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Die Gedanken, die der Schweizer Philosoph Carl Hilty (1833–1909) für dieses Buch niedergeschrieben hat, sind auf "Menschen in schweren Zeiten" berechnet, denen sorgenvolle Unruhe den Schlaf raubt. Man findet hier keine wohlmeinenden Ratschläge, wie sich die äußeren Ursachen von Sorgen beseitigen lassen, und keine schönfärbende Betrachtungen, die eine bessere Stimmung hervorrufen sollen. Hilfe solcher Art ist, wie die meisten Menschen aus eigener Erfahrung wissen, nutzlos oder allenfalls vorübergehend wirksam. Hiltys Texte sind als Anstöße gedacht, über die tieferen Fragen des Lebens nachzudenken, denn dafür, so Hilty, seien die schlaflosen Nächte da. Solange man ernsthaft nachdenkt, kann man nicht in düstere Grübeleien verfallen. Und wenn die Fragen, die man im Kopf bewegt, auch vordergründig nichts mit den Sorgenquellen zu tun haben, so gewinnt man durch dieses Nachdenken doch oft eine andere Haltung zu seinen Sorgen. Die Quellen mögen dann bestehen bleiben — aber man schläft wieder besser.
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Seitenzahl: 310
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Schlaflose Nächte
von Carl Hilty
Herausgegeben von Martin Wandelt
Copyright © 2018 by Martin Wandelt
Published by epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de
Man sollte meinen, dass Schlaflosigkeit im 21. Jahrhundert kein ernstes Problem mehr darstellen dürfte. Chemische Präparate, die unsere Gehirnaktivitäten ruhigstellen und uns in einen mehr oder minder natürlichen Schlafzustand versetzen, sind in jeder Apotheke für wenig Geld zu haben. Darüber hinaus bieten Fernsehen und Internet zu jeder Tages- und Nachtzeit die Möglichkeit, uns von trüben Gedanken abzulenken. Aber so erleichternd es für den Augenblick sein mag — die Ursachen der Schlaflosigkeit lassen sich durch chemisches Ruhigstellen oder elektronisches Ablenken nicht beseitigen. Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass diese Mittel gerade in den schweren Zeiten des Lebens, wenn man sie am meisten brauchen könnte, versagen. Oder sie erfordern eine solch häufige Wiederholung und Steigerung der Dosis, dass ihre Nebenwirkungen schlimmer werden als das, was sie bekämpfen sollen.
Carl Hilty rät in diesem Buch, das vor über hundert Jahren erstmals erschienen ist, zu einem anderen Weg: Statt die sorgenvollen Gedanken, die den Schlaf verhindern, künstlich abzuschalten oder zu überlagern (was zu dieser Zeit ohnehin nur eingeschränkt möglich war), empfiehlt er, sie durch geeignete Lektüre auf konstruktive Bahnen zu lenken. Damit gewinnt er der Schlaflosigkeit eine gute Seite ab und verweist zugleich auf das einzige Mittel, das die Ursachen dieses Übels dauerhaft beseitigen kann. Und weil Hilty zu seiner Zeit keinen geeigneten Lesestoff für diesen Zweck empfehlen konnte, schaffte er ihn kurzerhand selbst — für jeden Tag des Jahres, oder genauer: für jede Nacht einen einzelnen Gedanken oder eine kurze Gedankenkette als Anregung zu eigenem Nachdenken. Eine höhere Dosis in Form längerer Aufsätze hielt er für schädlich.
Die Gedanken, die Hilty für dieses Buch niedergeschrieben hat, sind nach seinen eigenen Worten auf “Menschen in schweren Zeiten” berechnet. Aber sie lassen sich auch in den leichteren Lebensphasen mit Gewinn lesen, wenn einem der Sinn nach ernsthafterer Lektüre steht. Man darf nur nicht, wozu die Kürze der Texte verleitet, zu schnell oder zu viel auf einmal lesen. Hilty liefert keine eingängigen Sinnsprüche, die jeder sofort bejaht, nur um sie bei nächster Gelegenheit wieder zu missachten. Man kann Hiltys Gedanken nicht einfach zustimmen, dazu sind sie zu ungewöhnlich oder zu herausfordernd. Aber man kann sie auch nicht einfach ablehnen, dafür spürt man darin zuviel Lebenserfahrung und Klugheit. So bleibt nur die Möglichkeit, sich mit ihnen zu befassen, sie “nach” zu denken, im Lichte eigener Erfahrungen zu prüfen. Ob man Hilty dann am Ende beipflichtet, spielt dabei keine Rolle, solange man sich auf seine Fragen einlässt.
Übrigens ist in Hiltys Texten meist mehr enthalten, als man beim ersten Lesen und Nachdenken bemerken und nachvollziehen kann. Die “Schlaflosen Nächte” verlieren deshalb auch nach mehrmaligem Lesen nicht an Wert und eignen sich gut als dauerhafter Begleiter durchs Leben.
Martin Wandelt
Schlaflose Nächte sind ein schwer zu ertragendes Übel, und sie werden von Gesunden und Kranken gefürchtet. Die Gesunden wissen, dass vom regelmäßigen Schlaf die Erhaltung ihrer Gesundheit wesentlich abhängt; den Kranken aber werden ihre Leiden und Schmerzen in den langen, dunklen Nachtstunden doppelt fühlbar, wenn die Unterbrechung durch einen lindernden und stärkenden Schlaf fehlt. Und wenn sich gar Sorgen und Kümmernisse dazugesellen, was ja oft der Fall sein wird, fällt den körperlich geschwächten und geistig deprimierten Menschen die Furcht vor der Zukunft an »wie ein gewappneter Mann«, dem zu widerstehen schwer ist und dem man nicht einmal entfliehen kann.
Doch so wahr dies alles ist, man hat in solchen Fällen keine andere Wahl, als entweder die richtigen und erfolgreichen Mittel dagegen anzuwenden, sofern solche zu finden sind, oder aus der Schlaflosigkeit wenigstens den Nutzen zu ziehen, der möglich ist. Beides lässt sich sogar bis zu einem gewissen Grad miteinander verbinden; dagegen ist bloßes Klagen ohne den Versuch einer Abhilfe offenbar etwas Unvernünftiges und eine Erschwerung statt einer Erleichterung des ohnehin schon schweren Leidens.
Schlaflosigkeit kann aus vielerlei Ursachen entstehen. Meistens kommt sie von Krankheit oder von Sorgen und unruhigen Gedanken, mitunter aber auch von zu viel Ruhe, zu bequemer Lebensart, Unmäßigkeit aller Art oder vom Schlafen am Tag zu unrechter Zeit. Wir wissen überhaupt nicht, was der Schlaf eigentlich ist, und man kommt bei dieser Frage über praktisch ziemlich unfruchtbare Untersuchungen und Auseinandersetzungen kaum hinaus. Nur soviel wissen wir mit Sicherheit aus Erfahrung, dass er in geeignetem Maße zur Erhaltung der Gesundheit notwendig ist und bei Erkrankungen, besonders denen des Nervensystems, das allerbeste, unentbehrlichste Heilmittel darstellt; ferner dass er zur Nachtzeit, und zwar vor Mitternacht beginnend und in einer ununterbrochenen Dauer von wenigstens sechs bis acht Stunden am wirksamsten ist und dass die künstlichen Schlafmittel wenn irgend möglich beiseitezulassen sind.
Die Schlaflosigkeit ist immer ein Übel und nach Möglichkeit zu beseitigen, außer wenn sie aus übermächtiger innerer Freudigkeit entsteht (dann gehört sie zu den größten Freuden des Lebens) oder wenn sie offenbar dazu gesendet ist, dem Menschen eine stille, ungestörte Zeit zum Nachdenken über sein Leben zu verschaffen, die ihm sonst fehlen mag. In diesem Fall ist sie eine nicht gering zu schätzende Gelegenheit, die größten Fortschritte des inneren Lebens zu machen und sich in den Besitz der besten Lebensgüter zu setzen; unendlich viele Menschen werden die entscheidenden Einsichten und Entschlüsse ihres Lebens in schlaflosen Nächten gefunden haben.
Es kann auf keinen Fall schaden, die Sache unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Ein israelischer Weiser, der Rabbi Chanina, Sohn Cachinais, sagt: »Wer nachts wach ist und wer allein auf dem Wege ist und dabei sein Herz dem Müßigen einräumt, der versündigt sich an seiner Seele«, das heißt, er verliert die beste, nicht so leicht wiederkehrende Gelegenheit, einen großen geistigen Gewinn zu erlangen, und setzt sich überdies den Gefahren aus, die unnütze Gedanken leicht in ihrem Gefolge haben.
Man wird also immer gut daran tun, auch die schlaflosen Nächte als eine »Gabe Gottes« anzusehen, die benutzt und nicht ohne weiteres bekämpft werden soll. Mit anderen Worten ist es ratsam sich zu fragen, ob die Schlaflosigkeit nicht einen Zweck haben könne und solle, und dann auf die leise Stimme zu hören, die in solchen Stunden vernehmlicher als sonst spricht, alle anderen Gedanken aber abzuweisen. Dieses »Warum kommt mir diese schlaflose Nacht?« kann ein großer Segen sein, über den schon das Buch Hiob — offenbar aus tiefster Erfahrung heraus — spricht. Es ist auch möglich, dass die Schlaflosigkeit aufhört, wenn ihr Zweck gefunden ist, weil mit diesem Finden eine Beruhigung der Seele eintritt, die auf die körperlichen Organe und besonders die Nerven zurückwirkt.
Hierbei ist noch Folgendes zu beachten: Es ist nicht gut, sich bei Schlaflosigkeit seinen Gedanken willenlos hinzugeben, gewissermaßen sein Schifflein von ihren Wogen treiben zu lassen. Vielmehr muss man den Gedanken befehlen, wohin sie sich wenden sollen. Man soll daher nicht mit sich selbst reden, was gewöhnlich nur zu vermehrter Unruhe führt, sondern mit Gott, bei dem stets eine feste Ruhe zu finden ist, oder — wenn man dies nicht vermag — mit liebenden Menschen, wenn sie vorhanden sind, vor allem mit einer treuen Frau, deren Wort oder Hand oft eine große Beruhigung mit sich führt.
Mangelt es an einer solchen Hilfe, ist ein gutes Buch von Wert, aber eher nur eine kurze Stelle, die zum Denken anregt, den Geist von anderen quälenden Gedanken ablenkt oder ihn auf die rechten Trostquellen verweist. Das Beste in dieser Richtung bleiben stets die Psalmen des Alten Testaments, die Worte Christi im Neuen, das Buch Hiob und einige unserer protestantischen Kirchenlieder, deren schönste (wenn auch nicht alle) zum Beispiel in dem Gesangbuch der Brüdergemeine enthalten sind. Darin besteht auch der Zweck dieser Schrift, solche einzelnen Gedanken zu veranlassen und eine Anregung zu geben, die man nicht immer selber finden kann. Daher sind nur Gedanken aufgenommen, die für schlaflose Nächte passen und meistens sogar selbst die Frucht solcher Nächte sind. Es ist das Zweckmäßigste, einen einzigen guten Gedanken zu erfassen und darüber möglichst ruhig nachzudenken. Es dürfen aber solche Gedanken bei aller Anregungsfähigkeit dennoch nichts Fantastisches enthalten, das nicht am Tag auf seine Realität und Nüchternheit nachgeprüft werden könnte. Leider haben wir sehr wenige Bücher dieser Art, und selbst die bekanntesten Gebete, die sie einigermaßen vertreten sollten, sind nicht immer ganz der Situation entsprechend. Sogar das »Vaterunser« hat nicht in allen Fällen des Leidens die unmittelbare Kraft wie ein anderes Gebet, das ebenso gut ein »Gebet des Herrn« ist und das mitunter besser zu dem Moment passt und immer Wirkung hat.
Das alles müssen natürlich auch diejenigen beachten, die Kranke pflegen oder mit ihnen wachen, wobei sie oft keinen rechten Begriff von ihrer ganzen Aufgabe besitzen. Sie müssten den schlaflos Liegenden aus seinen Gedanken herausbringen, sachte ablenken von unnützen Erinnerungen an die Vergangenheit oder von quälenden Zukunftssorgen, und sie müssten seinem Geist möglichst helfen, sich zu großen und freudigen Ideen aufzuschwingen, bei denen man gerne wacht.
Die Freudigkeit ist es ja vornehmlich, die der jetzigen Generation fehlt, selbst ansonsten vortrefflichen Leuten. Doch es ist schwer, ihnen den wirklichen Grund mit dem richtigen Namen zu bezeichnen, weil sie es immer übel aufzunehmen pflegen. Es ist stets ein Stück Eigenliebe und Eigenwillen, das sie daran hindert, oder Müßiggang, sei er vornehmer oder geringer Art. Vollendeter Gottesgehorsam ist die Bedingung der Freudigkeit, und an dieser Freudigkeit lässt sich jener Gehorsam untrüglich von jedermann erkennen.
Eine solche Freudigkeit, die mit dem deutlichen Gefühl der Gnade und Nähe Gottes verbunden ist, kann auch ein schwer leidender und schlafloser Mensch oft plötzlich empfinden, und zwar in so hohem Maße, dass ihm darüber alles Leiden und namentlich alle Schlaflosigkeit gleichgültig wird und er ein ganz anderes Leben in sich spürt, das mit dem gewöhnlichen, erkrankten, kaum noch im Zusammenhang steht. Wer es nie erfahren hat, wird es kaum glauben, aber viele Zeugen leben dafür. Und selbst die Medizin der Zukunft wird es nicht vermeiden können, diese freudigen Stimmungen für ihre Zwecke zu Hilfe zu rufen und dem »psychologischen Moment« in der Krankheit eine mindestens ebenso große Mitwirkung bei der Heilung beizumessen wie den mechanischen Heilmitteln, die bloß auf das Körperliche im Menschen berechnet sind.
Bereits heute ist die Medizin dahin gelangt, dass sie in der Kräftigung des gesamten Organismus, in der Erhöhung seiner Lebenskraft, die Voraussetzung erblickt zur Wiederherstellung einzelner angegriffener Organe, zum Beispiel der Lungen. Sie muss nun auch die Stärkung des inneren Menschen zu Hilfe nehmen und kommt dann vielleicht noch dazu, an die Möglichkeit dessen zu glauben, was ein moderner Arzt die »Begnadigung« nennt, nämlich das Eingreifen einer höheren Macht in den Verlauf der Krankheit. Dann wäre die edle Heilkunst dem geisttötenden Materialismus entronnen, der ihr seit einem halben Jahrhundert das Vertrauen der leidenden Menschheit in zunehmendem Maße entzogen hat.
Daraus ergibt sich (wenigstens für mich), dass die Schlaflosigkeit nicht immer ein Unglück ist, ebenso wenig wie die Krankheit, die sie gewöhnlich verursacht.
Dies vorausgeschickt, darf man sich aber dennoch mit der Frage beschäftigen, wie sie abzuhalten sei. Denn, wie ein deutscher Dichter sagt: »Die Nacht ist himmlisch und ein göttlich Wunder, die schönste aber ist, die man verschläft.« Als Regel und für gewöhnliche Zeiten bleibt das richtig.
Um Schlaflosigkeit zu vermeiden, ist es zunächst wichtig, die Nachtruhe nicht mit aufregenden und unruhigen Gedanken zu beginnen, sondern mit möglichst stillen und guten sowie mit Frieden im Herzen. Das ist das beste aller Schlafmittel. Wie das nun zu erzielen sei, ob mit einer leichten Arbeit, einer freundlichen Unterhaltung oder einer guten Lektüre (die aber etwas mehr als Zeitungslektüre ist) das wird sehr auf die Individualität ankommen. Sicher ist nur, dass eine sehr ernsthafte Arbeit, die viel Nachdenken erfordert, oder überhaupt Arbeit bis tief in die Nacht hinein nicht unmittelbar vor dem Schlafengehen vorgenommen werden sollte. Gleiches gilt für jede sorgenvolle Beschäftigung, ganz besonders etwa Rechnerei und dergleichen. Dem Schlafe ebenso wenig förderlich ist die gewöhnliche Geselligkeit, die mit viel Essen und Trinken oder vielem und dabei ziemlich leerem Gerede verbunden ist, sowie das Theater, das auch leicht eine Überreizung des Gehirns herbeiführt.
Die künstlichen Schlafmittel sind alle, ohne Ausnahme mehr oder weniger schädlich und nur im Notfall und nach ärztlicher Konsultation zu gebrauchen. Ich rechne zu diesen Mitteln auch die alkoholischen Getränke. Dagegen kann nicht bloß ein zu voller, sondern auch ein zu leerer Magen die nächste Ursache der Schlaflosigkeit sein. Wenn man gar keinen Schlaf finden kann, ist es überhaupt viel besser, Licht zu machen, sogar ein wenig aufzustehen, möglicherweise etwas zu essen, was leicht verdaulich ist, und sich erst nach einer gewissen Beruhigung wieder hinzulegen.
Das Beste ist aber sehr häufig eine gute Handlung, ein bestimmter guter Vorsatz, ein Bekenntnis, eine Umkehr, eine Aussöhnung mit Menschen, ein klarer, guter Entschluss zu künftiger Lebensführung. Das beruhigt die Nerven oft am meisten. Auf jeden Fall ist dies zweckmäßiger als Gedanken von Zorn, Hass, Eifersucht oder Sorgen, die in der Regel gar nichts nützen, am wenigsten in der Dunkelheit der Nacht. »Die Nacht ist keines Menschen Freund«1 heißt es mit Recht. Nachts erscheint alles Schwere und Dunkle noch schwerer als im Licht des folgenden Tages, der doch immer mit neuer Kraft beginnt.
Natürlich gilt alles Vorstehende zunächst nur für diejenige Schlaflosigkeit, deren Ursache nicht eine bestimmte Krankheit ist. Aber es wird sich in der Zukunft sicherlich als wahr erweisen, dass man selbst die Heilung von Krankheiten durch eine gehobene, kräftige Stimmung des Geistes sehr erleichtern kann und darauf größere Rücksicht nehmen sollte als bisher. Diese geistige Nachhilfe ist unentbehrlich; in den Kranken selbst muss eine Kraft der Gesundung der äußeren medizinischen Hilfe entgegenkommen.
Diese Kraft lässt sich, wo sie nicht vorhanden ist, durch keine Ratschläge oder Aufforderungen »sich zusammenzunehmen« herbeiführen und, wie die tägliche Erfahrung zeigt, auch durch keine Philosophie oder geistige Kultur. Letzteres versagt gerade bei Gebildeten oft gänzlich, sobald sie völlige Kraftlosigkeit in sich empfinden. Diese innere Kraft lässt sich nur herbeiführen durch den freien Zugang und starken Anhalt an eine Kraft außer uns, die unerschöpflich vorhanden und jeden Augenblick zu haben ist. Sie »gibt Stärke genug den Unvermögenden« und kann dem menschlichen Geist diejenige Elastizität und sogar Freudigkeit verleihen, die selbst körperliche Gebrechen erleichtert, wenn nicht gar überwindet.
Um so mehr ist dies der Fall, als diese Gebrechen oft genug die direkte Folge von Schäden sind, die dem geistigen und moralischen Gebiet angehören. Besonders auf dem vielseitigen und trotz allen Fortschritts der Wissenschaft noch sehr dunklen Gebiet der Nervenleiden und des beginnenden Irrsinns ist die Aufgabe der Heilung nicht bei der körperlichen Wirkung, sondern stets bei der geistigen Ursache anzufassen. Dies ist auch die Erklärung vieler sogenannter »wunderbaren« Heilungen, die noch in der heutigen Zeit vorkommen und nicht einfach in das Gebiet der Täuschung oder Selbsttäuschung zu verweisen sind. Eine große Hilfe auf dem richtigen Lebensweg ist es überhaupt, wenn der Geist im Menschen so mächtig geworden ist, dass er den Körper völlig beherrscht, dergestalt, dass man das sittlich Unrichtige als körperliches Unwohlsein, widerliches Gefühl, Schwäche der Nerven empfindet, das Gute und Wahre aber als Kraft, Frische, Klarheit des Kopfes, ruhigen Schlag des Herzens. Dann ist der Körper der richtige Diener und Träger des Geistes geworden, der ihm in seiner Tätigkeit hilft, statt ihn zu hindern. Für manche Schwächen sollte daher der Mensch Gott danken und ihre Heilung auf dem rechten Wege suchen, statt die Warnung und Aufforderung, die in ihnen liegt, in grobem Missverstand ihrer höheren Absicht durch äußerliche Mittel beseitigen zu wollen.
Dieser Gedanke liegt den sogenannten »Gebetsheilanstalten« zu Grunde, wird aber oft unrichtig ausgeführt, und überhaupt braucht es hierfür gar keine besonderen Orte. Jedes Haus ist dafür geeignet, in dem Gott wohnen kann. Stets in Gott wie in einer Festung leben, aus der man nie mehr herausgeht; immer am Tage, solange man überhaupt wachenden Auges ist, etwas Gutes tun und Richtiges arbeiten; fest und immer fester in allen Lebenslagen auf Gott vertrauen — das ist der alleinige unfehlbare Weg zur menschlichen Vollkommenheit und gleichzeitig auch zur Gesundheit. Wer ihn von Jugend an direkt und unentwegt geht, der gelangt früh zu einer großen Vollendung, wie Katharina von Siena, die infolgedessen schon im 33. Lebensjahr ihre irdische Laufbahn abschließen konnte. Die weitaus meisten Menschen aber haben diesen entschlossenen, alles andere verschmähenden und zur wahren Weisheit führenden Willen nicht so frühzeitig. Sie bekommen heute auch selten die ganz richtige Anleitung dazu und lenken daher erst viel später in ihrem Leben in diesen direkten Heilspfad ein, den auch dann noch viele Irrwege durchkreuzen.
1 Erste Zeile aus dem Gedicht »Das hat die Sommernacht getan« von Anna Ritter (1865-1921)] ↩
Die Gesundheit eines so komplizierten Wesens, wie es der Mensch ist, ist hauptsächlich Widerstandsfähigkeit, körperliche und geistige Reaktion gegen böse Einflüsse, die nicht ganz vermieden werden können, durch keinerlei Vorsichtsmaßregeln. Viel leichter und viel erfolgreicher ist es, den Geist und Körper so zu schulen und zu kräftigen, dass er allem widersteht, ja aus diesem Kampf nicht nur ohne Schaden, sondern sogar mit mehr Stärke und erhöhter Widerstandskraft hervorgeht.
Die allerbeste und einfachste Gesundheitslehre ist ein Leben nach Gottes Geboten; dies verheißt nach den ältesten Überlieferungen der Menschheit gesundes Leben und Kraft bis ins hohe Alter. Das Allerschlimmste für die Gesundheit ist die Neigung des Lebens, oder auch nur der Gedankenwelt, nach dem bloßen Genuss hin, ganz besonders in einer bestimmten Richtung. Darauf ruht ein unfehlbar eintretender Fluch für Geist und Körper. Die heutige Welt ist von dieser Ansicht weit abgekommen und wird das noch schmerzlich an ihrem eigenen Leib und Geist erfahren müssen. Dagegen gibt es — mit Fug und Recht — keine ärztliche Abhilfe.
Verbinden sich mit einer solchen Neigung noch unglückliche äußere Lebensverhältnisse (wie dies gewöhnlich der Fall sein wird) oder auch nur ein Hang zu Grübelei oder zu wenig äußere Beschäftigung, so ist gerade bei den begabtesten Menschen — Dichtern, Künstlern, Philosophen — die Vorbereitung zum Trübsinn oder selbst Wahnsinn gegeben. Ohne eine solche moralische Ursache tritt der Wahnsinn Überhaupt selten ein, während mit einer sittlich guten Lebensart und einem festen Glauben an eine moralische Weltordnung selbst einer erblichen Anlage dazu widerstanden werden kann. Die Furcht vor einer solchen angeblich zwingenden »Belastung«, die heute manches Leben zu einem unglücklichen gestaltet, ist die Folge und Strafe einer materialistischen Geistesrichtung, bei der kein bloß ärztliches Mittel hinreichende Wirkung hat.
Eine ganz besondere, zu wenig beachtete Frage ist die nach der richtigen Gesellschaft für Kranke oder Angegriffene, die Ruhe und Stärkung bedürfen. Schlechte Gesellschaft irgendeiner Art ist für den Geist und Körper Angegriffener ebenso schädlich wie schlechte Luft, selbst wenn diese Gesellschaft nur in dem gewöhnlichen gehaltlosen Gerede besteht, wie es in Kuranstalten eigentlich stets an der Tagesordnung ist. Umgekehrt gehört gute, namentlich aber friedvolle Gesellschaft zu den Bedingungen ihrer Genesung.
Der »Friede« ist etwas ganz Reelles, eine wirkliche Eigenschaft oder Kraft, die manche Menschen haben und überall hin mit sich bringen wie eine wohltuende Atmosphäre. Dagegen tragen andere Leute, die sonst hochbegabt und keinesfalls unmoralisch, oft sogar fromm sein mögen, Unruhe und Unbehaglichkeit in jedes Zimmer, in das sie eintreten. Es dauert meist nicht lange, bis man das spürt; kleine Kinder und Tiere haben dafür sogar einen augenblicklichen Instinkt, der den Erwachsenen durch Nachdenken und Gewöhnung verloren gehen kann, sich bei Krankheit aber oft wieder einfindet. Darauf wird nicht bloß bei den zur Krankenpflege bestimmten Personen zu achten sein, sondern auch bei Angehörigen und Besuchern.
Die bloße äußere Frömmigkeit (etwa bei den Diakonen und Diakonissen) genügt keinesfalls, sondern es muss ein wirklich mitleidiges, hilfreiches, zartfühlendes Herz dazu kommen, das ganz in seinem Beruf lebt, und eine fröhliche Gemütsart, welche die Wirkung eines wahren Glaubens ist. Die geringste Spur von Selbstgerechtigkeit, Dienstunwilligkeit oder Härte des Urteils bei einer solchen dienenden Person — wenn sie sich auch bloß in der Manier, dem Auftreten oder dem Klang der Stimme ausdrückt — kann auf den Kranken einen deprimierenden Eindruck haben, der ihm die Heilung erschwert und ihn von den Quellen seines Trostes abwendet. Es ist eigentlich traurig, dass man diese Bemerkung machen muss; der bloße Materialismus bei einem Teil der Ärzte und der Mangel an wirklichem innerem Beruf und innerer Tauglichkeit bei einem Teil des Pflegepersonals bildet aber ein großes Gegengewicht gegen die technischen Fortschritte der heutigen Arzneikunde.
Hinter den sogenannten »Naturgesetzen«, die übrigens eine bloße Hypothese sind und ohne einen »Gesetzgeber« überhaupt nicht möglich wären, stehen eben immer die Gesetze einer sittlichen Weltordnung, die deren Grundlage bilden. Die heutigen Naturkundigen werden wieder lernen müssen, dies anzuerkennen. Aus einer sittlich ungehörigen Lebensführung kann keine Gesundheit resultieren; ohne sittliche Heilkräfte, bloß mit äußerlichen Mitteln, lässt sich keine Gesundheit erhalten oder wiederherstellen. »Erblich belastet« sind wir alle, aber auch alle der Heilung zugänglich, wenn man die rechten Mittel anwendet; es gibt in diesem Fall vielleicht sogar keine völlig unheilbaren Kranken, denen nicht wenigstens eine sehr große Erleichterung verschafft werden könnte.
Übrigens sind viele Leiden einzelner Organe bloß Folgen einer allgemeinen Schwäche, die man gegenwärtig mit dem Ausdruck Nervosität oder Neurasthenie1 zu bezeichnen pflegt. Mit dieser Schwäche verschwinden auch die Leiden ganz von selber. Sie lässt aber nicht mit bloß körperlichen Mitteln beseitigen; dazu gehört stets die Mitwirkung seelischer Faktoren.
1 Neurasthenie bezeichnet ein Nervenleiden, das im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht gehörte.↩
Ob es schließlich Menschen gibt, die in diesem Sinne eine besondere Heilgabe besitzen, das ist eine andere Frage. Die Heilige Schrift spricht nicht dagegen, sondern dafür. Unzweifelhaft ist es aber nicht die größte Gabe und auch keine alleinstehende, für sich allein denkbare und vorhandene. Die Heilung kommt dabei wahrscheinlich auf keine andere Weise zustande als mittels der kräftigen Anregung eines kranken Geistes durch einen ganz gesunden und die Herstellung einer Verbindung zwischen beiden, die nicht erklärt, jedoch wohl gespürt werden kann. Jedenfalls wendet sich diese Art von Heilung ganz an den inneren Menschen des Kranken. Er wird zu neuem Leben erweckt und kräftig gemacht oder von den vorhandenen Hindernissen dieses inneren Lebens befreit. Zu lernen ist sie nicht, wie eine neue amerikanische Schule es annimmt, sondern es ist eine Gabe und als solche kann sie auch verlorengehen, wenn sie nicht mit Weisheit und mit völliger Treue verwaltet wird. Es gehört wohl vor allen Dingen ein eigener sehr fester Glaube dazu, der auf den Kranken einwirken, teilweise sogar in ihn übergehen muss, und eine gänzliche Freiheit von Ehrsucht oder Eitelkeit, wie sie bei solchen unzünftigen Krankenheilern nicht immer anzutreffen ist. Jede auch noch so geringe Spur dieser Eigenschaften bildet jedenfalls einen triftigen Grund, diesen Menschen zu misstrauen; denn sie heilen ja niemals aus eigener, sondern aus einer fremden Kraft, die sich nicht täuschen lässt — ganz im Gegensatz zu den meist sehr leichtgläubigen Kranken, die auf allen Wegen und allzu eifrig Hilfe suchen.
Am allerwenigsten aber lässt sich eine solche Heilgabe durch ein Amt übertragen oder in besonderen Familien vererben. Es ist eine ganz individuelle Gnadengabe Gottes, die sich auch nicht an bestimmte Heilstätten oder sogenannte »Reichs-Gottes-Orte« bindet. Das gehört vielmehr schon in den Bereich des Aberglaubens, der auf diesem Gebiet stets bereit ist, die Stelle des Glaubens einzunehmen, sobald es ihm an völliger Reinheit und Freiheit von allem »Menschlichen« zu fehlen beginnt. Dann geht es gewöhnlich mit raschen Schritten abwärts, selbst bei guten Anfängen. Solche Beispiele sind zu allen Zeiten vorhanden gewesen und werden in unserer nächsten Zukunft wieder häufiger werden, da wir uns in einer großen Übergangs- und Entwicklungszeit sowohl der Theologie als auch der Medizin, und darin ganz besonders der Psychiatrie und der Nervenheilkunde, befinden.
Von diesen Gesichtspunkten gehen die hier wiedergegebenen Gedanken für schlaflose Nächte aus. Die Einteilung in Tage eines Jahres ist eine ganz zufällige und unverbindliche, bloß dazu da, um eine natürliche Begrenzung zu gewinnen und eine Häufung von zu viel auf einmal zu vermeiden.
Es sind keine Gedanken dabei, die nicht auf eigenem Nachdenken und eigener Erfahrung im Leben beruhen. Sie müssen aber in schlaflosen Nächten, oder doch vorzugsweise in schwerer Zeit gelesen werden; dafür sind sie am geeignetsten.
Grund muss erst gegraben werden, Eh’ man Türme bauen mag, Und das Korn muss in die Erden, Vorher kommt kein Erntetag; Wir erfahren mit den Jahren, Was wir denen, die uns fragen, Von der Hoffnung Zions sagen. (Zinzendorf)
»Wer rein nicht sein Gewissen nennen darf,« Sprach er, »wen eigne Schmach, wen fremde drücket, Dem schmeckt wohl deine Rede streng und scharf. Dennoch verkünde ganz und unzerstücket Was du gesehn, von jeder Schminke frei, Und lass nur den sich kratzen, den es jücket. Ob schwer dein Wort beim ersten Kosten sei, Doch Nahrung hinterlässt’s zu kräft’germ Leben, Ist des Gerichts Verdauung erst vorbei.« (Dante, Paradiso 17)
Beständig in großen Gedanken zu leben und das Kleinliche zu verachten; das führt — im Allgemeinen gesprochen — am leichtesten über die vielen Beschwerden und Kümmernisse des Lebens hinweg.
Der größte und zugleich allgemein fasslichste Gedanke ist jetzt der Glaube an Gott in der Form des Christentums.
Es gibt aber auch seit jeher ein verkümmertes, zu eng geartetes Christentum, das dem Wesen und der Lehre Christi nicht ganz entspricht und schon viele hochgemute und hochgebildete Personen von ihr entfernt hat.
Wenn dir dein Lebensglück am Herzen liegt, so lass dir das Christentum durch keine Theologie oder Kirchlichkeit ersetzen, sondern suche es selber an der Quelle auf, in den Evangelien, und auch in diesen vorzugsweise in Christus' eigenen Worten, die in keiner Philosophie ihresgleichen haben.
Mt 21GBG 67GBG 691
Man kann mitunter wählen, wie stark und sogar auf welche Weise man geläutert sein will. Aber darüber muss man sich klar sein, dass das reine Gold des Charakters nur aus einer kräftigen und öfter wiederholten Läuterung hervorgeht.
Krankheit, richtig aufgefasst und benutzt, ist das leichteste Mittel dazu.
Jes 43 102 Sam 24 13-16
Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. (Joh 15 7)
Dies ist vielleicht der denkwürdigste Ausspruch der ganzen Bibel. Wenn das wahr ist, so ist ja eine stets bereite Hilfe für alle Übel vorhanden, die den Menschen während seines Erdenlebens bedrohen.
Dann ist es aber auch wahr, dass Christus, der dieses Wort spricht, kein gewöhnlicher Mensch war.
Lass diesen Punkt aber, wenn es dir lieber ist, einstweilen noch dahingestellt sein und versuche vorerst die Voraussetzungen zu erfüllen, unter denen dieser Spruch Hilfe verheißt. Das kann dir auf keinen Fall schaden, vielleicht aber das Heil deines Lebens werden.
GBG 1009
Das einzige vernünftige Ziel des Lebens ist die Beförderung des Reiches Gottes auf Erden, eines Reiches des Friedens und der Liebe, anstatt des Unfriedens und des Kampfes ums Dasein. Nur soweit wir daran mitgearbeitet haben, hat unser Leben einen Zweck und Wert gehabt. Und daran mitarbeiten kann jeder, durch Tun oder durch Leiden.
GBG 652GBG 656GBG 785
Beständig etwas Nützliches arbeiten, aber weder hetzen noch sorgen; Herr bleiben der Dinge, die an uns herankommen, und unserer eigenen Stimmungen, niemals sie Herr über uns werden lassen — das ist ein richtiges Programm für jedes neubeginnende Lebensjahr. Aber ausführbar ist es nur, wenn man mit dem Herrn aller Dinge in einem engen und festen Bund steht und sich entschließt, seiner Führung unbedingt zu folgen. Sonst ist jeder Mensch, auch der weiseste und mächtigste, ein Spielball der ihn umgebenden Menschen und Verhältnisse, gegen die er sich im besten Fall beständig zur Wehr setzen muss. Und das Leben ist dann eine mit jedem Jahr anwachsende Last von größtenteils kleinlichen und doch mühseligen Beschäftigungen, unter denen es zuletzt unfehlbar (und meistens kläglich) zusammenbricht.
Die frommen Leute schlagen manchmal einen Mittelweg ein, indem sie zwar im Allgemeinen Gottes Führung wünschen, aber doch für gewisse Dinge, wie zum Beispiel Heiraten, Geselligkeit, Politik und Geldsachen eine eigene Abteilung des Denkens und Handelns haben, in die sie Gott nicht einmal gern hineinsehen lassen, geschweige denn, dass sie ihn darüber auch um Rat fragen. Denn sie wissen wohl, dass ihre Denkungsart nicht richtig ist und eigentlich aufgegeben werden müsste; aber sie sorgen, plagen und treiben sich und andere in diesen Dingen dennoch kaum weniger als alle Welt. Bloß wenn sie damit ins Unglück kommen, schreien sie wieder zu Gott um Hilfe. Das ist zwar das Beste, was sie dann noch tun können; aber zu verwundern ist es nicht, wenn er sie zuerst eine Zeitlang die Folgen ihres eigenmächtigen Handelns deutlich spüren lässt.
Überarbeiten muss man sich nicht, und das ist in der Regel, bei geordneter Lebensweise, auch nicht nötig. Mäßige Arbeit aber ist das beste Erhaltungsmittel der Kraft und das einzige unschädliche Reizmittel für untätige oder erschlaffte Kräfte.
Wenn einmal deine ganze Gedankenwelt dahin gerichtet ist, beständig zu fragen: »Was kann ich in diesem Augenblick Gutes und Richtiges tun?« statt (wie jetzt wahrscheinlich): »Was kann ich Schönes und Angenehmes genießen?« oder: »Wie kann ich meine Lage zu diesem Endzweck verbessern?«, dann wirst du eine ganz andere, befriedigendere Vorstellung von dieser Welt bekommen, in der du lebst, und überhaupt erst eigentlich wissen, was »leben« heißt.
Es wird dir damit zunächst sehr viel gleichgültiger werden, ob dein Leben etwas schwerer oder leichter, gesünder oder kränklicher sich gestaltet, wenn nur Gelegenheit zu Gutem vorhanden ist, an der es selten fehlt; während bei der anderen Lebensanschauung Unbefriedigung, Sorge, Furcht, überhaupt Unfriede innen und nach außen ganz unvermeidlich ist, selbst in den allerbesten Lebensstellungen, geschweige denn in den anderen.
Das ist der reelle und große Unterschied zwischen den heutigen Menschen aller Religionen und Klassen, neben dem alle anderen Unterschiede wenig bedeuten.
Halte dich an jene, die stets nach dem Guten und Richtigen fragen, gleichviel welche Religion oder Philosophie sie haben und welchem Stand sie angehören.
GBG 370GBG 372
In schweren Angelegenheiten suche zuerst das aus, was dabei des Dankens wert ist, und danke dafür aufrichtig. Das gibt dem Gemüt die ruhigere Stimmung, in der auch das übrige erträglicher erscheint. Allmählich kann das durch beständige Übung zu einer guten Gewohnheit werden, die das Leben sehr erleichtert.
Wenn man sich ganz in Gottes Führung begeben kann, dann bekommt man eine edle Gleichgültigkeit gegen jene Dinge, die das Leben hauptsächlich erschweren und die wir mit unserem beständigen Sorgen doch nicht ändern können. Dieser »leichte Sinn« setzt aber voraus, dass man fest an Gott glaubt und alle seine Gebote wichtig nimmt.
Mt 6 33–34GBG 176GBG 685Ps 23
Es in eine verbreitete Ansicht, dass es zu schwer oder vielmehr gar nicht möglich sei, nach den wirklichen Vorschriften des Christentums zu leben. Wenn dies wahr sein sollte, wäre es ebenso gut, eine solche Religion aufzugeben, statt sie bloß pro forma, zu lediglich kirchlichen oder politischen Zwecken beizubehalten. Allerdings würde wahrscheinlich, wenn Christus selber wieder auf Erden erschiene, das »ganze Jerusalem« ebenso sehr in Schrecken geraten wie beim ersten Mal.
Mt 2 3Mt 7 28
Ich glaube aber nicht, dass die obige Ansicht jemals von einem Menschen geteilt oder gar ausgesprochen wurde, der das Christentum wirklich zu seinem Lebenseigentum gemacht hatte. Dann überwiegt das Schöne und Große bei weitem die Schwierigkeit. Der Anfang ist wohl ein Wagnis, aber nicht der Fortgang. Der ist vielmehr ein geebneter, wenn auch schmaler Pfad mit vielen Ruhepunkten und offenen Türen.
Lies einmal die Rede aufmerksam durch, die man jetzt die »Bergpredigt« nennt und deren Resümee auf uns gelangt ist. Sieh, ob du dich auch darüber »entsetzest« oder das alles für »ideale« Vorschriften hältst, die man in diesem Sinne annehmen und verstehen müsse, aber nicht auszuführen brauche. Von dieser Prüfung und Antwort hängt dein innerer Fortschritt ab. Willst du nicht wenigstens lebhaft wünschen, dies alles befolgen zu können, dann ist das Christentum nichts für dich, sondern musst du dich mit ein wenig Kirchenwesen oder Philosophie begnügen.
Es wäre allerdings eine ganz offenkundige Torheit, die Regeln der Bergpredigt aufstellen oder befolgen zu wollen, wenn es keinen Gott, sondern nur eine naturgeschichtliche Weltordnung im Sinne Darwins und einen bloßen »Kampf ums Dasein« unter den Menschen (oder im Großen nur eine sogenannte »Realpolitik«) gäbe. Wenn es aber einen Gott gibt und die treue Befolgung seiner Gebote mit dessen Segen, deren Missachtung aber mit seinem Fluch verbunden ist, dann steht die Sache anders. Das kann zum Glück von jedermann versucht werden; man braucht es nicht ohne weiteres zu glauben. Und es wird in der nächsten Zeit von vielen versucht werden, denen der Materialismus bereits zuwider geworden ist.
Joh 7 16–17Joh 7 46Joh 8 12Joh 8 47
Man hat aber, wenn man solche Kapitel der Evangelien ganz unbefangen liest, das Gefühl, das Christentum müsse von einzelnen Menschen ganz von neuem angefangen und von dem ungeheuren Ballast oberflächlicher Kirchlichkeit befreit werden, mit dem es Jahrhunderte, die ihm geistig nicht gewachsen waren, überschüttet haben. Eine solche Zeit kommt jetzt heran: Die einen kündigen dem Christentum rundweg den Gehorsam auf, weil dies mit keinem bürgerlichen Rechtsnachteil mehr verbunden ist. Die anderen aber wenden sich ihm wegen seiner inneren Vorzüglichkeit nur um so vertrauensvoller und fester zu.
GBG 785
Dass man allen Beleidigern verzeihen soll, ist unzweifelhaft. Dieses Gebot wird durch Christus' Wort und Tat, aber auch durch die Erfahrung bekräftigt, dass nachgetragener Hass am inneren Leben zehrt und dem Menschen, der ihn hat, mehr Schaden zufügt als demjenigen, dem er gilt.
Dennoch ist es mitunter schwer, augenblicklich völlig zu verzeihen. Die halbe, heuchlerische Verzeihung mit Redensarten wie: »Verzeihen kann ich es wohl, vergessen aber nie«, oder »Gott möge dir verzeihen« ist eines edlen Menschen unwürdig und für Gott beleidigend. So etwas nimmt er nicht ruhig hin.
Es ist in solchen Fällen besser, vorläufig wenigstens die Rache aufzugeben und Gott zu überlassen. Der vollzieht sie dann unfehlbar und genau zur richtigen Zeit, soweit Grund dazu vorhanden ist. Dieses Aufgeben bringt der Mensch leichter über sich als das völlige Verzeihen. Die Zeit und die Gnade Gottes mildern dann nach und nach das Gefühl der Kränkung, wenn es nicht mehr durch Vergeltungspläne genährt wird.
Hebr 10 30–315 Mos 22 35Ps 37Ps 73Jes 46 11Jes 49 23Jes 55 17Jes 60 14Jer 11 20
Zanke auch niemals in Gedanken mit jemandem. Das verbittert das Gemüt oft mehr als ein wirklicher Streit und verursacht viel innere Unruhe. Dies gilt besonders bei Menschen, die uns nahestehen, denn »Zürnen mit Geliebten streut Wahnsinn auf den Scheitel«, wie ein semitisches Sprichwort sagt.
Richtet nicht Lass die Bösen, lass das Zanken. Lass was dir nicht ist befohlen. Kennst du Gottes Heilsgedanken, Wen er noch herum will holen? Und wenn er sie nicht will retten, Ist dir nicht genug geschehen? Tragen sie nicht schwere Ketten, Die nicht in der Gnade stehen? Mitten in des Glückes Schimmer Fühlen sie stets Unglücksbangen; Über ihrem Haupte immer Sehen sie ein Richtschwert hangen. Lass sie ihrem rechten Richter; Deinen Weg geh' ohne Wanken; Gott ist nicht ein Tagesdichter Mit alltäglichen Gedanken.
»Ich muss das (jetzt) leiden, aber die rechte Hand des Höchsten kann alles (bald) ändern.« Wer diese Worte des 77. Psalms (Ps 77) aus aufrichtigem Herzen und mit voller Zustimmung nachsprechen kann, der ist — über sein Leiden hinaus — zu innerem Frieden und Gleichgewicht gekommen.
Jer 10 24Jer 15 11–13GBG 172
Was du wünschst und dir erbittest, kann nicht immer sofort geschehen. Manches muss vorher noch wachsen und erstarken, in dir und anderen. Es muss gewissermaßen auf natürlichem Weg vor sich gehen, selbst wenn es ein Wunder der Gnade ist. Dass man etwas hat, ist auch nicht die alleinige Hauptsache für das eigene Gefühl — die Überzeugung, der feste Glauben, etwas zu bekommen, ist fast ebenso gut wie der vollendete Besitz.
Glaub nur feste, dass das Beste Über dich beschlossen sei; Wird dein Wille nur fein stille, Wirst du allen Kummers frei. Wenn die Stunden sich gefunden, Bricht die Hilf' mit Macht herein, Und dein Grämen zu beschämen, Wird es unversehens sein.GBG 636
Amos 3 2 enthält eine sehr gute Erklärung für sehr viele Leiden der Guten, die sonst unerklärlich wären und die manche Leute das Vertrauen in die Gerechtigkeit Gottes verlieren lassen.
»Der Gerechte muss viel leiden, aber der Herr hilft ihm aus allem.« Das ist ein Wort, das schon vor Tausenden von Jahren gesprochen wurde und in aller Kürze beschreibt, auf was sich die Guten dieser Welt einzustellen haben. Sie müssen viel leiden; anders gelangen sie nicht zu der wirklichen Güte, die sie erreichen sollen. Daraus entstehen alle Irrtümer, falschen Wege und wirklich schweren Schicksale der Guten, dass sie diesem Leiden ständig ausweichen und es ebenso gut und leicht haben wollen, wie sie es an manchen Kindern der Welt sehen — oder wenigstens zu sehen meinen. Es ist ein Irrtum, von dem sie sich gänzlich befreien lassen müssen. Viel Leiden, das ist unausweichlich; ergib dich also in dieses Schicksal und fasse dich, so bald und so vollständig als möglich; erst dann bist du auf dem geraden Weg des Fortschritts zum Vollkommenen.
Offb 3 19Hebr 12 6Spr 3 121 Kor 11 32Ps 71 20Ps 73 26Ps 97 11Ps 112 7
Der Trost, der unmittelbar danebensteht, ist der, dass Gott solchen willig Leidenden näher ist als allen andern, so dass ihnen nicht nur das Leiden selbst sehr versüßt und erträglich gemacht wird, sondern auch alles einen guten Ausgang nimmt. Ohne diesen Trost würde niemand den »schmalen Weg« gehen können; mit ihm aber sind schon viele in großen Leiden glücklich gewesen.