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»Ein außergewöhnlich intimes und ehrliches Buch über Liebe und Trauer« The Times Julian Barnes' neues Buch handelt von Ballonfahrt, Fotografie, Liebe und Trauer. Davon, dass man zwei Menschen oder zwei Dinge verbindet und sie wieder auseinanderreißt. Einer der Juroren für den Man Booker Prize nannte Julian Barnes einen »beispiellosen Zauberer des Herzens«. Das vorliegende Buch bestätigt dies. Julian Barnes schreibt über die menschliche Existenz – auf der Erde und in der Luft. Wir lernen Nadar kennen, Pionier der Ballonfahrt und einer der ersten Fotografen, die Luftaufnahmen machten, sowie Colonel Fred Burnaby, der zum eigenwilligen Bewunderer der extravaganten Schauspielerin Sarah Bernhardt wird. Und wir lesen über Julian Barnes' eigene Trauer über den Tod seiner Frau – schonungslos offen, präzise und tief berührend. Ein Buch über das Wagnis zu lieben. »Eines der besten, bewegendsten Bücher, die es gibt« Evening Standard »Es ist außergewöhnlich, auf einer Seite auszudrücken, was Leben heißt.« The Guardian »Jeder, der einen geliebten Menschen verloren hat und leidet, oder jeder, der leidet, sollte es lesen. Und noch mal lesen. Und noch mal.« Independent
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Zeit:3 Std. 25 min
Julian Barnes
Lebensstufen
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
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– für Pat –
Man bringt zwei Dinge zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden, und die Welt hat sich verändert. Vielleicht merken die Menschen es nicht gleich, aber das ist egal. Die Welt hat sich trotzdem verändert.
Colonel Fred Burnaby von den Royal Horse Guards, Vorstandsmitglied der Aeronautical Society, stieg am 23. März 1882 von den Gaswerken in Dover auf und landete auf halber Strecke zwischen Dieppe und Neufchâtel.
Sarah Bernhardt war vier Jahre zuvor im Zentrum von Paris aufgestiegen und bei Émerainville im Departement Seine-et-Marne gelandet.
Félix Tournachon war am 18. Oktober 1863 am Marsfeld in Paris aufgestiegen; nachdem er siebzehn Stunden lang von einem Sturm nach Osten getrieben worden war, stürzte er an einer Eisenbahnstrecke bei Hannover ab.
Fred Burnaby reiste allein in einem rot-gelben Ballon, der The Eclipse hieß. Der Korb war eineinhalb Meter lang, einen knappen Meter breit und ebenso hoch. Burnaby wog 108 Kilo, trug einen gestreiften Mantel und eine eng anliegende Kappe, um die er sein Taschentuch geschlungen hatte, damit der Nacken vor der Sonne geschützt war. Er nahm zwei Roastbeefsandwiches mit, eine Flasche Apollinaris-Mineralwasser, ein Barometer zur Messung der Höhe, ein Thermometer, einen Kompass und einen Vorrat an Zigarren.
Sarah Bernhardt reiste mit ihrem Liebhaber, dem Maler Georges Clairin, und einem professionellen Aeronauten in einem orangefarbenen Ballon, der nach ihrer damaligen Rolle an der Comédie Française Doña Sol hieß. Nachdem sie eine Stunde geflogen waren, übernahm die Schauspielerin um halb sieben Uhr abends die Mutterrolle und bereitete tartines de foie gras zu. Der Aeronaut köpfte eine Flasche Champagner, wobei er den Korken in den Himmel schoss; die Bernhardt trank aus einem silbernen Kelch. Anschließend aßen sie Orangen und schleuderten die leere Flasche in den Lac de Vincennes. Berauscht von dem plötzlichen Gefühl der Erhabenheit warfen sie fröhlich Ballast auf die Erdenwesen am Boden ab: eine englische Touristenfamilie auf dem Balkon der Bastille-Säule und später eine Hochzeitsgesellschaft, die sich bei einem ländlichen Picknick vergnügte.
Tournachon reiste mit acht Gefährten in einem Aerostat, der seiner eigenen prahlerischen Fantasie entsprungen war: »Ich werde einen Ballon – den ultimativen Ballon – von außerordentlich gigantischen Ausmaßen bauen, zwanzig Mal größer als der größte.« Er nannte ihn Le Géant, den Riesen. Der Ballon machte zwischen 1863 und 1867 fünf Flüge. Zu den Passagieren dieses zweiten Flugs gehörten Tournachons Ehefrau Ernestine, die Aeronautenbrüder Louis und Jules Godard sowie ein Nachfahre der ersten Ballonfahrerfamilie Montgolfier. Was sie an Essen mitnahmen, ist nicht überliefert.
Das waren die ballonfahrenden Klassen der damaligen Zeit: der begeisterte englische Amateur, der sich gern als »Ballonatiker« verspotten ließ und bereitwillig in alles einstieg, was sich in die Lüfte erheben würde; die berühmteste Schauspielerin der Epoche, die einen Promi-Flug unternahm; und der professionelle Ballonfahrer, der mit Le Géant ein kommerzielles Unternehmen startete. Der erste Aufstieg dieses Gefährts, für den jeder der dreizehn Passagiere 1000 Francs bezahlte, lockte zweihunderttausend Zuschauer an; die Gondel glich einer zweistöckigen Hütte aus Korbgeflecht und beherbergte einen Erfrischungsraum, Betten, eine Toilette, eine fotografische Abteilung und sogar eine Druckerei, damit man unverzüglich Gedenkbroschüren herstellen konnte.
Die Brüder Godard waren überall dabei. Sie konstruierten und bauten Le Géant und brachten ihn nach den ersten beiden Flügen zu einer Ausstellung im Crystal Palace nach London. Kurz darauf brachte ein dritter Bruder, Eugène Godard, einen noch größeren Heißluftballon nach England, der zwei Mal von den Cremorne Gardens aufstieg. Sein Umfang war doppelt so groß wie der von Le Géant, und sein mit Stroh befeuerter Brenner wog mitsamt dem Schornstein 444 Kilo. Auf dem ersten Londoner Flug nahm Eugène gegen ein Entgelt von fünf Pfund einen einzigen englischen Passagier mit. Dieser Mann war Fred Burnaby.
Diese Ballonfahrer entsprachen fröhlich den nationalen Klischees. Während einer Flaute zündet sich Burnaby »unbekümmert um die austretenden Gase« über dem Ärmelkanal eine Zigarre an, um besser denken zu können, und wirft, als zwei französische Fischerboote ihm bedeuten, er solle herunterkommen und sich aus dem Wasser ziehen lassen, »eine Ausgabe der Times zu ihrer Erbauung« hinab – vermutlich ein Hinweis darauf, dass ein praktisch veranlagter englischer Offizier sehr gut allein zurechtkommt, vielen Dank auch, Mossjöhs. Sarah Bernhardt gesteht, sie habe eine natürliche Neigung zur Ballonfahrt, weil »mein träumerisches Wesen mich fortwährend in höhere Sphären entführt«. Auf ihrem kurzen Flug genießt sie den Komfort eines einfachen Stuhls mit einer Sitzfläche aus Stroh. Als die Bernhardt der Öffentlichkeit von dem Abenteuer berichtet, trifft sie die launige Entscheidung, alles aus der Sicht des Stuhls zu erzählen.
Der Aeronaut stieg aus dem Himmel herab, hielt Ausschau nach einem ebenen Landeplatz, zog an der Ventilleine, warf den Anker aus und wurde oft zwölf oder fünfzehn Meter wieder in die Luft gehoben, bevor die Ankerhaken griffen. Dann kam die einheimische Bevölkerung angelaufen. Als Fred Burnaby beim Château de Montigny landete, steckte ein neugieriger Hinterwäldler den Kopf in den halb entleerten Gassack und wäre fast erstickt. Die Einheimischen halfen bereitwillig beim Einholen und Zusammenlegen des Ballons, und Burnaby fand diese armen französischen Arbeiter viel freundlicher und höflicher als ihre englischen Pendants. Er warf ihnen einen Half-Sovereign zu, wobei er pedantisch auf den Wechselkurs zur Zeit seines Abflugs in Dover verwies. Ein gastfreundlicher Bauer, Monsieur Barthélemy Delanray, bot dem Aeronauten ein Nachtquartier an. Zuvor aber gab es Madame Delanrays Diner: omelette aux oignons, sautierte Taube mit Kastanien, Gemüse, Neufchâtel-Käse, Cidre, eine Flasche Bordeaux und Kaffee. Hinterher erschien der Dorfarzt, und der Fleischer kam mit einer Flasche Champagner. Burnaby zündete sich am Kamin eine Zigarre an und sinnierte darüber, dass »eine Ballonlandung in der Normandie zweifellos einer Ballonlandung in Essex vorzuziehen ist«.
Bei Émerainville staunten die Bauern, die dem landenden Ballon nachjagten, als sie eine Frau darin fanden. Die Bernhardt war große Auftritte gewohnt – dies war womöglich der größte von allen. Sie wurde – natürlich – erkannt. Die Landleute unterhielten sie denn auch mit einem ganz eigenen Drama: der Geschichte eines grausigen Mordes, der kurz zuvor verübt worden war, genau da, wo sie (auf ihrem Hör-und-Erzähl-Stuhl) Platz genommen hatte. Bald begann es zu regnen; die für ihre Schlankheit berühmte Schauspielerin scherzte, sie sei zu dünn, um nass zu werden – sie würde einfach zwischen den Tropfen hindurchschlüpfen. Nach der rituellen Verteilung von Trinkgeldern wurden der Ballon und seine Besatzung dann zum Bahnhof von Émerainville eskortiert und erreichten noch den letzten Zug zurück nach Paris.
Sie wussten, dass es gefährlich war. Fred Burnaby wäre gleich nach dem Start fast mit dem Schornstein der Gaswerke kollidiert. Die Doña Sol wäre kurz vor der Landung beinahe in einem Wald niedergegangen. Als Le Géant neben den Eisenbahngleisen abstürzte, sprangen die erfahrenen Godards klugerweise vor dem endgültigen Aufprall heraus; Tournachon brach sich ein Bein, und seine Frau trug Verletzungen an Hals und Brustkorb davon. Ein Gasballon konnte explodieren; ein Heißluftballon konnte, wenig überraschend, Feuer fangen. Jeder Start und jede Landung war riskant. Auch mehr Größe bedeutete nicht mehr Sicherheit: es bedeutete nur – wie der Fall von Le Géant zeigte –, dass man mehr dem Wind ausgeliefert war. Frühe Aeronauten trugen bei der Überquerung des Ärmelkanals oft Schwimmwesten aus Kork für den Fall, dass sie im Wasser landeten. Fallschirme gab es nicht. Im August 1786 – als die Ballonfahrerei noch in den Kinderschuhen steckte – war in Newcastle ein junger Mann aus über hundert Metern Höhe zu Tode gestürzt. Er hatte mit einigen anderen die Halteseile des Ballons gehalten; als eine Windbö plötzlich den Luftsack in Bewegung setzte, ließen seine Gefährten los, er aber klammerte sich weiter fest und wurde emporgezogen. Dann fiel er auf die Erde zurück. Bei einem neueren Historiker liest sich das so: »Der Aufprall trieb seine Beine bis zu den Knien in ein Blumenbeet und zerriss ihm die Eingeweide, die auf den Boden herausplatzten.«
Die Aeronauten waren die neuen Argonauten, und ihre Abenteuer wurden unverzüglich aufgezeichnet. Eine Ballonfahrt verband Stadt und Land, England und Frankreich, Frankreich und Deutschland. Eine Landung löste schiere Begeisterung aus: Ein Ballon barg nichts Böses. In der Normandie brachte der Dorfarzt am Kamin von Monsieur Barthélemy Delanray einen Toast auf die weltumspannende Brüderlichkeit aus. Burnaby stieß mit seinen neuen Freunden darauf an. Als guter Brite erläuterte er ihnen bei der Gelegenheit auch gleich die Überlegenheit einer Monarchie über eine Republik. Der Präsident der Aeronautical Society of Great Britain war schließlich Seine Hoheit der Herzog von Argyll, und die drei Vizepräsidenten waren Seine Hoheit der Herzog von Sutherland, der Sehr Ehrenwerte Earl of Dufferin und der Sehr Ehrenwerte Lord Richard Grosvenor, Member of Parliament. Das entsprechende französische Gremium, die von Tournachon gegründete Société des Aéronautes, war dagegen demokratischer und intellektueller ausgerichtet. Ihre Aristokraten waren Schriftsteller und Künstler: George Sand, Dumas père et fils, Jacques Offenbach.
Ballonfahren stand für Freiheit – doch diese Freiheit war der Macht von Wind und Wetter unterworfen. Die Aeronauten wussten oft nicht, ob sie in Bewegung waren oder stillstanden, an Höhe gewannen oder verloren. In der Anfangszeit warfen sie eine Handvoll Federn aus, die beim Sinkflug nach oben wehten und beim Aufstieg nach unten. In Burnabys Tagen war diese Technologie schon zu abgerissenen Streifen von Zeitungspapier fortgeschritten. Zur Messung des horizontalen Vorankommens erfand Burnaby einen eigenen Tachometer, der aus einem kleinen Papierfallschirm an einer fünfzig Meter langen Seidenschnur bestand. Er warf den Fallschirm über Bord und maß die Zeit, bis die Schnur ganz abgerollt war. Sieben Sekunden entsprachen einer Ballongeschwindigkeit von zwölf Meilen die Stunde.
In jenem ersten Jahrhundert des Fliegens wurden vielfältige Versuche unternommen, diesen unkontrollierbaren Sack mit seinem baumelnden Korb zu beherrschen. Man probierte es mit Steuerrudern und Ruderblättern, mit Pedalen und von Rädern angetriebenen Schraubenventilatoren; nichts davon zeigte groß Wirkung. Burnaby glaubte, das Ausschlaggebende sei die Form: ein maschinell angetriebener Aerostat in Form einer Röhre oder Zigarre, das sei der Weg nach vorn – was sich letztendlich als richtig erwies. Aber alle, Engländer wie Franzosen, konservative wie progressive Geister, waren sich einig, dass die Zukunft des Fliegens den »Schwerer-als-Luft«-Flugmaschinen gehörte. Und obgleich der Name Tournachon immer mit Ballonfahrerei in Verbindung gebracht wurde, gründete er auch die Société d’encouragement de la navigation aérienne au moyen du plus lourd que l’air; der erste Sekretär dieser »Gesellschaft zur Förderung der Fortbewegung in der Luft vermittelst Apparaten, die schwerer sind als Luft« war Jules Verne. Ein anderer Flugbegeisterter, Victor Hugo, verglich einen Ballon mit einer schönen dahintreibenden Wolke – doch was die Menschheit brauche, sei ein Äquivalent zu dem Wunderwerk, das sich über die Schwerkraft hinwegsetzen könne: dem Vogel. Überhaupt war das Fliegen in Frankreich eine Angelegenheit für gesellschaftlich fortschrittlich denkende Menschen. Tournachon schrieb, die drei entscheidenden Symbole der modernen Zeit seien »Fotografie, Elektrizität und Aeronautik«.
Am Anfang flogen die Vögel, und die Vögel waren von Gott geschaffen. Die Engel flogen, und die Engel waren von Gott geschaffen. Männer und Frauen hatten lange Beine und einen leeren Rücken, und Gott hatte sie aus gutem Grund so geschaffen. Wer in die natürliche Ordnung des Fliegens eingriff, legte sich mit Gott an. Es sollte ein langer Kampf werden, der viele lehrreiche Legenden mit sich brachte.
Da ist zum Beispiel der Fall des Simon Magus. Die National Gallery in London besitzt ein Altarbild von Benozzo Gozzoli; die Predella wurde im Laufe der Jahrhunderte zerstückelt und in alle Winde verstreut. Ein Teil des Bildes stellt die Geschichte von St.Peter, Simon Magus und Kaiser Nero dar. Simon war ein Magier, der Neros Gunst erlangt hatte und sich diese erhalten wollte, indem er bewies, dass seine Macht größer war als die der Apostel Petrus und Paulus. Das kleine Gemälde erzählt die Geschichte in drei Teilen. Im Hintergrund sieht man einen hölzernen Turm, von dem aus Simon Magus seinen neuesten Zaubertrick vorführt: den Flug eines Menschen. Senkrechtstart und Aufschwung sind vollbracht, und nun strebt der samaritische Aeronaut gen Himmel, wobei nur die untere Hälfte seines grünen Umhangs zu sehen ist, der Rest wird von der oberen Bildkante abgeschnitten. Doch Simons heimlicher Raketentreibstoff ist unerlaubt: Er vertraut – körperlich wie geistig – auf die Hilfe von Dämonen. Im Mittelgrund sieht man den heiligen Petrus im Gebet; er bittet Gott, die Teufel ihrer Macht zu berauben. Die theologischen und aeronautischen Folgen dieser Intervention finden im Vordergrund ihre Bestätigung: ein toter Magier, dem nach einer erzwungenen Bruchlandung Blut aus dem Mund rinnt. Die Sünde der Höhe wurde bestraft.
Ikarus legte sich mit dem Sonnengott an: Auch das war keine gute Idee.
Den ersten Aufstieg in einem Wasserstoffballon unternahm der Physiker Dr. J. A. C. Charles am 1. Dezember 1783. »Als ich spürte, dass ich der Erde entfloh«, bemerkte er, »war meine Empfindung nicht Freude, sondern Glück.« Es sei »ein moralisches Gefühl« gewesen. »Ich konnte gleichsam hören, wie ich lebte.« Etwas Ähnliches empfanden die meisten Aeronauten, selbst Fred Burnaby, der Wert auf die Feststellung legte, dass er nicht leicht in Verzückung geriet. Hoch oben über dem Ärmelkanal beobachtet er den Dampf des Postschiffs zwischen Dover und Calais, sinnt über den neuesten törichten und verabscheuungswürdigen Plan zum Bau eines Kanaltunnels nach und lässt sich dann für einen Moment zu einer moralischen Gefühlsregung hinreißen:
Die Luft war leicht und lieblich zu atmen, denn sie war frei von den Unreinheiten, welche die Atmosphäre nahe dem Erdball belasten. Meine Stimmung hob sich. Es war wohltuend, für eine Weile in einem Bereich ohne Briefe zu sein, wo es kein Postamt in der Nähe gab, keine Sorgen und vor allem keine Telegramme.
An Bord der Doña Sol wähnt sich die »göttliche Sarah« im Himmel. Sie meint, hoch oben über den Wolken herrsche »nicht Stille, sondern der Schatten der Stille«. Sie empfindet den Ballon als ein »Symbol äußerster Freiheit« – als solches muss die Schauspielerin selbst auch den meisten Erdenwesen erschienen sein. Félix Tournachon beschreibt »die stille Unendlichkeit des einladenden und segensreichen Raums, wo der Mensch für keine menschliche Gewalt und keine Macht des Bösen zu erreichen ist und wo er sich gleichsam zum ersten Mal lebendig fühlt«. In diesem stillen, moralischen Raum erlebt der Aeronaut körperliche und seelische Gesundheit. Die Höhe »lässt alles auf seine relativen Proportionen schrumpfen, und auf die Wahrheit«. Sorgen, Reue, Abscheu werden zu Fremden: »Wie leicht schwinden Gleichgültigkeit, Verachtung, Vergesslichkeit dahin … und Versöhnlichkeit senkt sich herab.«
Der Aeronaut konnte den Raum Gottes – ohne die Hilfe der Magie – besuchen und kolonisieren. Und dabei entdeckte er einen Frieden, der nicht höher war denn alle Vernunft. Höhe war moralisch, Höhe war geistig. Höhe war, wie manche meinten, sogar politisch: Victor Hugo glaubte schlicht und einfach, das Fliegen mit »Schwerer-als-Luft«-Maschinen werde zur Demokratie führen. Als Le Géant bei Hannover abstürzte, erbot er sich, eine allgemeine Subskription einzurichten. Tournachon lehnte das aus Stolz ab, darum setzte der Dichter stattdessen einen offenen Brief zum Lob der Aeronautik auf. Er schilderte, wie er mit dem Astronomen François Arago die Avenue de l’Observatoire in Paris entlangging, als ein vom Marsfeld gestarteter Ballon über ihren Köpfen dahinflog. Victor Hugo sagte zu seinem Gefährten: »Dort schwebt das Ei, das auf den Vogel wartet. Aber der Vogel ist in ihm und wird daraus hervorgehen.« Arago fasste Hugo bei den Händen und antwortete inbrünstig: »Und an dem Tag wird Geo den Namen Demos tragen!« Hugo pflichtete dieser »tiefgründigen Bemerkung« mit den Worten bei: »›Geo wird Demos werden.‹ Die ganze Welt wird eine Demokratie sein … Der Mensch wird zum Vogel werden – und zu welch einem Vogel! Einem denkenden Vogel. Einem Adler mit einer Seele!«
Das hört sich hochtrabend und schwülstig an. Und die Aeronautik hat nicht zur Demokratie geführt, es sei denn, man lässt Billigflieger gelten. Aber die Aeronautik hat die Sünde der Höhe gesühnt, die man auch die Sünde der Überhebung nennt. Wer hatte nun das Recht, von oben auf die Welt herabzublicken und über ihre Beschreibung zu gebieten? Es ist an der Zeit, Félix Tournachon schärfer in den Fokus nehmen.