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In dieser internationalen Anthologie finden sich Texte von 32 Autorinnen und Autoren aus zehn Ländern: Gülkibar Alkan-Kirilmaz, Paul Auer, Vlađa Bakić-Milić, Mária Bátorová, Viviane de Santana, Nahid Ensafpour, Christian Faltl, Etela Farkašová, Helmut Forster, Christian Hans Friedl, Johanna Friedrich, Margarete Fugger, Gertrud Hauck, Silvia Kabus, Judita Kaššovicová, Victor Klykov, Karl Krammer, Cheyenne Kristin Kubala, Gerald Lagler, Helene Levar, Erika Lugschitz, Nadeshda Mamonova, Erwin Matl, Anna Moik-Stötzer, Olga Murzina, Hanna Oppelmayer, Magdalen Mary Pemberton, Ljubica Perkman, Marina Schabajewa, Yasemin Sevin, Ewa Ströck Rogala und Peter Völker. Literatur kann bedeutende gesellschaftliche Impulse bei Streitthemen und Intoleranz setzen. Literatur kann eine Brückenfunktion haben, Alltägliches neu zu bewerten, Werte zu entdecken, die wir nicht mehr erkennen konnten und uns helfen, unsere persönliche Gegenwart besser zu bewältigen.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Hainburger Autorenrunde
Lebensfreudenwege
Für † Günther Eigenthaler(Lektor des Autorenrunde-Buches „Friedensbrücken“)
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2025
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://dnb.de abrufbar.
Herausgeber der Lebensfreudenwege:
Hainburger Autorenrunde, Leitung Erwin Matl
ISBN 978-3-96940-964-0
Copyright (2025) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei den Autoren*innen und Übersetzern*innen
Cover-Grafik © Christian Einfalt, „Glückliche Verdichtung“
Fotos auf Seite 79 u. 83 © Victor Klykov
Lektorat:
Gertrud Hauck und Erwin Matl
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Gülkibar Alkan-Kirilmaz
Lost & Found
Hoffnung
Seelenfrieden
Paul Auer
Glücklich mit Rimbaud
Vlađa Bakic-Milić
Gedicht für Braco
Am Tag, an dem Du geboren bist
Um halb drei
Wer sie sind
Mária Bátorová
Kennt Hilfsbereitschaft Grenzen?
Der Abschied
Viviane de Santana
die seele hat keine farbe
vom satelliten aus gesehen
Nahid Ensafpour
Musik
Wein des Lebens
Tanzend durch das Leben gehen
Die Engel suchte ich im Leben
Christian Faltl
Lebensfreude mit Schrammen
Etela Farkašová
Über Freude
Helmut Forster
Lebensfreude
Christian Hans Friedl
Hilde
Johanna Friedrich
Die Libelle und der Wasserkäfer
Die kleinen Dinge
Margarete Fugger
Das Heilkräuterbeet
Glücksmomente
Glücksmomente 2
Gertrud Hauck
Freude — Lebensfreude
Ein sonderbares Erlebnis
Ewige Liebe
Silvia Kabus
Pure Lebensfreude
Erhalt von Lebensfreude
Zirkus – eine Zauberwelt
Herbst am Bodensee
Judita Kaššovicová
Das Wohnsiedlungsgedicht
Victor Klykov
Mein guter Engel – Alexander
Karl Krammer
Die andere Seite des Vorhangs
Cheyenne Kristin Kubala
Lebensmelodie
Gerald Lagler
Urlaubsfreude pur
Helene Levar
Lebensfreude
Donau
Das Zauberwort heißt Empathie, Hallelujah!
Erika Lugschitz
S’Fruajoa is
Credo an die Hainburger Au
Jana Macháčová
Flucht in die Freiheit
Ein paar Worte zum Misserfolg
Nadezhda Mamonova
Das Flickwerk meiner Erinnerungen
Eine ganz andere Geschichte
Erwin Matl
Der Knopf des Präsidenten
Schmerzfrei
Grundbedürfnisse
Innehalten
Lebenshaltung
Anna Moik-Stötzer
Kennst Du mich?
Olga Murzina
Und da schwebte meine Seele auf
Hanna Oppelmayer
Leben schützen, Lebensfreude bewahren
Magdalen Mary Pemberton
Alphornklänge
Das Narrenschiff
Ascona
Ljubica Perkman
Friseur-Salon „M“
Freue dich
Der Frühling ruft
Marina Schabajewa
Von Kant bis Borchert. Erkundungen
Yasemin Sevin
Das Leben feiern
Ewa Ströck Rogala
Lebensfreude
August-Genuss
Peter Völker
Aghia Sophia Monemvasia – Felsenglück
Augen- und Ohrenweide
Über den Sinn des Lebens
Frühling auf der Reichenau
Mein Kunstverein Meerholz
Biographien
Inhaltsverzeichnis
Immer wieder stellt sich im Laufe eines Schriftstellerlebens die Frage, worüber sollen und worüber müssen wir schreiben?
Immer, wenn es Kriege, weltweite Krisen und Katastrophen gab, war es die Kunst, die sich öffentlich oder im Untergrund zu Wort gemeldet hat. Immer, wenn viele nur mehr den Untergang vor Augen hatten, zeigten Künstlerinnen und Künstler auch das Licht, das im Dunkeln aufleuchtet.
Wenn Jugendliche heute nur mehr von Hoffnungslosigkeit ohne Glauben an die Zukunft geprägt sind, dann dürfen nicht nur psychologische Therapien einsetzen. Auch die Kunst muss in herausfordernder Zeit ihre Verantwortung ernst nehmen, die sie seit dem Zeitalter der Aufklärung hat.
Literatur kann bedeutende gesellschaftliche Impulse bei Streitthemen und Intoleranz setzen. Literatur kann eine Brückenfunktion haben, Alltägliches neu zu bewerten, Werte zu entdecken, die wir nicht mehr erkennen konnten und uns helfen, unsere persönliche Gegenwart besser zu bewältigen.
Es gibt unzählige Wege der Lebensfreude und diese wollen die Schreibenden und Gestalter dieser Anthologie in umfassender Weise, philosophisch – besinnlich – träumerisch – realistisch – phantasievoll – kritisch – heiter – ernst – satirisch, aufzeigen.
Ein großer Dank an die Autorinnen und Autoren, an den Comic-Zeichner Gerald Lagler sowie an den Maler und Objektkünstler Christian Einfalt, welche alle die Einladung der Hainburger Autorenrunde zu diesem Buchprojekt angenommen haben.
Erwin Matl
Leiter der Hainburger Autorenrunde
Hainburg an der Donau, Niederösterreich, Frühjahr 2025
Ich schlief noch tief und fest in meinem warmen Bett. Über mir meine dicke Bettdecke bis zum Kopf gezogen wie ein Schutz, als würde bald ein Krieg ausbrechen, oder demnächst ein Atomkraftwerk explodieren und damit die Existenz der gesamten Menschheit gefährden. In der Fötushaltung, in der ich mich befand, fühlte ich mich sicher, wie im Mutterbauch – fernab von jeglichem Geräuschpegel.
Ich wünschte, immer in dieser Position zu bleiben. An nichts zu denken. Keine Arbeit. Keine Schulbildung. Keine Bewerbungen schreiben zu müssen. Niemandem gegenübertreten, nicht lang und breit zu reden und zu reden, immer wieder über dieselben Themen reden und reden und sich rechtfertigen.
„Warum haben Sie die Schule abgebrochen?“
„Was haben Sie in den letzten Monaten gemacht?“
„Sie waren nirgends beschäftigt. – Warum?“
„Was sind Ihre Beweggründe, bei uns zu arbeiten?“
„Aus welchem Land kommen Sie ursprünglich?“
„Warum denken Sie, dass Sie in unser Unternehmen passen?“
„Ich will gar nichts denken!“, würde ich am liebsten schreiend antworten und all diesen Personen, die mir diese dummen Fragen stellen, meine Bewerbungsunterlagen ins Gesicht schleudern.
Sie sehen doch all meine Noten! Wozu diese unnötigen Fragen? All dieses psychologische Zeug, welches einen nur noch mehr verunsichert und das Gefühl aufkommen lässt, eh nichts wert zu sein. Sollen sie mich doch alle in Ruhe lassen! Sie haben sowieso nicht vor, mich aufzunehmen. Wozu denn diesen irrsinnigen Prozess über mich ergehen lassen, wenn ich sowieso keine Chancen habe?
Lieber bleibe ich zu Hause unter meiner dicken Decke und versinke in tiefen Schlaf. Lieber vergesse ich all meine überheblichen Professoren, die mich während der Corona-Zeit im Stich gelassen und mit vielen Arbeitsaufträgen nur gequält haben. Unsere geplanten Sprachreisen nach Nizza und Dublin fielen ins Wasser. Stattdessen durften wir zu Hause hocken und den Stoff selber erarbeiten. Es wurde nur das Beste von uns erwartet. Die größte Farce meines Lebens.
Beim Gedanken daran kam mir schon alles hoch, obwohl ich seit Stunden nichts gegessen, geschweige denn getrunken hatte. Zum Kotzen war das Ganze! Mir wurde speiübel. Ich wollte mich im Bett umdrehen, aber diese Position war in diesem Moment so angenehm… Außerdem fühlte sich mein Körper schwer, wie Blei an, so dass ich nicht imstande war mich zu bewegen.
Außerhalb meines Zimmers vernahm ich plötzlich Schritte. Es mussten die meiner Mutter sein. Wer sonst sollte es sein? Die anderen waren um diese Uhrzeit nicht im Haus. Wobei… Wie spät war es eigentlich? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Lost. Im Dunkeln meines Zimmers. Die blickdichten Jalousien waren zugezogen. Vielleicht war es Tag. Vielleicht war es Nacht. Ich hatte Stunden geschlafen.
Lost in den eigenen vier Wänden. Meine Mutter hatte mir einmal von ihrer Arbeit am Flughafen erzählt und darüber, dass es eine Stelle gab, die „Lost & Found“ hieß. Verloren gegangene Gepäcksstücke wurden dort zwischengelagert, bis sie mit etwas Glück von ihren Besitzern als die Ihrigen identifiziert und gefunden wurden. Auch ich war lost. Von der Gesellschaft verstoßen. Lost & not found – würde ich eher sagen. Ein hoffnungsloser Fall, eine Schande, die nur mitleidig belächelt wurde, wenn sie das Haus verließ – wenn überhaupt.
Die Tür öffnete sich leise. Ich hörte, wie meine Mutter das Zimmer betrat. Sie ging langsam zum Fenster. Ich konnte jeden Schritt so gut hören, wie eine Wildkatze, die auf ihre Beute lauerte.
Neiiiiinnnn, bitte nicht die Jalousien hochziehen!
Zu spät. Im Nu vernahm ich das laute Rattern am Fenster – war dieser Vorgang schon immer so laut gewesen oder bildete ich mir das nur ein? – und im Nu verwandelte sich meine dunkle Höhle in ein helles Ambiente, sodass ich blinzeln musste. Ich kam mir vor wie ein Bär, der gerade vom Winterschlaf aufgeweckt wurde, oder wie eine Fledermaus die kein Tageslicht vertrug.
Musste das sein? Musste sie mich wirklich wecken? Auf diese Weise auch noch? Warum ließ sie mich nicht einfach weiterschlafen? Ich ließ doch auch jeden hier im Haus in Ruhe. Gleiches Recht für alle, oder nicht?
Ich rieb mir die Augen und streckte mich. Langsam. Nur sachte. Mein Körper fühlte sich an wie ein schwerfälliges Wrack und dabei war ich doch schlank. Früher war ich die Beste im Turnunterricht gewesen. Na ja, das war wohl schon länger her. So eine Scheiße! Laut durfte ich das nicht sagen. Meine Mutter war sehr empfindlich, was Schimpfwörter betraf.
Als ich meine Augen öffnete, fielen mir zuerst die Sonnenstrahlen auf, die dafür gesorgt hatten, dass aus meiner dunklen Gruft ein hübscher, heller Raum wurde. Dann wanderten meine Augen zu meiner Mutter, die vor mir stand, mit einem zauberhaften Lächeln im Gesicht. Ich konnte diese Frau nur bewundern. Wie schaffte sie es bloß, jeden Tag früh aufzustehen, in die Arbeit zu gehen, nach der Arbeit Einkäufe erledigen, zu Hause zu kochen – jeden Tag! – dann Wäsche waschen, Wäsche aufhängen, diese dann bügeln und falten und einräumen, putzen und wieder kochen und wieder Wäsche waschen, aufhängen, bügeln und zusammenlegen und so weiter? Nebenbei hatte sie noch uns – ihre Kinder – mich, wohlgemerkt, das schwarze Schaf im Elternhaus, ein Nichtsnutz wie es im Buche steht. Nichtsdestotrotz ließ sie nie locker und half uns immer auf. Warum, wenn wir ihr doch nur Leid zufügten? Ich glaube, ich als Mutter hätte nicht die Nerven für ein Kind wie mich gehabt. Ich würde so einem Kind beinhart einen Tritt in den Hintern verpassen… Oder?
Vielleicht sollte ich mit Großreden aufhören…
Bisher hat mir das nicht Gutes gebracht. War ich jetzt abergläubisch?
Oh, mein Gott… am liebsten würde ich den Kopf schütteln wollen, aber selbst dieser Akt war für mich ein Ding der Unmöglichkeit.
Ich wollte voller Demut meinen Blick senken. Da erst fielen mir die Blumen auf, die meine Mutter in den Händen hielt. Waren die etwa für mich? Aber womit hab' ich das verdient?
Ich wünschte, in meinem Bett würde sich ein Loch auftun, in welchem ich für immer und ewig verschwinden konnte. So wie „Alice im Wunderland“ – einfach in eine Fantasiewelt abhauen und nie wieder auftauchen. Forever lost…
Plötzlich fühlte ich die warme Hand meiner Mutter auf meinem Kopf. Sie strich mir sanft über die Haare. Ich musste schlucken, um nicht loszuheulen. Sie durfte nicht sehen, dass ich weine. Ich kam mir wie ein kleines Mädchen vor…
IHR kleines Mädchen und am liebsten würde ich sie umarmen wollen, aber selbst dafür war ich zu erschöpft, als hätte ich tagelang auf der Baustelle gearbeitet. Mein Gott, wie peinlich!
„Es gibt leckere, selbstgemachte Pizza!“, hörte ich meine Mutter sagen.
Tatsächlich! Erst jetzt konnte ich den würzigen Duft von Pizza in der Luft riechen. Da bemerkte ich auch, wie leer mein Magen im Grunde war. Vielleicht war es wirklich an der Zeit aufzustehen… und als sie mir dann auch noch die Blumen reichte und sie auf mein Bett legte, konnte ich den dezenten Blumenduft in mich aufsaugen. Ich hatte fast vergessen, welch positiven Effekt Pflanzen auf Menschen haben können. Dankbar blickte ich meine Mutter an, felsenfest überzeugt, aufzustehen.
Lost, but found – sollte ich vielleicht eher sagen.
Dann umarmte ich sie.
Und aus dem Dunkeln kam das Licht
vom Horizont auf mein Gesicht.
Erhellte alles in grelles Weiß,
Hoffnung bringend, dem Himmel gleich.
War noch gestern Vieles sinnlos,
nervenraubend und gewinnlos,
scheint die Welt heut’ still zu stehen
und die Sorgen fortzuwehen.
Dankbar nahm ich ihn nun an,
den gut gemeinten Lebensrat
jenes Menschen, der fortan
mit mir fühlte und empfand.
So steht sie da und hält fürwahr
frische Blumen – wie wunderbar! –
in den Händen zaghaft wendend,
keinen Augenblick verschwendend.
Mit einem Zuspruch sanft und heiter,
kommt sie zu mir, immer weiter,
hält die Blumen mir entgegen
mit der Bitte, sie zu nehmen.
Der zarte Duft vom Blumenstrauß
verbreitet sich im Elternhaus,
in meinem Zimmer ebenso
leuchtend rot und lebensfroh.
Ein kleines Lächeln lässt sich zeigen,
das kann ich gar nicht mehr vermeiden.
Ist es denn nicht schön zu sehen,
dass trübe Tage nun vergehen?
Die Umarmung dann im Nachhinein
lässt die Liebe in mich rein,
lässt mich atmen, tief und fest,
sodass die Trauer mich verlässt.
Wenn die Seele
sich freut
sich hingibt
dem Leben
sanft und leicht
einer Feder gleich
Wenn die Seele
sich freut
sich öffnet
dem Leben
sprießend fein
im Sonnenschein
Dann ist die Seele
im Frieden
und die Welt
in Ordnung
Literarische Pilgerfahrten liegen mir eigentlich fern. Einmal habe ich derlei gemacht, mit Anfang zwanzig, als ich während einer Interrail-Reise nach Charlesville in den französischen Ardennen kam. Mich wird schon die Stadt an sich interessiert haben, aber hauptsächlich fand ich es cool (das einzig richtige Wort an dieser Stelle), das Grab meines Heroen Arthur Rimbaud zu besuchen. Ich kann mich dunkel erinnern, auf seiner steinernen Einfassung gesessen zu sein, drahtig, gebräunt und verwildert, mit transsilvanischer Erde, polnischem Ostseesand, Amsterdamer Graskrümel und italienischen Blumensamen auf den Sohlen meiner auseinanderfallenden Wanderschuhe. Mein T-Shirt hatte ich ausgezogen, eine Zigarette hatte ich mir gedreht, und da ich noch kein Handy besaß, geschweige eines, das Fotos schießen und in die Welt versenden konnte, war das ein unglaublich intimer Moment zwischen dem Toten und mir; nicht nur, weil ich ihn nicht zwecks Selbstvermarktung teilen musste.
Rimbaud und mich verbanden die tausenden Kilometer Weges quer durch Europa, die in unseren Beinen steckten, aber mehr noch der Spott fürs Akademisch-Hermeneutische, den wir teilten: denn ich wusste, dass Rimbaud wusste, dass mich, wie die meisten seiner post-gymnasialen Fanboys, an ihm nicht so sehr das lyrische Werk, dessen Techniken und Traditionen selbst faszinierten (das schon auch, wie auch nicht?, seine Texte sind lustvoll und voller Sex und wunderschön und strotzen vor Liebe und Sehnsucht und Ewigkeit und Geheimnis, sie sind ein Zeugnis über die irre und gefährliche und faszinierende Kraft, die in einem jungen ungestümen Menschen liegt), sondern mich vor allem sein Leben umtrieb; seine Triumphe, seine Ausschweifungen, seine Tragödien. Und da ich selbst, wie das so ist mit Anfang zwanzig, das Gefühl hatte, in solch einem Leben zu stecken, überall Triumphe, überall Ausschweifungen, überall Tragödien, war ich in diesen Minuten an Rimbauds Grab nicht nur drahtig, gebräunt und verwildert, sondern auch und vor allem: glücklich.
Wie das? Was bewirkte Rimbauds Leben in mir? Ein Genie aus La France Profonde, der rebellische Jüngling schlechthin, schreibt mind-blowing Gedichte, findet inmitten revolutionärer Unruhen den Weg in die schriftstellerische Elite von Paris, führt sich dort auf wie das sprichwörtliche enfant terrible, geht eine Amour fou mit einem älteren Kollegen ein, was zwangsläufig in Schießereien und Psychiatrien mündet und schließlich zur Abkehr vom Schreiben mit knapp 20 Jahren und einem unsteten Leben als Abenteurer mit allerlei geschäftlichen Aktivitäten (Waffenhändler!) führt. Dem macht noch vor dem 40. Geburtstag eine Krebserkrankung den Garaus. Bang!
Das kann man als junger Mensch mit schriftstellerischen Ambitionen und romantischer Ader eigentlich nur für ein gelungenes Dasein halten, bietet es doch alles auf, was jemanden zum Popstar, zur idealen Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Authentizität schlechthin macht, und um diese geht es jungen Menschen doch. Da hat sich einer nicht verbogen, da ist sich einer bis zur letzten Konsequenz treu geblieben! Drugs, sex and literature! Es ist daher nur allzu verständlich, dass es uns im Falle Rimbauds mehr kümmert als üblich und für sprachliche Puristen opportun, „wer spricht“, scheint es doch widersinnig, sich mit dessen verschriftlichten Werk ohne Sidesteps in seine Biografie auseinanderzusetzen. Wenn man diese dann zuweilen sogar für interessanter als die Texte selbst hält, ist das keine Schande und muss niemanden dem Vorwurf der mangelnden intellektuellen Ernsthaftigkeit, der Oberflächlichkeit aussetzen, nicht nur weil Personenkult und Voyeurismus zutiefst menschliche Neigungen sind, die sich zu allen Epochen in allen Gesellschaftsgruppen wiederfinden, sondern weil sie natürlich durchaus dem Verständnis eines Werks dienen können.
Gewiss, wie alles Menschliche treibt auch die Auseinandersetzung mit der Biografie eines Künstlers zuweilen übertrieben Blüten, die das eigentliche Werk verschatten, obwohl sie selbst nicht einmal besonders gefällig duftet oder üppig wuchert; aber das passt gut in narzisstische Zeiten der Selbstdarsteller wie den unseren, in denen es wichtiger scheint, wer ein Mensch ist, als wie er handelt, wenngleich es nichtsdestoweniger ein bislang noch allgemein verständlicher wesentlicher Unterschied bleibt, ob auf jenes biografische Podest ein durchschnittlicher Babyface-Debütant mit xy Studium (Literatur) und xy Herkunftsgeschichte (Bürgertum, hie und da migrantisch) gehoben wird, oder aber einer wie Rimbaud, der am Ende seiner Teenagerjahre bereits potentiellen Stoff für mehrere Kolportage-Romane erlebt und darüber hinaus tatsächlich etwas zu sagen hatte.
Denn die Faszination für Rimbauds unstetes Leben nährt sich natürlich auch aus der Faszination für die Außergewöhnlichkeit seiner Kunst; wäre er bloß ein mittelmäßiger Dichter gewesen, sein Dasein wäre bei weitem nicht so interessant und längst vergessen, während umgekehrt sein literarischer Ruhm durch ein biederes langes Leben, das mit einem Grabmal im Pariser Pantheon gekrönt worden wäre, wohl keine Einbußen erfahren hätte. So aber liefert Rimbaud endlos Gossip und Substanz gleichermaßen und taugt jedem mit sich und der Welt hadernden Schaffenden als Kronzeuge des persönlichen künstlerischen Identitätsrisses, des ewigen Gegenübers und Gegeneinanders von „Leben“ und „Kunst“, weil sein Dasein nun mal all die wesentliche Fragen aufwirft, die für Künstler vor allem am Beginn ihres Weges nur allzu oft (und allzu oft affektiert) bewegend sind: Kann Kunst, kann Schriftstellerei ein Beruf sein, der institutionalisiert ausgeübt wird? Kann es überhaupt ein Beruf sein? Ist der verbeamtete Schriftsteller nicht Tod jeglicher Verbindung zu spontaner Kreativität und triebhafter Inspiration? Sterben nicht deswegen die besten Künstler jung, weil sie sich damit die Verbürgerlichung ersparen, fett, angepasst und denkfaul zu werden? Kann man schreiben und dennoch glücklich sein? Soll man das überhaupt?
Insgesamt spiegelt sich in Rimbauds kurzer Vita also die alles entscheidende Frage für einen Autor: Ist es nicht erstrebenswerter, wie in einem Roman/Gedicht zu leben, als bloß einen Roman/ein Gedicht zu schreiben, zumal dann, wenn das Schreiben zur sublimierenden Routine verkommt und das Immergleiche markttauglich reproduziert? Würden nicht unsere saturierten Großschriftsteller mehr Leben erfahren, wenn sie nach dem zweiten „Spiegel-Beststeller“ Waffenhändler werden oder wenigstens Eisverkäufer? Dichter könnten sie ja weiterhin sein, sogar sehr konkrete, und das wäre nicht einmal anmaßend.
Gemäß H.C. Artmann sei für die Existenz als Dichter nicht zwangsläufig das Verfassen von Gedichten eine Voraussetzung, vielmehr eine bestimmte Haltung zur Welt, unabhängig von sprachlichem Talent oder literarischer Könnerschaft. Beides kann man Rimbaud nicht absprechen, was seine Entscheidung, bereits nach wenigen sehr produktiven Jahren das Schreiben hinter sich zu lassen, sein Talent und seine Könnerschaft also nicht bis zum Äußersten zu nutzen, noch skandalöser erscheinen lässt für unsere Ohren, die von den Parolen zur Selbstoptimierung der vergangenen Jahrzehnte, vom Befehl in Permanenz, dass man das Beste aus sich rausholen müsse, noch ganz schön schlackern. Hätte er doch wenigstens über seine Abenteuerjahre ein autofiktionales „Aufreger“-Mammutwerk á la Knausgard verfasst, gibt und gab es doch von Casanova bis Hemingway immer wieder Schriftsteller, oder zumindest schreibende Menschen, die sich aus dem Elfenbeinturm der schönen Künste und zarten Seelen herauswinden und dem echten, rauen Leben stellen. Aber nichts da! Rimbaud hielt sich strikt an seine selbst auferlegte Abstinenz und hatte mutmaßlich überhaupt kein Interesse, als Wolf Wondratschek der Belle Époque einem bürgerlichen Publikum ein wenig von dem Kitzel der eigenen verlorenen Lebendigkeit zurückzugeben, durch die Schilderung eines wilden Lebens jenseits von Salon und Samowar den Ennui des Klein-, Groß- und Mittelbürgers aufzupeppen. Denn nur so tickt ein echter Dichter: Er denkt nicht ans Publikum, wenn er schreibt, aber schon gar nicht denkt er ans Publikum, wenn er nicht schreibt.