Marion Dönhoff - Alice Schwarzer - E-Book

Marion Dönhoff E-Book

Alice Schwarzer

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Beschreibung

Marion Dönhoff über Alice Schwarzer: »Niemand hat mich so treffend beschrieben wie sie.«Im Jahr 2009 wäre die große Journalistin Marion Gräfin Dönhoff 100 Jahre alt geworden. Anlass genug, Alice Schwarzers hochgelobte Biografie über die ehemalige Herausgeberin und Chefredakteurin der Zeit in einer Neuausgabe vorzulegen.Zwei Journalistinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, scheinbar – und die selber doch um ihre tiefen Gemeinsamkeiten wissen. 1987 hat die Emma-Herausgeberin die Zeit-Herausgeberin erstmals für ihr Blatt porträtiert. Neun Jahre später schreibt sie die erste Biografie über Dönhoff. Voran gingen zahllose Gespräche, gemeinsame Reisen und breite Recherchen im intimsten Lebenskreis von Dönhoff.Herausgekommen ist eine Biografie, die sowohl die Journalistin als auch die Frau erfasst. Alice Schwarzer holt die »Gräfin« vom Piedestal und zeigt uns überraschende Aspekte des lebendigen Menschen. Sie kommt sehr dicht an die Unnahbare heran, ohne ihr jemals zu nahe zu treten.

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Seitenzahl: 340

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Alice Schwarzer

Marion Dönhoff

Ein widerständiges Leben

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Alice Schwarzer

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwortDie Geschichte einer AnnäherungDie Kindheit, 1909 bis 1924Im Rhythmus der JahreszeitenDie Jugend, 1925 bis 1929Studium und Doktorarbeit, 1930 bis 1936Verwaltung der Güter, 1937 bis 1939Ein Ritt durch MasurenWiderstand und Flucht, 1940 bis 1945Ankunft im Westen, 1945Die Anfänge der ZEIT, 1946 bis 1954Die ZEIT-Macherin, 1955 bis 19721972 bis 1996Zwei, drei letzte Worte …Marion Dönhoff im Gespräch mit Alice SchwarzerDemokratie & VerantwortungDie Kompassnadel der JournalistenKriegsverbrechen und das VölkerrechtMänner unter sichFinis GermaniaeAuflehnung – warum?Die Rebellion der RomantikerDie gesteinigte DemokratieIm Einklang mit der GeschichteDer Handel mit der HumanitätDas Europäische HausWas heißt Widerstand?Wirklich ein gerechter Krieg?Ein dubioser SiegWeil das Land sich ändern mussDen Bürgern wieder Ziele setzenAuch die Freiheit hat ihre GrenzenAllein auf die Bürger kommt es anReaktionen eines Laien auf das UrteilOstpolitik & EntspannungPankows neuer KursDie Flammenzeichen rauchenWas brennt bei uns?Nach dem XX. ParteikongressAdenauers IrrtumAuf nach Berlin!Quittung für den langen SchlafGemietete FäusteEin Kreuz auf Preußens GrabVom Irrsinn des WettrüstensNicht für die Ewigkeit bestimmtOb endlich die Zukunft beginnt?Ein Dach für ganz EuropaEine neue Ordnung für die alte WeltWenn’s doch einen Churchill gäbe …Niemand kann ein ganzes Volk durchleuchtenKein Grund zum KleinmutZitatenachweis
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Für ihr Vertrauen und ihre Geduld danke ich der Familie Marion Gräfin Dönhoffs, ihren Freunden, den Kolleginnen und Kollegen der ZEIT – besonders Friedrich Dönhoff.

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Vorwort

Dreimal habe ich die Arbeit hingeworfen. Eine Biografie zu Lebzeiten über Marion Dönhoff schien mir zunehmend ein gar zu kühnes Unterfangen. Doch immer wieder hat sie mich gedrängt weiterzumachen. Denn einerseits wollte sie es – und hatte zu aller Überraschung mich als Biografin akzeptiert –, doch andererseits sperrte sich bei der Spröden alles gegen einen tiefen, zu tiefen?, Blick in ihr Leben.

Das erste Mal war es im Frühling 1995. Nachdem die Gräfin 1987 ein Porträt über sich in der EMMA, Titel »Der Häuptling« (frei nach Karl May), »treffend« gefunden hatte, stimmte sie acht Jahre später dieser ersten und einzigen Biografie zu ihren Lebzeiten zu. Doch dann bekam sie es rasch mit der Angst vor der eigenen Courage zu tun.

Es war in der ersten Woche unseres Zusammenseins in ihrem Hamburger Haus am Pumpenkamp 4. Wir hatten abgemacht: vormittags Gespräche auf Tonband, nachmittags gemeinsam in die ZEIT und abends geselliges Beisammensein in wechselnder Besetzung. Einquartiert war ich in ihrem kargen Gastraum neben ihrem Schlafzimmer, in dem sich unter dem Bett die Fotokisten aus ihrem »ersten Leben« stapelten und davor der Fernseher thronte. Sie verpasste ungern die Nachrichten und schon gar nicht die Mainzelmännchen.

Der Sonntag war harmonisch verlaufen, wir setzten uns am Montagmorgen nach dem Frühstück in ihren Salon, der gleichzeitig Ess- und Arbeitszimmer war. Ich hatte mich für ein chronologisches Vorgehen entschlossen.

Ich stelle ihr also als Erstes die Frage: »Was ist eigentlich Ihre früheste Erinnerung an Schloss Friedrichstein?« Sie wirft mir einen raschen Blick zu, schweigt einen Moment und sagt dann schneidend: »So eine dumme Frage hat mir ja noch niemand gestellt.«

Und so geht es weiter. Nach vier Tagen kann ich einfach nicht mehr. Ich schwindele ihr vor, ich müsste früher zurückreisen als geplant.

Auf dem Weg zum Bahnhof, sie am Steuer, fasse ich mir ein Herz und sage: »Gräfin, ich spüre, dass Sie die Biografie eigentlich nicht wollen. Ich schlage darum vor: Lassen wir es.« Sie sieht mich von der Seite an und sagt: »Aber Sie haben doch schon so viel investiert.« Ich: »Fühlen Sie sich deswegen keinesfalls verpflichtet.« Sie: »Aber Sie haben doch auch schon so viel gelesen!« Ich: »Ich bitte Sie. Das war mir ein Vergnügen.« Sie schweigt. Als wir bei Rot an der Ampel stehen, wendet sie den Kopf, lächelt mich ein bisschen schief an und sagt: »Aber Sie brauchen doch nicht gleich zu kneifen – nur weil ich ein bisschen obstiniert bin.« Ich muss lachen. Sie hat gewonnen. Ich mache weiter. Sie wird mich in diesem Jahr noch oft zum Lachen bringen.

Es beginnt ein Jahr der Wechselbäder zwischen familiärer Vertrautheit und fremder Verschlossenheit. Sie will erkannt werden, aber nicht ertappt. Es gilt sie zu erfassen, ohne ihr zu nahe zu treten; sie zu verstehen, ohne sie zu vereinnahmen; sich ihr zu stellen, ohne sich ihr unterzuordnen.

Über einen Menschen noch zu Lebzeiten eine Biografie schreiben zu können, ist Glücksfall und Bürde zugleich. Das Glück ist, dass man sich selber ein lebendiges Bild machen und das Objekt persönlich befragen kann. Die Bürde ist, dass jeder Mensch in der Begegnung zwangsläufig versuchen wird, sein Selbstbildnis zu vermitteln – eine gute Biografie jedoch darüber hinausgehen muss und ja auch nie eine absolute Wahrheit, sondern immer das Resultat einer Begegnung sein kann. Entscheidend für das Gelingen eines Porträts ist auch, ob die Fragen, die man sich stellt, die richtigen sind – und dass man offen bis zuletzt für Unerwartetes ist.

Marion Dönhoff war 81, als sie sich auf das Abenteuer einließ. Ein bewegtes Jahrhundert neigte sich dem Ende zu und kaum ein Mensch hatte in Deutschland so wie sie dieses Jahrhundert in allen Epochen mitgeprägt: im niedergehenden Kaiserreich als letzte Herrin von Schloss Friedrichstein; in der Nazizeit als Verbündete des Widerstandes; in der Bundesrepublik als Journalistin und moralische Instanz.

Aus welchem Stoff war diese Frau, die ein ganzes Jahrhundert durchmaß? Woher diese hochmütige Bescheidenheit und dieses umfassende Verantwortungsgefühl? Ja, sie war privilegiert, aber sie war auch vernachlässigt. Und sie war Outcast in dreifacher Hinsicht: innerhalb der Familie als letztes, fast vergessenes Kind in einem (gefühls-)kalten Schloss; innerhalb der Geschlechterordnung als Frau in einer Zeit, in der auch Gräfinnen kein Abitur machten, aber im Kindbett starben; innerhalb ihres Berufsstandes als Journalistin, die sich immer wieder erlaubte, flagrant von Positionen der eigenen Kaste abzuweichen.

Das Jahr mit Marion Dönhoff wurde ein anstrengendes, aber auch lehrreiches und vergnügliches Jahr für mich. Bis zuletzt hatte sie keine Ahnung, was ich schreiben würde – und ich keinen blassen Schimmer, ob sie mit meiner Biografie würde leben können. Doch selbstverständlich hätte ich eine von ihr nicht akzeptierte Biografie niemals veröffentlicht.

Ein Jahr später. 24 Stunden nachdem sie per Boten das Manuskript erhalten hat, ruft sie von unterwegs auf einer ihrer zahlreichen Reisen an und sagt: »Ich habe gerade im Flugzeug das erste Kapitel gelesen. Ich finde, es fängt spannend an. Wenn es so weitergeht …« Uff. Ein paar Tage später trifft das höchste Prädikat, das sie zu vergeben hat, zum zweiten Mal ein: Sie findet meine Biografie über sie »treffend«.

Als wir uns wenig später in Hamburg gemeinsam über den Text beugen, muss sie nur ganz wenige Fakten richtigstellen. Denn inzwischen weiß ich, so wird in ihrer Umgebung gescherzt, mehr über Marion Dönhoff als deren eigene Familie. Nur eine einzige Passage, die hätte sie eigentlich gerne raus. Sie bleibt drin, wird aber von mir gekürzt.

Es ist die Stelle, an der ich versuche nachzuempfinden, wie es sich wohl auf das Kind Marion ausgewirkt haben mag, dass sie jahrelang mit ihrer mit Downsyndrom auf die Welt gekommenen älteren Schwester Maria eng zusammengespannt worden war, in einem gemeinsamen Zimmer gelebt und dieselbe Kinderfrau hatte. Verweigerte Maria zum Beispiel das Essen, wurde sie zwangsernährt (»Das war nicht schön.«) – und überhaupt gab es damals noch wenig Toleranz und eher Verachtung für ein behindertes Kind, vor allem in einer so elitebewussten Familie. Das muss der Nachzüglerin Marion Angst gemacht und auch ihr Selbstwertgefühl untergraben haben. Gleichzeitig hat es sie den selbstverständlichen Umgang mit als »minder« geltenden und »nicht normalen« Menschen gelehrt. Das ist das vielleicht Charakteristischste für ihr Leben: dass Licht und Schatten immer wieder so dicht beieinanderliegen.

Wenn sich der Geburtstag von Marion Gräfin Dönhoff am 2. Dezember 2009 zum hundertsten Mal jährt, wird es wieder eine Welle von Würdigungen und Rückblicken geben, so wie schon zu ihren Lebzeiten ab 65 im Fünf-Jahres-Takt. Und diese erste wird nicht die letzte Biografie bleiben. Denn bei einem Menschen mit ihrer Wirkungsgeschichte lohnt es sich, sich mit immer wieder neuen Fragestellungen zu nähern.

In den Jahren nach Erscheinen dieser Biografie wuchs Dönhoff mir als Freundin zu, aus der »Gräfin« wurde die »Marion«. So kommt es, dass ich auch in den letzten Wochen ihres Lebens gemeinsame Stunden mit ihr verbracht habe. Als ich mich an diesem Wintertag im Jahr 2002 von ihr verabschiede, drehe ich mich noch einmal um – sie blickt mir nach. Wir wissen beide, dass dies das letzte Mal ist.

 

Alice Schwarzer

Köln, Juli 2008

Foto: Klaus Kallabis

Marion und Friedrich Dönhoff am 2. 12. 1994 im Hamburger Hauptbahnhof, auf dem Weg zur Geburtstagsfeier in Crottorf

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Die Geschichte einer Annäherung

Es ist kalt an diesem Dezembermorgen, und der Hamburger Hauptbahnhof ist noch zugiger als sonst. Entgegen ihren Gewohnheiten ist Marion Gräfin Dönhoff eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges auf Gleis 14, wo Friedrich auf sie wartet, derjenige unter den Großneffen und -nichten, der ihr der nächste ist. Der Bahnhof ist fast menschenleer, und so fällt es auf, als ein Pulk blumenbewehrter Menschen sich auf Marion und Friedrich Dönhoff zubewegt. An der Spitze des Zuges ein leuchtend roter Lockenkopf: Irene Brauer, Dönhoffs Sekretärin und ihr seit sieben Jahren so stolz wie einfühlsam treu. Aus dem Pulk heraus ragen zwei der inzwischen älter gewordenen »Buben der Gräfin«, Nachfolger Theo (Ted) Sommer sowie Haug von Kuenheim, gefolgt von Chefredakteur, RedakteurInnen und Sekretärinnen, die seit Jahren die Politik-Seiten des Blattes machen.

Etlichen unter ihnen ist an diesem Morgen nicht nur froh, sondern auch klamm zumute, was nicht nur am Wetter liegt. Ist dies der letzte gemeinsame Auftritt der ZEIT-Familie, deren Seele und Motor diese Frau, die dort so zart und zäh steht, ein halbes Jahrhundert lang war? Denn das Blatt ist längst erwachsen, zu erwachsen, aus den »Buben« sind soignierte Herren geworden, und ihre Lehrmeisterin wird heute 85.

Marion Dönhoff ist überrascht. Und gerührt. Was sie nicht zeigt, versteht sich. Auch die hanseatische Redaktion scheint leicht außer sich, scheut sie sich doch nicht, auf dem Bahnsteig ein kräftiges »Happy Birthday dear Gräfin« zu schmettern und der lieben Gräfin Berge von Blumen und Päckchen in die Arme zu drücken.

Schwer bepackt steigen die beiden Dönhoffs in den Zug, zweiter Klasse, wie üblich. Doch der Zug will nicht abfahren, wie so manches Mal in dramatischen Momenten. Da schiebt »die Gräfin«, wie sie in der ZEIT distanziert-liebevoll genannt wird, noch einmal das Abteilfenster runter. »Und was macht ihr, wenn der Zug nicht abfährt?«, spottet sie. Und sie weiß auch schon Rat: »Vielleicht sollte ich mal pfeifen?!« Sodann schiebt sie den rechten Daumen plus Zeigefinger zwischen die Zähne – und stößt einen gellenden Pfiff aus. Es hallt durch die ganze Bahnhofshalle. Und tatsächlich fährt der Zug los.

Mädchen, die pfeifen, und Hähne, die krähen … Doch der Marion hat niemand den Hals umgedreht. Im Gegenteil. Sie hat selbst da noch überlebt, wo andere auf der Strecke blieben. Und gerade dem Pfiff ist zu entnehmen, dass sie an diesem Morgen ganz besonders guter Laune ist. Denn das Pfeifen auf den Fingern war schon immer etwas, was Marion besonders gut konnte und »worum die Großen mich beneidet haben« – diese vier großen Geschwister auf Schloss Friedrichstein, die die drei »Kleinen« – und speziell den Nachzögling – so drangsalierten und die einfach alles besser wussten. Aber auf den Fingern pfeifen, das konnte keiner! Auch die »Großen« ihrer zweiten Familie, der ZEIT-Familie, können das nicht. Die gucken an diesem Morgen in Norddeutschland ähnlich verdattert wie die damals in Ostpreußen.

»Sie sah bis 50 aus wie 18«, sagt ein alter Freund der Familie. An diesem Tag wirkt sie wieder wie 18. Und die zwei, die da am Zugfenster stehen, scheinen nicht Großtante und Großneffe, nicht 85 und 27, sondern alterslos und übermütig. Zwei Kumpel, denen jeder, einfach jeder Streich zuzutrauen ist.

An diesem 2. Dezember 1994 fährt Marion Dönhoff, wie an den meisten hohen Familien- und Feiertagen, nach Crottorf, Schloss Crottorf. Dort lebt seit Kriegsende Lieblingsneffe Hermann, Sohn des gefallenen Lieblingsbruders Heini und einer Gräfin Hatzfeldt. In seinem melancholischen Wasserschloss in den Wäldern zwischen Bergischem und Siegerland hat Marion Gräfin Dönhoff das bisschen Heimat deponiert, das ihr nach der Flucht geblieben ist, darunter eine eisenbeschlagene Kiste, die sie einst, mitten in den Kriegswirren, auf Schloss Friedrichstein »mit dem Wichtigsten gepackt« und gen Westen expediert hat. Über viele Irrwege ist diese Kiste nach fünfzig Jahren vor einigen Monaten wieder aufgetaucht – ihr Inhalt ist noch immer fast unberührt. So ein Blick zurück fällt eben auch einer disziplinierten Preußin nicht leicht.

Am Tag nach der umjubelten Abfahrt aus Hamburg bin ich zum Geburtstagsempfang nach Crottorf eingeladen. Ich begegne dort Marion Dönhoffs höchst lebendiger Gegenwart – und Vergangenheit. Da ist die Jugendfreundin, mit der sie den letzten Ritt durch die masurischen Wälder machte. Da ist die Nichte, die sie immer an den Zöpfen zog. Da ist der Familienfreund, mit dem sie so gern auf Schnepfenjagd ging.

Und da sind die zwei Generationen ihrer Familie – von der dritten, von ihrer Generation, ist die ewig jüngste Marion heute die letzte. Da sind diese Neffen und Nichten um die 50, die, bei aller Fortschrittlichkeit, noch so ein melancholischer Hauch der versunkenen Feudalwelt umweht; und da sind diese Großneffen und Großnichten um die 25, denen so ein Empfang im Schloss eher genierlich zu sein scheint. Die tragen Jeans und schlendern betont lässig durch die Hallen, in denen sich heute die Dönhoffs, Lehndorffs, Metternichs, Weizsäckers mischen. Doch: »Die Dönhoffs, die waren immer schon was Besseres«, spottet einer der Dönhoff-Sprösslinge selbstironisch. Inmitten der der Scholle verhafteten Junker hielten sie in Ostpreußen Kultur und Bildung hoch. »Schön wie die Lehndorffs und klug wie die Dönhoffs«, soll es einst geheißen haben in Ostpreußen.

Als ich am späten Abend nach Hause komme, habe ich einen Entschluss gefasst: Ich werde Marion Dönhoff vorschlagen, über ihr Leben zu schreiben. Über dieses Leben, von dem sie bisher viel zu wenig mitgeteilt hat. Dazu will ich sie und die Menschen um sie herum befragen, um besser zu verstehen: zu verstehen, woraus ihr Stoff gewebt ist, woher der Mut zum Widerstand kommt und die Kraft zur Verantwortung. Was sind die Wurzeln dieser empfindsamen Nüchternheit, dieser vernünftigen Vermessenheit, dieser hochmütigen Bescheidenheit?

Dreimal ist Marion Dönhoff ausgebrochen. Sie hat ihre Klasse »verraten«, indem sie gewachsene Privilegien hinter sich ließ und sich neu bewährte. Sie hat ihre Heimat »verraten«, indem sie bereit war zum politischen Verzicht auf Ostpreußen und dafür mit als Erste eintrat. Sie hat ihr Geschlecht »verraten«, indem sie aufbrach zu den Gipfeln, die exklusiv von Männern besetzt sind, und sich dort ungetrübt wohlfühlt. Gleichzeitig aber ist sie in allen drei Domänen – in Klasse, Herkunft wie Geschlecht – tief verwurzelt geblieben.

Mich beschäftigt Gräfin Dönhoff eigentlich schon seit 40 Jahren. Seit ich als junges Mädchen erstmals die ZEIT las, damals noch mit heißem Herzen, später mit kühlem Verstand und heute oft entmutigt von so viel Papier … Doch in der piefigen Ära Adenauer, da gab es für einen politisch fortschrittlichen Menschen nicht nur in meinen Augen nur zwei Blätter, beide geprägt von Pionieren des Nachkriegsjournalismus: Rudolf Augsteins »Spiegel« und Gräfin Dönhoffs ZEIT. Erst viel, viel später ist mir klar geworden, dass da bei der ZEIT noch etwas war: Ich hätte mich als zukünftige Journalistin wohl gar nicht erst denken können ohne dieses Vorbild – ohne diesen einen weiblichen Namen in den ersten Rängen des politischen Journalismus.

Und wie das so ist mit jugendlichen Vorbildern, wenn man erwachsen wird: Irgendwann habe ich sie vergessen, die Gräfin. Es kam die Studentenrevolte von 68, in der die ZEIT noch relativ wacker mithielt, mittenmang die Gräfin. Und es folgte die Frauenbewegung, von der gerade die ZEIT, dank zunehmend emanzipierter Leserinnen, profitierte. Doch die ZEIT-Macherin selbst als Feministin zu bezeichnen, das wäre schon sehr verwegen gewesen – und hätte Dönhoff sich auch zweifellos verbeten.

Während wir auf die Straße gingen für das Recht auf Abtreibung, erhielt sie den »Friedenspreis des Deutschen Buchhandels« für ihre versöhnende Ostpolitik. Während wir als Piratinnen Herrensitzungen sprengten und die Mikrofone an uns rissen, gehörte sie dazu, zu den Wichtigen dieser Welt, und musste gar nicht erst ihre Stimme erheben. Während wir erklärten: Das Private ist politisch!, machte sie Außenpolitik.

Die Jahre vergingen, die Fronten differenzierten sich, die Unerhörtheit eines Lebensweges wie der von Gräfin Dönhoff rückte erneut in mein Blickfeld. Hier hatte sich ein weiblicher Mensch erkühnt, nach der ganzen Welt zu greifen – und war doch auch ganz dem Nächsten verhaftet geblieben. Hier war eine Frau aus der vorgegebenen Rolle ausgebrochen, mehr noch: Sie hatte die Chuzpe, so zu tun, als sei sie gar keine. Hier hatte es eine Journalistin geschafft, ein ganzes Blatt zu prägen – auch wenn ihr die Zügel langsam entglitten – und als Person zu einer moralisch-politischen Instanz eines Landes zu werden.

Also schlug ich 1987 Marion Dönhoff vor, sie für EMMA zu interviewen. Sie antwortete rasch, kam und ließ es sich nicht nehmen, in Köln die vier Etagen zur Redaktion hochzukraxeln. Es war ein denkwürdiges Ereignis, für uns allemal, vermutlich aber auch für sie.

Das im November 87 als Titelstory veröffentlichte Porträt trug den Titel »Der Häuptling«: »Man braucht ja nur Karl May zu lesen, um zu wissen, was der Häuptling tut«, hatte sie mir gesagt. Der Text begann mit den Worten: »Von ihrer ›Mädchenhaftigkeit‹ hatte ich schon öfter gehört (immer von Frauen), das Soldatische an ihr jedoch wird schamhaft verschwiegen. Mit einer Mischung von Strenge und Neugierde richtet sie diesen für alle guten Journalisten so charakteristischen, genauen Blick auf mich und die EMMA-Räume. Innerlich schlage ich die Hacken zusammen. ›Nett haben Sie es hier.‹ – ›Danke, Gräfin. Wir haben auch extra für Sie geputzt.‹« – Und der Text endet mit den Sätzen: »Auf der Treppe fällt mir ein, dass ich sie ja noch gar nicht nach ihrem Porsche befragt habe, in dem sie immer mit 90 Sachen über die Elbchaussee brettern soll. Und auch nicht nach den vielen Weltreisen, die sie so gerne in Begleitung ihres Lieblingsneffen unternimmt. Doch da ist sie schon im Taxi und winkt. Ganz fröhlich. Morgen hat sie in Bonn zu tun. Und übermorgen wird der Häuptling wieder in Hamburg an seinem Schreibtisch sitzen.«

Freudige Überraschung: Marion Dönhoff findet es »treffend«. Wir halten Kontakt. Einige Monate später brettere ich an ihrer Seite die Elbchaussee lang, nicht mehr im Porsche, aber durchaus noch im Porschestil (so muss sie früher geritten sein). Unübersehbar die erstaunten Gesichter der Hamburger Society, als das Duo Dönhoff/Schwarzer an diesem Abend gemeinsam bei einer Theaterpremiere auftaucht: die Kombination scheint so überraschend wie entwaffnend …

Ein Jahr später, 1988, erscheinen Dönhoffs Erinnerungen an ihre »Kindheit in Ostpreußen«. Es ist ein aufschlussreiches Buch, auch wenn zwischen den Zeilen mehr steht als darin. Mit disziplinierter Diskretion streift die Zurückblickende nur flüchtig das verwilderte Kind in dem nicht nur klimatisch kalten Schloss. Sechs Jahre später, 1994, erscheinen ihre »Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli – Um der Ehre willen«. Mit Zärtlichkeit und Zorn porträtiert sie darin sechs Freunde, die beim Widerstand gegen das Naziregime ihr Leben ließen.

Nur einem wie zufällig hinzugefügten Postskriptum ist in Andeutungen zu entnehmen, dass Marion Gräfin Dönhoff selbst zentral beteiligt war am Widerstand gegen Hitler. Sie scheint eine der wenigen Frauen zu sein, die in dieser Zeit mehr waren als »nur« duldende Gefährtin an der Seite eines Helden. Sie war selbst Heldin: nämlich eigenständig und nur sich selbst verpflichtet handelnd, bei höchstem Risiko. Und sie zahlte einen hohen Preis dafür. Am Ende ihres letzten Buches steht der furchtbar lakonische Satz: »Nichts konnte schlimmer sein, als alle Freunde zu verlieren und allein übrigzubleiben.«

Wohin mit dem Schmerz? Und wohin mit dem schlechten Gewissen darüber, dass die anderen tot sind, sie aber lebt?

In dem, was sie ihr »zweites Leben« nennt, das Leben danach, reüssierte die nach Hamburg verschlagene Preußin rasch, diesmal weniger qua Herkunft, sondern mehr aus eigener Kraft. Von ihrem 60. Geburtstag an erklingen im Fünf-Jahres-Takt die Laudationes, und den Laudatoren scheint die Puste nicht auszugehen. »Ihre moralischen Grundsätze sind ebenso menschlich wie eindeutig. Ihr politisches Urteil hat den langen Atem der Geschichte«, preist Exbundespräsident Richard von Weizsäcker. »Deutschland wäre ärmer ohne sie«, beteuert Exkanzler Helmut Schmidt, und zur »historischen Figur« kürt sie Staatsrechtler Prof. Theodor Eschenburg. »Ich würde für sie durchs Feuer gehen«, beteuert der Soziologe Prof. Ralf Dahrendorf. Und für Ex-US-Außenminister Henry Kissinger, der als Kind mit den Eltern vor den Nazihäschern aus Deutschland nach Amerika floh, ist sie gar »eine der zehn Gerechten« in dieser Welt; für die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher »die Hoffnung des Aufbruchs der Frauen« und für »Spiegel«-Herausgeber Rudolf Augstein »mein Vorbild«. Er stellte der Verehrten zum 80. einen metallicfarbenen Porsche mit dicker roter Schleife vor die Tür – schade, dass die Raison der Gräfin gebot, das kleine Präsent zurückzugeben …

Und was sagt die viel Geehrte zu all den Lobpreisungen? »Das ist mir wirklich wurscht«, sagt sie. Doch so eine kleine innere Freude ist wohl da, zumindest bei dem Lob, das trifft. Viel Ehr, viel Feind. Keine Laudationes halten all die, die sie hassen. Ja, ja, hassen. Denn diese würdige Dame weckt ungezügelte Aggressionen bei ihren Gegnern. Eine »Verräterin« ist die verjagte Herrin eines der großen Grundbesitze im Osten nicht nur für die Ewiggestrigen und Revanchisten. Eine »hoffnungslose Idealistin« und »rote Gräfin« ist sie auch heute noch für all diejenigen, die ihr weder ihre Zusammenarbeit mit den Kommunisten im Widerstand gegen Nazideutschland noch ihr Engagement gegen den Rassenwahn der Apartheid und schon gar nicht ihre im Alter eher stärker werdenden Sympathien mit dem Sozialismus verzeihen.

So ließ sich der pfälzische Bürger Helmut Kohl noch 1983 auf der Frankfurter Buchmesse in Gegenwart mehrerer Journalisten beim Anblick der preußischen Adeligen zu dem Ausruf hinreißen: »Ich kann dieses Gesicht nicht mehr sehen! Was glaubt die Frau eigentlich, wo sie lebt …?« Eine Befremdung, die zweifellos gegenseitig ist, auch wenn die Gräfin es anders formuliert hätte.

Doch lassen ihre Texte aus den letzten Jahrzehnten keine Zweifel daran, dass CDU-Kanzler wie der Machtmensch Adenauer (zu dessen heftigsten KritikerInnen sie in den 50er- und 60er-Jahren gehörte) oder der Durchzieher Kohl (dem sie eher gelassen begegnet) ihr fremd sind. Ihre Sympathie gehörte in der Nachkriegspolitik eher einer Figur wie Willy Brandt, dessen Verletzungen und Hoffnungen ihr vertraut zu sein scheinen.

Am 7. Dezember 1994 mache ich der »verehrten, lieben Gräfin Dönhoff« brieflich den Antrag zu diesem Buch – am 19. Januar 1995 sagt sie Ja. Zu meinem freudigen Erschrecken. Ein Jahr mit Marion Dönhoff beginnt. Ein Jahr der Zuneigung und des Zorns, des Verstehens und Verstummens. Gespräche mit ihr in Hamburg, Crottorf und Forio. Recherchen in ihrer Familie, der ZEIT-Familie und bei den vielen Freunden. Alle begegnen mir offen und gespannt – gespannt auf den Menschen Dönhoff, von dem die meisten nur wenige Facetten kennen.

Wieweit geht dieses Leben andere überhaupt an? Und werde ich es schaffen, ihm gerecht zu werden? So manches Mal verzweifelte ich in diesem Jahr der Recherche – mal an mir, mal an ihr. »Dönhoffs Biograf tut mir leid«, hat Prof. Eschenburg einmal voller schauderndem Respekt gesagt. Ihre Biografin tut sich in der Tat leid, manchmal zumindest. Denn es ist nicht einfach, sich ein Bild von einem Menschen zu machen, der zwar den Blick gewährt – sich ihm jedoch sogleich wieder entzieht. Ein Mensch, der kaum Ich sagen kann.

Die Aufgabe der Porträtistin ist eindeutig, der Auftrag der zu Porträtierenden doppeldeutig: Ich soll es tun – aber auch lassen. So werden, neben den Gesprächen mit Marion Dönhoff und den Stückchen Leben an ihrer Seite, die Befragungen der anderen für dieses Porträt unentbehrlich.

Im April 1995 verbringen Marion Dönhoff und ich erstmals zwei Tage zusammen. Sie hat mich in ihr Haus in Blankenese eingeladen, ein ehemaliges Fischerdorf, heute Nobelvorort von Hamburg. Bin ich genug vorbereitet? Im Zug nutze ich die letzten Stunden. Friedrich Dönhoff holt mich vom Bahnhof ab. Vergeblich suche ich in der Blumenhandlung am Bahnhof nach Fresien, ihren Lieblingsblumen laut FAZ-Fragebogen. Doch der bunte Strauß, den ich dann mitbringe, stößt ebenfalls auf Wohlwollen.

Es ist Mittag. Frau Ellermann, eine freundlich-spröde Person aus der Lüneburger Heide, serviert ein vernünftiges Essen und tut dies nun auch schon seit zehn Jahren. »Eine Wirtschafterin«, sagt Marion Dönhoff später beim Spaziergang, »das ist der einzige Luxus, den ich mir immer erlaubt habe. Andere Leute machen Reisen oder kaufen teure Kleider – ich leiste mir eine Haushälterin. Denn ich mache mir nun mal gar nichts aus Hausarbeit.« So hatte ich mir das vorgestellt.

Doch erlebe ich bei diesem Spaziergang auch eine Überraschung: ihre Pippi-Langstrumpf-Seite. Die Gräfin trägt praktische Hosen, eine Windjacke und eine verschlissene blaue Strickmütze auf dem Kopf. »Ich trage am liebsten alte Sachen, das habe ich mir so angewöhnt. Früher musste ich immer die Sachen der größeren Schwestern auftragen.« An der Leine zerrt Sascha, ein sturer Rauhaardackel, dem nie beigebracht wurde, dass er nicht weglaufen darf, wenn er kann – was ihm ein Leben in Unfreiheit beschert. Seine Herrin scheint’s nicht zu grämen. Später erfahre ich, dass sie ihm heimlich Naschereien zusteckt – wenn Frau Ellermann gerade nicht guckt.

In Dönhoffs Hamburger Einfamilienhaus aus Backstein herrschen Temperaturen wie auf Schloss Friedrichstein. Fröstelnd beschließe ich, beim nächsten Mal die Wollenen einzupacken. Die Einrichtung ist protestantisch-spartanisch, nur im Salon, der fast das ganze Erdgeschoss einnimmt und Arbeits-, Ess- und Wohnzimmer zugleich ist, weht ein Hauch von Friedrichstein: Herzstück des Raumes ist ihr Schreibtisch vor der Fensterfront zum Garten. An der Wand hängt, neben Hundertwasser-Drucken und modernen Aquarellen, ein prächtiger, früher Gobelin, oben umgeknickt, weil hier der Platz nicht reicht, daneben eine Barockkommode aus dem Schloss, der auf dem Transport der Aufsatz verloren ging.

Von ihrem mit Schriftstücken überladenen Schreibtisch aus schaut Marion Dönhoff auf einen kleinen, ein wenig verlassen wirkenden Garten: Es wäre eben auch bei größter Mühe keine ostpreußische Weite aus ihm herauszuholen … In den Bilderrahmen auf ihrem Schreibtisch stecken ein von ihr selbst gemachtes Foto von Schloss Friedrichstein im Winter sowie Porträts von Menschen, die sie dort verloren hat. Zwischen Schreibtisch und Sitzecke vegetiert eine Chaiselongue, auf der sich die Bücher stapeln. »Darauf habe ich in 25 Jahren noch nicht einmal gelegen«, vermerkt die Hausherrin nicht ohne Stolz.

Am Abend hocken wir im ersten Stock nebeneinander auf dem Gastbett, das Frau Ellermann schon fürsorglich mit einem Plumeau ausgestattet hat. Hier wird, gezielt und wenig, ferngesehen, »eigentlich nur die Nachrichtensendungen«. Wir wollen die Sieben-Uhr-Nachrichten sehen, doch mich beschleicht der Verdacht, dass sie die nicht zufällig zu früh angeschaltet hat. Denn meine Gastgeberin guckt mit runden Augen die Mainzelmännchen und kommentiert selbstvergessen: »Wirklich erstaunlich. Die lassen sich jeden Tag was Neues einfallen …« Später erfahre ich, dass sie sich »über Pumuckl halb tot lachen kann«.

Nachdem wir »noch etwas Kaltes« zu uns genommen haben, folgen wir ihren Gewohnheiten. Sie sitzt am Schreibtisch, liest, redigiert, schreibt. Ich hocke auf dem Sofa und blättere in den mir von ihrer Sekretärin Frau Brauer erbetenen Dönhoff-Dossiers. Mir gefällt das. Ab und an, inzwischen ist es nach zehn, steht sie auf und greift zum Telefon: »Hier Marion Dönhoff!« Oder auch: »Hier Marion!« Am anderen Ende der Leitung müssen ZEIT-Redakteure stecken. Die Biografin und Auch-Herausgeberin spitzt die Ohren. Mir scheint es sich um Kleinigkeiten zu handeln: Ist das Fax angekommen …? Haben Sie das schon gelesen …?

Sonntagmorgen. Meine Uhr ist stehen geblieben. Ich falle erschrocken aus dem Bett, denke, es sei mindestens zehn. Unten begegne ich einem verschlafenen Sascha und einer erstaunten Frau Ellermann, die gerade die allmorgendliche Möhre für die Gräfin putzt und den Tee aufbrüht. Die Vorhänge sind noch zugezogen, aber ich mache mich gleich wieder ans Aktenstudium, nicht zuletzt in der Hoffnung, einen guten Eindruck zu machen – was mir gelingt, wenn auch nur in Grenzen. Denn wurde ich gestern noch von der Gräfin bedauert, dass ich »so viel Unsinn lesen muss« (kurzer Blick hoch vom Schreibtisch in meine Richtung), so ist sie heute erstaunt über das Tempo, mit dem ich die Dönhoff-Akten bewältige. »Können Sie so schnell lesen?«, kommt es spitz aus Richtung Schreibtisch. Ich beflissen: »Nein, nein, das waren nur Rezensionen, die sich wiederholen.« Doch unbesänftigt murmelt die Strenge: »Jaja, Sommer liest auch so schnell …«

Bei unserem zweiten Spaziergang – Marion Dönhoff bewegt sich gerne und viel – fällt mir eine kleine Szene auf: Wir biegen mit dem hechelnden Sascha vom Park auf eine der sonntäglich leeren Straßen. Da steht ein kleiner Junge etwa hundert Meter entfernt allein und weint. Sie nimmt das Kind in Sekundenschnelle wahr, schaut sich suchend um, geht darauf zu und erkundigt sich, was los ist. – Eine Marion Dönhoff ist eben nicht nur für die großen Weltgeschicke verantwortlich, sondern manchmal auch für den kleinen Alltag.

Randvoll mit Eindrücken verabschiede ich mich am Sonntagmittag in Blankenese, vertrauensvoll von ihr ausgestattet mit den wichtigsten Namen und Telefonnummern.

Die ersten, die ich aufsuche, sind Hermann Graf Hatzfeldt und seine Frau Angelika. Ihm gehört der hatzfeldtsche Besitz mit weiten Wäldern und Ländereien, und er ist, von den heimischen Wäldern bis Tschernobyl, ökologisch engagiert. Mit Hermann, der, nicht zuletzt auf ihre Anregung hin, ebenso in Princeton studiert hat wie in Schwarzafrika – und dort vor allem »tanzen und lachen gelernt« hat –, pflegt Marion »ein besonderes Verhältnis«, wie die Familie es nennt. Er ist nicht nur Lieblingsneffe, er ist auch quasi Sohn (sie übernahm nach dem Krieg die Vormundschaft für die verwaisten drei Dönhoff/Hatzfeldt-Kinder). Und: Er ist Bruder. Und sie? »Sie war für uns eher Vater als Mutter, wenn Sie verstehen, was ich meine«, sagt er. Ich verstehe.

Mit dem 1941 geborenen Hermann hat Marion das ihr so vertraute geschwisterliche Muster wiederholt. Er wurde ihr Vertrauter und Gefährte, heiratete spät und begleitete sie lange auf Empfänge und Reisen. »Sie ist so aufgewachsen, wie sie heute lebt«, sagt er. »Für sich und distanziert, aber in einem engen Familienverband.« Für ihn und seine Geschwister war Tante Marion immer »die Respektperson«, die sich selbstverständlich in der Welt der Herrschenden bewegt. »Frauen interessieren sie nicht. Doch Sie müssten sie mal auf einer dieser Konferenzen erleben. Da überlistet sie alle Männer! Sie ist ganz uneitel und ganz sachorientiert. Während die Männer ratschlagen, schlägt sie zu.«

Wir verbringen einen lebhaften Nachmittag zu dritt in dem wohnlichen Wachturm des wuchtigen Schlosses, und zum guten Schluss gibt Hermann Hatzfeldt mir noch einen Tipp mit auf den Weg: »Wenn Sie richtig was erfahren wollen, dann sollten Sie mit Alexandra sprechen.« – Mit Alexandra Müller-Marein, der Tochter von Marions 1993 gestorbenen Schwester Yvonne.

Doch erst einmal fahre ich zum nächsten Neffen, nach Schloss Schönstein, rund 20 Autominuten entfernt. »Fahren Sie durch bis zum zweiten Schlosshof. Und dann sehen Sie schon: auf der Klingel steht Dönhoff.« Stanislaus Graf Dönhoff ist der Sohn von Jugendfreundin Sissi Gräfin Lehndorff (deren Bruder nach dem Attentat vom 20. Juli ermordet wurde) und Dönhoff-Bruder Dieter. »Stani« bezeichnet sich selbst als »konservativer« als Marion, und in seinen »Banker-Kreisen« findet man »Marion gar nicht so witzig«. Macht aber nichts, der Neffe liebt seine Tante!

Mit Wonne erinnert Stani sich noch über ein halbes Jahrhundert danach an den graugrünen 328er BMW, den Marion als Chefin der Dönhoff-Stiftung Gut Quittainen Anfang der 40er- Jahre fuhr. »Den hätte ich so gerne gehabt!« Und auch daran, wie Tante Marion in den wirren Monaten nach Kriegsende einmal seine Lehrerin war. »Die anderen gingen hamstern, und sie unterrichtete uns«, schwärmt er. »Sie hatte immer was für junge Leute übrig und war für mich eine Vertrauensperson.«

Da mischt sich seine Frau Bella ein, eine geborene Gräfin Metternich. Die erinnert sich noch genau, wie ihr Vater die junge Marion verehrte: »Er hat sie sehr geliebt. Sie war so apart und hatte so tolle Augen.« Aber, sagt Stani: »Wenn Sie wirklich etwas erfahren wollen, dann sollten Sie mit Alexandra sprechen.«

Zunächst einmal telefoniere ich mit Stanis Mutter, Sissi Gräfin Dönhoff, geborene Lehndorff. Sie war einst Marions »beste Freundin« mit »die ganze Nacht durchreden und auf die höchsten Bäume klettern« (Sissi) und steckt voller herrlicher Anekdoten über früher. Aber heute … »Da hat sie kaum Zeit«, klagt Sissi, die erst vor Kurzem aus Irland zurückgekehrt ist, wo dieser Dönhoff-Zweig nach dem Krieg Pferde züchtete. Aber Sissi hat einen guten Rat für mich: »Vielleicht sollten Sie mal mit Alexandra reden, die müsste mehr wissen.«

Ein paar Tage später sitze ich ihr tatsächlich gegenüber: Alexandra Müller-Marein, Tochter von Lieblingsschwester Yvonne und Witwe des einstigen ZEIT-Chefredakteurs Josef Müller-Marein. In ihrer zähen Zartheit sieht Alexandra ihrer nur elf Jahre älteren Tante Marion nicht unähnlich. Sie schlägt die Beine übereinander, zündet sich eine Zigarette an und sagt: »Wissen Sie, ich habe über unser Treffen nachgedacht. Und mir ist aufgefallen: Ich kenne Marion gar nicht.« Ich habe Mühe, Fassung zu wahren.

»Es ist nämlich so«, fährt Alexandra fort und schnippt die Asche: »Bei ihr gab es immer eine ernsthafte Trennung zwischen Verstand und Gefühl. Über Gefühle spricht man bei uns in der Familie nicht. Wir haben gelernt, mit uns selber fertig zu werden. Bei uns galt: Nicht klagen! Nicht heulen! Diskretion wahren! Und über Politik – darüber würde Marion nie mit mir reden! Sie hält Frauen nicht unbedingt für dümmer – aber für unfähig zum logischen Denken.«

Früher, da hat Alexandra der Marion gern an den Zöpfen gezogen. Und als sie groß waren und in den Nachkriegsmonaten zu einem kurzen, gemeinsamen Leben verurteilt, »da haben wir uns die Töpfe hinterhergeworfen«. Doch: »Marion war immer eine Autorität.« Und übrigens: »Achten Sie mal drauf, was sie zu Frauen sagt, die sie mag oder von denen sie was will: ›Liebchen‹ sagt sie. Männer nennt sie gern ›mein Alter‹.«

Mitte Mai fahre ich wieder von Köln nach Hamburg und verbringe eine ganze Woche zwischen Blankenese und der ZEIT. Im 6. Stock des hanseatischen Backsteingebäudes mitten im Zentrum residiert »die Politik«. Der Weg zu ihr hat Hindernisse: Seit Altbundeskanzler Helmut Schmidt in das Herausgebertrio der ZEIT berufen wurde (neben Marion Dönhoff und Theo Sommer), gibt es »besondere Sicherheitsmaßnahmen«. Der erste Aufzug geht nur bis in den 3. Stock. Sinn des Umsteigens: eine Sichtkontrolle. Der nächste Aufzug führt in den 6. Stock, wo auch die Gräfin residiert.

Halt, zunächst geht’s durch das hart nach Arbeit aussehende Sekretariat der Brauer. Dann erst erreicht man das Büro der Gräfin. Die sitzt hinter ihrem Schreibtisch, der bedeckt ist mit Bergen von Büchern und Manuskripten. Die Räume der RedakteurInnen und Sekretärinnen gehen alle nach außen, zum Innenhof hin befindet sich der Konferenzraum, in dem an verschiedenen Tagen die einzelnen Ressorts tagen.

In den ersten Tagen husche ich immer noch direkt mit der Gräfin in ihr Büro, dann fange ich an, meine Netze zu spinnen. Auf dem Gang treffen mich diskret erstaunte Blicke, doch langsam beginnen sich die Türen zu öffnen. Das Gerücht eilt mir voraus. Ich werde immer herzlich empfangen, allen voran von den Sekretärinnen, die mir verschwörerisch zuzwinkern. Die Arbeitsräume der RedakteurInnen sind, wie es sich für eine engagierte Zeitschrift gehört, winzig, erst ab Chefredakteurs- oder Herausgeberrang geht es über die Koje hinaus.

Sie wollen also eine Biografie über die Gräfin schreiben? Prüfender KollegInnen-Blick. »Na ja«, antworte ich zögernd, »vielleicht eine Porträtskizze …« Am nächsten Morgen schallt es mir schon auf dem Gang entgegen: Sie wollen also eine Porträtskizze über die Gräfin schreiben! Na ja, vielleicht ja doch eine Biografie …

Hier, unter dem seit dem Tod ihres Verlegers Bucerius im Herbst 95 so undichten Dach der ZEIT, scheint die nun 85jährige Dönhoff, dabei seit den ersten Gründermonaten, eine doppelte Präsenz zu haben. Die eine ist eine tatsächliche, körperliche Präsenz. Denn wenn die Gräfin nicht gerade in Washington, Warschau oder Rom interviewt oder referiert, sitzt sie hier Tag für Tag hinterm Schreibtisch, von Montag bis Freitag zwischen 10 Uhr 30 und 17 Uhr 30 und liest, redigiert, telefoniert, diskutiert. Die zweite ist eine symbolische Präsenz, denn »sie steht immer hinter einem« (Sommer). In der Tat schweben ihr Anspruch, ihre Strenge, aber auch ihr liberales Laisser-faire noch immer über allem – auch wenn sie hinter der Hand von einigen längst als »Fossil« abgetan wird.

Frei vom Mythos und dicht an der Realität ist Dönhoffs rechte Hand Irene Brauer, eigentlich Schauspielerin von Beruf und als »die kleine Rothaarige« vor sieben Jahren »mal eingesprungen« – und seither geblieben, zur Erleichterung der Gräfin. Ihr hat sie ihre beiden letzten und intimsten Bücher diktiert, ihr spricht sie bis heute in den Block (»Wollen wir noch mal ein bisschen was schreiben?«). Denn die Gräfin schreibt, ganz wie ihr Vater, mit der Hand, gestochen, versteht sich. Und während sie diktiert, korrigiert und ergänzt sie ein letztes Mal ihre Texte. Eine Arbeitsmethode, die vermutlich zu der lebendigen Unmanieriertheit und Direktheit ihres Stils beiträgt. »Das kann ja heiter werden!« – mit diesen Worten fängt im Herbst 1995 ein Kommentar von ihr über die Berührungsängste der CDU mit der PDS an.

Wie jede wirklich gute Sekretärin kennt kaum jemand die Gräfin so gut wie die Brauer, die von ihr auch schon mal die Hälfte vom Pausenbrot abkriegt, wenn die Chefin überraschend zum Geschäftsessen geladen ist. Die Brauer weiß Bescheid. »Sie will alles auf einmal machen. Sie verlegt alles, vergisst viel und lässt alles liegen. Sie hört oft nicht zu. Und: Sie ist sehr erfinderisch in Ausreden, wenn es sich darum handelt, eine Vortragseinladung abzulehnen.« Was der Brauerschen Zuneigung keinen Abbruch tut. »Ihre Klarheit! Ihre Unbestechlichkeit! Ihre liebevolle Nachsicht mit Menschen!«

Vor allem ihre bescheidene Selbstverständlichkeit im Umgang mit Menschen. Sie biedert sich nicht an, bleibt immer sie selbst. Als im Herbst 94 die Punker in Hannover wieder Punk machten, da schrieb die Gräfin nicht etwa einen pikierten Kommentar über »diese Jugend«, sondern lud die Jungs zu sich zum Gespräch. Die kamen auch und wurden höflich empfangen. »Sie müssen schon entschuldigen«, sagte die Gräfin beim Eintreffen der Truppe in ihrem Büro. »Es ist hier zurzeit etwas unaufgeräumt …«

»Körperliche Befindlichkeiten gibt es nicht bei ihr, aber in Bezug auf Stimmung ist sie sehr feinfühlig«, hat Irene Brauer beobachtet. Und: »Mit Männern, die sie mag, kann sie auch flirten. Mit Frauen ist sie sehr viel kritischer. Die provoziert sie knallhart.«

ZEIT-Redakteurin Margrit Gerste, nun auch schon seit fast 20 Jahren dabei, trägt das der Gräfin nicht nach. »Ich liebe sie ganz einfach.« Gerste mag »ihre Mädchenhaftigkeit und Hartnäckigkeit«. »Was sie sich in den Kopf setzt, macht sie. Neulich sollte sie 28 Zeilen auf 26 Zeilen kürzen. Nein, hat sie gesagt.« In den Konferenzen »streitet sie sich weniger als früher«, aber »glänzt weiterhin durch Neugier. Sie hat mehr Fragen als Antworten.« Und jüngst, da hat sie nach der Konferenz im Rausgehen zu Gerste gesagt: »Mein Gott, diese Männer … sind die eitel.« Ist Dönhoff ein Vorbild für Gerste? Die gestandene Redakteurin guckt fast erschrocken: »Ein Vorbild? Nein, da werde ich nie rankommen …«

Ein paar Räume weiter sitzt Nina Grunenberg. Die Reporterin ist nach Dönhoff die Frau, die am längsten in der ZEIT ist. »Sie nennt mich Nina, und ich sage Gräfin. Weil ihr das zusteht.« Auch Grunenberg spricht von der »Mädchenhaftigkeit« der Gräfin, wie überhaupt alle Frauen auf ihre »zarten Seiten« eingehen. Die Reporterin mag Dönhoffs »Instinkt für Menschen«, ihren Elan und ihre Kreativität. – »Bei ihr blühen 1000 Blumen«, sagt sie, in Anlehnung an die Mao-Parole: Lasst 100 Blumen blühen!

Zum Schluss spreche ich mit den »Buben der Gräfin«, mit Theo »Ted« Sommer und Haug von Kuenheim. Die beiden wissen natürlich genau, mit wem sie reden, und thematisieren lässig »das Verhältnis der Gräfin zu den Frauen«. Denn »mit Frauen ist sie im höchsten Maße unfair«, verrät Kuenheim und schaut mich erwartungsvoll an. »Haben Sie sie dazu schon befragt?« Und Sommer weiß: »Es hat sie nie gestört, die einzige Frau zu sein. Aber ihr Verhältnis zu Frauen war immer schwierig. Sie hat Frauen gleichzeitig verwunderlich gefunden und nicht ganz ernst genommen.« Und wo von Frauen die Rede ist, da sind die Männer nicht weit. »Also irgendwann müssen Sie sie schon mal nach der Rolle der Männer in ihrem Leben fragen«, rät Sommer, der den frechsten Zugriff auf sie hat. Und er? »Ich? Also ich kann zu dem Thema gar nichts sagen!« Aber er hätte da schon so ein paar Tipps … Es fällt mir auf, dass es vor allem die Männer sind, die über Dönhoffs Verhältnis zu Männern reden.

Haug von Kuenheim ist seit 1961 bei der ZEIT. Früher ging er jeden Sonntag mit der Gräfin an der Elbe spazieren, »dann haben wir immer nur über eines geredet: über die ZEIT«. Er ist, im Gegensatz zu dem, was immer vermutet wird, nicht direkt mit Marion Dönhoff verwandt. Aber er ist ihr verwandt, ihn hat sie besonders oft mitgenommen auf Reisen. »Das habe ich immer sehr genossen. Sie ist so sportlich. So lustig. So kameradschaftlich. Abends an der Bar ist sie garantiert die Letzte …« Auch in der Redaktion »wird ihr nie was zu viel. Sie regeneriert sehr schnell. Auch heute noch.«

»Ihr Urteil war oft falsch, aber ihr Instinkt immer richtig«, sagt der heute 65-jährige Sommer, der 1957, als 27-Jähriger, von ihr von der Uni zur ZEIT