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In diesem Buch sind fünf Aufsätze aus Hiltys Hauptwerk "Glück" in neuer Bearbeitung zusammengestellt. Sie befassen sich mit der eher praktischen Seite des Glücks, mit dem Können oder, wie Hilty es meist nennt: mit der Kunst. Das Glück selbst lässt sich nach seiner Auffassung nicht in feste Regeln fassen. Aber durchaus lehr- und lernbar ist, wie man in seinem Leben den Boden bereitet, auf dem Glück gedeiht, wie man Glückshindernisse erkennt und beseitigt. — Aus dem Inhalt: Die Kunst des Arbeitens / Gute Gewohnheiten / Die Kunst, Zeit zu haben / Glück / Schuld und Sorge — Über den Autor: Carl Hilty (1833–1909), der von manchen als der Schweizer Philosoph schlechthin angesehen wird, war eigentlich Rechtsanwalt, später Staatsrechtsprofessor, Nationalrat und Leiter der Schweizer Militärjustiz. Das "Philosophieren" war für ihn stets Nebenberuf, und man merkt seinen Gedanken an, dass sie nicht in der Gelehrtenstube entstanden sind, sondern mitten im Leben. Trotz des Idealismus, der sie durchzieht, lassen seine Sätze den klaren, unbestechlichen Blick des Juristen erkennen, der das Wesen der Dinge erfasst und sich nicht vom Schein blenden lässt. Und man spürt dahinter den Anwalt und Politiker, der durch seine Tätigkeit mit Menschen unterschiedlichster Herkunft in Berührung gekommen ist.
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Seitenzahl: 138
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Lebenskunst und Lebensglück
von Carl Hilty
Herausgegeben und kommentiert von Martin Wandelt
Copyright © 2015 by Martin Wandelt
Published by epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-7658-1
Jene, die in dieser Welt nach mehr suchen als nach Glück, dürfen sich nicht beklagen, wenn sie des Glückes nicht teilhaftig werden. (James Anthony Froude)
Es gibt ein Glück; allein wir kennen’s nicht; Wir kennen’s wohl und wissen’s nicht zu schätzen. (Johann Wolfgang von Goethe)
Das Glück und die Ehre sind wie Frauen: Sie suchen den, der sie nicht sucht, sondern eher ein wenig gleichgültig nimmt.
Carl Hilty (1833–1909), der von manchen als der Schweizer Philosoph schlechthin angesehen wird, war eigentlich Rechtsanwalt, später Staatsrechtsprofessor, Nationalrat und Leiter der Schweizer Militärjustiz. Das »Philosophieren« war für ihn stets Nebenberuf, und man merkt seinen Gedanken an, dass sie nicht in der Gelehrtenstube entstanden sind, sondern mitten im Leben. Trotz des Idealismus, der sie durchzieht, lassen seine Sätze den klaren, unbestechlichen Blick des Juristen erkennen, der das Wesen der Dinge erfasst und sich nicht vom Schein blenden lässt. Und man spürt dahinter den Anwalt und Politiker, der durch seine Tätigkeit mit Menschen unterschiedlichster Herkunft in Berührung gekommen ist.
Im Gegensatz zu vielen anderen deutschsprachigen Philosophen hat Hilty keinen Hang zu komplizierten Gedankengebäuden und theoretischen Spekulationen. Für ihn besteht die Aufgabe der Philosophie nicht darin, die Welt zu ordnen, sondern darin, die Menschen zu einem glücklicheren Leben zu befähigen — was erfahrungsgemäß nicht dasselbe ist. Zeitlebens hat Hilty die Frage beschäftigt, worin das Lebensglück eigentlich besteht und wie man es erreicht, und es ist nur folgerichtig, dass das Hauptwerk seiner ethischen Schriften den schlichten Titel »Glück« trägt. Das Werk ist kein systematisches Lehrbuch, sondern eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen, die bei unterschiedlichen Gelegenheiten entstanden sind und sich dem breiten Thema aus verschiedenen Blickwinkeln nähern.
In dem hier vorliegenden Buch sind fünf Aufsätze aus dem ersten und zweiten Band von »Glück« zusammengestellt. Sie befassen sich mit der eher praktischen Seite des Glücks, mit dem Können oder, wie Hilty es meist nennt: mit der Kunst. Das Glück selbst lässt sich nach seiner Auffassung nicht in feste Regeln fassen. Aber durchaus lehr- und lernbar ist, wie man in seinem Leben den Boden bereitet, auf dem Glück gedeiht, wie man Glückshindernisse erkennt und beseitigt — und genau darum geht es auf den folgenden Seiten.
Wer nur »wissen« und klug über den Gegenstand reden will, wird aus der Lektüre keinen Gewinn ziehen. Aber wer für sich selbst nach mehr Glück sucht und innerlich bereit ist, in seinem Leben etwas zu ändern, für den können Hiltys Texte eine Goldgrube sein.
Martin Wandelt
Kunst des Arbeitens ist von allen Künsten die wichtigste, denn würde man sie einmal recht verstehen, würde damit jedes andere Wissen und Können unendlich erleichtert werden. Doch ungeachtet dieser Tatsache gibt es nur verhältnismäßig wenige Menschen, die richtig zu arbeiten verstehen. Die Allgemeinheit neigt eher dazu, möglichst wenig oder nur für eine kurze Zeit im Leben zu arbeiten, den übrigen Teil dagegen in Ruhe zuzubringen.
Aber sind Arbeit und Ruhe wirklich Gegensätze, die sich ausschließen? Diese Frage wollen wir zunächst untersuchen; denn mit dem bloßen Lob der Arbeit, zu dem jeder bereit ist, kommt noch nicht die Lust zum Arbeiten. Die Arbeitsunlust ist vielmehr ein so verbreitetes Übel, dass man beinahe von einer Krankheit der modernen Völker sprechen kann. Ein jeder versucht, sich so bald wie möglich der theoretisch gepriesenen Sache praktisch zu entziehen, und deshalb kann von einer Verbesserung der sozialen Zustände gar nicht die Rede sein. Diese Zustände wären in der Tat unheilbar, wenn Arbeit und Ruhe Gegensätze wären.
Denn nach Ruhe sehnt sich jedes Menschenherz. Der Geringste und Einfältigste kennt dieses Bedürfnis, und auch der zum Höchsten strebende Geist sucht nicht ewige Anstrengung. Selbst die Fantasie hat für ein späteres, glücklicheres Dasein kein anderes Wort gefunden als das der »ewigen Ruhe«. Wäre die Arbeit notwendig und die Ruhe ihr Gegensatz, dann wäre das Bibelwort: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« ein Wort des bitteren Fluchs, und die Erde wäre wirklich ein Jammertal. Denn in jeder Generation könnten dann immer nur einige Wenige ein menschenwürdiges Dasein führen, und auch diese — worin der eigentliche Fluch liegt — nur dadurch, dass sie ihre Mitmenschen zur Arbeit zwingen und in der Knechtschaft der Arbeit halten.
So sahen es in der Tat die Schriftsteller der antiken Welt an: Die harte, hoffnungslose Arbeitssklaverei von Vielen verschaffte einem Einzelnen die Mittel, um als freier Bürger eines politisch gebildeten Staatswesens zu leben. Und noch im neunzehnten Jahrhundert haben die Bürger einer großen Republik, an ihrer Spitze sogar christliche Geistliche mit der Bibel in der Hand, den Satz verfochten, dass gewisse Menschenrassen zur Arbeit für andere auf ewige Zeiten hinaus erblich verurteilt seien.
Kultur wächst nur auf dem Boden des Reichtums, Reichtum nur durch Kapitalansammlung und Kapital nur aus der Arbeit anderer, die dafür nicht den richtigen Lohn erhalten, folglich aus Ungerechtigkeit. Das sind ja die Sätze, die heute im Vordergrund der Diskussion stehen. Ich will sie hier nicht auf ihre relative oder vollständige Wahrheit prüfen, sondern nur soviel als wahrscheinlich behaupten: Würden alle Menschen richtig arbeiten, wäre die sogenannte soziale Frage gelöst, und auf einem anderen Weg wird sie überhaupt nicht gelöst werden. Mit bloßem Zwang kann das aber kaum erreicht werden, und selbst wenn die physischen Mittel eines Zwanges aller gegen alle immer vorhanden wären, entstünde daraus keine fruchtbare Arbeit. Es kommt vielmehr darauf an, im Menschen die Lust zur Arbeit zu wecken, und damit kommen wir wieder auf den richtigen »pädagogischen« Boden.
Die Arbeitslust kann nicht anders entstehen als durch Überlegung und Erfahrung, niemals durch Lehre, und — wie sich leider täglich zeigt — auch nicht durch Beispiel. Die Erfahrung führt aber jeden, der es an sich selbst erproben will, zu folgenden Erkenntnissen:
Die Ruhe, die der Mensch sucht, findet er nicht in völliger oder möglichst großer Untätigkeit von Geist und Körper, sondern nur in einer angemessen geordneten Tätigkeit der beiden. Die ganze Natur des Menschen ist auf Tätigkeit eingerichtet, und sie rächt sich, wenn er das willkürlich ändern will. Der Mensch ist aus dem Paradies der Ruhe verstoßen; aber Gott hat ihm mit dem Befehl zur Arbeit auch den Trost gegeben, dass diese notwendig ist. Die wirkliche Ruhe entsteht nur inmitten der Tätigkeit: geistig durch den Anblick eines gedeihlichen Fortgangs der Arbeit oder der Bewältigung einer Aufgabe; körperlich durch die natürlich gegebenen Ruhepausen, während des täglichen Schlafs, des täglichen Essens und in der unersetzlichen Ruhe-Oase des Sonntags.
Ein solcher Zustand einer beständigen, fruchtbaren, nur durch diese natürlichen Pausen unterbrochenen Tätigkeit ist der glücklichste, den es auf Erden gibt; der Mensch soll sich gar kein anderes äußeres Glück wünschen. Ja, man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und hinzufügen: Es kommt dann nicht einmal so sehr auf die Art der Tätigkeit an. Jede wirkliche Tätigkeit, die nicht bloß Spielerei ist, hat die Eigenschaft, interessant zu werden, sobald sich der Mensch ernstlich in sie vertieft; nicht die Art der Tätigkeit macht glücklich, sondern die Freude des Schaffens und Gelingens.
Das größte Unglück, das es gibt, ist ein Leben ohne Arbeit, ein Leben, an dessen Ende keine Frucht der Arbeit steht. Daher gibt es auch (und muss es geben) ein Recht auf Arbeit; dies ist sogar das ursprünglichste aller Menschenrechte. Die »Arbeitslosen« sind die wahren Unglücklichen in dieser Welt, doch sie sind zahlreich, in den sogenannten oberen Ständen sogar noch zahlreicher als in den unteren. Denn die Letzteren werden durch die Notwendigkeit zur Arbeit getrieben, während die Anderen durch falsche Erziehung, Vorurteil und die allmächtige Sitte, die in manchen Kreisen die eigentliche Arbeit ausschließt, fast hoffnungslos und erblich zu dem Unglück der Arbeitslosigkeit verurteilt sind.
Wir sehen ja jedes Jahr, wie sie ihre innere Öde und Langeweile auch in unsere Schweizer Berge und Kurorte tragen, von denen sie vergeblich Erfrischung erwarten. Ursprünglich genügte ihnen noch der Sommer, um sich durch körperliche Anstrengung wenigstens vorübergehend von ihrer Krankheit, dem Müßiggang, zu erholen. Nun müssen sie auch noch den Winter dazu nehmen, und demnächst werden die Spitäler, zu denen sie unsere schönsten Täler gemacht haben, das ganze Jahr für diese unruhige Menge offen sein, die überall Ruhe sucht und sie nirgends findet — weil sie sie nicht in der Arbeit sucht.
»Sechs Tage sollst du arbeiten«, nicht weniger und nicht mehr. Mit diesem Rezept würden die meisten nervösen Krankheiten unserer Zeit geheilt werden (soweit sie nicht bereits der Fluch einer Abstammung von arbeitslosen Eltern sind) und die meisten Kurärzte und Irrenärzte ihre Praxis einbüßen. Das Leben soll man überhaupt nicht genießen, sondern fruchtbringend gestalten wollen. Wer das nicht einsieht, hat bereits seine geistige Gesundheit verloren, und er wird auch die körperliche nicht in dem Maße behalten, wie es bei richtiger Lebensart möglich wäre. Unser Leben währt siebzig und, wenn es hochkommt, achtzig Jahre, und wenn es Mühe und Arbeit gewesen, dann ist es köstlich gewesen — so müsste der Spruch im 90. Psalm lauten. Vielleicht lag das auch in seinem ursprünglichen Sinn.
Allerdings muss ich einschränken: Nicht jede Arbeit ist gleich, und es gibt auch Scheinarbeit, das heißt Arbeit, die nur auf den Schein gerichtet oder nur zum Schein vorhanden ist. Ein Teil der sogenannten weiblichen Handarbeiten, die bloße Soldatenspielerei, wie sie früher vorkam, ein großer Teil der Beschäftigung mit Kunst, die bloß etwa im mangelhaften und fruchtlosen Klavierspiel besteht, ein erheblicher Teil der Jagd und des sonstigen sogenannten Sports, und nicht zuletzt die bloße Verwaltung des eigenen Vermögens gehört dazu. Ein gescheiter und tätiger Mensch sollte sich etwas Befriedigenderes aussuchen.
Der originelle schwäbische Pfarrer Flattich erzählt ein schönes Beispiel von einem Offizier seines Landes, der sich in dem bloßen unnützen Gamaschendienst seines Herzogs unglücklich fühlte, die Ursache seines Leidens jedoch nicht erkannte. Er brachte ihn zur Einsicht, indem er ein kleines Mädchen hereinrief und ihr einen Gulden versprach, wenn sie ruhig einen ganzen Tag lang auf einem Stuhl sitzen und einen silbernen Löffel in der Hand halten wolle. Wie vorausgesehen warf das Kind schon nach einer halben Stunde unwillig den Löffel hin und erklärte, eine solche unnütze Arbeit nicht tun zu wollen. Sie könne auch nicht glauben, dass sie dafür wirklich belohnt werde. — Das ist der Grund, warum viele Menschen an ihrer Arbeit keine Freude haben; sie hat eben nichts Nutzbringendes an sich.
Aus dem gleichen Grund befriedigt die Arbeit an Maschinen, überhaupt die mechanische und stückweise Arbeit, so wenig. Der Handwerker oder ländliche Arbeiter ist viel zufriedener als der Fabrikarbeiter, durch den die soziale Unruhe erst in die Welt gekommen ist. Dieser sieht zu wenig von dem Erfolg seiner Arbeit, denn arbeiten tut die Maschine — er ist bloß ihr untergeordnetes Werkzeug. Oder er hilft immerfort, irgendein Rädchen zu erstellen, macht aber niemals eine ganze Uhr, die ein erfreuliches Kunstwerk, eine Leistung wahrer Arbeit ist. Eine solche mechanische Arbeit verstößt gegen den natürlichen Begriff von menschlicher Würde, der auch dem Geringsten innewohnt, und sie befriedigt niemanden richtig.
Am glücklichsten sind diejenigen Arbeiter, die sich ganz in ihre Arbeit versenken und darin aufgehen können: die Künstler, deren Geist ganz von ihrem Gegenstand erfüllt sein muss, wenn sie ihn erfassen und wiedergeben sollen; die Gelehrten, die außer ihrem Fach kaum noch Augen für irgendetwas anderes haben; ja selbst die »Originale« aller Gattungen, die sich mitunter in einem engen Wirkungsfeld ihre kleine Welt erbaut haben. Sie alle haben — objektiv betrachtet vielleicht zu unrecht — das Gefühl, Arbeit zu leisten: wahre, nützliche, für die Welt notwendige Arbeit, keine Spielerei. Viele von ihnen erreichen in ihrer beständigen, anstrengenden und vielleicht sogar ungesunden Tätigkeit die höchsten Altersstufen, während die aristokratischen Genussmenschen an ihrer Gesundheit beständig auszubessern haben.
Zweckmäßige Arbeit ist notwendig zur Erhaltung der körperlichen und geistigen Gesundheit aller Menschen (ohne Ausnahme) und infolgedessen zu ihrem Glück. Diese Einsicht und Erfahrung gilt es, in unserer Welt als Erstes zu verbreiten.
Daraus wird dann folgen, dass die Müßiggänger von Beruf nicht als eine bevorzugte, »distinguierte« Klasse, sondern als das angesehen werden, was sie sind: geistig unvollkommene oder ungesunde Menschen, die die richtige Lebensführung verloren haben. Sobald diese Überzeugung allgemein befestigt ist, wird eine bessere Ära für die Welt herankommen, aber auch nur dann. Bis dahin krankt die Welt daran, dass die Einen eine ungehörige, die Anderen eine ungenügende Arbeit haben, was sich gegenseitig bedingt. Und es ist die große Frage, welcher von beiden Teilen der unglücklichere ist.
Diese Sätze beruhen auf einer tausendjährigen Erfahrungsgrundlage. Jeder kann sie täglich selbst an sich erproben, wenn er arbeitet oder nicht arbeitet, und alle Religionen und Philosophien predigen sie. Weshalb sind sie dennoch nicht durchgedrungen? Dies kommt von der unrichtigen Einteilung und Anordnung der Arbeit, die dadurch tatsächlich eine Last werden kann, und damit kommen wir auf unser eigentliches Thema, die Kunst des Arbeitens, zurück. Denn in diesen Punkten allein ist eine gewisse Belehrung möglich — für denjenigen, der von dem Grundsatz überzeugt ist, dass irgendeine Arbeit notwendig ist, und der sie gern angreifen würde, wenn ihm nicht seltsamerweise immer wieder etwas in die Quere käme.
Die Arbeit hat, wie jede Kunst, auch ihre Kunstgriffe, mit denen man sie sich merklich erleichtern kann. Nicht nur das Arbeiten-Wollen, auch das Arbeiten-Können ist keine ganz leichte Sache, und manche Leute lernen sie niemals.
1 — Der erste Schritt zur Überwindung eines Hindernisses besteht darin, es kennenzulernen. Das Hindernis für das Arbeitenkönnen ist hauptsächlich Trägheit. Jeder Mensch ist von Natur aus träge; es kostet ihn stets Anstrengung, sich über das gewöhnliche, sinnlich-passive Dasein zu erheben. Trägheit zum Guten ist überhaupt unser eigentliches Grundlaster. Es gibt daher keine von Natur aus arbeitsamen Menschen, nur mehr oder weniger lebhafte. Aber auch die lebhaftesten würden sich, ihrer Natur nachgebend, lieber anders unterhalten als durch Arbeit.
Die Arbeitsamkeit braucht ein Motiv, das stärker ist als die sinnliche Trägheit, und dieses Motiv ist entweder ein niedriges oder ein höheres: im Falle des niedrigen Motivs eine Leidenschaft (besonders Ehrgeiz und Habsucht) oder eine Notwendigkeit (Lebenserhaltung), im Falle des höheren Motivs Pflichtgefühl oder Liebe — zur Arbeit selbst oder zu den Menschen, für die sie geschieht. Das edlere Motiv ist viel nachhaltiger und knüpft sich nicht an den Erfolg, daher verliert es weder durch Überdruss infolge des Misslingens noch durch Sättigung infolge der Erreichung des Zwecks an Stärke. Deswegen sind Ehrgeizige und Habsüchtige zwar oft sehr fleißige, selten aber stetige, gleichmäßig fortschreitende Arbeiter. Und fast immer begnügen sie sich auch mit dem Schein von Arbeit, wenn er nur die gleichen günstigen Ergebnisse für sie selbst (wenn auch nicht unbedingt für ihre Mitmenschen) hat.
Ein Teil der kaufmännischen und industriellen, und ich muss leider auch sagen: der wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit hat heute diesen vorwiegenden Charakter. Wenn man einem jungen ins Leben tretenden Menschen einen ersten Rat zu geben hätte, so würde es der sein: Arbeite aus Pflichtgefühl und aus Liebe zu einer Sache oder zu bestimmten Menschen. Schließe dich irgendeiner großen Angelegenheit der Menschheit an, der politischen Befreiung der Völker, der Ausbreitung der christlichen Religion, der Hebung der unteren verwahrlosten Klassen, der Beseitigung der Trunkenheit, meinetwegen auch der Herstellung des ewigen Friedens unter den Nationen oder der Sozialreform, der Wahlreform, der Besserung des Straf- und Gefängniswesens usw. — es gibt ja heute eine große Auswahl von solchen Zwecken. Dann wirst du am ehesten einen stetig von außen her auf dich wirkenden Antrieb und, was anfangs wichtig ist, auch Gesellschaft in der Arbeit haben.
Es sollte heute in den zivilisierten Völkern kein junger Mensch mehr vorkommen, der nicht in einer solchen Armee des Fortschritts aktives Mitglied ist. Das allein hebt und stärkt ihn und gibt ihm Ausdauer, so dass er schon frühzeitig über sich hinauskommt und nicht allein für sich lebt. Der Egoismus ist stets eine Schwäche und erzeugt lauter Schwächen.