Lebensgrund - Was im Brüchigen trägt - Antoinette Brem - E-Book

Lebensgrund - Was im Brüchigen trägt E-Book

Antoinette Brem

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Beschreibung

Was gibt uns den Mut und die Kraft, Schicksalsschläge und Ohnmachtserfahrungen zu ertragen? Wie gelingt es, schwere Zeiten nicht nur zu überstehen, sondern an ihnen zu wachsen und zu reifen? Wir brauchen Räume, in denen wir uns gehalten wissen. Und wir brauchen das Vertrauen in einen Grund, der trägt. Mit liebevollem Blick auf Alltägliches und Besonderes umkreisen die Texte und Gedichte von Antoinette Brem und Barbara Lehner diese Räume und diesen «Lebensgrund». Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die kleinen Dinge und leisen Momente, die uns wieder ausrichten auf das, was wesentlich ist. Es geht um Leben und Sterben, Abschied und Trauer, den Umgang mit Krankheit, den eigenen Weg und die eigene Würde. Und so schwer die Themen auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, erwächst aus den Texten Dankbarkeit und Lebensfreude. Es entsteht Raum für eine innere Haltung, die das Leben in all seinen Facetten bejaht, gestaltet und - nicht zuletzt - feiert. «In jedem der meditativen Weggedanken und in der Weite und Tiefe der Gedichte bekommen meine vielfältigen Lebenserfahrungen einen faszinierenden Resonanzraum.» Aus dem Vorwort von Pierre Stutz

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Allen Menschen gewidmet,

die wir begleiten und ausbilden durften,

und dem Grund, der uns in allem trägt

lebensgrund

lebensgrund

letzter grund und quelle

aus der wir entsprungen

in die wir münden

ewige frage

waches sein

verbindendes alles

verborgen im jetzt

halt im fallen

gelassenheit im sturm

zu suchen und finden

im leben und sterben

in allen übergängen

tragender grund

suche nach dem wesentlichen

ermutigung zum durchgang

zum abschied

zur geburt

barbara lehner

Inhalt

Vorwort von Pierre Stutz

Einleitung

Hilft dir das selbst, was du anderen vermittelst?

Kostbarer letzter Weg

Was willst du uns sagen, du Schöne?

Tröstliches Grün

Nichts ist selbstverständlich

Zu Grunde gehen

Vom Risiko zu blühen und dem Verlangen zu reifen

Sich glücken … auch im Unglück?

Aus dem Herzen leben

Gib Heimat

Stille Gegenwart

Heimkehren

Was hast du in diesem Jahr Neues gelernt?

Danke für die Störung

Königliche Würde

Was lässt mich glücklich sein?

Was wirklich zählt

Gereift

«Übt weiter bis zum Ende»

Zeit verlöffeln

Verbunden mit dem, was unzerstörbar ist

Vom Wert unverplanter Zeit

«Ich bin mehr als diese alte Frau, die Sie sehen!»

bedenken

Von Juwelen und göttlichen Wegen

Eine Frage fürs ganze Leben

Ganz schön (und) traurig

Die Energie des Betens

Momentaufnahme

Aschermittwoch anders gedacht

Aschermittwoch

Präsent mit Herz und Geist

Eine Reise ins «nackte Nun»

Irgendwann – Du bist mehr

«Da ist ein Riss in allem»

Entscheidung

Das schöne Herz

Rückkehr

«Vous êtes tout seule?»

Wenn der Seelenvogel ruft

Der Lehrmeisterin Natur vertrauen

Wer bist du

Von der Kunst, sich selbst zu unterbrechen

Ins Lauschen eintauchen

Der lange Weg

Leidenschaftliches Mitgefühl

Segen

Selbst auf den Weg geschickt

Vom Leben mit dem schwarzen Loch

Trauern

Sich einlassen auf den Tanz des Lebens

Das leise Gewebe erahnen

Was in der Trauer nährt

Was ist die Frage?

Zurück ins Leben

Wie Jakob an der Furt

Verbunden mit ihnen weiterleben

Immer ist es da

Bedingungslos das Heute leben

Nicht anders sein wollen

Himmelfahrt ist eine Zumutung

Genährt vom Atem des Lebens

Schenk mir deinen Atem, Leben

Trotzdem

Radikales Staunen

Wenn die Welt Kopf steht

Nichts

Ein Raum, der frei von allem ist

Schritt zum Wendepunkt

«Victory» für einen gesunden Kranken

Und in der Nacht

Holding Space

Raum halten

Vom Mut, auf vorschnelle Antworten zu verzichten

Nicht werten

Das Geschenk der Verletzlichkeit

Ein besonderes Paar

Weil nichts selbstverständlich ist

«Sprich nur ein Wort …»

Gesunden dürfen

Statt eines Schlusswortes: Segen der sieben Richtungen

Anmerkungen

Autorinnenschaft und Entstehungszeit der Texte

Die Autorinnen

Vorwort

von Pierre Stutz

In Resonanz gehen mit dem Leben und mich inspirieren lassen, heisst eine wichtige spirituelle Grundhaltung, die mir beim Lesen dieses Buches entgegenkommt. In jedem der meditativen Weggedanken und in der Weite und Tiefe der Gedichte bekommen meine vielfältigen Lebenserfahrungen einen faszinierenden Resonanzraum. All mein Erfahrungswissen erhält einen Anklang, einen Nach- und Ausklang, sogar einen Vorklang:

lachend, tanzend, schreiend, hoffend, zweifelnd, schweigend, schreibend im Geheimnis einer göttlichen Gegenwart leben

Natur als Lehrmeisterin: Bäume, Steine, Staunen, Schönheit und Risse, Schlamm und Wunderwerke, Werden und Sterben als Erlaubnis, unvollkommen-vollkommen zu sein

Glückspuren im Alltag: Jetzt ist schon alles da, Störungen als Chance, Zeit löffeln, Zwischenräume schaffen

Innenräume betreten: Heilige Leere, Stille, leibhaftes Beten

raue Lebensschule: aus der Bahn geworfen, Trauerschmerz, schwarzes Loch, Krisen aushalten und verwandeln, mehr sein als Ängste und Brüche

intensivstes Leben angesichts des Sterbens: Kraft der Tränen, schweigend-berührend einander im Atmen nahe sein, zerbrechliche Gesundheit annehmen, sterbend dem Leben entgegengehen

Eine Fülle von Inspirationen ermutigen mich, in all meinen bunten Lebensvollzügen mit anderen tastend unterwegs zu sein, frag-würdig zu bleiben, trotz allem solidarisch eine Welt zu entwerfen, die zärtlicher, gerechter und friedvoller wird. Nach dem Lesen des Buches taucht unerwartet ein inneres Bild in mir auf. Ich sehe Antoinette und Barbara in einem großen Kreis mystischer Frauen und Männer, die ihr Leben dank ihrer Verwurzelung in einem göttlichen Hoffnungsgrund auch zum Klingen bringen: Hildegard von Bingen mit ihrer Grünkraft, Meister Eckhart mit seiner engagierten Gelassenheit, Mechthild von Magdeburg mit ihren erotischen Meditationen, Rumi mit seiner tanzenden Ektase, Marguerite Porète mit ihrem Wissen im Nicht-Wissen, Thomas Merton mit seiner interreligiösen Offenheit, Madeleine Delbrêl mit ihrem Bistro-Dasein, in dem ein göttliches Du sich selbst wird durch uns, Dorothee Sölle mit ihrem heilenden Widerstand und besonders Etty Hillesum, die angesichts von Auschwitz schreiben kann, dass sie das Leben aus den Menschen herauslesen will.

Ich danke den beiden Autorinnen für ihre lebensfreundliche Spiritualität, in der mein spiritueller Weg gut aufgehoben ist.

Pierre Stutz

Einleitung

«Haben Sie mir nicht vielleicht noch zum Abschied ein gutes Wort?», fragte mich die alte Dame am Ende unseres Gesprächs. Ich war erstaunt und etwas verblüfft. Hatte ich doch in meiner Seelsorgeausbildung gelernt, mich zurückzuhalten, meinem Gegenüber den ganzen Raum und die Aufmerksamkeit zu schenken, das Gesagte zu würdigen und vor allem, auch das Schwierige mit den Menschen auszuhalten. Und nun sass ich dieser betagten Frau gegenüber, die mich junge Seelsorgerin um ein persönliches Zeugnis, eine Ermutigung für ihren Weg bat.

Später, im gemeinsamen Nachdenken über diese Bitte, wurde Antoinette und mir klar, dass diese Frau sich mehr wünschte, als gesehen und verstanden zu werden. Sie wünschte sich eine geistige Wegzehrung von mir. Einen guten Gedanken, eine Hoffnungsgeschichte, eine Inspiration, die ihr Kraft und Mut schenken könnte zum Weitergehen. Und sie wünschte sich ein Gegenüber, eine Person, die davon erzählt, was für sie selbst tragend und bestärkend ist.

Uns wurde bewusst, dass auch wir Geschichten, Gedichte und Inspirationen brauchen, die uns zum Spiegel und zum Brot werden. Zum Spiegel, in dem wir uns selbst und unsere Erfahrungen, Fragen und Erkenntnisse wiedererkennen, und zum Wort, welches wie Brot nährt, stärkt und geteilt werden will. Denn Gemeinschaft hilft seit jeher, schwierige Zeiten zu bestehen. Und zu teilen stärkt und verbindet.

Aus demselben Grundgedanken – zu teilen, was uns selbst beschäftigt und berührt, tröstet und trägt – sind später kurze Texte und Gedichte entstanden. Diese haben wir seit Herbst 2007 in unregelmässigen Abständen drei bis vier Mal pro Jahr als Lebensgrund-Newsletter an Interessierte verschickt, welche bei uns Seminare und Ausbildungen besucht hatten oder in Krisenzeiten begleitet wurden. Diese Kurztexte zu schreiben, ermöglichte uns, eigene Erfahrungen nachklingen zu lassen und danach zu fragen, was uns inspiriert, was uns selbst Halt und Hoffnung schenkt – gerade auch in den Krisenzeiten des Lebens. Diese Miniaturen von Texten und Gedichten aus unserer Begleit- und Lebenserfahrung haben wir nun zum 20-jährigen Jubiläum unserer Selbstständigkeit mit «Lebensgrund» wiederentdeckt und überarbeitet, um sie einem grösseren Kreis verfügbar zu machen.

Da wir seit 20 Jahren Menschen in Lebensübergängen und vor allem in Sinnkrisen und Lebensumbrüchen begleiten, umkreisen die Texte und Gedichte dieses Buches neben Alltagserfahrungen immer wieder die grossen Themen von Leben und Sterben, von Abschied und Trauern, vom Umgang mit Krankheit und dem Ringen um den eigenen Weg und die eigene Würde. Sie erzählen von Brüchen und dem Umgang damit, weil das Brüchige zu unserer menschlichen Existenz gehört – zu unserer Endlichkeit und unseren Grenzen. Im Leben, in Beziehungen, im Lieben, im Dasein. Weil es uns als Lüge und verdächtig erscheint, wenn das Brüchige ausgeklammert und das Sperrige im Leben glattgestrichen wird.

Aber zu unserer Existenz gehört auch all das, was Brücken über Abgründe baut, was trägt und Trost schenkt. Der Mut, im Dunkeln weiterzugehen. Das Vertrauen, im Lassen zugrunde zu gehen, und zu ahnen, dass der Grund trägt. Die Kraft, immer wieder aufzustehen. Momente, in denen Menschen über sich selbst hinauswachsen und Wesentliches aufscheint. Manchmal erahnen wir in diesen Augenblicken ein GottGeheimnis und werden von ihm ergriffen. «Lass Dir alles geschehen, Schönheit und Schrecken. Man muss nur gehen. Gib mir die Hand», sagt Gott in Rilkes «Stundenbuch» zum Menschen.

Mit dem GottGeheimnis sind wir zeitlebens unterwegs. Suchend, denkend, meditierend, betend, forschend und erhorchend. Je einzeln und gemeinsam. Angesichts von Schönheit und von Schrecken. Weil es uns damals ergriffen hat, damals in der Jugend, noch bevor wir uns kannten. Noch bevor wir studierten. Dann, in die Zeit unseres Kennenlernens fiel Antoinettes Studienabschluss. Ein Zitat zum Zusammenspiel von Selbst- und Gotteserkenntnis in einer Vorlesung hatte sie derart berührt, dass sie darüber ihre Lizentiatsarbeit schrieb. Der Mystiker und Philosoph Nikolaus von Kues hat im 15. Jahrhundert Mönchen aufzuzeigen versucht, wie sie zur Erkenntnis Gottes gelangen können. Durch alle damals bekannten spirituellen Übungswege hindurch führte er die Mönche an den einen Punkt, wo er Gott zum Menschen sagen liess: «Sei du dein, und ich werde dein sein!» Das heisst soviel wie: An dir vorbei kannst du mich nicht finden. Oder auch: Nimm dich und das, was in dir leben will, radikal ernst, sonst geht dein Leben in die Leere. Dies ist eine Einladung – mehr noch: eine Aufforderung –, authentisch zu leben, in Verbindung mit der eigenen inneren Wahrheit und dem innewohnenden göttlichen Kern. Durch wie viel Schmerz uns dies zuweilen führt und wie heilsam es zugleich ist, bezeugt auch die im letzten Herbst erschienene Autobiografie von Pierre Stutz «Wie ich der wurde, den ich mag» (erschienen im bene! Verlag).

«Sei du dein, und ich werde dein sein!» Diese Aufforderung finden wir auch in Pierres Buch. Es freut und ehrt uns darum sehr, dass er für unser Buch ein berührendes, uns bestärkendes Vorwort geschrieben hat. Danke von Herzen, Pierre!

Da wir uns nicht verstecken wollten als Frauenpaar, haben wir als Theologinnen in der katholischen Kirche keinen Platz gefunden, um unsere Berufung zu leben. Der Ausschluss hat uns auf den Weg geschickt und unser Reden vom letzten Geheimnis befreit von jeglichem Glaubenskodex. Wir heben gerne Schätze der christlichen Tradition, denken entgegen dem Gängigen die Inhalte neu und erzählen von dem, was uns sinnstiftend, inspirierend und nährend entgegenkommt. Denn es wäre schade – wie dies heute oft geschieht –, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir finden seit jeher Inspiration, Bestärkung und innere Verbundenheit bei den mystischen Meisterinnen und Meistern des Abendlands. Wir beschränken uns aber nicht auf diese Herkunftstradition, sondern lassen uns ebenso von weiteren spirituellen Quellen ansprechen und bringen sie zu Wort, wo es uns passend, inspirierend und heilsam erscheint. Weil die Menschen auch heute – und besonders heute – nach Sinn und Orientierung suchen. Nach einer weltoffenen und menschenfreundlichen Spiritualität, die das Mitgefühl und die Liebe zum Leben stärkt.

Denn in allem empfanden wir es immer als Auftrag und Geschenk, dieses grosse Ja, diese Verbindung zum tragenden Grund und zum Geheimnis, die uns je einzeln und auch gemeinsam stärkte und zusammenführte, zu leben und in die Welt zu tragen. Als umfassende Liebe, als befreiende und herzöffnende Wahrheit, als Weg.

So wollen wir mit unseren Texten zum Leben ermutigen. Dazu, sich dem Leben zu stellen, so wie es sich im gegenwärtigen Augenblick zeigt. Und dazu, tiefer zu horchen. In einen Dialog und einen Suchprozess zu treten. In eine Offenheit, die Raum schafft für diese andere, tiefere Gegenwart in allem. Und für die je eigene innere Wahrheit und Stimme, die Menschen durch ihre Krisen und durchs Leben führt. So gesehen verstanden wir uns immer als spirituelle Hebammen. Als jene, die Vertrauen schenken möchten und Prozesse mit Fachwissen, Empathie, Erfahrung und Mitgefühl begleiten. Als jene, die zum inneren Wissen in der Tiefe des Herzens führen, zu jenem Wissen, das den nächsten Schritt kennt und zum Weitergehen ermutigt.

Mögen die Weggeschichten und -gedanken dieses Buches Sie, lieber Leser, liebe Leserin inspirieren. Mögen sie ermutigen zur eigenen Lebens- und Forschungsreise und vielleicht auch zu guten Gesprächen und zum Austausch mit anderen. Und möge hin und wieder beim Lesen ein Lächeln über Ihr Gesicht huschen und Lebensmut und Vertrauen ins Grössere, Umfassende, ins GottGeheimnis gestärkt werden – besonders, wenn es gerade schwierig, anstrengend und steinig auf Ihrem Weg sein sollte. Wie bei jener alten Frau, die damals um ein gutes Wort bat.

Sommer 2024
Barbara Lehner und Antoinette Brem

Hilft dir das selbst, was du anderen vermittelst?

Es ist zweifellos seine Spezialität, Fragen zu stellen. Karl, ein 89-jähriger «unwissender Freund, der nicht aufhören kann zu denken», fragte mich: «Barbara, hilft dir das selbst, was du anderen vermittelst an Spiritualität und Trauerbegleitung? Jetzt, wo deine Mutter sterbenskrank ist und du mit ihr einen langen Abschiedsweg gehst?»

Ich verweigere mir eine allzu schnelle Antwort und nehme seine Frage als Einladung, mich auf diese existenzielle Prüfung einzulassen. Ich nehme sie als Aufruf, mich unwissend, neugierig fragend auf den Weg zu machen, eingedenk der Worte von Kyrilla Spiecker: «Sobald du dich auf den Weg machst, öffnet der Horizont seine Grenzen.»

Zum einen entdecke ich einmal mehr: Die Wirklichkeit ist vielschichtiger als jede Theorie. Zum anderen erkenne ich: Die Grundhaltungen, die wir in unseren Kursen vermitteln, tragen auch uns und gelten wohl nicht nur für Krisenzeiten, sondern auch für den «Alltagsgebrauch»:

Einfach da zu sein im Jetzt hilft mir, meiner ganzen Gefühlspalette Raum zu geben, ohne zu werten: Trauer, Wut, Ohnmacht, Erschöpfung, Dankbarkeit, Angst, Freude am Kleinen, Verbundenheit, Einsamkeit, innere Unruhe und geschenkte Momente des Herzensfriedens.

Wenn es mir gelingt, im Loslassen die Kostbarkeit des Gewesenen zu ehren und das Fehlende zu betrauern und zu beklagen, werde ich versöhnlicher und kann meine Grenzen achten.

Ich richte mich darauf aus, kreativ zu bleiben und das Mögliche zu feiern, auch in der Ohnmacht. Diese Haltung hilft mir, auch im Angesicht des Todes das Leben in seiner Fülle anzunehmen und jede Chance zur Lebensfeier zu nutzen – auch im Zusammensein mit meiner Mutter.

Und immer wieder beides wagen, weil beides nährt: Zeiten der Stille und des Rückzugs, um meine Herzensstimme zu hören, und Zeiten der Gemeinschaft mit Freundinnen und Freunden.

Was mich allerdings im Tiefsten trägt: Mich immer wieder betend, fragend, klagend, atmend, bewegend, tanzend, singend, lesend, schreibend, wandernd, schlafend zu verwurzeln in meinem Körper, in der Natur, im Geheimnis göttlicher Gegenwart. Dies ist mir so kostbar. Mich dem Nichtwissen und dem Geheimnis des Lebens anzuvertrauen. Im Ahnen, dass nun einfach jeder Schritt, jeder Tag gelebt werden will und die Kraft uns zukommt, irgendwie. Dass es keinen Sinn macht, schlaflos die offenen Fragen zu wälzen: warum, wie, wozu und wann. Sondern dass es gilt, den kostbaren letzten Weg zu gehen. Schritt für Schritt.

Kostbarer letzter Weg

Im Angesicht des Todes
das Leben wagen.
Die kreisenden Fragen

lassen.

Stattdessen
den Weg unter die Füsse
nehmen,

Schritt für Schritt.

Die wackelige Brücke
des geschenkten Vertrauens
beschreiten,

die über Abgründe führt.

In der Ohnmacht
das Wachsen annehmen,
über sich selbst hinaus,

in eine andere Wirklichkeit.

Sich dem Nichtwissen,
dem Geheimnis anvertrauen
und im Fallen den letzten Grund erahnen,

der trägt, durch alles hindurch.

Barbara Lehner

Was willst du uns sagen, du Schöne?

Während des langen Sterbeprozesses von Barbaras Mutter sind wir oft hinaus in die Natur gegangen. Auch, als es für Barbara besonders schmerzlich war, den langsamen körperlichen Zerfall ihrer Mutter mitzuerleben. Einen geliebten Menschen so gehen lassen zu müssen, ohne etwas tun zu können, tut weh.

Bei einem Spaziergang auf den Sonnenberg drehten sich unsere Gespräche um die Vergänglichkeit und warum es – trotz allem – wichtig ist, sie zu ehren. Allerlei kluge Gedanken kamen uns. Doch im Herzen berührt wurden wir durch folgendes Erlebnis: In einem Garten entdeckten wir die Hüllen der ehemals orangefarbenen Lampionblumen. Hellbraune, filigrane Äderchen sponnen sich um einen leuchtend roten Kern im Inneren. Ein wunderschönes Bild, das uns in Staunen versetzte.

«Was willst du uns sagen, du Schöne?», fragten wir die Pflanze.

Und es war, als ob sie uns antwortete: «In unserem Leben kann manchmal erst durch Vergänglichkeit Kostbares sichtbar werden.»

Ein neuer Horizont öffnete sich uns dadurch, mehr eine Ahnung als ein eigentliches Verstehen. Das hat den Schmerz nicht weggemacht, aber es hat ihn eingebettet in einen grösseren Sinnzusammenhang.

Die Natur erinnert uns daran, dass alles Leben sich ständig verändert, stirbt und sich neu gebiert. Dieses Wissen erspart uns nicht Schmerz und Trauer, die gelebt werden wollen. Aber es lässt uns ahnen, dass das Leben weitergeht, selbst wenn es nicht so scheint. Dass ein Ende häufig gleichzeitig ein neuer Anfang ist.

In diesem Spannungsfeld von Werden, Sein, Vergehen und Neuwerden situieren wir unsere Arbeit. Wir suchen in unseren Kursen und in den Einzelbegleitungen mit den Menschen gemeinsam nach dem grösseren Ganzen, dem göttlichen Urgrund, nach dem, was bleibt und trägt. Dabei bleiben wir selbst Suchende – Antworten sind immer nur vorläufig. Und häufig lassen wir uns von der Lehrmeisterin Natur zu neuen Fragen inspirieren – wie bei der Begegnung mit der Lampionblume.

Tröstliches Grün

Tröstliches Grün
Du bleibst
wenn alles andere

sich verfärbt, abstirbt und fällt

Du bleibst
wenn der Winter kommt
die Kälte
der Nebel

und die Schwere

Du bleibst
wenn fast nichts mehr
zu sehen ist
von der Pracht und Kraft

des Sommers.

Du bleibst
und hältst die Hoffnung wach
und das Erinnern

und die Zuversicht

Du erzählst
von der Kraft in uns
die selbst

den heftigsten Stürmen standhält

die durchhält
und weitergeht, weiterlebt
bis die Stunden und Tage
wieder heller werden

und weit darüber hinaus.

Wie kostbar bist Du

tröstliches Grün!

Barbara Lehner

Nichts ist selbstverständlich

Orte der Kraft, heilsame, heilige Orte – sind dies nur besondere Orte? «Zieh deine Schuhe aus. Der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden» heißt es in Exodus 3,5. Eine rabbinische Auslegung dieses Schriftwortes ermutigt dazu, genau den Ort, an dem wir in diesem Moment unseres Lebens stehen, als heiligen Ort zu erkennen. Als Ort also, an dem uns – wie damals Moses – Gottes Gegenwart berühren möchte. Die Frage ist nur, ob wir offen und wach sind, um dieser tieferen Wirklichkeit unseres Lebens im Alltäglichen zu begegnen.

David Steindl-Rast beschreibt es so: «Jeder Ort ist heiliger Boden, denn jeder Ort kann Stätte der Begegnung werden, der Begegnung mit göttlicher Gegenwart. Sobald wir die Schuhe des Daran-gewöhnt-Seins ausziehen und zum Leben erwachen, erkennen wir: Wenn nicht hier, wo sonst? Wann, wenn nicht jetzt? Jetzt hier oder nie und nirgends stehen wir vor der letzten Wirklichkeit.» 1