegen traute sie nicht über den Weg. In den 1970ern war sie der Meinung, dass gewisse Dinge einfach noch nicht ausreichend getestet worden waren und sie wollte nicht, dass ich als Laborratte herhalten musste. Das erste Mal geröntgt wurde ich erst, nachdem diese dicken Bleiwesten eingeführt worden waren, die man sich überziehen muss. Und Fluorid hielt sie für pures Gift. Ohne Röntgenuntersuchungen und Fluorid konnte ich ganz gut leben. Auf Novocain verzichten zu müssen, war dagegen hart.

Der Name meines Zahnarztes war Henry Schmitzer und seine Praxis war eine etwa fünfundvierzigminütige Autofahrt von unserem Haus entfernt. Ich vermute, er war der einzige Zahnarzt, den meine Mom finden konnte, der bereit war, einem Kind ohne Betäubungsmittel die Zähne zu bohren. Henry könnte glatt die Inspiration für den Charakter gewesen sein, den Laurence Oliver im Marathon-Mann spielte.

Während also all meine Freunde sich glücklich betäubt und schmerzfrei beim Zahnarzt um die Ecke behandeln lassen konnten und zum Abschluss womöglich noch einen Lutscher in die Hand gedrückt bekamen, musste ich erst mal eine Dreiviertelstunde lang auf dem Rücksitz im Auto sitzen, aus dem Fenster starren, schwitzen … und mich darüber ärgern, dass wir für diesen Scheiß so einen Umstand machten. Dieses Geräusch und der Geruch des Bohrers, wie brennende Knochen. Alleine schon die Erwartung dessen war aufreibend, untertrieben ausgedrückt. Das Ganze verlangte mir eine Menge ab. Auf dem Weg vom Parkplatz in die Praxis war ich immer versucht, einfach so schnell wie möglich wegzurennen. Aber meine Mutter schenkte mir immer ein verständnisvolles Lächeln, wenn sie mir die Tür zur Praxis aufhielt – sie war wirklich davon überzeugt, das Beste für mich zu tun.

Schmitzer, der Motherfucker, bohrte mir dann in die Zähne. (Während ich das schreibe, muss ich mir buchstäblich an den Kiefer fassen.) Der Geschmack dieses Feuers, das Geräusch, die unerträglichen Schmerzen – und mein Mund tat mir noch eine Ewigkeit weh. Es war verrückt. Man sollte meinen, das hätte mich dazu motiviert, mir die Zähne sorgfältiger zu putzen, trotzdem wurde bei jeder Routineuntersuchung mindestens ein Loch entdeckt.

Mein Vater war quasi das komplette Gegenteil von Mom, er ließ die Dinge gelassen auf sich zukommen. Er besaß ein Geschäft für Sanitäreinrichtung in Mineola und arbeitete sechs Tage die Woche (samstags halbtags). Obwohl er so viel Zeit in die Arbeit investierte, war er immer ein sehr engagierter Dad. Er kam zu jedem Sportwettkampf, jedem Ereignis und es war ihm wichtig, jeden Abend zum Essen mit der Familie zu Hause zu sein.

Privat war er eine Art verrückter Wissenschaftler. Im Keller hatte er eine Werkstatt, das war sein Platz. Sport gucken oder sich mit Freunden treffen war nicht so sein Ding, er hatte Spaß am Erfinden. Als der Film Zurück in die Zukunft in die Kinos kam und »Doc« den Fluxkompensator kreierte, dachte ich mir: »Das ist mein Dad!!«

Ich weiß noch, als ich in der Grundschule ein Diorama bauen sollte. Die Aufgabe war einfach: Baue in einem Schuhkarton dein Zuhause nach. Tja, nachdem mein Dad mir »ein bisschen ausgeholfen« hatte, verfügte mein Diorama über fließendes Wasser und Strom. Kein Scherz. Es gab außerdem einen Knopf, mit dem sich das kleine Garagentor des Dioramas öffnen ließ.

Ich bin mir sicher, dass ich meine Kreativität von meinem Dad geerbt habe. Und soweit ich weiß, hat er nichts gegen Novocain. Nur leider war er es nicht, der mich damals immer zum Zahnarzt gefahren hat.

Der Teil von mir, der im Erwachsenenalter einen Navy SEAL als persönlichen Trainer anheuert, der kommt von meiner Mom.

TAG 2

Natürliches Gatorade

Ich bin der Überraschende. Nicht der Überraschte.

— SEAL

New York City bis Boston -6° bis -8° 0700

Diese Nacht habe ich schlecht geschlafen. Grund war eine Kombination aus Nervosität und Aufregung und der Tatsache, dass meine Bizepse von den Klimmzügen total mitgenommen sind. Sie tun einfach nur weh. Ich glaube nicht, dass sie sich in der Nacht einmal aus dem angespannten neunzig Grad Winkel bewegt haben, in dem sie feststeckten.

Was meine Nerven angeht, bin ich gerade ungewöhnlich nervös. Anders als vor einem Vorstellungsgespräch oder etwas Ähnlichem, die Nervosität kommt eher davon, dass ich SEAL nicht enttäuschen will, weil ich nicht mit seinem Training mithalten kann. Diese Gedanken machte ich mir schon, bevor er überhaupt ankam. Und die Tatsache, dass ich nicht verletzt werden möchte, schwirrt mir auch im Hinterkopf herum. Ähnlich nervös bin ich vor Marathonläufen, weil nie ganz gewiss ist, was passieren wird und passieren könnte. Außerdem war die Art und Weise, in der SEAL gestern von mir hundert Klimmzüge verlangte, absolut grenzwertig. Er weigerte sich einfach, das Fitnessstudio zu verlassen, bevor nicht alle hundert geschafft waren.

Ich fand das beängstigend.

Jedenfalls sagte SEAL mir gestern vor dem Schlafengehen, ich solle mir den Wecker auf 0630 (6:30 Uhr) stellen, damit wir um 0700 (7:00 Uhr) joggen gehen können. PÜNKTLICH.