Lebensdinge - Anton Leist - E-Book

Lebensdinge E-Book

Anton Leist

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Beschreibung

In 34 kurzen Abschnitten zu Fragen wie »Habe ich einen Körper?«, »Wie ehrlich soll ich sein?« oder »Ist ein Haus besser als eine Wohnung?« gibt Anton Leist in diesem Buch jeweils eine »kurze« und eine »lange« Antwort – unter Rückgriff auf andere Philosophinnen und Philosophen, aber in einer allgemeinverständlichen Ausdrucksweise. Die säkulare Philosophie äußert sich zum menschlichen Leben kaum in alltagsnaher Weise, und wenn doch, dann meist im Anschluss an die antiken Glückslehren. Solche Beratungen zum guten Leben bleiben gegenüber den modernen, von existenzieller Unruhe getriebenen Menschen jedoch blass, denn für wirklich einschneidende Botschaften fehlt ihnen der dogmatische Hintergrund. Sie versickern deshalb leicht als gut gemeinte Psychologie. Auf der anderen Seite sind Fachphilosophen in ihrer Mehrheit in ein Jenseits der selbsterzeugten Kunstprobleme abgedriftet und haben die philosophischen Themen des Alltags, in der Sprache des Alltags, nachhaltig vergessen. Sich Lebensthemen mit existenziellem Ernst zu nähern, dies aber in einer allgemeinverständlichen Ausdrucksweise – das ist das Anliegen der 'Alltagsphilosophie'. Zu diesen Themen gehören etwa Fragen nach Leben und Tod, Schmerzen und Freude, Liebe und Hass, Bösem und Gutem, Kindern und Eltern, Moral und Glaube, Schönheit und Hässlichkeit, Realität und Illusion, Nahrung und Wohnung, Körper und Geist. Ziel dieses Buches ist nicht, ratgeberhafte Antworten zu geben. Vielmehr setzt es auf die Herausforderung des Denkens.

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Anton Leist

Lebensdinge

Alltagsphilosophische Zugänge

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4576-2

eISBN (ePub) 978-3-7873-4577-9

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2024. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

Inhalt

Vorwort: Warum so viele Fragen?

Das existenziell Alltägliche

Das transzendent Alltägliche

Der Wind des Denkens

Im Spiegel

1

Kann man die Frage nach dem Sinn des Lebens ernst nehmen?

2

Warum etwas tun, obwohl es vorhersehbar keine Wirkung hat?

3

Soll unser Leben eine Einheit haben?

4

Ist ein Haus besser als eine Wohnung?

5

Ist mein Ich bodenlos?

6.1

Habe ich einen Körper? (1)

6.2

Habe ich einen Körper? (2)

7

Soll ich meinen Geburtstag ernst nehmen?

8

Kann mein Geist meine Liebste also nicht berühren?

9

Für wie wichtig soll ich materielle Dinge halten?

10

Wie ehrlich soll ich sein?

11

Ist Arbeit nötig?

12

Lässt sich der Tod verstehen und akzeptieren?

Unter Menschen

13

Gibt es hässliche Menschen?

14

Warum soll es eigentlich schlecht sein, sich zu verkaufen?

15

Ist der Appell an Menschenrechte sinnvoll?

16

Sind Liebe und Sex miteinander vereinbar?

17

Ist die Berufung auf Heimat unausweichlich rückständig und legt sie uns Fesseln auf?

18

Muss Liebe sein?

19

Kann Liebe sein?

20

Gibt es Ideale?

21

Soll ich als Ungläubiger Gläubige achten?

22

Ist das Leben von Ungläubigen ärmer als das von Gläubigen?

23

Ist der Glaube an menschliche Gleichheit so unerschütterlich, wie er manchmal scheint?

24

Gibt es objektive Gründe für den Schutz des werdenden Lebens?

25

Soll man die Verbreitung der Pornographie begrüßen oder verdammen?

Auszeit

26

Gibt es einen Unterschied zwischen alltagsphilosophischen und philosophischen Fragen?

27

Was tun eigentlich Philosophen?

28

Sind die alltagsphilosophischen Fragen nicht alle Psychologie?

29

Gibt es ein Kriterium für Unsinn?

30

Ist, was man sagt, wichtiger, als wie man es sagt?

31

Ist, was man sagt, wichtiger, als warum man es sagt?

32

Wie ernst muss man das Denken nehmen?

33

Wenn man nicht weiß, was real ist, gibt es einen Weg, zur Realität zu kommen?

Nachwort: Eine Reise zum Ozean

Literatur

Vorwort: Warum so viele Fragen?

Das existenziell Alltägliche

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die erste Reaktion auf Titel und Untertitel dieses Buchs gespalten ausfällt. Während man beim Wort ›Lebensdinge‹ neugierig werden kann, mag die Erwähnung von Philosophie irritieren. Philosophie bedeutet Abstraktion, Leben bedeutet Konkretion. Leben ist alltäglich, lärmt, riecht, ängstigt oder verführt. Philosophie sucht Wahrheit, eine für alle gültige Wahrheit. Das Leben ist individuell und persönlich, und auch seine Wahrheit ist individuell und persönlich. Philosophie übertritt eine Grenze, wenn sie etwas zum persönlichen Leben sagen will. Das Leben sollte leicht, aktiv, spielerisch, sinnlich sein. Die Philosophie hingegen ist Disziplin, Ideal, Zweifel, Paradox, Nichtwissen, Denken. Wie sollen diese Welten zusammengehen? Philosophie zerrt ihren Anhänger aus seinem Leben, und ist das Leben einmal aufgelöst in Fragen und Antworten, ist es kaum mehr wiederzuerkennen. Zutiefst will die Philosophie auch gar nicht wiederkehren in das unbefragte Leben. Eher erklärt sie das Denken zum eigentlichen Leben.

Die Gründe sind bekannt. Das reale Leben ist durchzogen von Mängeln. Das alltägliche Reden ist notorisch unklar, tägliche Entscheidungen sind irrational, Absichten egoistisch, die Nächsten einander fremd, Wirtschaft aufgelöst in Krieg, die Zukunft angsteinflößend. Um gegenüber den Mängeln eine Antwort zu finden, ist der Sprung in Idealisierungen zwingend. Die Sprache muss präzisiert werden, Entscheidungen in rationale Form gebunden, Moral gerechtfertigt, die anderen als Rollen wahrgenommen, Kriege als Politik verstanden, die Zukunft planbar geformt. Wer kann sich solchem Streben völlig entziehen, weg von den Mängeln?

Der Sprung ist aber tatsächlich ein Sprung und zieht deshalb zwei Probleme nach sich. Auf welcher Basis erreicht man die ideale Welt, abhängig davon, wie ideal sie eigentlich sein soll? Und angenommen, man wüsste eine ideale Welt, wem in der realen Welt sollte sie nahegebracht werden und mit welchen Mitteln? Es reicht nicht, auf die nachteiligen Folgen eines Kriegs selbst für den Sieger hinzuweisen, wenn derjenige, der den Krieg betreibt, in einer anderen Welt lebt. Das mag als ein besonders negatives Beispiel gelten, aber zwischen allen realen Verhaltensweisen und der idealen Welt herrscht eine Kluft. Die reale Welt ist eine des Wollens und Tuns und nicht eine des Fragens und Denkens.

Manche Philosophen sagen daraufhin: umso schlimmer für die Handelnden, umso schlimmer für die reale Welt. So sollten wir aber nicht reagieren, sondern vielmehr so: Lasst uns die reale Welt im Denken nicht verlieren! Aber was genauer ist die reale Welt? Unter den Merkmalen ›alltäglich‹, ›gewöhnlich‹, ›normal‹, ›durchschnittlich‹ bleibt offen, was in sie fällt und was nicht. Vor allem geht mit diesen Prädikaten ein Verdacht der Naivität, der Angepasstheit, der Trägheit, der Banalität, wenn nicht der Dogmatik und der Selbstverblendung einher. ›Die‹ alltägliche Welt gibt es doch gar nicht, der Alltag ist zerrissen von Meinungen und Interessen und viele Konflikte rühren daher, dass man sich auf einen gemeinsamen Alltag überhaupt nicht einigen kann.

Meines Erachtens sind das Einwände, die man besser so deutet, dass solche Erfahrungen Teil eines durchschnittlichen Alltags sind. Nichts am Begriff Alltag drängt dazu, eine geordnete, harmonische, kristallklare oder sonst wie qualifizierte Welt zu unterstellen. Der Alltag ist beides, entlastende Routine wie hintergründige Gewohnheit. Die Oberfläche des Alltags nenne ich im Folgenden das ›Gewöhnliche‹, sein Problematisches das ›Ungewöhnliche‹. Der Alltag ist nicht vollständig vertrauenswürdig, eben weil das an ihm Gewöhnliche bereits im Wort auf das Ungewöhnliche verweist, auch wenn sein Ausmaß oft gut versteckt ist. Ein mögliches, aber nicht besonders erhellendes Merkmal des Abstands beider ist die Häufigkeit: Das Ungewöhnliche ist weniger häufig als das Gewöhnliche. Die ereignislose Fahrt ist gewöhnlich, der Unfall ist ungewöhnlich. Der Unterschied in der Häufigkeit sagt aber nichts zur Bedeutung des Ungewöhnlichen. Innerhalb des Alltäglichen sollte es unterschiedlich Bedeutendes geben, und die Häufigkeit ist dafür noch kein Hinweis.

Im Gewöhnlichen und Ungewöhnlichen, im Häufigen und Besonderen steckt ein Teil des Alltäglichen, den ich das ›existenziell Alltägliche‹ nennen will. Wenn das durchschnittliche Leben sowohl zähe Wiederholung wie überraschende, gute und schlechte, Momente umfasst, dann benennt das existenziell Alltägliche diese letzteren Momente. Weil für viele Ohren Alltägliches gleichbedeutend ist mit Routine, sind eine Geburt oder ein Tod nicht alltäglich. Nach einem anderen Verständnis sind sie alltäglich, wir akzeptieren sie als Teil des normalen Lebens, wenn auch nicht des täglichen. In dieser Ambivalenz entscheide ich mich für die zweite Variante, die eben mit dem Wort ›existenziell‹ betont wird. Das Besondere wird noch vertieft durch Heideggers Unterscheidung zwischen ›existenziell‹ und ›existenzial‹. Die existenziellen Dinge sind die ein menschliches Leben prägenden und real erlebten, die existenzialen sind die tiefer begriffenen. Die existenziellen sind Teil des gelebten Alltags, die existenzialen sind die in ihnen verborgenen Bedeutungen. Wichtig für dieses Verständnis von ›alltäglich‹ ist die Verankerung in Erfahrungen, auf die man am Ende vertraut und aus denen heraus man allen Sinn bezieht. In der modernen Philosophie ist dies die Sicht der Ontologie und des Existenzialismus.

Das existenzial Alltägliche bedeutet eine Auswahl innerhalb des gewöhnlichen Alltags, allerdings in erfahrungsmäßiger Nähe zu ihm. Nun gibt es in der Philosophie auch eine andere Art der Distanzierung, die der modernen Tradition mehr entspricht als die des vermuteten Tiefengrunds: die rein erkenntnismäßige. Solche Philosophen unterscheiden im Alltag nicht danach, was in ihm wichtiger und unwichtiger ist, sondern danach, was erkennbar und was Illusion ist. Ein solcher Philosoph hat eigentlich kein Interesse am Alltag, sondern nur am Erkennen, und er gehört zu denen, die Anlass für die eingangs geschilderte Irritation beim Wort ›Alltagsphilosophie‹ sind. Ein ungewöhnlicher Vertreter dieser Tradition ist jedoch Stanley Cavell, der zahlreiche Erscheinungen des modernen Lebensalltags gerade aus der Problematik des Skeptizismus zu erklären versucht.

Für Cavell ist das Gewöhnliche im Alltag ›unheimlich‹. Seine Anknüpfungspunkte sind Freuds Unbewusstes, das Unheimliche von Geistergeschichten und generell der philosophische Skeptizismus. Er bringt mühelos das Sichverlieben in eine Automatenfrau (E. T. A. Hoffmann) und die Thematik der Unergründlichkeit der Mitmenschen in ein Lebensgefühl, das sich in anhaltender Skepsis gegenüber dem Alltäglichen ausdrückt. Wie alle modernen Philosophen will er den Skeptizismus zwar vermeiden, aber dazu wählt er eine andere Arbeitsebene, als die Ontologen es tun, nämlich Sprache und Erkenntnis. In den Essays dieses Buchs kann der Konflikt zwischen diesen beiden Herangehensweisen, der ontologischen und der erkennenden, nicht wirklich ausgetragen werden. An einigen Punkten wird sich aber zeigen, dass die Tendenz, den Alltag zu verlieren, gerade durch den Skeptizismus und die ihm entsprechende Beschränkung auf Sprache und Erkennen viel mehr gefördert als beruhigt wird.

Ein Mann besucht am Weihnachtstag seine frühere Familie, seine frühere Frau und seine beiden bei ihr lebenden Kinder. Er bringt Geschenke. Die Situation ist entweder gewöhnlich, dann ist die Kommunikation floskelhaft, bemüht freundlich und korrekt, aufflackernde Gefühle werden unter Kontrolle gehalten, mit der Zeit stellt sich eine Stimmung der Bedrückung und Trauer ein. Oder die Situation ist ungewöhnlich, die Familie wird kurzfristig in lebhaften Gefühlen wiederentdeckt, die familiäre Vertrautheit stellt sich im Schenken und in der Freude überraschend neu her. Von hier aus könnte die Geschichte ganz verschieden weiter verlaufen, auch wenn sie auf die Situation vor dem Besuch des Mannes zurückfällt und der Alltag wieder seinen üblichen Lauf nimmt.

Was bleibt uns anderes, als solche Brüche im Alltag besser verstehen zu wollen? Vielleicht entsteht in ihnen der Eindruck der Unwirklichkeit, ein Hinweis auf etwas Unheimliches im Hintergrund. Aber sich damit zu beschäftigen wird doch nur über die existenziellen Bestandteile möglich sein, sie sind es, in denen die Situation überhaupt besteht. Nicht die ganze Situation wird unheimlich, nicht die Fremdheit ist allumfassend, nicht alle könnten auch Zombies sein – das sind abgehobene Fantastereien. Interessant ist einzig, warum solche Situationen sein müssen, warum sie so sind, wie sie sind, und ob es in ihnen eine Tür nach außen gibt.

Andererseits ist der Tradition von Cavell zuzugestehen, dass es eine schwere und eigenständige Aufgabe ist, die Situation zu erkennen, dass das richtige und falsche Erkennen ein Schlüsselmoment darstellt und das Gewöhnliche das Erkennen eher nicht erleichtert. Kurzum, es gibt ein Problem des Erkennens.

Das transzendent Alltägliche

»Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in der Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ›Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‹ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und fragt: ›Was zum Teufel ist Wasser?‹« Diese Parabel von David Foster Wallace erneuert den anfangs eingeführten Konflikt zwischen Philosophie und Leben. Die Existenz der Fische hängt vom Wasser ab, dennoch kennen sie Wasser nicht. Was unsere Existenz alltäglich trägt, ist schwer zu erkennen und leicht zu übersehen. Lebenswichtige Tatsachen setzen wir voraus und ignorieren wir. Das klingt zunächst harmlos, denn wenn sie lebenswichtig sind und wir leben, mögen sie weiter ihre Wirkung entfalten, wozu sollen wir sie erkennen? In dieser Hinsicht ist die Parabel irreführend, das Wasser trägt die Fische, ob sie es wissen oder nicht. Menschen leben weniger von Wasser oder Luft, als vielmehr von ihren geistigen Fähigkeiten, die lebensnotwendigen Tatsachen stecken in den Voraussetzungen dieser Fähigkeiten. Weil die Umwelt ein Spiegelbild ihrer geistigen Fähigkeiten ist, verstecken sich die Tatsachen auch in der Umwelt, also im Alltäglichen. Diese zu erkennen, das Lebensnotwendige vom nicht Notwendigen unterscheiden zu lernen, ist für Erkennende wichtiger als bei Fischen.

Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Fische, worin ein Problem steckt. Wie soll man das, was Teil der persönlichen Welt ist, erkennen, und wenn man es erkennt, wie soll man dazu eine kritische Haltung einnehmen? Wenn ich es bin, der erkennt, und ich mein Erkennen erkennen soll, bringe ich mich dabei ja immer schon mit. Das Ergebnis ist dann doch eher ein Übersehen als ein Erkennen. Was lebenswichtig ist in meiner persönlichen Welt, scheine ich nicht erkennen zu können, denn als lebenswichtig blendet es aus, dass ich es als von mir unabhängig als Gegenstand wahrnehme.

Sie können einwenden, aber meine Nahrung kann ich doch erkennen und die ist lebenswichtig. Der Einwand zeigt, dass eine Unterscheidung nötig ist. Die Nahrung hält mich am Leben, wie sie alle biologischen Organismen am Leben erhält. Sie ist eine Voraussetzung, aber keine direkte Hilfe für mein menschliches Leben, für die Art und Weise, wie ich mein Leben leben soll. Man kann es auch so ausdrücken: Die Nahrung trägt nichts zu meinem Erkennen bei und nur über das Erkennen kann ich mein Leben menschlich leben. Gut Kochen und Essen ist Leben, aber keine Hilfe im existenziellen Alltag. Nahrung ist lebenswichtig, allgemein gesprochen, aber nur eine Voraussetzung, keine Hilfe für das Wie des Lebens.

Damit kehren wir insofern zum Konflikt zwischen Leben und Philosophie zurück, als sich mit der Fischparabel die Fragwürdigkeit des Alltäglichen erweitert. Die Anekdote des geschiedenen Familienvaters illustriert eine gewöhnliche Alltäglichkeit, wie sie im durchschnittlichen Leben immer vorkommt, manchmal sogar gehäuft bei Situationen der Krankheit, des Verlusts, des Versagens oder der Demütigung. Diese Situationen empfehlen oder zwingen uns, die gewohnte Lebensweise zu überdenken und Entscheidungen zu treffen. Die Rezepte sind aber wiederum gewöhnliche, eine nachgeholte Ausbildung, eine endgültige Trennung, eine Therapie. Auch wenn wir Teile unserer Lebenswelt verändern, ändern wir wenig an der Bedeutung dieser Teile selbst, wir verändern bestenfalls die Gewichte. Und wir halten uns an eine Strategie, die von den unmittelbaren Schmerzen und Bedürfnissen vorgegeben wird. Wenn auch persönlich notwendig, verläuft diese Selbstbefreiung immer noch innerhalb der Grenzen des Gewöhnlichen. Der geschilderte Zirkel der Selbsterkenntnis wird nicht durchbrochen, wenn der dominante Antrieb die herrschenden Gefühle und Ansichten sind. Aber lässt sich der Zirkel überhaupt durchbrechen?

Nicht prinzipiell, aber graduell. Die philosophische Methode unterscheidet sich von einer therapeutischen dadurch, dass sie keine persönliche Betroffenheit voraussetzt, von ihr nicht geleitet wird und dass sie durchweg diskursiv vorgeht. Der, auf den ersten Blick ärgerliche Beginn bei dieser Methode ist das kontextlose Fragen, besonders das Fragen gegenüber existenzialen Tatsachen, das sind Tatsachen, derer wir uns meist nicht einmal als Tatsachen bewusst sind. Eine bestimmte Art von Fragen macht sie bewusst. Solche Fragen sind beispielsweise: Warum überhaupt fragen (statt es lassen), warum überhaupt etwas tun (statt nichts zu tun), warum etwas glauben (statt zweifeln), warum lieben (statt träumen), warum leben (statt zu sterben)?

Was man von diesen Fragen halten soll, ist nicht klar. Sie erstrecken sich von einer allgemeinsten Fragerichtung hin zu einer konkreteren, alltäglichen. Die allgemeinste Richtung zeigt sich dann, wenn man sie so aufnimmt, dass sie nichts voraussetzen. Dann sind es, könnte man sagen, ›transzendente‹ Fragen, sie transzendieren das, was wir gewöhnlich annehmen. Vertrauter werden sie, wenn man sie in einen uns bekannten Rahmen stellt. Auch dieser Rahmen kann noch sehr allgemein sein, allgemeiner als unsere Alltagssorgen, aber doch auf diese rückbezogen. Diese zweite Kategorie könnte man ›immanente‹ Fragen nennen. Bei den transzendenten Fragen wissen wir in der Regel nicht, ob und wie wir sie beantworten können. Sie bleiben tendenziell offene Fragen, bleiben immer etwas rätselhaft, sind eher Weisen der Mahnung als des Fragens. Die immanenten Fragen verstehen wir als Fragen mithilfe dessen, wonach sie fragen, wir können aber oft mehrere Antworten auf sie geben. Bei diesen Fragen sind wir uns sicherer, zögern aber meist zwischen verschiedenen Ansichten, Gewissheiten und Lösungen.

Um diese abstrakte Unterscheidung zu illustrieren: ›Warum überhaupt etwas tun?‹ ist als transzendente Frage eine, bei der man unser menschliches Selbstverständnis völlig verlassen müsste. Dazu müssten wir uns in eine Existenz hineindenken, die in keiner Weise zum Handeln in der Lage ist, wie etwa meditative Bäume oder der Ozean in Lems Solaris, von dem nicht klar ist, ob er handelt. Da man auf diese Weise mit einer Grenze zu tun hat, kann man jenseits und diesseits der Grenze spekulieren, und der Drang dazu, diesseits zu bleiben, also im Rahmen unserer menschlichen Eigenart, ist offensichtlich. Allerdings treibt uns das Bedürfnis, auch die transzendenten Fragen zu beantworten, dazu, sie in immanente Fragen umzudeuten. Anstatt uns selbst die Kategorie des Tuns fiktiv vollständig zu verweigern, versteht man die Frage dann etwas mäßiger so, ob nicht ein Leben der Trägheit und Faulheit besser wäre als ein aktives. An diesem Beispiel zeigt sich: Wenn wir irgendeinen praktischen Sinn von diesen Fragen gewinnen wollen, dann müssen wir sie immanent lesen; wenn wir dabei aber nicht vorschnell auf unsere gewohnte Lebensart zurückfallen wollen, müssen wir die transzendente Version dennoch im Spiel lassen. Tun wir das nicht, landen wir bei einer öden Hausapotheke der Lebensweisheit.

Vor allem die Kategorie der transzendenten Fragen wirft ihrerseits die Frage auf, wann eine Frage sinnvoll ist. Dass sich diese Fragen an der Grenze unserer Lebensart bewegen, heißt ja auch, dass sie ein Jenseits ansteuern und deshalb nicht nur nicht beantwortbar, sondern auch nicht sinnvoll sein könnten. Wie schnell sich das Weltall ausdehnt, ist sinnvoll zu fragen, auch wenn man keine Methode kennt, wie man es ermitteln soll. Transzendente Fragen sind darin anders, dass sie keinen menschlichen Standpunkt voraussetzen (wie hier mit dem Begriff Schnelligkeit), von dem aus man einen sinnvollen Zugriff auf die Frage hätte. Will man sie dennoch verstehen, so nur als fiktive Endpunkte immanenter Fragen. Die Handlungslosigkeit von Bäumen kann ich mir als extreme Passivität vorstellen, ohne alle Konsequenzen zu überblicken, die mit völliger Passivität verbunden wären. Ähnlich geht es uns bei kongenitaler Blindheit oder Taubheit, bei Menschen mit Locked-in-Syndrom oder Ähnlichem. Nähert man sich einer Grenze von einer Seite und ist es tatsächlich eine Grenze im Sinn des Gegensätzlichen, dann hat man aufgrund des Gegensatzes immer noch eine Ahnung, was jenseits der Grenze gelten könnte, auch wenn man keine Sachverhalte formulieren kann, die jenseits der Grenze zutreffen. Im Bewusstsein dieses Grenzproblems sind transzendente Fragen immer noch sinnvolle Fragen.

Nicht nur für transzendente, auch für immanente Fragen gilt, dass sie nicht einfach mit ja oder nein beantwortet werden können. Deshalb folgt in diesem Buch der kurzen Antwort auf eine Frage, die wo möglich mit ›ja‹ oder ›nein‹ beantwortet wird, immer eine lange Antwort, die das Ja oder Nein (oder ein Jein) erklärt. Auch für immanente Fragen gilt, dass die Qualität einer Antwort nicht einfach in der Wahrheit oder Falschheit des Ja oder Nein liegt, sondern nur in deren Erklärung. Eine Frage versteht man, wenn man den erfragten Sachverhalt versteht. Man versteht ihn besser oder schlechter, je nachdem, wie umfangreich oder analytisch befriedigend die Erklärung ist.

Immanente Fragen bewegen sich in unserer Lebensart und benötigen unsere Lebenserfahrung. Sie sind damit in Gefahr, deren Vorurteile und Ungenauigkeiten zu übernehmen. Das Frage-Antwort-Spiel muss in die Fragen selbst hineinführen, solche Fragen zu beantworten bedeutet in der Regel, sie zu verändern und genauer zu stellen. Weil es dabei kaum je eine einzig mögliche Erklärung gibt, liegt die Qualität der Antwort meist darin, dass sie das Argumentationsfeld der Fragen und Antworten in seinen Umrissen aufdeckt. Dann sollte jemand, die mit der Antwort nicht zufrieden ist, auch eine für sie selbst finden können. Oder auch eine besser gestellte Frage finden – die beste Antwort auf eine Frage ist manchmal eine andere Frage. Immanente / transzendente Fragen sollten generell weniger zu einer Antwort führen, als vielmehr zu einem Raum der Nachdenklichkeit, den man – ein wenig gerüstet – erst einmal zu betreten lernt.

Der Wind des Denkens

Transzendente Fragen führen zu keinen konkreten Lebensratschlägen. Sie sind nicht unmittelbar, aber indirekt praktisch, insofern sie das verhärtet Alltägliche erschüttern. Sie ärgern ernste Menschen und prallen an der Zufriedenheit mit dem Alltäglichen leicht ab. Die Nützlichkeit von transzendenten Fragen liegt nicht auf der Hand, häufig bleiben sie mysteriös und vieldeutig. Sie sind keine Handlungsanleitung, sondern ein Anstoß zur Vorsicht. Denn sie machen klar, dass unser Leben einen Untergrund hat, den wir selbst nicht kontrollieren können. Wir sind abhängig, ohne zu wissen, wovon. Diese Fragen sind ein Anstoß zum Denken, denn sie sind, bis zum Widerlegen des Gegenteils, einerseits sinnvoll, aber zugleich irgendwie versperrt. Jemand, den diese Kombination irritiert, ist für das Denken möglicherweise zu gewinnen.

Während ich bei der Fischparabel vom Zirkel des ›Erkennens‹ gesprochen habe, fällt jetzt das Wort ›Denken‹. Die Unterscheidung geht insbesondere auf Kant zurück, der zwischen Erkennen und Denken streng getrennt hat. Erkennen geschieht in Abhängigkeit vom Wahrnehmen, Denken hingegen ist vom Wahrnehmen unabhängig und operiert auf dem (vermeintlich) Erkannten. Das Denken ist die Kontrollinstanz des Erkennens. Hannah Arendt hat die Folgen dieses Unterschieds plastisch geschildert. »Denn das Hauptmerkmal des Denkens ist, dass es alles Tun unterbricht. … Tun und Leben … behindern auf jeden Fall das Denken.« Denken ist nicht nur nicht wahrnehmen, sondern ein Rückzug vom Wahrnehmen, der Gegenstand des Denkens wird ein geistiger Gegenstand. In lebhafter Gegenwart eines anderen können wir über ihn nicht gut nachdenken: Über ihn nachdenkend, sagt Arendt, müssen wir uns von ihm trennen, als wäre er nicht mehr anwesend. Daraus lässt sich auch folgern, dass Leben und Handeln mit dem Denken in fortwährendem Konflikt stehen, und das Denken mit ihnen. Das Denken benötigt immer eine Distanz zum Handeln und im ernsten Fall eine Auszeit.

Nur zu handeln ist eine Umschreibung für das Gewöhnliche. Die vorhandenen Bedeutungen werden dann akzeptiert und es wird gehandelt. Nur zu denken ist ebenso wenig empfehlenswert, denn auf die Dauer geht dabei das Erkennen verloren und wird durch gesteigerte Abstraktionen ersetzt. Eine solche Tendenz zeigt sich an Teilen der Philosophie, soweit sie sich mit Begriffen anstelle von Erfahrungen beschäftigt. Begriffe sind der Kerninhalt des Denkens, und mit ihnen beginnt nicht zufällig das Denken. Alle Dialoge von Sokrates zielen auf Begriffe, die als unverstanden entlarvt werden, aber sich auch im kollektiven Versuch (Sokrates und seine Gesprächspartner) nicht befriedigend definieren lassen. Es ehrt Sokrates, dass er in seinem Denken zu keinem Ergebnis kommt und in diesem Sinn ›weiß, dass er nichts weiß‹, wie es andererseits ein kritisches Licht auf Platon wirft, der meint, Sokrates übertreffen zu müssen, und eine philosophische Theorie entwickelt. Gerade darin folgen die meisten Philosophen bis heute Platon und nicht Sokrates. Die bessere Konsequenz wäre, die Lösungen nicht in den allgemeinen Begriffen zu suchen, sondern eine Etage tiefer im Umgang mit existenziellen Lebensproblemen.

Liegt der Fehler mit dem sich verstetigenden Studium der Begriffe also in deren Allgemeinheit und darin in der Abtrennung vom realen Leben? Und genügt es, zu den konkreten Themen des Lebens zurückzukehren oder den Kontakt mit ihnen nicht zu verlieren? So einfach ist es nicht, weil eben vor den Themen des Lebens die Mauer des Gewöhnlichen steht, und das Gewöhnliche hat ebenfalls die Eigenschaft des Allgemeinen. Beides, die philosophische Begriffsallgemeinheit und das alltägliche Allgemeine, haben gemeinsam, dass sie unpersönlich sind. Unpersönlich zu sein hat in bestimmten Kontexten Vorteile, etwa im Recht oder in der Wissenschaft. Aber unser je individuelles Leben sollte persönlich und nicht allgemein gelebt werden. Wird es allgemein, also gewöhnlich, gelebt, wird es eigentlich nicht gelebt. Und wie wir oft entdecken, ist das durchschnittliche Leben nicht automatisch persönlich, sondern tendiert vielmehr automatisch dazu, unpersönlich zu sein. Wir glauben gern, was die anderen glauben, tun dasselbe, übernehmen eine ganze Welt, wie sie vor uns entstanden ist und sich uns zu unseren Gunsten aufdrängt. Unter diesen Bedingungen persönlich zu werden, bedeutet eine Anstrengung.

Zuallererst eine Anstrengung des Denkens. Wenn das begrifflich Allgemeine dabei keine Hilfe ist: Prinzipien, Gesetze, Gebote, denen man vertrauen kann; und wenn das Konkrete vom Gewöhnlichen überlagert ist, die alltägliche Erfahrung von Klischees, Stereotypen, Wiederholungen durchzogen ist, woran soll man sich dann halten? Das vielleicht beste Stichwort dazu ist ›Genauigkeit‹. Genauigkeit richtet sich aus am Gegenstand, und wenn man den Gegenstand genau ansieht, entdeckt man seine verborgenen Eigenschaften. Diese Eigenschaften erzeugen meist weitere Fragen, die Lebensdinge lassen sich nicht endgültig erkennen oder definieren. Darin teilen sie das Los der offenen Enden in Sokrates’ Dialogen. Und nur weil sie offene Enden haben, können sie persönlich sein. Ein persönliches Leben ist eines, in dem die Lebende eine eigene Haltung zu den existenziellen Dingen einnimmt, also eine, die sich vom Gewöhnlichen unterscheidet.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Das Denken kann das Erkennen, die Erfahrung und das abenteuerliche Leben nicht ersetzen. Denken kann kein Brot backen und kein Medikament herstellen. Deshalb, nichts gegen das Erkennen und die Tatkraft, nichts gegen Brot und Medikament. Nur eben, im Erhalt des Lebens allein liegt nicht der eigentliche Sinn. Der Sinn ist auch nicht gewöhnlich vorgegeben, sondern muss gefunden werden. Das zu tun ist nicht zwingend, aber empfehlenswert. Arendt vergleicht es mit dem Wind, dem man sich anschließen kann: »Der Wind des Denkens offenbart sich nicht in Erkenntnis und Wissen, sondern in der Fähigkeit, Richtiges vom Falschen, Schönes vom Hässlichen zu unterscheiden. Und damit mögen in der Tat Katastrophen verhindert werden, zumindest für mich selbst – in jenen seltenen Augenblicken, in denen alles auf dem Spiel steht.«

Im Spiegel

1Kann man die Frage nach dem Sinn des Lebens ernst nehmen?

kurze antwort: ja, indem man an Zwiebeln riecht.

lange antwort: Es ist nicht klar, ob es überhaupt jemanden gibt, der sich für die Frage nach ›Lebenssinn‹ im Allgemeinen interessiert, abgesehen von manchen Philosophen. Sicher, man kann über den Lebenssinn nachdenken, wenn die Tage langweilig und öde sind. Aber eigentlich interessiert man sich doch dafür, warum gerade diese Tage langweilig und öde sind. Vielleicht stößt man auf die Frage, wenn man vor einer gefährlichen oder folgenreichen Entscheidung steht. Aber auch dann flirrt die allgemeine Frage, wenn überhaupt, eher am Rand dessen, was einen eigentlich bewegt: das Risiko, die Folgen, die Alternativen, die Vorgeschichte. Wie bin ich eigentlich hier hineingekommen, und was mache ich jetzt? Auf keinen Fall ist es generell sinnlos, sich in Gefahr zu begeben, wie es auch nicht schon sinnlos ist, Langeweile zu kennen, ja in Langeweile zu schwelgen. Kurzum, die Frage nach dem Lebenssinn ist ein eigenartiges Tier unter den vielen Dingen, die uns so bewegen. Sie spricht sich leicht aus, aber ist sie sinnvoll?

Ein nicht zu übersehender Hinweis auf die Sonderlichkeit der Frage ist natürlich auch, dass sie häufig zu einem Gegenstand der Komik wird. Das liegt einfach nahe, wenn man die Frage an das menschliche Leben ganz allgemein richtet, sie nicht aus einer Lebenskrise heraus stellt, sondern spielerisch auf der Leinwand oder im Kinosessel. Dann ist die persönliche Betroffenheit ausgeblendet und es wird ein Spiel, dessen Komik unvermeidbar ist. Die Antwort des Supercomputers Deep Thought aus Per Anhalter durch die Galaxis, der Sinn des Lebens sei 42, geht dann leicht von der Hand. Freilich gibt es Perspektiven, in denen die Frage nicht ganz so komisch erscheint. Das sind aber nicht alltägliche. So etwa bei einem Blick auf ein konkretes ganzes Leben aus der Sicht eines Biographen oder, in Tolstois Schilderung, vom Todesbett Ivan Iljitschs aus. In dieser Perspektive erscheint die Frage überfordernd und lässt einen hilflos. Nur als Gegenstand der Komik können wir die Frage also nicht abtun.

Die Antwort ›42‹ ist insofern aufschlussreich, als sie mit ihrer Albernheit, vielleicht sogar gewollt, die Unmöglichkeit der Frage selbst andeutet. Die Frage ›Ist das Leben sinnvoll?‹ ist nämlich zweifach falsch gestellt. Einmal, insofern sie einen Sinn erfragt, der für alle Menschen gleich sein sollte. Dass es einen solchen Sinn gibt, abgesehen von Banalitäten wie dem Erfüllen der elementarsten Bedürfnisse, würde das Diktat einer externen Macht voraussetzen, etwa einen Gott, der allen Lebewesen einen Sinn zuteilt. Manche erfinden einen Quasi-Gott, etwa die Nation oder die Evolution, aber das sind schlechte Erfindungen. Derselbe Fehler kann sich aber auch im individuellen Fall wiederholen, indem auch nach Einführen eines Akteurs mit Blick auf sein Leben, wie bei Ivan Iljitsch, die Erwartung besteht, der Lebenssinn müsse irgendwie von außen kommen, nur eben informativer als 42. Sicher, in irgendeinem dünnen Sinn muss die Antwort von außen kommen, wenn man sie noch nicht hat. Doch was heißt dann außen? Selbst angemessenere Antworten unterliegen noch der Gefahr, die Situation dessen, der da fragt, auszublenden.

Das zeigt sich auch an den Beiträgen von Susan Wolf, die unter den akademischen Philosophinnen heute die ausführlichsten Bemerkungen zu dieser, von der Zunft sonst gern gemiedenen Frage macht. Wolfs Vorschlag lautet: Lebenssinn entsteht durch eine aktive Beziehung zu wertvollen Dingen. Klärend ist dabei, wie sie vorweg Lebenssinn vom Glück unterscheidet. Glück ist ein Erfolgszustand, ein zu erreichendes Gutes, während Sinn eine Voraussetzung dafür ist, Glück erreichen zu wollen und zu können. Sinn ist die Hoffnung für ein ganzes, irgendwie geordnetes Leben, Glück ist eine Zugabe, etwas, das sich vielleicht einstellt, das aber nicht ganz kontrollierbar ist. Manche Aufgaben und Pläne können sogar sinnvoll sein, obwohl sie Unglück nicht klar vermeiden: einen Mächtigen kritisieren, einen Berg besteigen, in den Krieg ziehen. Manche Absichten können gerade darin sinnvoll sein, dass sie zum eigenen Unglück führen müssen: ein Kind bei Todesgefahr retten, den Diktator töten. Manche Lebensumstände lassen Glück nicht zu, störten den Sinn, wenn man bequem das Glück wählte. Auch wenn Glück wunderbar ist, lebensnotwendig ist Sinn. Ein wenig plakativ wird das illustriert durch die Figur Winston in Orwells Dystopie 1984. Winston hat unter der Folter seinen Glauben an Wahrheit verraten und damit sich selbst. Er wird im Café der lebenden Leichen als bereits gestorben geschildert.

In der neueren Philosophie, in einer Sparte des Existenzialismus, wurde nahegelegt, dass dieser Zustand uns alle betreffen könnte. Der berühmte Urheber dieses Verdachts war Albert Camus, der während des Zweiten Weltkriegs das menschliche Leben als generell ›absurd‹ zu schildern versucht hat. Absurd zu sein, zieht Sinnlosigkeit nach sich. Im normalen Leben erscheint etwas als ›absurd‹, wenn es im Kontrast zu einem höheren Anspruch steht. Es scheint absurd zu sein, wenn ein Metzger eine Petition zum Tierschutz unterschreibt. Absurd ist dann die Handlung aufgrund der Lücke zwischen dem Ziel oder Wert und dem sich bemühenden Menschen. Die Lücke belegt die Vergeblichkeit des Unterfangens. Camus hat seine Diagnose der generellen menschlichen Absurdität durch Schilderungen eines bleiernen Lebens und tiefer Teilnahmslosigkeit sowie einiger Argumente zu belegen versucht. Merseault, die Hauptfigur in Der Fremde, ist einerseits teilnahmslos gegenüber dem Leben, seinem eigenen und fremden, vergleichbar einer gesteigerten Depression, ohne diese Teilnahmslosigkeit selbst zu erkennen. Er hält seine Apathie für den normalen Zustand aller. Angesichts der Todesstrafe für den von ihm willkürlich begangenen Mord greift er dann auch zu Argumenten. Die entsprechenden Gedanken kennen wir meist aus eigener Erfahrung. Thomas Nagel schildert sie in einem bekannten Essay ›Das Absurde‹ ausführlicher: Alles, was wir tun, ist beliebig, wir sind leicht ersetzbar, bedeutungslos angesichts der Geschichte, nur ein Fünkchen unter Milliarden anderer Menschen, usw. Das einzelne Leben erscheint absurd, weil und wenn es unter einem sehr großen Maßstab gesehen wird.

Dieser Kontrast zwischen Merseaults zunächst unbewusst verloren gegangenem Sinn und seinen expliziten Argumenten für Sinnlosigkeit ist erhellend, denn er verweist auf zwei Ebenen des Sinnverlusts, die persönliche und die allgemeine. Entgegen seinem Versuch, allgemeine Argumente für Sinnverlust anzuführen, ist Merseaults Problem doch ein persönliches. Keine philosophischen Argumente könnten ihn aus seinem Weltverlust herausführen. Zeitbedingt versucht im Roman nicht ein Philosoph, sondern ein Priester ihn im ›Namen Gottes‹ vom Gegenteil zu überzeugen. Aber auch ein Philosoph hätte nicht mehr Erfolg, denn er müsste ihm die Fragwürdigkeit der Kontrastvergleiche, also einer Voraussetzung seiner Argumente, vor Augen führen. Wie kann man das aber, wenn jemand die Perspektive der guten Dinge des Alltags verloren hat? Der Sinn ist von Haltepunkten abhängig, und ohne Haltepunkt scheint die Perspektive des Universums ebenso möglich wie diejenige des bisherigen, offen gewordenen Einzellebens. Wenn alles beliebig wird, gibt es mit Gründen keinen Ausweg. Lebensrelevante Gründe setzen einen Ansatzpunkt im Leben bereits voraus, ohne ihn greifen sie nicht mehr. Merseaults Argumente sind eine hilflose Verteidigung gegenüber dem Priester, durch die weniger die Romanfigur als vielmehr Camus selbst spricht. Als Romanfigur ist ihm mit Argumenten nicht zu helfen, es sei denn, sie gingen in sein Innerstes, in dem vielleicht noch ein wenig konkreter Lebenssinn versteckt ist.

Der Zustand einer ins Extrem getriebenen Teilnahmslosigkeit, wie Merseault sie im Roman repräsentiert – und er hat in der Trivialliteratur in Gestalt der beliebten Serienmörder viele Nachfolger –, ist ein pathologischer Zustand, der nicht durch Überzeugungen, sondern nur durch Therapie zu behandeln wäre. Ihn als philosophische Diagnose aufzufassen, ist ein erstaunlicher Irrtum, der die Wirkung und Reichweite von rationalen Überlegungen grotesk überschätzt. Entsprechend unplausibel sind auch die Folgerungen, die aus ihnen gezogen werden. Camus erwägt in seinem Werk erst dramatisch den Selbstmord, entscheidet sich aber dann zu einem rebellischen ›Trotzdem‹. Sisyphos ist nach ihm der Held des Absurden, weil er seine sinnlose Aufgabe, den Stein den Berg hinaufzurollen, zu einem Lebensgenuss uminterpretiert. Ähnlich äußert sich der alte Fischer in Hemingways berühmter Erzählung über einen erfolglosen Fischfang nach aufopferungsvollem Kampf mit dem Fisch. Nagel entscheidet sich in seinem Essay zum Absurden für eine entspannende Ironie. Beide Folgerungen – das kämpferische ›Dennoch‹ angesichts völliger Sinnlosigkeit und das ignorierende ›Nun mal halblang‹ – sind beim generellen Sinnverlust nicht einleuchtend. Zur Rebellion neigt man nur, wenn man unter Sinnverlust leidet; leidet man, hat man immer noch Sinn. Leid setzt einen positiven Kontrastzustand voraus, der ohne destruktive Lebensverweigerung sinnspendend sein muss. Und Ironie setzt Sinn voraus, der wiederum nicht nur ironisch sein kann. Ein Kind daran hindern, in den Mixer zu greifen, benötigt keine Ironie, und es zu tun ist sinnvoll. Wenn das sinnvoll ist, so vieles andere auch.

Die bessere Folgerung aus der Camus-Lektüre ist vielmehr: Das ganz allgemeine Bedenken unserer Lebenssituation, das Philosophen manchmal betreiben, kann uns bestenfalls in Nachdenklichkeit versetzen, und darüber hinaus in Dankbarkeit gegenüber unserem konkret aktuellen Standpunkt. Das allgemeine Denken vermag hingegen nicht, die allerunterste Ebene dieses Standpunkts selbst zu gewinnen, wenn sie verloren ist, oder sie aufzugeben, wenn man sie hat. Ein leicht entstehendes Missverständnis dessen, was das allgemeine Bedenken vermag, prägt auch die weitere Diskussion der Diagnose von Susan Wolf. Wie geschildert, entsteht der Lebenssinn nach Wolf durch eine ›aktive Beziehung zu wertvollen Dingen‹. Wolf selbst, und andere nach ihr, haben den Blick auf diese zwei Angelpunkte gerichtet, ›aktive Beziehung‹ und ›wertvolle Dinge‹. Aus einer typischen Voreingenommenheit stürzen sich Philosophen dann lieber auf das Verständnis der wertvollen Dinge als auf die Qualität der aktiven Beziehung. Ihre Hauptfrage ist meist: Welches sind die wertvollen Dinge, die ein Leben sinnvoll machen? Völlig abwegig ist das natürlich nicht, denn der Zweifel am Lebenssinn im Kleinen entsteht gerade so. ›Ist das jetzt sinnvoll, was ich mache?‹, fragt eine alleinerziehende Mutter. ›Konzerte oder Reisen?‹ fragt ein Pensionär angesichts ungewohnt neuer Freizeit. Das Interesse an wertvollen Dingen ist verständlich.

Diese konkreten Fragen ins Allgemeine zu heben, führt aber zu einer bedauerlichen Verwirrung. Eine Enzyklopädie der ›guten Dinge‹ (wozu der Theoretiker leicht neigt) ist unmöglich, während eine Theorie der Möglichkeit von Werten, also ›dem Wertvollen‹ an Dingen für sich, uninteressant wird. Am Ende ginge es dabei nur um eine technische Rekonstruktion, wie Wert generell zustande kommt, die niemandes konkretes Leben zu erhellen vermag. Interessant sind vielmehr gerade die Begleiterscheinungen des Strebens nach wertvollen Dingen. Es gibt Werthierarchien und damit bessere und schlechtere Leben, sogar sinnlose Leben. Das ist offensichtlich. Gibt es dann auch schlechtere Leben, die unfreiwillig sind, wie bei einer körperlichen oder geistigen Behinderung? Das ist die eigentlich interessante Frage, weil sie schnell zu sozialen Folgen führt. Bevor man zu ihr etwas sagt, sollte man sich mit dem anderen Ende, der ›aktiven Beziehung‹, also dem subjektiven Standpunkt gegenüber den wertvollen Dingen, beschäftigen.

Dann zeigt sich, dass er der Zugangsschlüssel auch für die wertvollen Dinge ist. Mit dem Reden von einer ›aktiven Beziehung‹ kommt eine Denkweise ins Spiel, die dem Verdacht der Sinnlosigkeit völlig entgegengesetzt ist. Der Existenzialismus hat zwei Fraktionen, die idealistische von Camus und die realistische von Sartre. Die erste versucht den Sinn zu lesen und zu finden, die zweite versucht ihn herzustellen, die erste ist passiv, die zweite aktiv, dem Problem des Sinns steht das Problem der Freiheit gegenüber. Die aktive Beziehung, ist sie bis auf den Grund aktiv, ist keine, die Sinn sucht, sondern eine, die frei handelt. Während die eine leicht verzweifelt, weil sie den allgemeinen Sinn nicht findet, sieht sich die andere immer unter dem Zwang, eigenständig und verantwortlich zu handeln. Diese beiden Diagnosen der menschlichen Lebenssituation liegen nahe beieinander, sind aber nicht identisch. Das Dennoch von Camus erscheint weniger willkürlich und beliebig, wenn deutlicher wird, dass das Leben sinnvoll ist, wenn man sich das Ausmaß seiner Verantwortung für es genügend klar macht – und das innerhalb einer gegebenen Situation, die man nur stückweise verändern kann. Man sucht dann keinen allgemeinen Sinn, sondern handelt konkret. Das ist die realistische im Unterschied zu einer uferlos werdenden idealistischen Einstellung.

In der Konsequenz plädiere ich dafür, die Frage nach dem Lebenssinn begrenzt ernst zu nehmen. Man muss sich davor hüten, der Neigung zum idealen Standpunkt im Universum nachzugeben, einen Sinn von ganz außen herleiten zu wollen. Nur so vermeidet man Komik oder pompösen Existenzialismus à la Camus. Die wiederkehrenden Gefühle des Sinnverlusts bekämpft man besser damit, die einfachsten Haltepunkte im eigenen Leben ausfindig zu machen, denn sie zeigen ja, dass nicht jeder Sinn verloren und vielmehr ein neues, bisher nicht bekanntes Handeln möglich ist. Wie erkennt man den Unterschied zwischen dem ›All is lost‹ und einem möglichen Haltepunkt? Man legt einige reife Tomaten und grüne Zwiebeln vor sich auf den Tisch und schließt die Augen. Wenn der Geruch beider eine Wirkung hat, ist das Leben nicht sinnlos. Nicht im Allgemeinen und nicht in meinem verzweifelten Fall.

2Warum etwas tun, obwohl es vorhersehbar keine Wirkung hat?

kurze antwort: Weil man sich leicht darin täuschen kann, wie die Wirkung entsteht.

lange antwort: Die Frage ist natürlich berechtigt, denn wüsste ich bereits sicher, dass ich den verlegten Schlüssel in der Wohnung nicht finden werde, würde ich keine Zeit darauf verschwenden, ihn zu suchen. Der Arzt würde ein Medikament nicht verordnen, wäre er über dessen Nutzlosigkeit im Bilde. Unser ganzes Handeln ist seinem Wesen nach darauf ausgerichtet, in der Welt etwas zu bewegen, meist etwas zu unseren Gunsten. Wenn das auch grob gesehen stimmt, stimmt es nicht uneingeschränkt.

Im Kontrast zu den direkten Verhältnissen zwischen Handlung und Wirkung stehen bereits diejenigen, in denen die Wirkung nur wahrscheinlich oder nur nicht völlig unmöglich ist. Den Liebesbrief schreibe ich, weil ich hoffe, dass er eine Wirkung erzielt, wenn auch ungewiss. Der Impfung unterziehe ich mich, weil die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ich dadurch gesund bleibe. Das Gebet spreche ich, weil ich hoffe, dass ein Gott es hört. Den Lottoschein gebe ich ab, weil ich nicht ausschließen kann, dass ich Millionär werde. In jedem dieser Fälle ist eine erwünschte Wirkung meiner Handlung zu erwarten, irgendwo im Kontinuum von hoch bis minimal wahrscheinlich, ja bis nicht unmöglich. Einen Liebesbrief zu schreiben in Kenntnis dessen, dass die angesprochene Person nicht existiert, wäre dagegen sinnlos. Sich einer Impfung zu unterziehen, die man für wirkungslos, ja gefährlich hält, wäre irrational. Ob eine Wirkung in Aussicht steht, scheint also ein praktikables Sinnkriterium für Einzelhandlungen zu sein. Nun gibt es aber eine wichtige Zahl von Fällen, in denen gerade diese Forderung nach der Wirkung zu Problemen führt: ›kollektive Handlungen‹.

Mit diesen Handlungen ist nicht die Handlung eines Kollektivs gemeint, sondern die Handlungen einzelner Akteure innerhalb eines Kollektivs. Die Beispiele dafür sind zahlreich und berühren die sozialen Grundlagen unseres Zusammenlebens, vor allem in den modernen, zahlenmäßig großen Gesellschaften. Die zwei vielleicht wichtigsten Beispiele zeigen sofort, dass ohne die aktive Beteiligung vieler Teilnehmer in Kollektiven schlimme, ja chaotische Lebensverhältnisse einträten. Das betrifft aber Handlungen, deren singuläre Wirkung zweifelhaft oder sogar klar nichtexistent erscheint. Was wir mit den eben geschilderten Beispielen als unbedingt nötig erwiesen haben, scheint bei diesen Handlungen nicht gegeben zu sein. Weil wir als Handelnde so typisch immer auf eine Wirkung schielen, bleibt dieser Aspekt den meisten Menschen leicht verborgen. Wie sich zeigt, ist das für alle sogar vorteilhaft. Weniger klar ist jedoch, ob es sinnvoll und rational ist. Ein nachdenklicher Akteur könnte sich verweigern und die zunehmende Verweigerung bei kollektiven Handlungen würde die ganze Gesellschaft gefährden. Weder der naive Glaube an die Wirkung noch die sozial destruktive Wirkungsagnostik sind stabile Lösungen.

Die beiden heute sozial wichtigsten Fälle kollektiven Handelns sind die Beteiligung an einer demokratischen Wahl und das Umweltverhalten. Helfe ich als Dritter mit, einen Schrank zu tragen, den meine Freunde ohne mich nicht über die Treppe bekämen, ist meine Teilnahme ersichtlich sinnvoll. Wähle ich unter Millionen einen Parteikandidaten, so hat meine Wahl keine direkte Wirkung, denn den Fall, dass eine einzelne Stimme in einer solchen Wahl über den Kandidaten entscheidet, gibt es praktisch nicht. Selbst in den USA, wo das ›Winner-takes-it-all‹-System in den letzten Jahren zu sehr knappen Wahlentscheidungen führte, waren es immer noch viele Tausende, deren Stimme am Ende ausschlaggebend war. Im Fall der Parteiendemokratie kommt noch hinzu, dass ich selbst dann, wenn der Kandidat nur durch allein meine Stimme gewählt würde, nur einen Repräsentanten, nicht seine effektiven Entscheidungen bestimmen könnte. Von einer tatsächlichen Wirkung durch meine persönliche Wahl bin ich deshalb durch einen mehrstufigen Filter gründlich abgehalten.

Ausgeschlossen wird die individuelle Wirkung auch dort, wo sie am heftigsten gebraucht würde: beim Klimawandel. Wie relevant kann mein Handeln als einem von über 8 Milliarden Verursachern sein, der heutigen Weltbevölkerung? Schon bei einer erheblich geringeren Zahl, wie den Bewohnern einer Region, ist die Wirkung Einzelner vernachlässigbar, weil die Umwelteinträge meist nach Schwellenwerten gestaffelt sind und damit direkte Ursache-Wirkungs-Beziehungen ausfallen. Das Emittieren von CO2 und anderen Treibhausgasen verläuft in der Wirkung nicht nach dem Muster des mit Öl verseuchten Weihers, selbst wenn die meisten Umweltschützer aufgrund dieser Vorstellung handeln. Wenn ich auf die Wirkung meines einzelnen Umwelthandelns blicke, dann muss ich also, werde ich mir nur der Größe des Problems und meiner verschwindend geringen Rolle darin bewusst, am Handeln verzweifeln. Der reine Agnostiker wird deshalb schnell dazu neigen, nicht zur Wahl zu gehen und sich über das Umweltverhalten lustig zu machen. Gibt es darauf noch eine Antwort? Da die individuelle Wirkungslosigkeit nicht zu bestreiten scheint, drängt sich auf: Warum etwas tun, obwohl es keine Wirkung hat?

Antwortete man jetzt einfach mit ›Moral‹, dann wäre das keine gute Antwort. Sicher ist meine Beteiligung an einer kollektiven Handlung eine Frage der Fairness, etwa wenn ich den Nutzen der Handlung in Anspruch nehmen möchte, mich aber auf der Kostenseite entziehe. Als Kriegsgegner nicht zum Militär zu gehen, ist respektabel; die Vorteile der Kriegswirtschaft einstreichen, aber gleichzeitig Pazifist sein, weniger. Allerdings ist auch unsere moralische Motivation grundsätzlich an der Wirkung orientiert, und gerade ein bewusst moralisches Handeln wäre vom Einwand der Wirkungslosigkeit betroffen. Nicht nur bei der Triage oder der Ernährungshilfe, bei allen Arten des Helfens und Rettens suchen wir eine möglichst effektive Wirkung zu erzielen. Deshalb ist es mit einem pauschalen Hinweis, wonach die Moral ein rein ideelles Motiv liefert, nicht getan. Die Moral ist nach unserer üblichen Praxis zwar nicht völlig, aber doch so weit wirkungsorientiert, dass die drohende Wirkungslosigkeit auch sie in ihrem Sinn erfasst. Wer absichtlich ohne Wirkung helfen will, gilt normalerweise als Heuchler.

Eine andere Variante des Verweisens auf Moral ist das, was man die ›Standardantwort‹ auf unser Problem nennen könnte. Die Standardantwort lautet: ›Aber stell Dir vor, jeder würde sich enthalten!‹ Ich bin einer von vielen, und wenn ich mir das Enthalten für mich herausnehme, sollte ich es auch allen anderen zugestehen – und dann gibt es keine Demokratie und keine Rettung vor der Klimakatastrophe! Das aber kann ich nicht wollen, weil es auf mich zurückschlüge. Diese Antwort kommt meist wie aus der Pistole geschossen. Aber hilft sie bei dem Problem?

Unmittelbar jedenfalls nicht, wenn man auf die beiden Alternativen schaut: dass niemand zur Wahl geht oder dass viele zur Wahl gehen. Wenn niemand zur Wahl ginge – und das ist der vorgestellte Grund (›wenn jeder das täte?‹) –, machte es keinen Sinn, dass ich gehe, denn eine Wahl gäbe es dann überhaupt nicht mehr. Wenn viele zur Wahl gehen, dann habe ich ebenfalls selbst keinen Grund, denn die Entscheidung wird so oder so ohne die belanglose Wirkung meiner Stimme getroffen. Zwischen meinem Handeln und der Mehrheitswirkung im Kollektiv besteht kein direkter Zusammenhang. Die Folgen werden als tatsächlich gegeben angenommen, und die Wirkung seitens aller kann ich nicht beeinflussen. Die Wirkung meiner eigenen Handlung ist im Kollektiv bedeutungslos und ich bin wieder am Ausgangspunkt.

Etwas stimmt jedoch nicht mit der gerade gegebenen Antwort auf den Standardeinwand. Dass dies nicht so leicht zu erkennen ist, liegt daran, dass bereits die Standardantwort zwischen zwei Gedanken oszilliert, dem Aufrufen eines Ideals und dem hypothetischen Vorstellen realer Szenarien und Verläufe. Die eben geschilderte Reaktion auf den Standardeinwand wirft sich nur auf die zweite Art des Gedankens, die als real gegeben anzunehmenden Folgen, und bleibt damit innerhalb der Logik der unbeeinflussbaren Wirkung. Damit wiederholt sie aber nur das ursprüngliche Problem, denn dass mein individuelles Handeln bei den kollektiven Gütern ›demokratische Wahl‹ und ›Klima‹ nichts bewirkt, ist ja bereits zugestanden. Weil die Standardantwort aber selbst undurchsichtig mehrdeutig ist, wird man von dieser Reaktion auf sie leicht überrumpelt. Vielleicht wird man auch leicht überrumpelt, weil das Aufrufen eines Ideals mysteriös erscheint. Woher soll es kommen, warum soll ich ihm folgen? Das ist nicht so leicht zu sehen.

Der Eindruck des Mysteriösen wird noch dadurch verstärkt, dass zwischen Idealen und Folgen gedanklich schnell ein ausschließlicher Gegensatz aufgebaut wird und Ideale mit Moralisten oder Idealisten, Folgen mit Egoisten verbunden werden. Idealisten folgen Idealen auch ohne Wirkung, Egoisten sehen nur auf die Wirkung unabhängig von Idealen. Auf dem Boden dieser Debatte geht es um die Frage, ob das Handeln zugunsten von Idealen nicht irrational wäre. Das scheint es dann zu sein, wenn einzig einer ›Idee‹ genüge getan wird, entweder ohne irgendwelche Folgen oder sogar mit negativen Folgen. Sparsam zu sein, wenn Geld keinen Wert mehr hat, ist ähnlich sinnlos, wie sich an Verkehrsregeln zu halten, wenn man der einzige Verkehrsteilnehmer ist. Die Antwort auf den Standardeinwand folgt teilweise diesem Rezept. Wenn niemand zur Wahl geht, dann ergibt meine Stimmabgabe keinen Sinn. Wenn eine größere Zahl zur Wahl geht, dann entstehen auch ohne mich Ergebnisse, die ich nicht beeinflussen kann, so dass meine Stimmabgabe ebenfalls sinnlos ist. Worüber diese Darstellung aber hinwegtäuscht, ist die reale Bedeutung – nämlich Wirkung – des Ideals. Die Täuschung kommt nur zustande, wenn man eben einen Gegensatz von Ideal und Wirkung unterstellt.

Dass dieser Gegensatz nicht besteht, sieht man eher, wenn man unser Problem nicht aus der Sicht des Einzelnen, sondern vom Kollektiv her betrachtet. Aus Sicht des demokratischen Kollektivs ist die Wahl durch alle Einzelnen dringend erforderlich und in ihren Folgen insgesamt vorteilhaft. Indirekt ist sie damit auch vorteilhaft für den Einzelnen. Eine Verbindung des Einzelnen mit dem großen Kollektiv geht nur über ein Ideal oder über Normatives. Das muss kein Ideal des Kollektivs sein, wie beim Nationalismus, sondern kann ein Ideal des Erhalts der Lebensbedingungen sein. Das Ideal steht nicht im Gegensatz zur Wirkung, denn wenn genügend Mitglieder im Sinn des Ideals handeln, dann hat die Beteiligung der Einzelnen auch einen wirkungserfüllten Sinn, weil eine Wirkung über das Kollektiv auch auf sie zurückstrahlt.

Aus Sicht des Kollektivs zeigt sich, dass ein Handeln zugunsten eines Ideals nicht nur nicht sinnlos ist, sondern wünschenswerte Folgen zeitigt. Ohne Verfolgen eines Ideals bleiben die vorteilhaften Folgen aus. Was die Antwort auf den Standardeinwand ausgeblendet hat, ist die Möglichkeit einer zweistufigen Motivation: zunächst aus dem Ideal heraus und dann über das Ideal zugunsten guter Folgen. Der Einwand, wonach einem Ideal zu folgen sinnlos sei, weil ohne Wirkung, beruht auf einem Irrtum. Tatsächlich verhält es sich gerade umgekehrt: Eine Ansammlung von Menschen, die sozial nur zugunsten direkter Wirkung handeln, trägt zum Zusammenbruch des Kollektivs bei. Sie erkennen nicht, dass die Wirkung nur indirekt über Ideale erzielt werden kann. Vielleicht sollte man deshalb die Verweigerer im kollektiven Handeln weniger als Egoisten, sondern als kurzsichtig bezeichnen? Die große Zahl der Nichtwähler bei einer Wahl leidet nicht nur unter einem egoistischen, sondern auch unter einem kognitiven Defizit. Sie verstehen einfach nicht, wie eine Gesellschaft funktioniert, weil sie am gewohnten Bild der unmittelbaren Wirkung ihres einzelnen Handelns kleben bleiben, während die auch für sie vorteilhafte Wirkung indirekt über Ideale entstünde.

Das Sichbeteiligen an einem großen Kollektiv, wie besonders dem des Kampfs gegen den Klimawandel, ist also nicht schlicht sinnlos, weil die einzelne Akteurin keinerlei Wirkung erzielte. Die einzelne Akteurin erzielt eine Wirkung, wenn man sie von der Gesamtwirkung des Kollektivs her berechnet. Sicher, wenn sie auf die individuelle Wirkungsperspektive, verbunden vielleicht mit einem Egoismus, zurückfiele, dann könnte sie das bereits durchgespielte Argument wieder erneuern. Aus dieser Perspektive ist das kollektive Gut nicht zu erringen. Ist es nicht zu erringen, dann hat das Folgen auch für die egoistische Akteurin, wenn auch nur gefiltert über die realen Verhaltensweisen aller anderen. Eine egoistische Akteurin kann sich dann überlegen, ob ihr die Beteiligung an der Demokratie oder am Kampf gegen den Klimawandel nicht doch etwas wert ist. Ohne eine Identifikation mit der Demokratie oder mit dem Kampf, also mit dem Kollektiv unter dem einen oder anderen idealen Konstrukt, ist das kollektive Problem nicht zu lösen. Sich so zu identifizieren, erfordert allerdings, sich von der egoistischen Einzelperspektive zu trennen, sich als Teilnehmerin am Kollektiv zu verstehen. Dabei sollte helfen, dass diese Teilnahme nicht wirkungslos idealistisch ist, sondern beides zusammen, ideal und wirkungsvoll.

Angenommen, man folgt dieser Überlegung, müsste dann die Polemik zu Beginn, wonach viele Akteure ihre Einzelwirkung naiv überschätzen, nicht revidiert werden? Haben sie nicht dennoch recht, wenn man sie als Teile von Kollektiven betrachtet, die nur insgesamt wirkmächtig sind? Ist nicht auch der pauschale Verweis auf die Moral richtig, wenn man die Moral als System und darin als Ausdruck von Kollektiven betrachtet? Was die Leute in der Gesellschaft wirklich denken, kann letztlich nur eine soziologische Analyse herausfinden. Die tatsächlichen Motivationen sind sicher ein Amalgam der verschiedensten Motive: neben demokratischem Bewusstsein und Eigeninteresse auch Gewohnheit und Konformismus. Gerade wenn Wähler gegen ihre Regierung mit ihrer Stimme protestieren wollen, rechnen sie aber offensichtlich mit einer individuellen Wirkung. Die hier angestellte Überlegung ist eine ›rationale Rekonstruktion‹, die sich mit den realen Einstellungen nicht unbedingt deckt. Wenn sie eine ›tiefere Weisheit‹ vieler Menschen ›im Volk‹ ausdrückt, dann schon eine sehr tiefe, weil ihre interne Widersprüchlichkeit den meisten wohl eher nicht bewusst ist. Diese tiefere Weisheit, also die rationalen Möglichkeiten, zu kennen, ist dennoch wichtig, weil sie eine Art Rettungsanker für diejenigen bildet, die nachdenken.

3Soll unser Leben eine Einheit haben?

kurze antwort: Ja, die Einheit von Vergangenheit und Gegenwart.

lange antwort: