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»Was hat mich geprägt?« Und: »Was habe ich daraus gemacht?« Wie ist Alice Schwarzer die geworden, die sie ist? Und vor allem: Wer ist sie überhaupt? Die Autorin Alice Schwarzer hat zahlreiche Porträts und Biografien geschrieben, u.a. über Gräfin Dönhoff und Romy Schneider. Ein autobiografisches Buch über ihren eigenen Lebensweg jedoch gab es bisher nicht. Nun ist es soweit. In großer Offenheit schreibt sie über das, was sie geprägt hat – und was sie daraus gemacht hat.Über die politisierte Großmutter und den fürsorglichen Großvater, über ihr schwieriges Verhältnis zur Mutter. Über ihre Kindheit auf dem Dorf und die Jugend in Wuppertal. Über beste Freundinnen und den ersten Kuss. Über Ausgrenzung und Gewalt. Über Freundschaft und Liebe. Über Swinging Schwabing in den 60ern und die 68er-Jahre als Reporterin bei pardon. Über ihr Leben als Korrespondentin und den euphorischen Aufbruch der Pariser Frauenbewegung. Über ihre frühen feministischen Aktionen gegen den § 218 und den Skandal vom »Kleinen Unterschied« – bis hin zur EMMA-Gründung. Es gibt wohl kaum eine Person des öffentlichen Lebens in Deutschland, die über Jahrzehnte in einem solchen Übermaß Bewunderung und Aggressionen erfahren hat und erfährt wie Alice Schwarzer. Sie ist die Stimme in Deutschland für die Rechte der Frauen. Zugleich ist sie eine der herausragendsten Journalisten und Essayisten des Landes, Autorin zahlreicher Bestseller und Blattmacherin. Ihre Leidenschaft, ihre Konfliktfähigkeit und ihr kämpferischer Elan sind Legende. In dieser Autobiografie erfahren wir, was die Wurzeln und Prägungen von Alice Schwarzer sind und wie sich daraus die Motive ihres Lebens entwickelt haben.
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Seitenzahl: 574
Alice Schwarzer
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Für Ernst Schwarzer
Sommer 2010. Ein Jahr liegt vor mir. Das ist die Zeit, die ich mir für mich nehme. Die Wochen zwischen den EMMA-Redaktionsschlüssen habe ich weitgehend freigeschaufelt, Vorträge und Fernsehen sind auf ein Minimum reduziert. Im Sommer 2011 will ich fertig sein mit diesen ersten 15 Kapiteln meines Lebens.
Alles ist vorbereitet. Fotos, Briefe, Taschenkalender und Archive sind gesichtet. Meine große schwarze Schreibtischplatte ist leer gefegt. Die Reisenotizen sind ausgewertet, die Wiederbegegnungen mit den Stationen meines Lebens: meine Heimatstadt Wuppertal, die nur 50 Kilometer entfernt liegt von Köln, wo ich seit 34 Jahren lebe; das fränkische Dorf, in dem ich bei Kriegsende sechs Jahre lang evakuiert war; München, wo ich in den frühen 1960er-Jahren im Swinging Schwabing gefeiert und gejobbt habe; Düsseldorf, Hamburg und Frankfurt, wo ich als junge Journalistin gestartet bin; Berlin, wo ich Mitte der 1970er-Jahre bei meiner Rückkehr aus Frankreich einen wahren Kulturschock erlitten habe – und mein geliebtes Paris, das mich so entscheidend geprägt hat und wo ich gleich zwei Mal gelebt habe: als Sprachstudentin in den 1960ern und als Korrespondentin in den 1970ern.
Jetzt sitze ich 50 Autominuten entfernt von Köln in meinem 400 Jahre alten Fachwerkhaus mit Blick auf die ebenso alte Linde. Die beiden waren vor mir da und werden nach mir da sein.
»Arbeitsklausur« lautet das Stichwort, denn zum Schreiben muss ich allein sein. Ungestörte Wochen liegen vor mir. Das heißt, wenn nicht gerade meine Katze Frizzi ihren Kopf gegen die geschlossene Türe meines Arbeitszimmers donnert oder Noah, mein vierjähriger Nachbar, sich durch den von uns gemeinsam frei geschnittenen Tunnel in der Hecke schiebt, sich vor meinem Fenster auf die Zehen stellt und mault: »Bist du bald mal fertig mit deinem Buch?«, sowie energisch sein »grünes Getränk« verlangt. Das ist die Menthe à l’eau, der Pfefferminzsirup, den ich seit Jahren jeden Sommer aus Frankreich mitbringe. Dabei gibt es den sicherlich längst in jedem deutschen Supermarkt.
Vor mir liegt eine Reise durch mein eigenes Leben. In den vergangenen Jahrzehnten habe ich mich für unendlich viele andere Leben interessiert und Menschen befragt. Immer mit Leidenschaft, immer getrieben von der Frage nach den Prägungen, die die Frauen und Männer formen, und den Freiheiten, die sie sich darum oder trotzdem nehmen.
In den letzten Jahren begann ich zu spüren, wie meine Neugierde auf mich selber wuchs. Ich habe selten innegehalten in meinem Leben. Es gibt einfach immer zu viel zu tun. Und ich bin auch nicht der Mensch, der sich am liebsten mit sich selbst beschäftigt und über seine Befindlichkeiten beugt. Dafür finde ich die Welt viel zu aufregend. Doch jetzt möchte ich mir die Zeit nehmen, mich selber zu befragen: Was hat mich geprägt? Wie waren die Bedingungen und Begegnungen meines bisherigen Lebens? Und – was habe ich daraus gemacht?
Ich bin in der etwas speziellen Lage, dass es ein öffentliches Bild von Alice Schwarzer gibt. Man glaubt zu wissen, wer ich bin, obwohl ich nur sehr selten öffentlich über mich selber geredet und kaum je über mich geschrieben habe. Manches von diesem Schwarzer-Bild basiert auf meinen Texten, meinem politischen Engagement und meinen öffentlichen Auftritten. Doch viel ist geprägt von Klischees. Dass meine Realität in weiten Strecken so ganz anders aussieht als diese Projektionen, auch das gilt es zu sagen.
Ich bin gespannt auf diesen Streifzug durch mein eigenes Leben. Doch ich habe auch Angst davor. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt, wenn ich daran denke.
Sommer 2012. Der kleine Noah geht inzwischen zur Schule. Und sein Liebstes ist es, bei mir auf der Schreibmaschine, die neben meinem iPad eine hartnäckige Existenz fristet, »Artikel« zu schreiben. Er hämmert dann wahllos auf den Tasten herum, und ich muss ihm vorlesen, was er geschrieben hat. Nachwuchs für EMMA? Wäre auch recht. Denn gerade stecke ich mal wieder bis über beide Ohren im Redaktionsschluss – und für 2013 plant EMMA eine Offensive, da ist jede hilfreiche Hand willkommen.
Doch wie ging es weiter mit meinem »Lebenslauf« nach der Abgabe des Manuskriptes im Sommer 2011?
Zunächst erschien das Buch. Und irgendwann fiel mir die frappante Ähnlichkeit auf zwischen der achtjährigen Alice auf Seite 61, fotografiert vom Schulfotografen, und der 68-jährigen Alice auf dem Cover, porträtiert von Bettina Flitner. Ich blätterte hin und her, her und hin, und war gerührt, aber auch irritiert über die Ähnlichkeit der beiden Alice’. So vieles, so früh schon da. Die Augen, der Mund, die Wachheit, aber auch die Melancholie. Ja, bis zum Alter von acht Jahren ist eben schon viel passiert, und das Ergebnis prägt die kommenden Jahrzehnte eines Lebens.
Dann erschien das Buch und es passierte etwas für mich Unerhörtes. Die meisten der im September 2011 flächendeckend in allen großen, deutschsprachigen Zeitungen erschienenen Rezensionen waren differenziert und präzise. Zu meiner fassungslosen Freude. Denn ich veröffentliche nun seit über 40 Jahren Bücher, darunter auch drei Biografien, aber das war mir noch nie passiert.
Fast alle RezensentInnen hatten sehr genau hingesehen, hatten nicht noch einmal, zum tausendsten Mal, das Schwarzer-Klischee reproduziert, sondern hatten mich wahrgenommen. Was für ein Glück, wenn einem das widerfährt! Das ging von dem umfassend historischen Blick der 80-jährigen Ruth Klüger in der Literarischen Welt, die den Antifeminismus, dessen liebste Zielscheibe ich seit Mitte der 1970er-Jahre bin, zu Recht mit dem Antisemitismus verglich, bis hin zu der Besprechung der 50-jährigen Philosophin Petra Gehring in der FAZ, der es gelang, den Zusammenhang zwischen Leben, Beruf und Politik mit einem Blick zu erfassen.
Wenn von Buchrezensionen die Rede ist, fallen oft die Begriffe »positiv« bzw. »negativ«. Doch darum geht es in Wahrheit eigentlich gar nicht. Es geht um Wahrnehmen und Verstehen – oder eben nicht. Das gilt für Biografien ebenso wie für Autobiografien. Eine Biografie ist immer eine Begegnung zwischen zwei Menschen. Also unausweichlich subjektiv, jedoch gepaart, wenn lauter, mit einem Bemühen um Objektivität. Und eine Autobiografie? Die ist eine Begegnung mit sich selbst.
Meine Autobiografie hat auch mir noch ein Stück mehr die Augen geöffnet in Bezug auf mich selbst. Und anderen anscheinend auch.
Alice Schwarzer
Köln, September 2012
»Es ist ein Mädchen.« – Der Zettel liegt auf dem Küchentisch und der Satz ist in seiner klaren, schönen Handschrift geschrieben. Er war also trotzdem hingegangen. Obwohl sie erklärt hatte: »Ich will das Kind nicht sehen!« Und auch sie wird einige Tage später auftauchen, auf das Neugeborene blicken und dem Kind noch Jahre später in ihrer sarkastischen Art erzählen: »Hübsch warst du nicht gerade. Du warst ganz winzig, tomatenrot und schrumpelig.« Er, das ist mein Großvater, Ernst Schwarzer, zum Zeitpunkt meiner Geburt 47; sie ist meine Großmutter, Margarete (genannt Grete) Schwarzer, geborene Büsche, 46 Jahre alt. Sobald ich sprechen kann, werde ich sie »Papa« und »Mama« nennen, meine Mutter ist die »Mutti«.
Wir schreiben den 3. Dezember 1942. Es ist das Jahr, in dem die Wannsee-Konferenz die »Endlösung der Judenfrage« beschließt. Und das Jahr, in dem die flächendeckenden Bombardierungen deutscher Städte beginnen. Beides beschäftigt bzw. betrifft meine Familie existenziell. Wuppertal-Elberfeld wird wenige Monate später in einem Flammenmeer versinken.
Meine Mutter Erika ist 22 Jahre alt, ungewollt schwanger und bis ins hohe Alter stolz darauf, dass man »bis zuletzt nichts gesehen hat«. Die Schwangerschaft ist das Resultat eines Flirts mit einem Soldaten auf Heimaturlaub. Der ist ihr beim näheren Hinsehen so fremd, dass sie sich weigert, auf dem Standesamt seinen Namen preiszugeben. Auf eigenen Wunsch lerne ich ihn 20 Jahre später kennen: groß, blond, breitschultrig. Ein wenig verlegen an der gemeinsamen Kaffeetafel. Und auch mir sehr fremd. Ich habe mich nie mehr bei ihm gemeldet – und er sich nicht bei mir.
Die Geburt eines unehelichen Kindes ist in dieser Zeit noch eine große Schande – wenn es nicht gerade ein Kind ist, das die Mutter »dem Führer schenkt«. Doch das kann bei meiner Mutter nicht unterstellt werden. Die war schon als 17-jährige Dienstverpflichtete nach der »Kristallnacht« mit dem Satz aufgefallen: »Man sollte in alle braunen Buxen schießen!« Womit sie die Nazi-Hosen meinte und prompt bei der Gestapo vorgeladen wurde. Vorlaut wie sie war, hätte sie sich wohl um Kopf und Kragen geredet, wäre sie nicht jung und hübsch gewesen. Auf die Frage, warum sie nicht beim Bund Deutscher Mädel (BDM) sei, antwortete Erika schnippisch: »Ich sticke an meiner Aussteuer.« Und der genervte Gestapo-Mann entgegnete: »Solche wie Sie wollen wir auch gar nicht haben im BDM.«
Also: kein Kind für den Führer, sondern ein Kind der Schande. Als meine Mutter im Kreißsaal in den Wehen liegt, sagt der Arzt spöttisch zu ihr: »Na, rein geht eben leichter als raus.« Auch das wird sie nie vergessen.
Vom Krankenhaus an der Hardt aus kehren meine Mutter und ich erst mal nicht in die Wohnung in der Elberfelder Südstadt zurück. Ihre Mutter verbittet sich das. Dieselbe Frau, die ihr Leben lang so unkonventionell und weltoffen war, reagiert bei der eigenen Tochter hartherzig. Sie lässt sie in »ein Haus für gefallene Mädchen« ziehen – von wo aus die Leiterin sich noch vor Weihnachten bei ihr mit den Worten meldet: »Ihre Tochter gehört nicht hierher. Holen Sie sie bitte ab.«
Mein Start ist also nicht gerade rosig. Die äußeren Umstände sollten zeitgemäß anstrengend bleiben, die inneren aber, die familiären, sich zunächst zum Besseren wenden. Denn da ist mein Großvater. Sein Laden für Zeitschriften und Tabakwaren plus Leihbücherei ist nun geschlossen, weil er dienstverpflichtet wurde. Zwei Schlüsselsätze von ihm zu seiner Tochter sind bei meinem Einzug in die Blumenstraße 19 in der Familienchronik überliefert: 1. »Gib sie her, du lässt sie fallen.« Und 2. »Das Kind hat Hunger.«
Beides traf wohl zu. Die junge Mutter ist am Ende mit den Nerven und hat »saure Milch«. Ich werde also ein Flaschenkind und von Anfang an von »Papa« gefüttert. Denn die Frauen meiner Familie haben wenig Talent zur Mütterlichkeit. Meine Mutter wird lebenslang so etwas wie eine eher ferne Schwester für mich sein, eine eigentlich ältere, aber später dann sogar jüngere Schwester. Und mit meiner Großmutter, genannt Mama, werde ich zwar in meiner Kindheit sehr eng verbunden sein, aber ebenfalls eher auf einer geschwisterlichen Ebene: Wir teilen uns die Schokolade und das monatliche Mickey-Mouse-Heft. Statt Windeln zu wechseln oder Breichen zu kochen, liest sie lieber oder debattiert über Politik. Was damals heikel sein konnte. Vor allem, weil die Familie Schwarzer ganz entschieden gegen die Nazis war.
Meine Großmutter schafft es, sich durch zwölf Jahre Nazizeit zu mogeln, ohne auch nur ein einziges Mal »Heil Hitler« zu sagen. Die Hustenanfälle von Frau Schwarzer beim Betreten von Läden sind berüchtigt. Und sie riskiert mehr. Am Tag nach der »Kristallnacht« geht die kleine, außerhalb der Familie extrem schüchterne Frau demonstrativ in jedes ihr bekannte, als »jüdisch« gebrandmarkte Geschäft – durch ein Spalier von SA-Männern, die sie stoßen und ohrfeigen. Immer wieder. Sie war nie stolz darauf, sie fand das selbstverständlich. Erst 1995, bei einem Treffen mit Überlebenden in dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, begriff ich: Schon für so was konnte man ins KZ kommen.
Am 26. Oktober 1941 waren die ersten Juden von Wuppertal ins KZ deportiert worden. Abfahrt Bahnhof Steinbeck, nur fünf Fußminuten von uns entfernt. Weitere Deportationen folgten, innerhalb von neun Monaten rund tausend Menschen, von denen nur etwa 150 überlebten. Mama muss etwas davon mitbekommen haben. Alle müssen etwas davon mitbekommen haben. Doch nach dem Krieg sagte auch sie über den Holocaust: »Wir wussten alle, dass etwas Furchtbares geschah. Die Demütigungen der Juden passierten ja Tag für Tag vor unseren Augen. Aber das … nein, das war unvorstellbar.«
Mein Großvater nimmt nun täglich zwei Henkelmänner zusätzlich mit Essen für die Zwangsarbeiter mit in den Rüstungsbetrieb, in dem er dienstverpflichtet ist, und so mancher wird sonntags heimlich eingeladen. Einer, ein Belgier, hat es doch tatsächlich geschafft, uns Jahre später, 1949/50, in Elberfeld aufzuspüren. Ich erinnere mich noch heute ganz genau: Die Tür fliegt auf, ein mir riesig scheinender Mann mit blendend weißen Zähnen stürmt herein, hebt meine kleine Großmutter hoch und wirbelt sie durch den Raum. Sodann leert er mit Schwung eine große Tasche aus: Auf unseren Wohnzimmertisch purzeln Schokolade, Kekse, Käse; lauter seltene, wunderbare Dinge.
Aber noch sind wir im Jahr 1942/43. Meine junge Mutter kommt wegen eines »Nervenzusammenbruchs« zur Kur in den Schwarzwald – und taucht nicht mehr auf in Wuppertal. Im November 1943 heiratet sie in Wien den deutschen Offizier Rudolf Schilling. Eine »Panikheirat«, wie sie später sagen wird. Sie wird sich ziemlich bald wieder scheiden lassen. In Wien wohnt das Paar in diesen Kriegsjahren am Karlsplatz 1, also an allerfeinster Adresse.
Ihre Nachbarn sind Grafen, und die Gräfin ermahnt die junge Deutsche, »nicht ohne Hut auf die Straße zu gehen«. Bei dieser Luxuswohnung für einen deutschen Offizier 1943 liegt es nahe anzunehmen, dass es sich um eine »entjudete« Wohnung handelt. Eigentlich eigenartig, dass meine Mutter nichts davon gemerkt hat. Zumindest hat sie nie darüber gesprochen.
Ich bleibe bei den Großeltern in Wuppertal, komme tagsüber in die Kinderkrippe und werde abends von meinem fürsorglichen Papa versorgt. Um Geld dazuzuverdienen, verkauft er jetzt frühmorgens Zigaretten auf dem damals nur zehn Fußminuten entfernten Großmarkt, vermutlich Restbestände aus dem geschlossenen Laden.
In dieser Zeit erscheinen im Wuppertaler Generalanzeiger täglich die Todesanzeigen gefallener Soldaten. Ihre Familien sind »tief erschüttert« über die »unfassbare Nachricht«. Gleichzeitig wird auf Seite 1 gemeldet, wie »heldenmütig« die deutschen Soldaten »die Stellung halten« und wie zahlreich die »Feindverluste« sind. Am 18. Februar 1943 fragt Goebbels die Massen im Berliner Sportpalast: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Sie wollen ihn. Und sie kriegen ihn.
Familie Schwarzer hört den verbotenen Sender Radio London. Auch dafür konnte man ins KZ kommen. Radio London meldet in der Regel die Bombenangriffe auf deutsche Städte vorab, um die Bevölkerung zu warnen. Gehen Schwarzers darum in der Nacht vom 24. auf den 25. Juni mit mir in den Bunker? Schließlich ist das nur einer von insgesamt 1.848 Fliegeralarmen, allein in Wuppertal.
In dieser Nacht fallen innerhalb von 40 Minuten, zwischen 1.16 und 1.56 Uhr, und nur auf den Stadtteil Elberfeld plus Randgebiete: 229.170 Brandbomben, 18.579 Phosphorbomben, 2.540 Sprengbomben und 2.828 Minen. Die 630 ausgeschwärmten britischen Bomber lassen rund 3.000 zerstörte Häuser zurück (jedes dritte) plus 1.640 Tote. 20 Tage später, am 15. Juli, erscheint im Generalanzeiger folgende Suchmeldung: »Welcher SHD-Mann hat in der Nacht zum 25.6. mein ½-jähriges Söhnchen, welches aus den Armen meiner toten Tochter aus dem Keller gerettet war, in der Nähe der Südbrücke übernommen?«
Auch wir drei, Papa, Mama und ich, sitzen in dieser Nacht in einem Bunker. Viel gesprochen haben beide nie über diese Bombennacht und die Tage danach. Meine Informationen habe ich aus dem Stadtarchiv. Überliefert ist nur die Anekdote der wundersamen Errettung aus dem Bunker. Papa erzählte: »Die metallene Türe zu dem Keller war durch die Feuerhitze verzogen. Wir bekamen sie nicht mehr auf, auch mit größter Anstrengung nicht. Der Sauerstoff wurde knapp. Du warst schon ganz blau angelaufen. Mama hat dir immer nasse Lappen aufs Gesicht gelegt. Wir hatten bereits alle Hoffnung verloren … Da flog plötzlich die Türe auf. Und stell dir vor: Ein junger Soldat, der wusste, dass seine Mutter in dem Bunker war, hatte die Türe ganz alleine aufgestemmt.«
Die Stadt liegt in Trümmern, auch die Blumenstraße 19, die ganze Straße. Wir aber leben.
Mama hatte nur das Allerwichtigste mit in den Bunker genommen. Hat sie die weiße Porzellandose in Form eines Schwans in den Trümmern gefunden? Der Schwan steht 67 Jahre später vor mir: Nur das mit Blei ungeschickt reparierte Oberteil ist erhalten und auf dem Schwanenkopf sind bis heute Schmauchspuren. Mit in den Bunker getragen hatte sie ganz sicher den roten Samtkasten mit den wichtigsten Familien-Dokumenten.
Wie Zigtausende andere Obdachlose werden auch wir an diesem 5. Juni 1943 erst mal in den Kasernen auf dem Lichtscheid einquartiert. Die liegen auf der Anhöhe des schmalen, lang gezogenen Tals der Wupper, und wenn ich heute mit dem Auto nach Wuppertal fahre, komme ich immer daran vorbei. Die Gebäude sind inzwischen Wohnungen.
Nach den ersten wirren Tagen werden Schwarzers für einige Wochen im »Hotel zum Bären« in Calw einquartiert. Mich bringen die Großeltern im Kinderheim von Pforzheim unter. Ernst und Grete, die eigentlich so Lebenslustigen und von den Verhältnissen so Gebeutelten, nutzen diese Wochen zum Reisen: in das geliebte, zu der Zeit von den Deutschen besetzte Straßburg (wo sie sich mit meiner Mutter treffen) oder ins schicke Baden-Baden. Zwei Fotos von diesen Ausflügen liegen vor mir, darauf zu sehen: meine elegant behutete Mutter mit der goldenen Familienbrosche von Tante Sophie am Kragen und einem melancholischen Gesichtsausdruck; mein Großvater in der Rolle des Familienoberhauptes und meine Großmutter sichtbar ohne BH (30 Jahre bevor die Feministinnen denselben angeblich verbrannten). Sie hasste jede Art von Einengung.
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Meine Mutter
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Das erste Foto von mir
Vor mir steht der dunkelrote Samtkasten mit vergoldetem Schloss. Er ist schon ziemlich abgewetzt, die Ziermuscheln vom Deckel liegen innen. Ich sollte sie wieder aufkleben. Wenn ich den Kasten aufklappe, sehe ich unter dem Seidenbezug der Innenseite des Deckels das Foto eines anrührenden kleinen Mädchens im Samtkleid mit Spitzenkragen, im gelockten Haar eine Schleife und am Arm ein Eimerchen, auf dem Zandvoort steht. Das Kind lehnt an einer zierlichen Balustrade. Und über den ganzen Innendeckel ist ein rotes, goldgefasstes Band gespannt mit güldenem Schriftzug: »Erinnerung an Zandvoort 1899«.
Das kleine Mädchen ist meine Großmutter Grete Büsche. Sie kann in diesem Sommerurlaub in dem holländischen Seebad noch keine zwei Jahre alt gewesen sein, denn sie ist im Oktober 1897 geboren. Der Samtkasten ist mir vertraut. In meiner Kindheit und Jugend wurden darin die wichtigsten Familiendokumente aufbewahrt: das Stammbuch, die Hochzeitsfotos, der Militärpass meines Großvaters etc. Und ich wusste immer: Eines Tages werde ich diesen roten Samtkasten weiter aufbewahren. Denn da die Großeltern meine sozialen Eltern sind, steckt in diesem Kasten auch meine Geschichte.
Mein Großvater, Ernst Schwarzer, kommt aus einer preußischen Beamtenfamilie in Ratibor, Oberschlesien, heute Polen. Er ging weg als 20-Jähriger und meldete sich freiwillig bei der Armee (was er sehr rasch sehr tief bereute). Eigentlich kamen »Schwartzers« aus Österreich, von wo der Großvater meines »Papas« während der 1848er-Aufstände fliehen musste. Er wurde Oberbahnrat in Ratibor und sein Sohn Karl Lokomotivführer. Karl heiratete Marie Aust, die Tochter des Stationsvorstehers in Breslau.
Es war keine glückliche Ehe. Der Vater war autoritär, die Mutter untertänig. Kam er nach Hause, hatte eines der sieben Kinder mit seinen Pantoffeln an der Haustüre stramm zu stehen. Die überforderte Mutter ließ vor allem die Söhne gerne zur Strafe auf Erbsen knien.
Mein Großvater war der jüngste Sohn, der bewunderte älteste hatte eine Karriere als preußischer Offizier gemacht und der lebenslustige zweite brüstete sich noch im Alter damit, als Matrose anno 1918 Offiziere wie seinen Bruder ins Meer geworfen zu haben. Der dritte Sohn, Kurt, war im Krieg zum »Nahkämpfer« ausgebildet worden, lernte Erwürgen und Erstechen – und erholte sich nie mehr davon. Er landet nach dem Krieg in der Psychiatrie.
Mein Großvater machte eine Lehre als »Kontorist«. Und als er 1919 nach dem Krieg im rheinischen Elberfeld hängen blieb (er war in Köln im Lazarett gewesen), da verband ihn scheinbar kaum noch etwas mit seiner preußischen Familie. Er erzählte von seiner Kindheit später nur anekdotisch, lästerte über die autoritären Eltern und schwelgte in Jugendstreichen. Die Heimat schien ihm wenig zu bedeuten.
Umso stärker war meine Großmutter mit ihrer Heimatstadt Elberfeld verbunden, die 1929 zusammen mit Barmen und Rand-Ortschaften zu Wuppertal vereint wurde. Ihre Liebe zum Rheinland, zu dem das an der westfälischen Grenze liegende Elberfeld gerade noch gehört, war tief. Ihr Vater, Wilhelm Büsche, kam aus einer alteingesessenen Elberfelder Perückenmacher-Familie und hatte eine Buchbinder- und Kartonagen-Fabrik. Ihre Mutter, Johanna Beckers, kam aus Rheydt und war katholisch getauft. Deren Vater, ein Pferdehändler, war laut Stammbaum offiziell »katholisch«, ihre Mutter »jüdisch«. Für die Rassentheoretiker war Mama also noch eine »Vierteljüdin«, wenn auch in Wahrheit vermutlich »Halbjüdin«. Für die Nazis zu wenig, für die hohe Sensibilität meiner Großmutter beim Thema Antisemitismus genug. Und irgendwie scheint die Zuordnung auch innerhalb der Familie fortgeschrieben worden zu sein. Meine Großmutter war noch im hohen Alter verletzt darüber, dass ihr Vater zu dem Kind zu sagen pflegte: »Guck mich nicht so an mit deinen jüdischen Augen.«
Das Ehepaar Büsche lebt mit seinen fünf Kindern, zwei Jungen und drei Mädchen, in dem Haus Neuenteich 79 (heute ein Aldi-Laden) am Fuß des botanischen Gartens und nur einen Steinwurf von der Innenstadt entfernt. Zu seiner Buchbinder-Fabrik mit etwa zwei Dutzend Angestellten und Arbeitern kann der Familienvater zu Fuß gehen, und es scheint Büsches eigentlich an nichts zu mangeln. Aber die Ehe ist schlecht. Er gilt als lebenslustig und gesellig und soll den ersten Elberfelder Schwimmverein gegründet haben. Sie ist schwierig, leidet an Migräne und ihre Szenen überschatten das Familienleben. Ein Drama, das sich bei ihrer Tochter wiederholen wird.
Als Grete, die Nachzüglerin, auf die Welt kommt, ist die Mutter 45 und der Vater 48 Jahre alt (also in dem Alter, in dem bei meiner Geburt meine Großeltern sein werden). Die Ehe scheint zu diesem Zeitpunkt schon völlig zerrüttet gewesen zu sein. Die kleine Grete, die 24 Jahre nach der Ältesten zur Welt kommt, ist weitgehend auf sich gestellt und einsam. Die Einzigen, die sich um sie kümmern, sind Schwester Sophie und ein Nennonkel namens Falk. Der Kriegsveteran hat im Erdgeschoss des Hauses ein Wirtshaus. Es gibt Indizien, dass der nette Onkel sich ein wenig zu intensiv um das kleine Mädchen »gekümmert« hat.
Im Ersten Weltkrieg verliert die Familie ihr Vermögen. Die Brüder haben studiert, sind Architekt und Geschäftsmann geworden – aber die Mädchen? Sophie wird mit einem Internatsjahr für »höhere Töchter« abgespeist. Henny, von der es immer heißt, von ihr hätte ich die Begabung zum Schreiben, wurschtelt sich so durch. Und die kleine Grete? Die lernt Schneiderin. Sie wird ihr Leben lang eine hochbegabte Schneiderin sein, die auf Zeitungspapier frei Schnitte entwirft und der keine Mode extravagant genug sein kann – aber sie wird ihren Beruf und ihre Begabung nie wirklich zu schätzen wissen und noch wenige Tage vor ihrem Tod zu ihrer Tochter sagen: »Das verzeihe ich meinem Vater nie, dass nur meine Brüder studieren durften.«
Grete hätte in der Tat eine der ersten Studentinnen sein können. Sie kam schließlich aus einer Stadt, der zwei der interessantesten weiblichen Persönlichkeiten dieser Zeit zu verdanken sind: die Dichterin Else Lasker-Schüler sowie die Frauenrechtlerin und Sexualreformerin Helene Stöcker. Beide sind 28 Jahre vor meiner Großmutter geboren, beide gingen von Elberfeld nach Berlin und beide starben im Exil: Stöcker 1943 in New York, Lasker-Schüler 1945 in Jerusalem.
Aber vermutlich hat die kleine Grete nichts gewusst von Helene und Else. Etwas allerdings muss auch das Mädchen am Neuenteich gestreift haben in dieser hohen Zeit der Ersten Frauenbewegung. Sonst hätte sie sich nicht noch ein halbes Jahrhundert danach so bitter beklagt über das verweigerte Studium.
Und noch etwas fällt mir auf beim Betrachten dieser mütterlich /großmütterlichen Linie: Ich bin die vierte Generation, die nicht von ihrer biologischen Mutter aufgezogen wurde. Sophie, die älteste Schwester meiner Großmutter, war das erste von fünf Kindern und noch unehelich geboren; sie wuchs bei ihrer geliebten Großmutter, Marie Weymar, auf und kam erst als Jugendliche ins Elternhaus. Grete, meine Großmutter, wurde von ihrer zu der Zeit schon kranken Mutter stark vernachlässigt und von der älteren Schwester Sophie mit versorgt. Und auch meine Mutter wurde nicht von ihrer Mutter großgezogen, sondern ebenfalls von Tante Sophie.
Am 8. Juni 1920 heiraten Grete Büsche und Ernst Schwarzer in Elberfeld. Der Brautvater hat trotz der Nachkriegsnot eine standesgemäße Hochzeit arrangiert – aber die aus Ratibor angereiste Mutter des Bräutigams verlässt am zweiten Tag überstürzt die Feierlichkeiten. Die rheinische Lässigkeit der Büsches scheint der schlesischen Preußin zuwider gewesen zu sein. Dabei waren die Schwarzers die Katholiken und die Büsches die Protestanten.
Zehn Monate später kommt meine Mutter zur Welt, am 30. April 1921. 24 Jahre später wird Hitler sich an diesem Tag umbringen – und meine Mutter wird fortan sagen: »Das war mein schönstes Geburtstagsgeschenk!«
Zum Zeitpunkt ihrer Geburt sind Erikas Eltern 23 und 24 Jahre alt, der Vater ist kriegstraumatisiert (und kommt wenige Wochen nach ihrer Geburt wegen Tuberkulose in ein Sanatorium), die Mutter ist lebensuntüchtig. Auf ein Kind war sie überhaupt nicht gefasst. Also übernimmt mal wieder Schwester Sophie die Verantwortung für das »Erilein«, mit Freude. Und ich, die vierte im Glied mit Ersatzmutter? Ich werde in den ersten Lebensjahren von einem Mann, meinem Großvater, großgezogen.
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Verlobung. Ernst Schwarzer & Grete Büsche, 1919
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Meine Mutter Erika mit 17 Jahren
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Ernst Schwarzer (li) und Bruder Paul
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Tante Sophie & die kleine Erika
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Familie Büsche. Neben Grete (re) die alten Eltern
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Die kleine Grete in Zandvoort
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Marie & Karl Schwarzer, die Eltern von Ernst
Es ist ein sonniger Maitag. Ich steige in Köln-Deutz in den Zug und fahre über Frankfurt und Würzburg nach Schweinfurt. Von da aus will ich mit dem Bus nach Stadtlauringen, ganz wie früher. Auf der Fahrt habe ich Muße zum Erinnern.
Wie ich dieses Dorf geliebt habe! Für mich bedeutete Stadtlauringen Freiheit. Sobald ich laufen konnte, zog es mich in Stall und Scheune zu den Tieren, kroch ich zum Hofhund in die Hütte oder lief über die Wiesen hinter dem Gehöft zur Lauer, einem kräftig fließenden Bach, in dem wir Kinder nicht müde wurden, Kaulquappen zu fangen und Staudämme zu bauen. Und dann die Kirche. Der Mohr am Eingang, der nickte, wenn man einen Pfennig reinsteckte (für die »armen Negerkinder«). Der Geruch von Weihrauch und dieses geheimnisvolle Abendmahl. Und erst die Prozessionen! Für die schickte mir meine Tante Henny eigens ein Körbchen mit einem blauen Perlenband, nicht ohne einen ironischen Reim dazu. Das füllte ich mit Blumenköpfen und schritt bei der Prozession hinauf zur Kapelle würdig voran. Mein Eifer war so groß, dass ich einmal sogar zu Hause auf die Knie fiel und betete: »Maria, du Gebenedeite …«
Es spricht für die Toleranz meiner protestantisch getauften, aber nicht religiösen Großmutter, dass sie dazu nur lächelt und mich gewähren lässt. Selbst meinen Traum, zur Kommunion zu gehen – um auch so ein wunderbares weißes Kleidchen zu tragen –, versteht sie bestens. Ansonsten allerdings sind weiße Kleidchen so gar nichts für mich. Ich bin zwar kein Garçon manqué, kein verpasster Junge, aber ein sehr frei aufwachsendes Mädchen, das früh selbstständig ist, gezwungenermaßen, und darin auch bestärkt wird.
Die leblose Puppe in meinem ersten und letzten Puppenwagen ersetze ich umgehend durch meine erste lebendige Katze: Mucki. Und um den großen, bunten Ball, den mein Papa mir aus der Stadt mitgebracht hatte, werde ich vor allem von den Jungen beneidet. Mit ihnen spiele ich so gern wie mit den Mädchen, nur mit Puppen kann man mich jagen.
Als wir im Sommer 1949 zurück in meine mir unbekannte Heimatstadt Wuppertal ziehen, bin ich tief, tief unglücklich.
Lange Zeit weine ich mich in den Schlaf. Und in meinem abgegriffenen Lieblingsbuch, »Heidi« von Johanna Spyri, wird das Frankfurt-Kapitel verklebt – meine Identifikation mit der nach ihrer Alp so heimwehkranken Heidi ist so groß, dass ich sonst laut anfange zu schluchzen.
Auf dem öden Bahnhofsvorplatz von Schweinfurt suche ich eine Weile, bis ich die Haltestelle von Bus 8170 finde. Noch vor dem Einsteigen spricht mich eine alte Frau an: »Sie waren doch mit meinem Bruder in einer Klasse. So ein Blonder!« Ja. Vor einigen Jahren hat die Lokalpresse entdeckt, dass ich eine Zeit lang in dem fränkischen Dorf gelebt habe, und bei meinem letzten Besuch im Jahre 2004 wurde ich von Bürgermeister Heckenlauer sehr freundlich empfangen. Er hatte sich die Mühe gemacht, Zeitgenossen aus Kindergarten und Zwergschule zusammenzutrommeln. Da waren sie dann alle, nur die Karola vom Milchladen und die Franziska vom Schäfer fehlten. Und ich durfte mich sogar ins Goldene Buch der Stadt eintragen. Ich, »eine Saupreußin, eine damische«.
Diesmal komme ich unangekündigt. Der Bus fährt vorbei an der vertrauten alten Mühle, am Sägeweg und am Haus Schweinfurter Straße 10, wo ich gelebt habe. Er hält vor der Kirche, in der ich in meinem Eifer einmal sogar die Schuhe stehen gelassen hatte. Doch ich bleibe sitzen. Ich fahre weiter bis ins vier Kilometer entfernte Oberlauringen, das Nachbardorf, in dem wir die erste Zeit der Evakuierung verbracht haben.
An der »Unteren Judengasse« steige ich aus und gehe hoch zur Mitte des Dorfes, ein Platz mit Brunnen. Hier, Am Plan 1, sind die Großeltern am 12. August 1943 beim Dorfschmied Steigmeier eingezogen, sechs Wochen nach der Bombennacht in Elberfeld. Und bald darauf haben sie mich nachgeholt.
Inzwischen weiß ich von Zeitzeugen und aus Archiven, wie das hier war in den 16 Monaten, in denen wir beim Dorfschmied einquartiert waren. Das protestantische Oberlauringen war eine Nazihochburg und der Ortsgruppenleiter und Lehrer ein »besonders scharfer Hund«. Gleichzeitig aber ist der Ort immer auch ein Zentrum der »Landjuden« gewesen, also Juden, die Viehhandel und Landwirtschaft betrieben.
Einerseits hatten Christen und Juden immer nachbarschaftlich zusammengelebt in dem Geburtsort des bis heute trotz seines kruden Antisemitismus hoch geschätzten »revolutionären Heimatdichters« Friedrich Rückert (1788 – 1866). Andererseits war dies nie ganz spannungsfrei gewesen, waren die Juden immer die »anderen« oder sogar die Ausgestoßenen geblieben. So hatte der große Sohn der Stadt in seinen 1829 verfassten »Erinnerungen« gereimt: »Wer Oberlauringen nicht hat / Seit einem Jahr geschauet / Sieht staunend eine Judenstadt / Ins Dorf hinein gebauet / Sie krimmeln da und wimmeln da, als wie am Blatt / Blattläuse, dass es einen grauet.«
Zu der Zeit war jeder fünfte Oberlauringer jüdisch, also knapp 200 Menschen. Hundert Jahre später, 1933, lebten nur noch 48 Juden im Ort. Und die letzten 13 jüdischen Nachbarn wurden am 25. April 1942 deportiert. Ein rundes Jahr später kamen wir. Da waren Synagoge und Judenschule schon in Wohnhäuser für »Arier« umfunktionalisiert (und sind es noch) und der »Israelitische Friedhof« draußen auf dem Feld vandalisiert (das ist er nicht mehr). Tag für Tag marschierten Am Plan die braunen Truppen auf und neben dem Kriegerdenkmal war eine »ewige Wache« postiert.
In diese Atmosphäre geraten meine ausgebombten Großeltern, die von Amts wegen dorthin »evakuiert« werden. Meinen Großvater, zeit seines Lebens ein Nazigegner, wird es bedrückt haben. Der damals 16-jährige Siegfried Schmidt erinnert sich gut an ihn: »Der Opa kam jeden Morgen bei mir an der Milchsammelstelle Milch holen für das Kind, also für Sie. Und manchmal kam er auch abends vorbei, ein bisschen plaudern. Ich habe mich gerne mit ihm unterhalten. Und er hat viel fotografiert. Mich auch. Sehen Sie hier …«
Meine Großmutter aber, die Frau, die so leidenschaftlich gerne bummeln geht, verlässt nun das Haus nicht mehr. Schmidt: »Die Oma habe ich immer nur am Fenster gesehen. Wenn man hochguckte, zog sie die Gardine zu.« Doch auch hinter der Gardine hatte Mama vom ersten Stock aus den direkten Blick auf die vor dem Haus aufmarschierenden Nazihorden. Es muss sie wahnsinnig bedrückt haben. Und vielleicht hatte sie sogar regelrecht Angst.
Mama hatte null mütterlichen Ehrgeiz, auch nicht mit ihrer Enkelin. Im Gegenteil. Schon als Kind erzählte sie mir: »Also der Papa war ja verrückt mit dir. Bei jedem Sonnenstrahl hat er dich auf den Hof getragen. Und er hat dir immer Breichen aus frischem Obst gemacht. Die jungen Mütter im Dorf kamen, um ihn um Rat zu fragen.« Mamas Kalkül ging auf: Papa betrachtete sich lebenslang als zuständig für die mütterliche Versorgung seiner Enkelin.
Von mir, dem ein-, zweijährigen Kind, gibt es ein paar unscharfe Fotos in Oberlauringen: mein stolzer Papa mit mir auf dem Arm Am Plan, umringt von Dorfschafen. Oder ich mit einem Spielzeugauto im Arm, sichtbar entschlossen von dannen strebend. Meine einzige direkte Erinnerung ist die: Ich laufe einen Berg hinunter und durch eine offene Tür geradewegs in eine Küche, unter deren Tisch kleine Katzen oder kleine Hunde sind, mit denen ich spiele. Es wird beim Bauern Schmidt gewesen sein.
Am 20. Dezember 1944 ziehen wir um in das katholische – und als weniger antijüdisch geltende – Stadtlauringen. Doch auch da bleiben wir selbstverständlich die nicht sonderlich geliebten »Saupreußen« (Mama: »Und das uns! Wo uns im Rheinland die Preußen besetzt haben!«). Wir werden zwangseinquartiert beim Bauern Hohn, der selber in dem armen Dorf nicht gerade fürstlich lebt und für uns 40 Quadratmeter im Erdgeschoss räumen muss. Der einzige Raum wird mit einem quer gestellten Kleiderschrank zum Wohn/Schlafzimmer gemacht, hinzu kommt eine kleine Küche mit einer winzigen Speisekammer. Am Anfang schlafe ich noch in meinem weißen Gitterbett; später, als Papa zurück nach Wuppertal gegangen war, lande ich im Ehebett neben Mama.
Jetzt, über 60 Jahre später, stehe ich wieder in dem Raum. Die Wände sind eingerissen und die 40 Quadratmeter sind jetzt das Wohnzimmer von Sohn und Schwiegertochter der neuen Besitzerin. Aber die Fenster und der Blick hinaus sind wie damals. Mir wird das Herz ganz schwer.
Ich erinnere mich nicht an den Einzug der Amerikaner, aber es ist mir oft erzählt worden: Am 8. April 1945 rollen die amerikanischen Panzer über die Schweinfurter Straße, von meiner Familie sehnsüchtig erwartet. Dennoch ist Mama leicht enttäuscht: »Die sahen gar nicht aus wie Soldaten. Die hatten die Füße hochgelegt und kauten Kaugummi.« Immerhin: Bei diesem Anblick trauten die Leute sich aus den Kellern. Und ich, zweieinhalb und semmelblond, fliege als »Blondy« quer über die Panzer von GI-Arm zu GI-Arm und habe bald ein schokoladeverschmiertes Gesicht.
Es wird sodann der liebste Sport von uns Dorfkindern, am Straßenrand zu stehen und zu rufen: »Häf ju Schokoläd for mei?« Sie haben. Sie sind wirklich nette Boys. Wenn auch nicht alle. Einer hatte kurz nach dem Einmarsch versucht, mit meiner Mutter, die gerade mal wieder zu Besuch war, zu flirten. Die wies ihn ab. Am Abend klopft es an unser Fenster. Ein junger GI kommt, um meine Mutter zu warnen. Sein Kamerad sei stark betrunken und hätte angekündigt, dass er sich »das Fräulein« jetzt holen wolle. Meine Mutter verlässt das Haus und in der Tat: Wenig später kommt der GI angetaumelt, volltrunken, und fordert die Herausgabe der »daughter«. Mit der Pistole in der Hand. Am nächsten Tag wird der Soldat von der MP, der amerikanischen Militärpolizei, wegen des Vergewaltigungsversuchs standrechtlich erschossen.
Dem Stadtarchiv entnehme ich, dass die Amerikaner in diesen Tagen auch vier Deutsche erschießen, darunter den Dorfpolizisten Buschkühler. Der war aus Düsseldorf zugereist und in der Nazizeit ein besonders fieser Zeitgenosse, bei den polnischen Zwangsarbeitern mit gutem Grund verhasst. Die rund tausend Zwangsarbeiter waren zwar fünf Tage vor Einmarsch der Amerikaner abtransportiert worden, aber man wusste Bescheid im Dorf. Doch die Abrechnung währt nur wenige Tage – danach geht alles wieder seinen Gang.
Im Stadtlauringer Stadtarchiv fällt auf: Die Geschichte des Ortes ist hier zwar bis zurück ins 16. Jahrhundert akribisch dokumentiert – aber die Jahre 1939 bis 1947 fehlen im »Protokollbuch«. Und im »Beratungsbuch« gibt es null Eintragungen zwischen dem 7.8.1942 und dem 8.11.1944. Als sei nie etwas gewesen. Und auch heute, so wird mit gesenkter Stimme gesagt, lasse man das Thema besser ruhen.
Der so dramatisch geendete Dorfpolizist war Teil unserer Familienanekdoten. Denn wie so viele überlebten auch die Schwarzers in der Zeit nur dank Hamsterfahrten und Schwarzhandel, im kleinsten Stil: Mehl gegen Speck, Speck gegen Zigaretten, Zigaretten gegen Kleidung etc. Der Dorfpolizist machte regelmäßig Razzien bei den einschlägig Verdächtigen. Und es war einer meiner makaberen Lieblingsscherze, ins Zimmer zu stürmen und zu rufen: »Der Buschkühler kommt!«. Mit dem Resultat, dass Hektik ausbrach – und ich irgendwann anfing, fett zu lachen. Bestraft wurde ich für solche Scherze nie, im Gegenteil: Mama und Papa hatten Mühe, sich das Lachen zu verkneifen.
Und auch ich bin beim Hamstern im Einsatz. Denn in den raren, überfüllten Zügen, wo Menschen auf den Dächern kauern, gibt es ein Abteil »Mutter und Kind«, das ist meist halb leer und komfortabel. Also werde ich ab und an mitgenommen im Abteil auf Hamsterfahrt. An eine Episode erinnere ich mich: Ich sitze neben meiner Großmutter mit einer Puppe auf dem Schoß und die Dame gegenüber, die mir eine Freude machen will, lobt mein »reizendes Püppchen«. Doch mein Püppchen ist für mich alles andere als reizend. Es hat zwar einen wunderschönen Porzellankopf aus dem 19. Jahrhundert (auch der aus den Trümmern gerettet), aber seine Arme und Beine sind mit Stoff umwickelte Würstchen und sein Leib ist ein eingewickeltes Stück Speck. Es ist mir ziemlich peinlich.
Meine Mutter scheint in diesen Nachkriegsjahren öfter in Frankfurt zu sein. Doch sie beginnt erst ein halbes Jahrhundert später – als die Vergewaltigungen und die Prostitution nach Kriegsende ein öffentliches Thema werden –, über das zu reden, was sie dort gesehen hat. Sie sagt:
»Ich habe die jungen Frauen, oft noch halbe Kinder, die Krieg und Flucht überlebt hatten, in den Trümmern der Bahnhofstraße hausen sehen. Ihnen blieb gar nichts anderes übrig, als sich zu prostituieren. Und wenn sie schwanger wurden, brachten sie die Kinder in Hauseingängen und Kellern zur Welt – und so manche hat das Neugeborene in ihrer Verzweiflung gleich umgebracht.« Es scheint da also über die Sieger-Vergewaltigungen und die Nachkriegs-Prostitution hinaus durchaus noch weitere dunkle Kapitel zu geben, die bis heute nicht beleuchtet sind.
Der Schwarzhandel blüht bis zur Währungsreform am 20. Juni 1948, von da an kann man wieder alles kaufen, für harte D-Mark. Doch bis dahin sind Zigaretten die Währung, die Camels der GIs. Eine Packung Zigaretten entspricht 100 Mark. Zum Vergleich: Ein Drei-Kilo-Brot kostet 80 Pfennig. Zum Selberrauchen sind die Zigaretten also auch für Raucher wie Papa und Mutti viel zu kostbar. Ich sammle darum auf der Dorfstraße GI-Kippen für die beiden und friemel den Tabak raus. Sie sind sehr gerührt über das liebe Kind.
Doch Stadtlauringen, das ist für mich eigentlich: meine Großmutter und ich. Aber so zufrieden ich in meiner Erinnerung war – obwohl ich auf den Fotos manchmal so traurig aussehe –, so unglücklich war sie. Sie war Städterin durch und durch, ging dreimal die Woche ins Kino, doch in dem »Kuhdorf« gab es höchstens samstags eine Filmvorführung im Gemeindesaal, und was für eine … Das Einzige, was meine gekränkte Großmutter aufmuntern konnte, waren Kölner. Wenn die auf Hamsterfahrten vorbeikamen, blühte sie auf. Und die kölsche Trümmer-Hymne von Ostermann »Wenn ich su an ming Heimat denke un sin d’r Dom su vör mer ston …« konnte sogar der so Unsentimentalen die Tränen in die Augen treiben. Wie so manches habe ich auch das von ihr geerbt.
Das einzige Haus, in dem Mama und Papa verkehrten, war Bäcker Braun an der Kirche. Der Sohn des Hauses, der inzwischen verstorbene 87-jährige Bäcker, ist einer der Letzten mit einer lebendigen Erinnerung an uns. »Ihr wart ja täglich bei uns. Man konnte sich schließlich vertrauen.« Was sich in dem Fall sowohl auf die Nazigegnerschaft als auch auf den Schwarzhandel bezog. Sogar an mich, die damals Vier-, Fünfjährige kann Arno Braun sich bestens erinnern: »Sie waren ein bescheidenes Kind. Sie haben immer nur Salzstangen oder trockene Brötchen gewollt.«
Ja, ich war ein bescheidenes Kind, aber mir blieb auch gar nichts anderes übrig. Ich wurde zwar geliebt, aber verwöhnt wurde ich nicht, wovon auch. Und ich hatte sehr früh Verantwortung. Als Papa 1946/47 zurückging nach Wuppertal, um eine Wohnung für uns zu suchen und eine neue Existenz, wurde ich sozusagen der Familienchef. Da war ich vier Jahre alt. Mama blieb scheu und introvertiert, ich übernahm die Verantwortung. Ich ging oft alleine einkaufen bei Metzger Lutz oder im Gemischtwarenladen Katzenberger; ich kundschaftete die Lage an der Post aus, ob Mama, die im kleinen Stil Schwarzhandel betrieb, es wagen konnte, ein Speck-Paket aufzugeben (auf Schwarzhandel stand Gefängnis); ja, ich ging sogar abends mit ihr auf Holzklau, wenn es sein musste. Denn die Bauern, die gaben den »Hergelaufenen« nicht das Schwarze unterm Nagel. Ich tat das allerdings nicht gern. Denn ich gehörte schließlich zum Dorf – und es wäre mir unendlich peinlich gewesen, erwischt zu werden.
Heidrun, die Schwester von Margit, mit der ich gemeinsam in die »Kinderbewahranstalt« zu den Nonnen ging, erinnert sich noch sehr genau: »Wenn wir dich zu Hause abholten, hat deine Großmutter die Tür immer nur einen Spalt geöffnet, und du hüpftest dann die Stufen runter. Sie trug einen Turban und redete mit niemandem. Wir glaubten, sie sei eine Hexe.« Die beiden Mädchen waren überzeugt, ich würde in der Laube im Garten wohnen, also so eine Art Pippi-Langstrumpf-Existenz führen. So ähnlich war es ja auch. Nur dass ich zusätzlich für eine Erwachsene die Verantwortung hatte.
Es gibt ein paar Anekdoten, die ein bezeichnendes Licht werfen auf das Verhältnis zwischen meiner Großmutter und mir. Ich glaube mich selbst daran zu erinnern, aber manchmal vermischen sich meine Erinnerungen vielleicht auch mit den späteren Erzählungen der Erwachsenen.
Da ist die Geschichte mit dem Dorfkino. Ich kann maximal drei gewesen sein, denn ich lag noch in meinem weißen Gitterbett. Mama war in die Samstagabend-Vorführung gegangen. Mir wurde langweilig, ich kletterte aus dem Bett, zog mich an und machte mich auf den Weg. Weit war es nicht. Vielleicht 500 Meter die Dorfstraße runter. Da postierte ich mich vor den Gemeindesaal – und als Mama rauskam, sagte sie nicht etwa: Um Gottes willen, was machst du denn hier, Kind! Sondern: »Das ist aber lieb, Alicelein, dass du mich abholst.« Es schien ihr einfach selbstverständlich.
Oder die Geschichte mit dem Hering. Das muss um 1947/48 gewesen sein, auf jeden Fall gab es noch Lebensmittelkarten. Der Dorfbüttel ging durch die Straßen und verkündete täglich, was es heute auf die Marken zu kaufen gäbe. An dem Tag gibt es auf die Abschnitte XY »Hering oder Eis« bei Katzenberger. Mama und ich sitzen in der Küche, ich auf meinem kleinen Schemel, wie so oft. Wir gucken uns an, jede hofft … Schließlich gebe ich nach und sage: »Du kannst die Heringe haben, Mama.« Mama zieht los.
Und die Geschichte meiner ersten D-Mark. Das muss im Sommer 1948 gewesen sein, direkt nach der Währungsreform. Ich war also fünfeinhalb. Kurz zuvor hatte ich ein paar Pfennige durch Kräutersammeln für die Apotheke verdient, wie viele Kinder im Dorf. Mama war sehr stolz und sagte: »Das ist dein erstes selbst verdientes Geld.« Sie legte die Pfennige in ein Medaillon. Wenig später schenkt sie mir eine Mark, was damals viel Geld war. Damit mache ich mich auf zum Jahrmarkt in das vier Kilometer entfernte Sulzdorf. Auf halber Strecke begegnet mir ein Bauer aus unserem Dorf auf dem Pferdewagen und fragt mich erstaunt: »Was machst du denn hier, Alois?« (Vielen Stadtlauringern war der Name Alice so fremd, dass sie mich einfachheitshalber Alois nannten.) Ich erstatte Auskunft und marschiere weiter. Das macht die Runde in Stadtlauringen.
Ich war also sehr früh sehr selbstständig und anscheinend auch relativ unerschrocken. Meine Großmutter war ein großes Kind – und ich war ein vernünftiges Kind. Sie traute mir alles zu. Sie nahm mich ernst.
So manche meiner tiefen Strukturen wurden in den ersten Lebensjahren geprägt: mein extrem ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein für andere sowie dieses permanente Pendeln und Vermitteln zwischen dem Rand der Gesellschaft und ihrer Mitte. Das ist bis heute mein Platz: randständig sein und dazugehörig zugleich. Das Leben mit Mama, die so extrem unangepasst ist, ist mir vertraut – doch verkehre ich gleichzeitig sehr selbstverständlich bei den anderen, den »Normalen«. Ich lade mich auch unbefangen bei »Tante Ellis« oder »Onkel Braun« zum Mittagstisch ein, denn das Kochen ist nicht Mamas Sache. Wir zwei machen uns meist Grießbrei und ähnliche Schnellgerichte. Was mir übrigens später die Unbefangenheit geben wird, als Erwachsene leidenschaftlich gerne zu kochen.
Ich bin ein Dorfkind wie alle anderen, hole das Wasser von der Pumpe auf dem Hof und bin meist draußen unterwegs. Aber gleichzeitig ist da die unausgesprochene Herausforderung durch meine Großmutter. Mit vier bringe ich mir selber die Uhr bei, und als ich mit fünf eingeschult werde, kann ich schon recht ordentlich lesen. In meiner Zwergschule hinter der Kirche sitzt die dritte Klasse in der Reihe am Fenster, die zweite in der Mitte und die erste an der Tür.
Ich habe ein halbes Jahr lang das Vergnügen. Dann geht es zurück nach Wuppertal. Unsere wenigen Möbel passen locker auf den Lastwagen. Und auf meinem Schoß sitzt meine Katze Mucki.
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In Oberlauringen, 1944
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Papa mit mir in Oberlauringen, 1943
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Mutti mit mir in Frankfurt, 1946
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Mein Großvater mit Mitte fünfzig
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Meine Großeltern und meine Mutter, 1943
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Im Kindergarten. Ich bin die 4. v. li, 3. Reihe
Ich stehe auf dem Schulhof der Volksschule Pfalzgrafenstraße in Wuppertal, auf die schon meine Mutter ging. Um mich herum Trauben von Kindern. Sie sind restlos begeistert, denn so etwas haben sie noch nie erlebt: Ein Mädchen, das eine Schürze trägt mit herzförmigem Oberteil und ebensolchen Taschen, und das Sätze sagt wie: »Wolln wir fei Fangerles spielen?« Grölendes Gelächter.
Ich beeile mich mit dem Einleben. Doch nachdem ich in der Klasse zunächst ein halbes Jahr übersprungen hatte – in Nordrhein-Westfalen wurde damals noch im Frühling eingeschult – werde ich nach ein paar Wochen wieder zurückversetzt: Ich komme einfach nicht klar mit der Rechtschreibung und dem fränkischen »weichen Bö« und »harten Bö« sowie »weichen Tö« und »harten Tö«.
Gegen mein Tausend-Seelen-Dorf ist die knapp 400.000 EinwohnerInnen zählende Stadt Wuppertal überwältigend. Überraschung Nr. 1: die Schwebebahn. Diese Hängebahn an Schienen, die sich seit Beginn des Jahrhunderts über dem Fluss durch das enge Tal schlängelt und quasi unfallfrei täglich Zehntausende transportiert, ist ja in der Tat eine Weltsensation. Bis heute fahre ich leidenschaftlich gern mit der Schwebebahn. Doch beim ersten Anblick dieser sehr hoch oben hängenden Straßenbahn erkläre ich entschieden: »Da rauf klettere ich nicht!« Gewohnt an meinen Heustall glaube ich, dass ich da mit der Leiter raufmuss. Dass im Sommer 1950 das Elefantenkind Tuffi bei einer Werbetour für den Zirkus Krone in der Schwebebahn in Panik die Wände durchbrach und in der wasserarmen Wupper landete, hob nicht unbedingt mein Zutrauen. Tuffi blieb übrigens unverletzt, lebt bis heute in den Wuppertaler Kinderherzen fort und ist ein beliebtes Buttonmotiv.
Überraschung Nr. 2: die erste Banane. Ich gehe mit meinem Papa über den Neumarkt, wo er, der jetzt wieder Zigaretten auf dem Großmarkt verkauft, von mindestens jeder zweiten Marktfrau sehr herzlich angesprochen wird. Papa hatte lebenslang einen Schlag bei den Frauen, galt als charmant und lustig und weckte, schlank wie er war, fürsorgliche Instinkte. Eine der Marktfrauen schenkt mir eine Banane, damals noch eine rare und mir unbekannte Frucht. Unerschrocken, wie ich bin, beiße ich kräftig rein – und spucke empört wieder aus. Ich hatte in die Banane mit Schale gebissen.
Überraschung Nr. 3: fließendes Wasser. Wahnsinn. Da konnte ich stundenlang zugucken. Schließlich war ich es im Dorf gewohnt, das Wasser in Zinneimern vom Brunnen im Hof zu holen. Da genügte es nicht, einfach am Kran zu drehen, da musste kräftig gepumpt werden.
Jetzt bin ich also in einer richtigen Stadt. Und Mama kann endlich wieder ins Kino gehen. Am liebsten in Filme mit O.W. Fischer, der ist so wunderbar ironisch. Ein Faible, das ich bald mit ihr teilen werde. Es ist die Blütezeit von Heimatfilmen wie »Schwarzwaldmädel« und »Grün ist die Heide«, die aber werden von Schwarzers tunlichst gemieden. Ich schmuggle mich ab acht, neun Jahren allein in die Filme ab zehn, Reihe drei für 1,10 Mark im Rex. Manchmal entdecken Mama und ich in der Pause, dass wir in derselben Vorstellung sind. Sie raschelt mit Schokoladenpapier, und ich knacke – immer ganz schnell, wenn es lauter wird auf der Leinwand – meine süßsaure Gurke zu 30 Pfennig, lose aus der Tonne im Kaufhof.
Mit etwa neun erwacht meine Leidenschaft für Hildegard Knef. Ich verpasse keinen Film mit ihr: diese Schultern, diese Schritte, diese Stimme … Ich kann sie stundenlang anhimmeln. Jahrzehnte später wird eine Freundin sagen: Ist doch ganz klar, sie gleicht total deiner Mutter! War mir gar nicht klar.
Die Knef ist auch Thema an unserem Wohnzimmertisch. »Mit der können die Deutschen nichts anfangen«, kommentiert meine Großmutter sarkastisch, als die Knef nach Hollywood geht. Aber die Amerikaner können in den frühen 1950er-Jahren, so kurz nach der Nazizeit, mit dieser hochgewachsenen, blonden Deutschen auch nichts anfangen. Das Problem von Hildegard Knef ist, dass sie zu früh zu große Schritte machte.
Ihren ersten großen Film, »Die Mörder sind unter uns«, von dem als sozialkritisch geltenden Wolfgang Staudte, habe ich allerdings erst Jahrzehnte später gesehen. Und er hat mich wirklich geschockt, obwohl die Knef, wie immer, eindrücklich ist. Der Film ist 1949 gedreht worden, noch in den Originaltrümmern von Berlin. Die Knef spielt darin eine junge Frau, die in ihre halb zerstörte Elternwohnung zurückkommt, sich die Schürze umbindet und die ganze Zeit damit beschäftigt ist, zu kehren und einen zugelaufenen Kriegsheimkehrer zu trösten. Der Arme kann es nicht verwinden, bei einer Partisanen-Erschießung in Polen untätig zugesehen zu haben, und zerbricht nun fast daran. Sie aber, und das erfahren wir nur so ganz en passant bei einem kurzen Gespräch im Treppenhaus, sie ist eigentlich das wahre Opfer: nämlich eine Überlebende aus einem Konzentrationslager. In Staudtes Film wird ihr Schicksal, das einer Jüdin in Nazideutschland, jedoch nie Thema, auch nicht zwischen ihr und dem deutschen Mittäter. Ihre Geschichte blitzt nur sozusagen als politisch korrekte Folie für ihn durch (seine Freundin ist keine Täterin, sondern ein Opfer). Die Staudte-Filme galten nach dem Krieg als mutige, selbstkritische Vergangenheitsbewältigung.
Doch solche Überlegungen sind mir als kleines Mädchen selbstverständlich noch fremd. Wir Mädchen sammeln Filmstar-Postkarten und tauschen mit Eifer: Ich drei Ruth Leuweriks gegen einen O.W. Fischer oder zwei Rudolf Pracks (der kitschige Förster aus »Grün ist die Heide«) gegen einen Clark Gable (der coole Rhett Butler aus »Vom Winde verweht«). Bei mir kommt dann irgendwann noch der junge Anthony Perkins dazu, aber das ist später.
Noch bin ich sechs, sieben und die wohl schwierigsten Jahre meines Lebens liegen vor mir. Wir wohnen dauerprovisorisch, aber romantisch: am Rand einer Gartensiedlung auf einer Anhöhe der Südstadt, die nach hinten an den tiefen Wald Burgholz grenzt und nach vorne einen Blick über ganz Elberfeld bietet. Unser Holzhäuschen, zu dem im Laufe der Jahre noch zwei, drei Anbauten hinzukommen, liegt ein wenig abseits. Zwischen uns und dem Wald ist nur ein ganz schmaler Pfad und in mein Dreimaldrei-Meter-Zimmer ragen die Baumäste durch das meist offene Fenster. Der Wald ist mein Spielzimmer.
Als ab Mitte der 1950er-Jahre die Ersten aus der Gartensiedlung raus und wieder rein in die Stadt ziehen, da erklärt meine Großmutter kategorisch: »Ich will hier nie wieder weg!« Wir hätten vermutlich auch gar nicht weggekonnt. Wir haben nämlich chronische Geldsorgen. Das Wirtschaftswunder bricht aus, aber das ist eher etwas für Ellbogentypen, was nicht Papas Fall ist. Er schafft es nicht, wieder Fuß zu fassen, und verkauft weiter Zigaretten auf dem Großmarkt, was Mama ihm gerne lautstark vorwirft. Das Bewusstsein meiner Familie ist zwar bürgerlich, unsere reale Lage aber schrabbelt am Existenzminimum entlang. Und ab und zu sagt meine Großmutter den scharfen Satz: »Deine Mutter könnte auch mal was beisteuern.«
Doch die tut eher das Gegenteil. Sie ist wenig zu sehen in jenen Jahren, lebt unverheiratet über zehn Jahre aufeinanderfolgend mit zwei Lebensgefährten zusammen. Was für heutige Verhältnisse normal wäre, damals aber als anrüchig gilt. Es gibt ein Foto von uns beiden aus dem Jahre 1951, das aufschlussreich ist. Es wurde aufgenommen auf einem der sehr raren Ausflüge mit meiner Mutter und zeigt meine Freundin Ellen, die zwei Jahre älter ist, und mich vor der Pappmaché-Kulisse am Fuße des Drachenfels im Siebengebirge, ein klassischer Kinderausflug in unserer Region. Wir sitzen auf Mauleseln, die zehnjährige Ellen aufrecht, ich Achtjährige klammere mich mit gequältem Gesicht rutschend am Sattel fest. Zwischen uns steht leicht schräg meine schlanke, hübsche Mutter. Sie scheint wenig damit beschäftigt, wie ihr Kind dasitzt, und eher damit, dekorativ zu lächeln.
In diesen Jahren jobbt meine Mutter als Vertreterin, verkauft Staubsauger, Uhren, Waschmaschinen. Sie ist viel auf Reisen. So etwa einmal im Jahr hat sie einen Auftritt als »Mutter«. Dann moniert sie meine »Tischmanieren«, verlangt, dass ich am Silvesterabend um 23 Uhr zu Hause zu sein habe (da bin ich schon 16), oder kommt zu einem Elternabend im dekolletierten Sommerkleid, mit Hut und roten Fingernägeln. »Ich fand deine Mutter immer schick«, schwärmt Ellen noch heute. Im Vergleich zu ihrer biederen Mutter mag da was dran sein. Aber als Kind hat man eben lieber eine biedere Mutter.
Doch bieder ist bei Schwarzers so gar nicht angesagt. Das ätzendste Urteil bei uns lautet: Wie spießig! Als »spießig« gilt uns vieles, was für die anderen normal ist: Aussteuer und Sammeltassen kollektionieren; Gartenzwerge aufstellen oder Familienväter, die sich aufblasen. Da halten wir uns fern. Wir bleiben daneben.
Auch mein Auftritt schwankt in diesen Jahren zwischen Verwahrlosung und übertriebenem Chic. Es gibt ein Klassenfoto, auf dem ich unübersehbar ein Loch im Pullover habe und einen schiefen Saum. Da muss ich sieben oder acht gewesen sein. Diese ersten Jahre in Wuppertal waren wohl die schwersten, nicht zuletzt, weil Papa in der Zeit anscheinend eine Freundin gehabt hat, die auch ich später kennenlerne. Sie ist eine lebhafte, hübsche Frau, Großhändlerin auf dem Großmarkt, deren Mann im Krieg geblieben war und die ihn wohl heiraten will. Das steht unausgesprochen im Raum, als wir zurück aus Franken kommen – aber doch so deutlich, dass selbst ich etwas ahne. Er hat sich dann sehr bald sehr klar für seine schwierige Frau entschieden (wegen mir, wird er später behaupten). Aber die hat es ihm dennoch sehr, sehr übel genommen. Verständlicherweise.
Wenn es Mama gut geht, klappt sie ihre Singer auf, die fußbetriebene Nähmaschine mit den schönen Perlmutteinsätzen, die im Schlafzimmer steht. Auf der werden aus Stoffresten »Kleidchen« für mich gezaubert. So wie das rote mit den weißen Punkten, in dem ich neben Ellen stehe: ein ärmelloses Kleid mit Bolerojäckchen und passender Haarschleife aus dem gleichen Stoff. Haarschleifen und Hüte hatten sich bei den Büsche-Frauen seit der Jahrhundertwende als Ausdruck ultimativen Chics eingebürgert.
Später, als ich ins Partyalter komme, wird sie manchmal nicht rechtzeitig fertig mit dem ganz und gar unentbehrlichen neuen Kleid, das wir in irgendeiner Illustrierten gesehen haben und das sie frei nachschneidert. Unvergessen der Morgen meiner Konfirmation. Sie ist mal wieder nicht fertig geworden und hat die Nacht durchgenäht: ein dunkelblaues Kleid (schwarz fand sie zu dem Anlass »spießig«) mit schwingendem Rock, viereckigem kleinen Ausschnitt und langem Reißverschluss im Rücken. Für den aber ist keine Zeit mehr, also näht sie mich mit großen Stichen in das Kleid ein und bescheidet mich knapp: »Stell dich nicht so an!«
Papa und ich sind in diesen Jahren viel mit Vertuschen und Vermitteln beschäftigt. Zu vertuschen gibt es so einiges. Mamas Schlampigkeit im Haushalt, ihre Szenen, die auch schon mal eine Nacht durchgehen können, und überhaupt das ganze Chaos. In Spitzenzeiten drängeln sich in dem kleinen Häuschen drei Hunde und fünf Katzen mit uns, in deren Versorgung Mama deutlich mehr Zeit investiert als in die meine. Ich würde schon zurechtkommen, da sind sich alle einig.
Abends gehen Papa und ich meist früher ins Bett. Mama liest noch im Wohnzimmer, oft bis in die Nacht. Dann krieche ich zu ihm ins Bett, und er erzählt mir Geschichten, frei erfundene Geschichten. Einer unserer Lieblingsplots ist der vom Kasper und seiner bösen Großmutter, die immer keifend hinter dem armen Kasper her ist. Wir sprechen es nie aus, aber wer damit gemeint ist, ist schon klar. Das sind auch die Stunden, in denen er mir, auf mein Drängen hin, immer wieder von diesem absurden Krieg erzählt – und ich den Krieg so richtig hassen lerne.
Am Tag verbringe ich viel Zeit mit Tieren, schleppe immer wieder ausgesetzte Katzen und Hunde an und trete zum ersten – und letzten – Mal in meinem Leben einem Verein bei: dem »Bund gegen Missbrauch der Tiere«. Wie schon der Name erkennen lässt, war das bereits damals ein recht militanter Tierrechtsverein. Tierrechtlerin bin ich geblieben, Familienerbe. Übrigens als EMMA 1994 erstmals mit einem Dossier zum Tierrecht titelte – und die Parallelen zwischen dem Status der Tiere und dem der Frauen analysierte –, da habe ich mich eigentlich ganz gerne beschimpfen lassen (Stil: Jetzt ist sie ganz verrückt geworden). Denn das lag voll in der Tradition meiner Tauben fütternden Großmutter. Auch sie hatte den Ruf einer »Hexe«.
Es sind damals politisch sehr bewegte Jahre – und entsprechend laufen die Gespräche abends an unserem runden Wohnzimmertisch. Mama ist Wortführerin.
Seit Mai 1949 geht der Riss zwischen West und Ost auch offiziell mitten durch Deutschland: hier die an Amerika attachierte Bundesrepublik (BRD), da die an die Sowjetunion gebundene Deutsche Demokratische Republik (DDR). Bei Schwarzers wird beides kritisch beäugt. Und als im Sommer 1950 der Koreakrieg beginnt – der in Wahrheit ebenfalls kein Konflikt zwischen Süd- und Nordkorea, sondern eine Konfrontation zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Welt ist –, da ist auch Europa und vor allem Deutschland hochalarmiert. Droht ein 3. Weltkrieg? Eine Umfrage belegt, dass 92 Prozent aller Deutschen finden: Wir sollten uns raushalten! Und auch Schwarzers sind selbstverständlich strikt gegen die bevorstehende Remilitarisierung Deutschlands.
Der Kalte Krieg ist auf dem Gefrierpunkt. In Amerika beginnt die Hexenjagd des US-Senators McCarthy auf tatsächliche und angebliche »Kommunisten«, darunter auch Intellektuelle und Filmleute, bis hin zu Charlie Chaplin, dem man nach einer Europa-Reise die Rückkehr verweigert. Düsterer Höhepunkt der McCarthy-Ära ist am 19.6.1953 die Hinrichtung des Ehepaars Ethel und Julius Rosenberg wegen angeblicher Atomspionage. Die Rosenbergs waren von Ethels Bruder denunziert worden und hatten bis zuletzt alles bestritten. Die Hinrichtung wird auch im Westen von vielen als Signal und Exempel begriffen, als Warnung an alle: So kann es jedem Sympathisanten mit dem Erzfeind ergehen!
All diese Ereignisse werden in unserer Familie leidenschaftlich debattiert – und so klein ich noch bin, so selbstverständlich rede ich mit und meine Meinung wird ernst genommen. Gruppendynamisch nachvollziehbar teile ich im Prinzip zwar die Familienansichten, erkläre jedoch öfter, dass meine Großmutter »mal wieder übertreibt«. Ich gelte als die Gemäßigte in meiner Familie. Im Nachhinein muss ich jedoch Abbitte leisten: Mama hat mit ihren scharfsichtigen, kritischen Einschätzungen fast immer recht behalten.
Eines allerdings finde ich zurückblickend eigenartig: Obwohl bei uns alle Unterdrückten der Welt Thema sind, wird nie explizit über die Rechte der Frauen geredet. Die Verabschiedung 1949 von Artikel 3 des Grundgesetzes, »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« – so tapfer erkämpft von den »vier Müttern des Grundgesetzes«, allen voran Elisabeth Selbert – kein Thema. Der darauf folgende Kampf von Politikerinnen wie Maria-Elisabeth Lüders, einer Aktivistin der historischen Frauenbewegung, für die Umsetzung dieses hehren Grundsatzes in geltendes Recht – kein Thema. »Das andere Geschlecht« von Simone de Beauvoir, das 1949 im Original und 1951 auf Deutsch erschien – kein Thema.
Kann es sein, dass meine so hochpolitisierte und meinungsfreudige Großmutter bei der Frage der Emanzipation so still war, weil sie sich selbst in einer totalen ökonomischen und sozialen Abhängigkeit befand – und sich gar nicht erst erlauben konnte, darüber auch nur nachzudenken?
Selbstverständlich wurde auch geklatscht in meiner Familie. Und wie. 1953 wird Elisabeth II. gekrönt, das ist schon damals ein Medienevent. Aber noch mehr interessiert Mama, dass »Prinz Philip mal wieder mit seinem Sekretär auf Segeltörn ist« oder Prinzessin Margaret nachts zu »La vie en rose« auf Tischen tanzt. Als der Schah von Persien Mitte der Fünfziger die Halbdeutsche Soraya heiratet und fortan die Yellow Press ausgesorgt hat, finden wir das nur »kitschig« und den Schah »reaktionär«. Und als Fürst Rainier von Monaco Grace Kelly heiratet, fällt uns auf, dass der Koch gekündigt hat, weil die Amerikanerin alle Gasöfen rauswarf und le Cuisinier es als Zumutung empfand, auf Elektroplatten zu kochen. Die frankophilen Schwarzers leiden mit ihm.