Legend of the Five Rings: Fluch der Ehre - David Annandale - E-Book

Legend of the Five Rings: Fluch der Ehre E-Book

David Annandale

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Beschreibung

Wegen dem rücksichtslosem Streben nach Ehre wird ein Reich einer dämonischen Invasion preisgegeben. Ein epischer Fantasy-Roman um Krieg und Pflicht, angesiedelt in der außergewöhnlichen Welt von Legends of the Five Rings. Burg Morgenschein verteidigt die Berge zwischen dem Reich Rokugan und den von Dämonen heimgesuchten Schattenlanden. Als eine mythische Stadt entdeckt wird, sieht Hida Haru, der als schwere Enttäuschung seiner Familie gilt, die Chance gekommen, sich zu beweisen. Seine überstürzte Expedition endet in einer Katastrophe – nur ein Samurai kehrt lebend zurück, und Haru ist verschollen. Um einen Machtkampf zu verhindern, wird die kampferprobte Befehlshaberin von Morgenschein ausgesandt, um Haru zu retten. Sie vermag den übernatürlichen Schrecken zu trotzen, doch Haru ist … verändert. Mysteriöse Todesfälle und Missgeschicke plagen seine Familie auf einmal. Etwas Böses ist gekommen und es muss gestoppt werden, um jeden Preis.

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Fluch der Ehre

DAVID ANNANDALE

Ins Deutsche übertragen vonWibke Sawatzki

Die deutsche Ausgabe von LEGEND OF THE FIVE RINGS: FLUCH DER EHRE wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Wibke Sawatzki; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Nathan Elmer, Karte: Francesca Baerald

Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

LEGEND OF THE FIVE RINGS: CURSE OF HONOR

First published by Aconyte Books in 2020

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2021 Fantasy Flight Games. All rights reserved.

Descent: Journeys in the Dark and the FFG logo are trademarks of Asmodee Group or affiliates.

German translation copyright © 2021 Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-408-1 (Mai 2021)

E-Book ISBN: 978-3-96658-409-8 (Mai 2021)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für Margaux, immer und mit Freude

Inhalt

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Danksagungen

Kapitel Eins

Hinter den Gipfeln der Berge sah er den Winter bereits näher kommen und wusste, der heutige Tag würde sich in die lange Liste seiner Fehlschläge einreihen.

Hida no Kakeguchi Haru hatte seinen Blick noch einmal Richtung Norden gewandt, um den Fortschritt der Handelskarawane im Auge zu behalten. Der Pfad durch die Dämmerberge, den er gewählt hatte, war an dieser Stelle steil und der Wagenzug war nicht so dicht, wie er gehofft hatte, da die Pferde Schwierigkeiten hatten, die beladenen Karren aufwärtszuziehen. Zunächst war er lediglich etwas gereizt. Alles an dieser Reise hatte länger gedauert als geplant und mit jedem weiteren Tag rückte zu seiner Schande die Aussicht in weitere Ferne, die Burg der Morgenröte an dem Tag zu erreichen, für den er seine Rückkehr versprochen hatte.

Und dann sah er die Wolken. Schwer, bedrohlich silbern und grau schimmernd wälzten sie sich über die Berge. Haru hatte nie zuvor so deutlich gesehen, wie eine Jahreszeit in eine andere überging, wusste aber sofort, was hier geschah. Diese Wolken zogen eine Grenze zwischen Himmel und Erde. Wenn sie über seinen Kopf hinwegzogen, würden sie ihm das Licht und die Wärme der Sonne entziehen und weißer Ruin würde fallen. Der Nordwind pfiff bereits kälter und zerrte an den Säumen seiner Uniform. Haru fühlte, wie ihm die Kälte in den Nacken biss. Bald würde seine Haut taub werden.

Langsam schoben sich die Wolkenmassen voran wie der Bug eines Schiffes, das die Kälte mit sich brachte. Gestalt gewordene Unvermeidlichkeit. Die Vorboten seines Versagens.

Vor mehr als einer Woche hatte die Karawane die Sommerlande verlassen. Und sie hatten immer noch fast einen Tagesmarsch vor sich bis zur Burg der Morgenröte. Zumindest bei gutem Wetter. Und es war bereits die Stunde des Pferdes.

»Leutnant Haru, werden wir Morgenröte noch vor dem Unwetter erreichen?« Auch Chen, der Anführer der Händler, hatte die Wolken bemerkt. Der grauhaarige Mann saß auf seinem Wagen, hielt die Zügel fest umklammert und sah Haru mit diesem Ausdruck an, den der Kaufmann wohl für reserviert hielt, aus dem aber Angst und Hilflosigkeit sprachen. Haru verabscheute den Mann und wie immer kostete es ihn Mühe, seine Verachtung nicht zu zeigen. Allein der Klang von Chens Stimme, rau, als müsse er sich ständig räuspern, und mit einem Unterton, der nur eine Nuance von Jammern entfernt schien, war nervtötend.

»Wir werden sicher in Morgenröte ankommen«, sagte Haru. Es gefiel ihm nicht, mit jemandem von so niedrigem Stand zu sprechen. Sich mit Chen zu unterhalten bedeutete einen Abstieg und in Harus Leben hatte es bereits mehr als genug Abstiege gegeben. Aber den Kaufmann zu beruhigen war leider ein notwendiges Übel. Chen war nervös und wenn man dem Anführer der Karawane nicht sofort seine Sorge nahm, würde sie sich ausbreiten. Haru wollte jetzt nur, dass jeder sich darauf konzentrierte, so schnell wie möglich voranzukommen. »Es gibt keinen Grund, am erfolgreichen Ausgang unserer Reise zu zweifeln«, fügte er noch hinzu.

Chens Augen weiteten sich. Vermutlich wurde ihm gerade klar, dass er ihn, ohne es zu wollen, beleidigt hatte. »Ihr habt sicher recht, Leutnant Haru«, sagte er. »Bitte verzeiht meine unüberlegte Frage. Ich wollte damit nicht andeuten, dass ich an Euch zweifle.«

Haru bedachte den Kaufmann mit einem langen Blick und wandte sich dann ab. Er hatte sein Ziel erreicht. Chen hatte jetzt mehr Angst vor ihm als vor dem nahenden Winter. Zumindest für eine Weile. Damit war die Gefahr einer Panik eingedämmt.

Solange alle nach vorn blickten und sich nicht zu der Wolkenfront umdrehten.

Ishiko schloss zu ihm auf. Sie war die dienstälteste Wächterin in der Eskorte, die Haru anführte. Ihre Rüstung war nicht so makellos wie seine, sondern zeigte die Spuren des Weges, den sie hinter sich hatten. Seine eigene Rüstung glänzte, weil er sie jeden Morgen nach dem Aufstehen pflegte. Haru hatte fast ebenso viele Schlachten geschlagen wie Ishiko und doch trug sie, genau wie die anderen Bushi der Truppe, Fujiki, Hino und Eikei, ihre Rüstung mit einer Selbstverständlichkeit, die Haru abging. Das verstärkte nur seine Unsicherheit. Niemals war Ishiko aufsässig gewesen oder hatte seine Anweisungen infrage gestellt. Doch oft glaubte er, eine Wertung in ihrem scheinbar so ungerührten Blick zu lesen. Ob eingebildet oder echt, vermochte er nicht zu sagen.

»Also habt Ihr es gesehen?« Ishiko deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Wolken.

»Das habe ich«, bestätigte Haru.

»Die Schneefront wird uns einholen.«

»Ich weiß. Dann marschieren wir eben durch den Schnee nach Morgenröte.« Er war der Meinung, in seine Stimme die angemessene Menge unerschütterlicher Ruhe gelegt zu haben, und seine Nervosität schwand. Dass er zu spät kam, würde weniger schwer wiegen als die Tatsache, dass er auch die letzte Karawane heimgebracht hatte, nicht vor dem Wintereinbruch, sondern währenddessen. Er stellte sich vor, wie er ankam und welches Erfolgserlebnis das für ihn bedeuten würde. Das war gut. Er brauchte es, und nicht nur für sein Selbstwertgefühl. Es würde sein Ansehen bei seiner Mutter verbessern. Als Erbe von Daimyo Akemi musste er sich mehr anstrengen, um sich würdig zu erweisen. Vielleicht würde auch Barako ihn dann wohlwollender betrachten. Vielleicht.

Ehrlich gesagt war er nicht sicher, ob er das wirklich wollte.

»Wir nähern uns schwierigem Terrain«, sagte Ishiko. »Es während eines Schneesturms zu durchqueren wird mehr als schwierig werden.«

Haru überlegte, was vor ihnen lag, und musste ihr recht geben. Der Felskamm, zu dem sie unterwegs waren, war völlig ungeschützt den Elementen ausgesetzt. Die Hoffnung, in Ehre heimzukehren, zerrann ihm zwischen den Fingern. Er seufzte. »Diese Reise ist wirklich vom Pech verfolgt.« Durch den tagelangen heftigen Regen war die Karawane wieder und wieder in Erdrutsche und Steinschläge geraten. »Eine Springflut weniger und wir wären bereits in Morgenröte. Oder ein blockierter Pfad weniger.«

»Wir hatten allerdings mit einigen Hindernissen zu kämpfen«, bestätigte Ishiko.

Was soll das heißen? Stimmst du mir zu? Oder meinst du, ich hätte all diese Probleme voraussehen und mehr Zeit einplanen müssen? Hätte ich vielleicht eine andere Route nehmen sollen? Zu viele Möglichkeiten. Vielleicht trafen sie alle zu. Oder vielleicht meinte Ishiko nur genau das, was sie gesagt hatte, und den Rest flüsterten ihm seine Selbstzweifel ein. Er konnte sich ihnen kaum entziehen. Selbst in den besten Momenten waren sie schwer zu überhören.

Die Regenfälle waren nicht meine Schuld. Schneller hätten wir nicht sein können. Auch der Sturm ist nicht meine Schuld. Dieses Risiko trägt nun einmal die letzte Karawane. Das hätte jeden treffen können. Auch Ochiba.

Aber es hatte nun einmal nicht den befehlshabenden Offizier der Burg der Morgenröte getroffen. Es hatte ihn getroffen. Jetzt kommt es darauf an, wie ich darauf reagiere.

»Wir könnten hier Schutz suchen«, schlug Ishiko vor. Sie befanden sich auf einem breiten Pass. Die Felswand zu ihrer Rechten war nur wenige Hundert Meter entfernt und wies einige Vorsprünge auf. Dort wären sie vor dem Schnee geschützt, und zu einem guten Teil auch vor dem Wind.

»Nicht groß genug für die gesamte Karawane«, bemerkte Haru. »Wir müssten uns zu sehr aufteilen. Und ich möchte hier nicht feststecken.«

»Ihr glaubt, es fällt so viel Schnee, dass er den Pass blockiert?«

»Vielleicht nicht diesen, aber es erwarten uns viel engere Pässe auf dem Weg. Und wir können nicht wissen, wie lange der Schneesturm anhält.«

»In dem Fall haben wir ausreichend Vorräte, genug für viele Tage.«

Die Aussicht, aufgrund des Sturms für längere Zeit festzusitzen, war nicht gerade verlockend. »An Lebensmitteln schon«, antwortete Haru. »Aber wie lange hätten wir Brennmaterial, um uns zu wärmen?« Ein Schneesturm in dieser Höhe konnte auf so viele Arten tödlich sein. Die Kälte war eine davon. »Das werde ich nicht riskieren. Wir ziehen weiter.«

Mehr als diese Karawane vertraut meine Mutter mir nicht an. Sie hat mich zu einem Leibwächter von Kaufleuten gemacht und ist es ihr zu verübeln? Verdiene ich etwas Besseres? Wenn ich nicht einmal diese Aufgabe zu Ende bringen kann?

Was würde Barako denken, wenn sie uns hier sehen könnte? Der Gedanke an den anderen Leutnant der Burg der Morgenröte war viel zu schmerzhaft und Haru schob ihn beiseite. Ich werde nicht versagen. Ich darf es nicht.

»Wo wolltet Ihr das Nachtlager aufschlagen?«, fragte Ishiko.

Haru hatte ursprünglich vorgehabt, heute so lange wie möglich weiterzuziehen. Er hatte gehofft, Morgenröte zu erreichen, ohne eine weitere Nacht in den Bergen verbringen zu müssen. Dabei war ihm bewusst gewesen, dass das bedeuten könnte, auch nach Sonnenuntergang noch unterwegs zu sein. Allerdings hatte er gehofft, dass sie nicht lange im Dunkeln würden reisen müssen.

Hast du gehofft. Hast du ernsthaft gedacht, das würde klappen?

Ich habe überhaupt nicht nachgedacht. Nicht so, wie ich es hätte tun sollen. Das habe ich jetzt davon.

Wo schlagen wir das Nachtlager auf? Darauf wusste er keine gute Antwort. Er konnte nicht einmal einschätzen, wie lange sie noch weitergehen konnten, ehe der Schnee jegliches Fortkommen unmöglich machte. »Wir gehen weiter«, sagte er im vollen Bewusstsein, dass er sich wiederholte. Dabei sah er stur geradeaus, als hätte er ihr Ziel bereits im Blick. »Wir ziehen weiter, so lange wir können. Je weiter wir kommen, desto besser.« Sogar in seinen eigenen Ohren klangen die Worte hohl, egal wie entschlossen er sie aussprach. Sein Selbstvertrauen war nur Fassade.

Ishiko nickte nur stumm. Er hatte seine Anweisungen gegeben und das war’s.

Beinahe hätte Haru sie gefragt, was sie selbst ihm raten würde. Doch sein Stolz hielt ihn zurück.

Schweigend ritten sie weiter.

Als die Stunde der Ziege begann, erreichte die Karawane den Gipfel des Passes und zog weiter den Bergkamm entlang. Dieser beschrieb einen lang gestreckten Bogen, erhob sich erst sacht und führte dann wieder hinab, bevor er einige Meilen später in einen weiteren Pass mündete. Dieser Bergkamm war so breit, dass ihn bei gutem Wetter bequem drei Reiter nebeneinander passieren konnten. Haru ordnete an, einzeln zu reiten. Der Wind wurde immer stärker und zu beiden Seiten des Gipfels ging es steil hinab.

Die Wolken hingen bereits über ihnen und verbargen den Himmel hinter einem dunkelgrauen Schirm. Haru funkelte sie an und befahl ihnen stumm, an sich zu halten und den Wintereinbruch noch um einen Tag zu verschieben.

Zur Antwort schienen die Wolken ihn zu verspotten. Eine halbe Stunde nachdem das letzte Lastenpferd die relative Sicherheit des Passes verlassen hatte, fielen die ersten Schneeflocken.

Zunächst waren es nur wenige, scheinbar harmlos, winzig und federleicht, wie sie im Fallen auf dem Wind tanzten, als wollten sie nie zu Boden fallen. Einige landeten auf Harus Arm, verharrten dort ein wenig und schmolzen dann. Sie stellten keine Bedrohung dar, ja, man bemerkte sie kaum.

Nach und nach wurde das Wetter schlechter. Die Flocken wurden mehr und hartnäckiger und der Wind zog an. Die Windstöße wurden zu Böen. Haru musste sich anstrengen, um sich fest im Sattel zu halten, während es um ihn herum immer heftiger wehte. Der Schnee tanzte nicht länger im Wind, sondern legte sich auf Harus Rüstung. Auch wenn der Wind aus dem Norden kam und die Karawane deshalb gnädigerweise von hinten traf, gab es immer wieder einen Windstoß, der ihm den Schnee eiskalt und stechend ins Gesicht schleuderte. Die Flocken, die sich in seinen Wimpern verfingen, wischte er leise fluchend weg, um wieder klar sehen zu können.

»Es schneit«, sagte Chen.

»Kaufmann«, schnauzte Haru ihn an, »wenn Ihr nichts Besseres zu sagen wisst, als auf das Offensichtliche hinzuweisen, dann seid ruhig!«

Bei dieser Ermahnung zuckte Chen zusammen, duckte sich noch tiefer unter seinen Umhang und wirkte, als hoffe er, hinter Ishiko verschwinden zu können.

Der graue Felsen unter seinen Füßen färbte sich allmählich weiß. Als sie etwa die Mitte des Kamms erreicht hatten, war der Schnee tief genug, dass Pferde und Wagen Spuren hinterließen.

Haru warf einen Blick zu Ishiko. Sie konzentrierte sich auf die Straße und sah dann und wann nach hinten, um die Karawane im Blick zu behalten.

»Wir werden es schon schaffen«, versicherte er, obwohl sie nichts gesagt hatte.

»Wir schaffen es«, stimmte sie zu.

Im Moment, dachte Haru. Das meinst du doch, oder?

Der Wind wurde schneidender. Unaufhörlich wurden sie von den Böen gebeutelt. Haru drehte sich um und sah gerade noch, wie einer der Kaufleute, der ein Lastenpferd anführte, ausrutschte und hinfiel. Eikei, der ihm am nächsten war, ritt zu ihm hin und blieb bei ihm, bis der Mann wieder sicher auf den Füßen stand.

»Die schlechte Sicht wird schon bald zum Problem werden«, stellte Ishiko fest.

»Ich weiß.« Der Pass hinter ihnen war nur noch ein verschwommener Fleck, genauso wie die Gipfel, auf die sie zuritten. Rechts und links verschwand der Abhang im Nichts. Es würde fast eine Stunde dauern, bis die Karawane den nächsten Pass erreichte, und das auch nur, wenn der Schneefall nicht noch stärker wurde.

Falls er stärker werden sollte, sodass sie nicht mehr sehen konnten, wo sie hintraten, säßen sie hier ohne jeden Schutz fest.

»Wir sollten schneller werden«, sagte Haru.

»Ich glaube nicht, dass wir das können. Wir sind bereits sehr weit gezogen, ohne uns auszuruhen. Die Heimin, die zu Fuß unterwegs sind, könnten auch ohne Schnee kaum schneller laufen.«

Beinahe hätte Haru dennoch darauf bestanden, die Kaufleute zu mehr Eile anzutreiben. Wenn wir nicht schneller werden, wird es ihnen noch schlechter ergehen. Die Hoffnung, Morgenröte noch zu erreichen, wurde mit jedem Herzschlag geringer. Dieser Tag konnte nicht gut enden. Auf dem Felskamm festzusitzen war allerdings von allen schlechten Enden das denkbar schlechteste.

Und wessen Schuld ist das? Du hättest anhalten können, als Ishiko vorgeschlagen hat, einen Lagerplatz zu suchen.

Dafür ist es jetzt zu spät. Wir müssen weiter und wir müssen diese exponierte Stelle hinter uns lassen. Wir haben keine Wahl. Wenn wir es nicht schaffen, sind wir tot.

»Dann nicht schneller«, gab Haru schließlich nach, »aber auch nicht langsamer. Wir machen keine Pausen. Nicht, solange wir auf diesem Felskamm sind.«

Trotz dieser Worte trieb er sein Pferd an. Wenn er die Händler nur dazu bringen könnte, noch ein klein wenig schneller zu werden … Nicht so viel, dass es gefährlich wurde, nur genug, um möglichst bald den nächsten Pass zu erreichen. Chen würde sich Mühe geben, mit ihm Schritt zu halten, wenn er sah, wie Haru vorausritt, und die anderen Kaufleute würden folgen.

Und dann? Wenn wir den Pass erreichen, was dann?

Er wusste es nicht, also verdrängte er die Frage aus seinen Gedanken. Der Schnee zwang ihn, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Es kostete ihn all seine Aufmerksamkeit, damit er und alle, für die er verantwortlich war, auf dem Pfad blieben.

Das Licht ließ bereits nach. Das Unwetter zeigte sein wahres Gesicht und schlug seine Krallen in die Berge. Die Wolken hingen so tief, dass sie die Gipfel verhängten. Der Wind heulte und kreischte und der Schnee fiel so dicht, dass kaum eine Lücke auszumachen war. Der Pass schien sich weiter und weiter zu entfernen. Die Welt um Haru herum wurde kleiner und kleiner. Alles war grau, durchzogen von diesem unbarmherzigen Weiß. Dahinter lauerten vage Schatten, die kaum noch wirklich schienen. Noch konnte er sehen, wo er hintrat, auch wenn er die Augen gegen den Schnee zu Schlitzen verengen musste. Das Ende der Karawane jedoch konnte er nicht mehr ausmachen.

»Wir werden bald anhalten müssen«, sagte Ishiko, »sonst treten wir noch ins Leere.«

»Wenn wir hier Halt machen, sind wir tot«, widersprach Haru. Schneller. Noch ein wenig schneller. Wir müssten fast da sein.

Haru versuchte, den Pass zu erkennen, doch er lag hinter dem Vorhang aus Schnee verborgen. Und dann schrie jemand auf.

Er fuhr herum. Knapp fünfzig Meter hinter ihnen war ein Lastenpferd ausgerutscht und gefallen. Panisch wiehernd ruderte es mit den Beinen und rutschte bereits den Abhang hinunter. Der Händler, der es führte, hatte sich in der Führungsleine verfangen und war ebenfalls gefallen. Das Tier zog ihn mit sich auf den Abgrund zu.

Schon waren Eikei und Hino bei ihm, sprangen von ihren Pferden und eilten ihm zu Hilfe. Hino packte den Händler und zog, stemmte ihre Stiefel in den immer tiefer werdenden Schnee. Eikei griff nach der Leine, um das Bein des Mannes zu befreien.

Der Kamm war zu schmal, um an den Wagen vorbeizureiten, also sprangen Haru und Ishiko von ihren Tieren ab und liefen, so schnell sie konnten. Der Schnee war bereits so tief, dass sie nur langsam vorankamen. Haru achtete genau auf seine Schritte, während ihm schrecklich bewusst war, wie lange sie brauchen würden, um die Unfallstelle zu erreichen.

Das Pferd trat panisch aus. Ein Huf traf Eikei auf den Brustharnisch und brachte ihn zu Fall. Er und das Pferd rutschten weiter auf den Abhang zu und zogen den Händler mit sich. Hino konnte sie nicht mehr halten. Auch sie geriet ins Rutschen.

Kapitel Zwei

Haru verzog das Gesicht und sprintete vorwärts. Der Händler, Eikei und Hino würden jeden Moment den Abhang hinunterfallen. Haru erkannte, dass sein Versagen immer weitreichender wurde. Er hatte die Karawane nicht rechtzeitig nach Morgenröte gebracht. Er konnte die Burg nicht vor Wintereinbruch erreichen. Seine Schützlinge waren hilflos dem Unwetter ausgeliefert. Und nun auch noch weitere Bushi zu verlieren …

Nicht so. Nicht so. Nicht so.

Er eilte den Abhang hinunter, ohne auf die Gefahr für sein eigenes Leben zu achten. Eikei war bewusstlos. Das Pferd wieherte panisch. Hino schrie vor Schmerz auf, so viel Anstrengung kostete es sie, den Absturz aufzuhalten, aber sie hielt durch.

Haru zog sein Katana und sprang die letzten Meter. Mit einer Hand ergriff er Eikeis linken Arm am Leder seiner Ashigaru-Rüstung. Mit der anderen hieb er die Zügel durch.

Schreiend verschwand das Pferd hinter der Felskante. Eikeis Schwung zog sie beide vorwärts und Haru stemmte sich gegen den Abhang. Schnee sammelte sich zu seinen Füßen. In dem verzweifelten Versuch, sich abzusichern, stieß er seine Klinge in den Untergrund. Endlich kam er zum Stillstand.

Eikeis Beine baumelten bereits über dem Abgrund. Das Gewicht kugelte Haru fast den Arm aus. Er konnte sich nicht rühren. Wenn er es versuchte, würde er entweder den Halt um Eikeis Arm verlieren oder mit ihm in die Tiefe stürzen. Seine Finger verkrampften sich bereits.

Dann hasteten Ishiko und Hino zu ihm und ergriffen Eikei. Zusammen zogen sie ihn wieder hoch, trugen ihn an die Spitze der Karawane und legten ihn in Chens Wagen.

Der Wind blies sogar noch stärker. Von den Bergen und dem Pass war keine Spur mehr zu sehen. Von hier aus sah Haru auch nicht mehr das Ende der Karawane.

»Was soll nur aus uns werden?«, fragte Chen »Was machen wir nur? Was machen wir nur?« Vor Angst vergaß er offenbar jeden Respekt.

Gemurmel und Schluchzer erklangen im Wagen dahinter. Mehr konnte Haru durch den starken Wind nicht hören. Das musste er auch nicht. Die Stimmung in der Karawane war eindeutig.

Hino wandte sich ihm zu und wartete auf Anweisungen, bevor sie sich wieder an ihren Platz begab.

»Hört auf zu jammern!«, fuhr er Chen an. »Habt Ihr denn gar keine Ehre?«

»Es ist so kalt. Wir sehen nichts mehr.«

»Das ist Schnee. Es ist nur ein Schneesturm, nicht die Dunkelheit der Schattenlande.«

»Aber was sollen wir nur tun?«

»Was wir auch vorher getan haben: Wir ziehen weiter. Würdet Ihr lieber hierbleiben? Dann bleibt und sterbt, wenn Ihr mögt. So wäre ich Euch wenigstens los.«

Chen schüttelte den Kopf. »Bitte vergebt mir, Leutnant Haru.« Endlich erinnerte der Kaufmann sich an seinen Stand.

Haru ignorierte ihn und sagte an Hino gewandt: »Sagt Fujiki, dass wir weiterziehen.« Der letzte seiner Bushi bildete das Schlusslicht der Karawane. »Wir dürften höchstens eine Meile vom Pass entfernt sein.«

Die Karawane zog weiter. Obwohl der Pass hinter dem dichten Vorhang aus Schnee verborgen lag, konnte Haru auf dem Bergpfad noch einige Meter weit sehen. Der Weg vor ihm war frei, auch wenn es ein Weg ins Ungewisse war. Der Wind hämmerte ihm in den Rücken und trieb den Schnee gegen seine Rüstung. Dieser fiel jetzt beinahe horizontal und Windstöße ließen ihn im Kreis tanzen. Es dämmerte.

Die Karawane kroch nur noch dahin, weil die Pferde Schwierigkeiten hatten, die Karren durch den tiefen Schnee zu ziehen. Haru hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ein Augenblick war wie der andere, es gab nur noch sein Pferd, das durch das endlose Weiß stapfte, nichts war zu sehen als das gleiche schmale Stückchen vom Pfad. Das Weiß wurde dichter und dichter. Wind und Schnee waren eins und begruben Licht und Hoffnung unter sich. Der gleichmäßige Rhythmus ihrer Schritte war hypnotisch. Das Weiß, ein Weiß, das Dunkelheit mit sich brachte, schloss sie ein, wie eine Faust, wie ein Fluch, wie ein Hohn.

Ich bin der Winter, schien der Wind ihm entgegenzuheulen. Du und deine Träume, deinen Ruf wiederherzustellen, bedeuten gar nichts. Dir werde ich es zeigen. Ich bringe das Nichts, und in dieses Nichts werde ich dich werfen.

Die Kälte nagte an ihm wie ein Hund an einem Knochen. Sie drang durch die Nähte seiner Rüstung bis unter seine Haut. Sie ließ sein Blut gefrieren, nistete sich tief in ihm ein und würde niemals mehr weichen. Er kauerte sich zusammen und zog sich in sich zurück auf der Suche nach Wärme, die es nicht mehr gab.

»Wir müssen anhalten«, sagte Ishiko.

Haru blinzelte, als er aus seiner Trance gerissen wurde, und brachte sein Pferd zum Stehen. Das Knarren der Räder hinter ihm verstummte.

»Es ist zu gefährlich«, fügte Ishiko hinzu.

Haru war so in Gedanken versunken gewesen, dass er immer nur die nächsten paar Schritte Schnee vor seinen Füßen gesehen hatte. Dadurch hatte er gar nicht bemerkt, was jetzt sein ganzes Blickfeld ausfüllte. Er unterdrückte ein Schaudern. Ishiko hatte recht, es war gefährlich. Inzwischen war es allzu leicht, vom Weg abzukommen und den Abhang hinunterzustürzen. Warum war er weitergeritten? Was hatte er sich dabei gedacht?

Er saß ab und ließ den Blick über die weiße Fläche schweifen, suchte nach irgendwelchen Hinweisen auf die Landschaft, dem geringsten Umriss eines Berges. Er sah gar nichts. Die Welt hatte ihn verlassen. Um ihn herum war nur Leere. Der tiefe Abgrund wartete hungrig auf Haru und seine Schutzbefohlenen. Der Boden, auf dem sie standen, war plötzlich zu einer kleinen Insel geworden und ein falscher Schritt wäre fatal. Plötzlich kämpfte er gegen das Schwindelgefühl an, gegen die Anziehungskraft, die der Abgrund ausübte.

Bring sie zu mir. Stürz dich mit offenen Armen hinunter. Etwas anderes bleibt dir nicht.

Haru schüttelte den Kopf, um diese aus der Verzweiflung geborenen Flausen zu vertreiben. Ja, Ishiko hatte recht. Sie mussten anhalten. Aber sie durften nicht anhalten.

»Wir können hier nicht bleiben«, sagte er. »Das würde den sicheren Tod bedeuten.«

»Blind diesen Felskamm entlangzustolpern, ebenfalls.«

»Da hast du recht. Also müssen wir das Risiko begrenzen.« Er wusste jetzt, was er zu tun hatte, und eine seltsame Leichtigkeit ergriff ihn. Er schluckte das wahnsinnige Kichern hinunter und verdrängte das Gefühl der Erleichterung, dass die Karawane dem Tod so nah war. Denn nun wusste er, wie er alle retten konnte. Er hatte noch immer keine Ahnung, wie sie Morgenröte sicher erreichen sollten. Er wusste nicht einmal, ob sie den heutigen Tag überleben würden. Aber er sah einen Ausweg aus ihrer gegenwärtigen Situation.

Das reichte ihm. Es wäre ein Sieg und es würde beweisen, dass er anführen konnte. Es wäre ein Lichtschimmer in der Dunkelheit seines Versagens und es würde ihn wärmen.

»Holt Seile«, wies er Ishiko an. »Wenn Ihr nicht genug Seile findet, bindet Stoffbahnen zusammen. Alles, womit man die einzelnen Mitglieder der Karawane aneinanderbinden kann. Wir werden gemeinsam weiterziehen, ganz vorsichtig, ein Schritt nach dem anderen. Ich werde an der Spitze reiten. Wenn einer von uns danebentritt und fällt, werden die anderen ihn aufhalten.«

Und dann?

Diese Frage stellte Ishiko nicht. Sie hörte seine Anweisung und machte sich daran, sie umzusetzen.

Und dann?

Die Worte waren Harus ganz persönlicher Fluch. Er beeilte sich, seinen Plan in die Tat umzusetzen, und versuchte, der Frage davonzulaufen.

Mit ihren vor Kälte steifen Fingern dauerte es mehr als eine Stunde, alle Karren aneinanderzubinden. Niemand ritt jetzt mehr und die Händler befestigten ein Handgelenk an dem Pferd oder Wagen, neben dem sie liefen. Es würde funktionieren, dachte Haru. Gemeinsam war die Karawane stark. Eine einzelne Person konnte einen Fehler machen. Jetzt waren sie sicher und jeder war sich der Gefahr bewusst und würde aufpassen.

Als sie endlich bereit waren, wieder aufzubrechen, war die Kälte nahezu unerträglich. Wann immer er sein Gesicht in den Wind hielt, empfand Haru das Unwetter als einen scharfen Schmerz. Seine Haut war taub, schmerzte aber trotzdem. Der Schnee lag knietief und jeder Schritt wurde zu einem Kraftakt.

»Wir folgen Euch auf dem Fuße, Leutnant Haru«, sagte Ishiko.

Er brummte. Diesmal war er sicher, ihre unterschwellige Botschaft verstanden zu haben: Führe uns nicht über die Klippe. Er setzte sich in Bewegung. Führe sie. Führe sie gut. Sie folgen dir auf dem Fuße. Zeig ihnen, dass du ihr Vertrauen verdienst.

Es ging quälend langsam vorwärts. Haru bedachte jeden Schritt sorgfältig. Hinter ihm formte sich ein Trampelpfad, der besser und sicherer wurde, je mehr Leute darüberliefen und den Schnee festtraten. Für ihn jedoch gab es nur die weiße Leere, blendendes Weiß, stechendes Weiß, Weiß, das hypnotisierte und die Grenze zwischen Himmel und Erde verschwimmen ließ. Bevor er einen Schritt tat, wusste er nicht, ob er noch in die richtige Richtung ging. Ihm blieb nur die Hoffnung, und davon auch nicht besonders viel.

Dennoch stolperte er weiter. Ishiko nahm er nur noch als gelegentlichen Zug am Seil wahr, das er um die Hüfte gebunden hatte. Wenn er sich zu ihr umwandte, waren der Wind und der Schnee so beißend, dass er sie kaum erkennen konnte. Auch Chen war nur noch ein stolpernder Schemen. Der Rest der Karawane war ein Schatten vor einer weißen Wand.

Bald würde er befehlen müssen, die Fackeln zu entzünden. Hoffentlich erreichten sie den Pass, solange es noch hell genug war, ohne sie voranzukommen. Ohne einen Schutz vor dem Wind würde das Unwetter jede offene Flamme sofort auslöschen und er bezweifelte, dass sie genug Laternen dabeihatten, um der gesamten Karawane den Weg auszuleuchten.

Den Weg? Welchen Weg?

Langsam voran, der Taubheit und Kälte und Blindheit und dem Ende des Tages entgegen. Haru war allein auf dem Felskamm, allein, während der Wind pfiff und alles um ihn herum weiß war, weiß und noch mehr weiß. Und er war froh, allein zu sein. Er wollte allein sein. Je näher das letzte Versagen, der Tod, lauerte, desto mehr wünschte er, sich von der Karawane abzuschotten. Aber auch wenn seine Schutzbefohlenen nur mehr die Schemen von Geistern waren, konnte er spüren, wie sie ihn stumm verurteilten. Ishiko, Hino und Fujiki. Auch Chen und seine Leute, obwohl die kein Recht hatten, über ihn zu urteilen. Niemand hatte ein Wort gesagt und er konnte ihre Gesichter nicht sehen. Aber das machte nichts. Er konnte ihre Missbilligung spüren. Sie lastete schwer auf seinen Schultern, ließ ihn tiefer in den Schnee sinken, machte es ihm schwerer, die Beine zu heben und einen weiteren Schritt zu tun.

Bald würde der Tag enden. Die Dunkelheit würde kommen und sie würden gar nicht mehr weiterkönnen. Dann würde der Tod kommen und mit ihm verlöre er nicht nur den letzten Rest seines Rufs. Seine letzte Chance wäre vertan, der Krieger und Beistand zu sein, der er seiner Familie sein sollte. Bei seiner Ankunft im Meido hätte er nichts vorzuweisen als Schande. Seinen Rang als Leutnant hatte er nur der Tatsache zu verdanken, dass er der Erbe der Daimyo war. Seine Leistungen auf dem Schlachtfeld waren bestenfalls mittelmäßig gewesen, schlimmstenfalls eine Schande. In dieser Beziehung war er selbst sein strengster Kritiker. Niemand hatte ihn vor zehn Jahren für den Tod seines Vaters verantwortlich gemacht, als die Kakeguchi einen Angriff auf die Mauer zurückgeschlagen hatten. Aber er wusste, dass es so war. Seine Strategie war schwach gewesen, die Goblins weit in der Überzahl und sein Vater Genichi war ihm zu Hilfe geeilt, obwohl er selbst nicht ausreichend Männer gehabt hatte.

Nein, niemand hatte ihm die Schuld gegeben. Aber seitdem waren seine Streitkräfte nur noch in der Reserve eingesetzt worden oder als Unterstützung für Ochiba, die Anführerin der Wache der Burg der Morgenröte, oder um Leutnant Barako beizustehen. Es war, als hätte Akemi den beiden befohlen, für den Rest seines Lebens auf dem Schlachtfeld als seine Aufpasser zu dienen.

Und das Schlimmste daran war, dass er dafür dankbar war.

Das Licht wurde immer schwächer. Einmal, zweimal, ein drittes und schließlich ein viertes Mal trat er über den Abgrund, so langsam und vorsichtig er auch ging. Der Schnee gab unter seinen Füßen nach und er rutschte weg. Ishiko fing ihn auf und als auch sie einmal ins Rutschen geriet, gab das Gewicht von Chens Karren ihnen Halt. Haru war in der Lage, zurück in Sicherheit zu klettern. Auf diese Weise wurde die Weisheit seines Plans unter Beweis gestellt, aber seine Würde litt darunter.

Er hatte sich ein Tuch um den Helm gewickelt, aber es konnte auch nicht verhindern, dass sich an seinen Wimpern Eis bildete und ihm die Augen zuzufrieren drohten. Er musste sich ständig das Gesicht reiben, um das Eis zu brechen. Davon tränten ihm die Augen und das Ganze begann von vorn. Er war in einem ewigen Kreis von Wiederholungen derselben schmerzhaften, sinnlosen Prozedur gefangen. Vielleicht war er ja bereits gestorben. Vielleicht war das ja das, was ihn im Meido erwartete.

Der Klang des Windes änderte sich. Der Schnee vor ihm tanzte noch wilder. Er kniff die Augen zusammen, versuchte, durch das tosende Unwetter hindurch etwas zu erkennen. Und dann sah er es. Zu seiner Linken ragte eine Felswand auf. Und zu seiner Rechten ebenfalls.

Sie hatten den Bergpass erreicht.

»Wir sind da!« Er musste brüllen, damit Ishiko ihn hörte. Vor lauter Siegestaumel wollte er lachen. Er musste sich selbst daran erinnern, dass er noch nicht gewonnen hatte. Morgenröte war noch viele Meilen entfernt. Die Karawane war den Elementen nicht mehr so ausgesetzt wie auf dem Bergkamm, das war alles.

Dennoch grinste er vor Erleichterung. Er hatte den Sieg über eine gefährliche Situation errungen. Das reichte ihm.

Hörte er hinter sich dankbare Rufe? Oder ließ seine Vorstellungskraft ihn im Pfeifen des Windes nur hören, was er gern hören wollte? Er entschied, dass es Rufe waren. Er konnte nicht der Einzige sein, der sich an diese Illusion von Sicherheit klammerte.

Er lief jetzt schneller, kämpfte zunächst noch gegen den Zug des Seils an, bis allmählich die übrigen Samurai und Händler ebenfalls schneller wurden, da sie nicht mehr der unmittelbaren Gefahr ausgesetzt waren, von der Klippe zu fallen.

»Rechts halten«, rief er Ishiko zu. Der Pass lag in einer schmalen Felsspalte zwischen den Bergen. Der Grund des Passes war eine tiefe Schlucht, aber der Pfad lag auf einer weiten Hochebene, die sich im Westen aus den Bergen heraus erhob. Zu seiner Linken, das wusste Haru, obwohl er es nicht sehen konnte, ging es in die Schlucht hinab. Aber rechts war der Boden eben und ging dann in eine Felswand über. Diese würde sie sicher durch den Pass geleiten.

Und dann?

Es dauerte noch ein paar Minuten, bevor er über diese Frage erneut nachdenken musste, also verbannte er sie aus seinen Gedanken.

Hier im Pass blies der Wind noch stärker, als schreie er vor Wut über die Beute, die ihm auf dem offenen Felskamm entkommen war. Auch der Schnee war hier tiefer und sammelte sich bereits zu Verwehungen an den Felsen. Doch diese Beschwernisse schienen ein geringer Preis dafür, dass er die hohe schwarze Wand jetzt deutlich sehen konnte. Haru näherte sich ihr, bis er die Hand ausstrecken und den Granit berühren konnte. Immer noch sah er nur wenige Meter weit, aber vorerst war die größte Gefahr gebannt.

Dennoch beschloss er, die Seile erst einmal beizubehalten. Falls jemand zu weit hinter der Karawane zurückfiel oder vom Weg abkam, konnte er sich leicht verlaufen. Besonders, wenn noch mehr Schnee fiel.

»Wie lauten Eure Befehle, Leutnant Haru?«, fragte Ishiko.

Und dann? Sie zwang ihn, mehr als nur den nächsten Schritt zu planen. Das passte ihm nicht, aber sie hatte recht. Das hatte sie fast immer, zu seinem Glück.

»Vorwärts. Immer vorwärts.« Fürs Erste.

»Ich bin dankbar für Eure Führung«, sagte sie voller Respekt und ohne eine Spur von Ironie in der Stimme. »Es ist ein Glück für uns, dass Ihr bereits einen Plan habt, wie wir die exponierten Pfade meistern können, die noch vor uns liegen.«

Natürlich mussten sie noch weitere Felskämme überwinden. Das wusste er nur zu gut. Aber in seiner Sehnsucht nach einem Sieg, egal wie unbedeutend, hatte er seine Aufmerksamkeit nur auf den Moment gerichtet. Es war, als könne er über die Zukunft gar nicht mehr vernünftig nachdenken. Aber das musste er oder sie alle würden sterben. Es lag ein weiterer Felskamm zwischen diesem Ort und Morgenröte und dieser war sogar noch länger als der, den sie gerade hinter sich gelassen hatten. Ehe die Karawane ihn erreichte, wäre die Nacht endgültig hereingebrochen. Sie konnten ihn unmöglich überwinden.

Haru merkte, dass er immer noch davon träumte, die Burg ohne Zwischenhalt zu erreichen. Die Angst davor, was es bedeutete, Schutz für die Nacht zu suchen, hatte ihn dazu gebracht, die Möglichkeit nicht einmal in Betracht zu ziehen.

Denk nach. Das musst du oder du vernachlässigst deine Pflicht.

Ich weiß, ich weiß. Wir können nicht weiter. Das ist eine Tatsache.

»Wir suchen hier Schutz«, entschied Haru »warten auf morgen früh und hoffen, dass der Sturm bis dahin so weit nachgelassen hat, dass wir weitergehen können.« Und dass der Schnee dann nicht drei Meter hoch liegt und wir im Pass festsitzen.

Hier gab es keinen Unterschlupf. Die Felswand war glatt und ohne Höhlen oder Vorsprünge. Während er weiterging, zermarterte Haru sich das Hirn, was vor ihnen lag, und versuchte, sich an die genaue Form des Berges zu erinnern. Das musst du doch wissen. Du bist so oft durch diesen Pass gewandert. Aber seine Erinnerung gab keine Details preis, da es für ihn nie notwendig gewesen war, davon Notiz zu nehmen. Er konnte die Klippen genauso wenig vor seinem geistigen Auge sehen wie mit seinen tatsächlichen Augen.

Beinahe hätte er Ishiko gefragt, ob sie wusste, was vor ihnen lag, aber er bremste sich. Mit der Frage würde er zugeben, dass er nicht wusste, was er tat, und ihre Antwort würde ohnehin keinen Unterschied machen. Der Wind pfiff durch den Pass, als wolle er sich dafür rächen, dass die Karawane vom Bergkamm entkommen war. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Sie mussten weiter, bis sie Schutz fanden, oder sie starben.

Vorwärts durch immer tiefere Schneewehen. Vorwärts durch das immer schwächere Licht, dem Tod immer näher. Haru versuchte, schneller zu gehen, aber die Karren blieben im Schnee stecken. Alle waren erschöpft und froren. Haru konnte kaum noch die Beine heben. Der Wind trug das Stöhnen und Wimmern der Händler zu ihm, den Chor seines Versagens.

Eine tiefere Note begleitete den Refrain, ein tiefes, langes, scharfes Knacken. Dann ein Grollen, ein Donner, der nicht vorüberging, sondern immer lauter wurde.

»Lawine!«, schrie Haru. »Schnell!«

Die Kaufleute nahmen den Schrei auf und wiederholten ihn entlang der Karawane.

Er konnte unmöglich sagen, aus welcher Richtung die Lawine kam. Im Pass warf der Berg alle Geräusche hin und her, bis alle Richtungen bedeutungslos schienen. Der Donner grollte von überallher. Wenn der Schnee über die Karawane hereinbrach, waren sie alle verloren.

Haru schob sich durch den Schnee vorwärts und betete, dass er in drei Metern, oder den nächsten drei Metern oder den nächsten drei Metern, irgendeine Art von Schutz fand. Ein Felsvorsprung würde ihm reichen. Alles, was nicht nur senkrechte Felsenwand war.

Das Grollen der Lawine wuchs zu einem Furcht einflößenden Donnern. Die Berge brüllten vor Wut und schrien sein Versagen geradezu hinaus. Es gab keinen Schutz. Keine Hoffnung.

Dann schwoll der Donner ab. Der Wind heulte erneut auf, pfiff schneidend durch den Pass und wirbelte den Schnee auf. Wo die Lawine abging, konnte Haru nicht erkennen. Hauptsache, nicht hier.

Er drängte darauf, weiterzugehen. Der Karawane war noch etwas Zeit geschenkt worden. Er hatte eine neue Chance darauf, seine Schutzbefohlenen zu retten. Noch einmal stolperte er einige Meter und noch einmal. Die Felswand ragte unverändert steil und ohne Vorsprünge vor ihm auf, aber er konnte so wenig davon erkennen, dass er immer die Hoffnung hatte, wenn er nur ein klein wenig weiter ging, einen Unterschlupf zu finden.

Da. Da! War da nicht ein Unterschied? Wich der Felsen zurück? War dieser dunkle Schatten eine Felsspalte?

Nur für einen kurzen Moment riss der Schleier und er konnte fast hundert Meter weit sehen, bevor der Schnee wieder alles vor ihm verbarg. Es könnte auch eine Sinnestäuschung gewesen sein.

Aber vielleicht auch nicht.

Haru kämpfte sich weiter durch den metertiefen Schnee. Dort war ein Unterschlupf. Es musste einfach einer sein. Er versuchte, ihn mit reiner Willenskraft heraufzubeschwören.

Wieder erklang der krachende Donner, gefolgt von diesem Brüllen, wie der Schrei eines schrecklichen Tieres. Der Lärm des Echos übertönte sogar den Gesang des Windes.

Diesmal brauchte Haru die Lawine nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie kein Erbarmen mit ihnen haben würde. »Ich sehe einen Unterschlupf!«, rief er. Es spielte keine Rolle, ob das der Wahrheit entsprach. Falls er recht hatte, gab es ihnen allen Hoffnung. Falls nicht, würde niemand überleben, um ihn für seine Lüge zur Rechenschaft zu ziehen.

Es brüllte und brüllte, lauter, immer lauter. Der weiße Tod brauste heran.

Er rannte und zerrte am Seil, als könne er die gesamte Karawane hinter sich herziehen. Seine Lungen waren wie aus Stein. Atmen allein war so schmerzhaft, dass er unmöglich sprechen konnte. Der Schmerz von Angst und Hoffnung saß sogar noch tiefer. Er spürte einen Ruck, als auch Ishiko rannte. Es war nicht nötig, ihr eine Warnung zuzurufen. Die ganze Karawane hatte begriffen, dass das Schicksal sich gegen sie gewandt hatte. Die Kaufleute und ihre Pferde waren vermutlich in Panik. Sie konnten nirgendwo hinlaufen außer in seinen Traum von einem Unterschlupf, einem Traum, der sich aufgelöst hatte, sobald er ihn gesehen hatte.

Sie konnten nirgendwo hinlaufen, aber laufen war alles, was sie jetzt noch tun konnten.

Haru lief. Er rannte durch die weiße Dunkelheit, bis das Brüllen auf sie alle niedersank.

Kapitel Drei

Die Schreie der Händler erfüllten die bedrückende Dunkelheit. Die Wehklagen erklangen dicht neben ihm, aber es war so finster, dass Haru die Kaufleute nicht sehen konnte. Er musste für sie ebenso unsichtbar sein. Einige Augenblicke lang konnte er sich in Vergessen hüllen und nicht daran denken, wie grandios er gescheitert war und wie hoch der Preis sein musste. Einige Augenblicke lang, auch wenn er es sich nicht gern eingestand, konnte er sich in der Illusion ausruhen, nicht verantwortlich zu sein. In dieser Leere brauchte er nichts mehr zu tun.

»Ich bin hier, Leutnant Haru«, sagte Ishiko.

Sein Name war gefallen. Die Illusion war vorbei. Er wurde aufgefordert, seine Pflichten wieder aufzunehmen.

»Und ich bin hier«, meldete Hino. »Eikei ist bei mir.«

Von Fujiki hörte er nichts.

»Licht«, befahl Haru.

Nach einiger Fummelei gelang es Chen, seine Laterne zu entzünden. Ihrem Lichtschein folgten weitere, als auch andere der überlebenden Händler ihre Laternen fanden, und man erkannte allmählich, wo sie sich befanden.

Die Karawane stand in einer tiefen Höhle. Der Eingang, von der Lawine vollständig blockiert, hatte einen Durchmesser von etwa fünf Metern. Dahinter stieg die Decke an, während die Höhle sich immer tiefer in den Felsen grub, bis sie ein hoher Spalt war, wie von einer gewaltigen Axt gehauen. Nach etwa fünfzehn Metern wurde der Durchgang wieder schmaler, bis er nur noch eine etwa eineinhalb Meter breite Kluft war, die im Herzen des Berges verschwand.

Haru atmete tief ein und begann dann, gemeinsam mit seinen Bushi eine Inventur vorzunehmen und die Verluste zu zählen.

»Etwas mehr als die Hälfte der Karawane ist geblieben«, fasste Ishiko zusammen, als sie fertig waren.

Er nickte. Der Rest der Karawane war weg, genau wie Fujiki. Niemand sagte, dass sie Glück gehabt hatten, nicht mehr verloren zu haben. Die Schande des Verlusts war zu groß.

Haru ergriff eine Laterne und ging an den Kaufleuten vorbei zum Eingang. Dort erwartete ihn eine solide Wand aus Schnee.

»So schnell werden wir hier nicht wieder herauskommen«, sagte Ishiko.

»Das brauchen wir auch nicht«, antwortete Haru. »Hier drinnen sind wir sicher vor dem Unwetter. Wir haben genug zu essen und Wasser können wir einfach schmelzen.« Sie könnten fast unbegrenzt in dieser Höhle überleben. »Und wir graben uns nach draußen, so lange es auch dauert. Wenn der Sturm vorbei ist, ziehen wir weiter. Falls nicht, warten wir ab. Teile die Arbeiter in Schichten ein. Jede gräbt eine Stunde. Das wird sie ablenken.« Er wandte sich den Händlern zu. »Wir sind in Sicherheit«, wiederholte er, lauter diesmal. »Die Gefahr ist vorbei. Wir werden uns einen Weg bahnen, damit wir bereit sind, sobald wir unsere Reise fortsetzen können.« Er wählte seine Worte mit Bedacht und stellte den Schnee als einen hilfreichen Schutz dar, nicht als eine undurchdringliche Mauer, die sie hier drinnen festsetzte.

Haru und seine Bushi führten die Grabungsteams an. Er wollte mit diesem Eifer ein Zeichen setzen und mit seiner ruhigen Entschlossenheit noch einmal betonen, dass sie nichts zu befürchten hatten.

Das zumindest redete er sich selbst ein.

Und es funktionierte. Die Entscheidung war richtig gewesen. Haru übernahm die erste Schicht und nutzte einen der Spaten aus den Vorräten der Karawane. Er selbst zerstörte mit den ersten Spatenstichen die Makellosigkeit des Schnees. Die unversehrte weiße Mauer war ein zu bedrückender Anblick gewesen. Zu endgültig. Indem er auf diese Wand einstach, verwandelte er sie zurück in Schnee. Vor ihnen lag eine lange, harte Aufgabe, aber sie schien nicht mehr unmöglich. Die Kaufleute in seiner Schicht bearbeiteten die Wand mit Feuereifer.

Das Gejammer, das in der Dunkelheit zunächst erklungen war, verstummte. Die Händler beklagten nicht mehr ihre Verluste. Sie waren dankbar, unter den Überlebenden zu sein. Und sie dankten ihrem Retter.

»Leutnant Haru«, sagte Chen, während er den Schnee hinter sich schaufelte, »wir stehen für immer in Eurer Schuld. Eure Voraussicht hat uns gerettet.«

Haru brummte und arbeitete weiter. Dabei musste er die Zähne zusammenbeißen, um den Händler für seine Schmeicheleien nicht zusammenzustauchen. Ich verdiene euren Dank nicht.

»Leutnant Haru …«, begann Chen erneut.

Sei endlich still! »Spart Euren Atem für die Arbeit«, sagte Haru kühl, aber er verlor nicht die Fassung.

Chens Dankesworte trafen ihn. Sie durchdrangen den Panzer, den Haru durch die harte Arbeit um seine Gedanken aufbauen wollte.

Voraussicht. Welch bittere Ironie. Wäre Chen nicht solch eine rückgratlose Kreatur, hätte Haru ihn im Verdacht gehabt, ihn verspotten zu wollen. Wie angenehm wäre es gewesen, wie schön, sagen zu können, dass er von dieser Höhle gewusst hatte, dass sie von Anfang an sein Ziel gewesen war. Stattdessen hatte er es nur dem Glück, oder dem Schicksal, zu verdanken. Beides beschämte ihn. Er konnte nicht sagen, mit welchem er sich unwohler fühlte.

Chen schwieg jetzt, aber es war zu spät. Haru bearbeitete den Schnee, als sei er seine Wirklichkeit gewordenen Schuldgefühle. Vor Anstrengung schwitzte er. Seine Muskeln schmerzten, als er sich selbst zu bestrafen versuchte, indem er seinen Spaten jedes Mal so voll lud, dass er ihn gerade noch heben konnte. Seine Gedanken brachte das nicht zur Ruhe.

Immer wieder sah er Barakos Gesicht vor sich. Sie sah ihn nicht so an, wie er es sich so oft gewünscht hatte, voller Zärtlichkeit. Stattdessen sah er nur Verachtung in ihren Augen. In Wirklichkeit hatte er auch das noch nie erlebt. Nie hatte in ihrem Blick etwas anderes als respektvolle Gleichgültigkeit gelegen.

Haru machte sich nichts vor, was ihn und Barako anging. Er würde, wenn es so weit war, die Frau heiraten, die seine Mutter für ihn auswählte, aus politischen Gründen und um ihr Geschlecht zu erhalten. Barako war Kriegerin, keine Hofdame. Sie diente unter Ochiba, der Kommandantin der Wache der Burg der Morgenröte.

Doch die Tatsache, dass eine Heirat mit Barako keinen politischen Vorteil brächte, war nur ein Hindernis. Ein weiteres war Harus Inkompetenz. Seine Leistungen auf dem Schlachtfeld waren ihrer einfach nicht wert. Nichts, was er bisher getan hatte, hatte ihm ihren Respekt eingebracht, und schon gar nicht ihre Bewunderung. Dieser neutrale, gleichgültige Blick schmerzte. Er hätte ganze Berge versetzt, damit sie ihm gegenüber einmal eine andere Emotion zeigte.

Na, das habe ich ja jetzt geschafft. Ich habe einen Berg über uns hereinbrechen lassen.

Nein, was Barako anging, gab er sich keinerlei Illusionen hin. Aber er konnte träumen. An diese Träume hatte er gedacht, als er die Karawane aus ihrer relativen Sicherheit hinaus auf den offenen Felskamm getrieben hatte. Und er stellte sich jetzt ihren Blick vor, wenn er Morgenröte endlich erreichte, mit bestenfalls einer halben Karawane. Die Verachtung, die darin liegen würde, war ein weiterer Traum, ein Albtraum. Er war auch nicht realer als die Zärtlichkeit, die er sich gewöhnlich vorstellte. Barako war ein Musterbild an Ehre. Sie würde ihn ebenso wenig ihre Enttäuschung spüren lassen wie irgendwelche verbotenen Leidenschaften.

Das heißt nichts. Sie kann nichts zeigen, was sie nicht empfindet.

Haru schaufelte noch schneller. Sei endlich still!, rief er stumm, diesmal an sich selbst gerichtet, nicht gegen Chen. Vergiss es einfach. Es spielt keine Rolle. Es wird nie eine Rolle spielen. Deine Träume waren albern. Und nun sind sie endgültig ausgeträumt. Versuch, so viele wie möglich nach Hause zu bringen. Nur das zählt noch.

Haru stürzte sich in die Arbeit. Gern hätte er sich der totalen Erschöpfung hingegeben. Je mehr die Gedanken an Barako und an seine Schmach ihn heimsuchten, desto entschlossener arbeitete er, um sie loszuwerden. Er grub in einem erbarmungslosen Rhythmus, bis sich die Höhle wie ein Heizofen anfühlte. Die Kälte des Winters war in weite Ferne gerückt. Nur gelegentlich spürte er sie noch im Nacken, ein winziger kalter Fleck. Er zerrte an seiner Wahrnehmung. Die Kälte, die durch den Schweiß drang, ließ seine Haut prickeln.

Kurz bevor seine Schicht endete und als Barako, trotz all seiner Bemühungen, noch einmal vor seinem inneren Auge stand, hörte er das Flüstern. Nah und fern, ein Hauch an seinem Ohr und ein Echo in den Sternen. Sobald er aufhörte, sich zu bewegen, verschwand auch das Flüstern.

Das war ihre Stimme.

Nein, war es nicht. Du hast es nicht richtig gehört. Du hast ja nicht einmal verstanden, was gesagt wurde. Du musst dich verhört haben.

Als seine Schicht vorüber war, zog Haru sich weiter in die Höhle zurück, weg von den Kaufleuten und anderen Bushi. Mit etwas Abstand zum Arbeitslärm begann er seine Wache und lauschte auf das Flüstern.

Er hörte es nicht noch einmal. Aber er entdeckte, warum sich sein Nacken kalt angefühlt hatte. Ein Luftzug wehte aus den Tiefen der Höhle, nur gelegentlich und so sacht, dass er ihn gar nicht bemerkt hätte, wenn die Luft nicht so eisig gewesen wäre. Der Luftzug kam in größeren Abständen, wie ein langsamer Seufzer des Berges.

Während Haru in die Dunkelheit der Höhle blickte, fragte er sich, wie weit der schmale Felsspalt an ihrem Ende reichen mochte.

Ishiko hatte das Kommando über diese Grabungsschicht inne. Haru beobachtete sie, wartete dabei darauf, dass ihn der nächste kalte Luftzug streifte, und lauschte immer noch auf das Flüstern. Allmählich verlor er sein Zeitgefühl. Plötzlich zuckte Ishiko zusammen, sah sich erschrocken um und grub dann weiter.

Haru hatte nichts gehört. Er warf einen Blick auf die anderen Bushi. Eikei war nach wie vor bewusstlos und zu schwer verletzt, um von Nutzen zu sein. Hino schlief, um Kräfte zu sammeln, bevor sie mit Schaufeln und Wachehalten dran war. Haru wartete, bis die Sanduhr, die er von einem der Wagen genommen hatte, das Ende seiner Schicht anzeigte. Nach seiner Schätzung war es die Stunde des Ochsen.

Ishiko weckte Hino und kam dann zu Haru, um ihn bei der Wache abzulösen.

»Was habt Ihr eben gehört?«, fragte Haru.

Ishiko zögerte. Aber er hatte ihr gar nicht erst die Möglichkeit gelassen, zu behaupten, dass sie nichts gehört hätte. »Ich dachte, ein Flüstern gehört zu haben«, sagte sie schließlich.

»Und was wurde geflüstert?«

»Keine Ahnung. Ich muss mich geirrt haben.«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Haru.

Sie nickte, um ihm zu zeigen, dass die Botschaft angekommen war.

Erneut spürte er den Atem des Berges in seinem Nacken. »Was haltet Ihr von diesem Luftzug?«, fragte er.

»Ich bin nicht sicher. Vielleicht kommt er von einem anderen Eingang?«

»Genau das dachte ich auch.« In Gedanken versuchte Haru, das Wispern von dem Luftzug zu trennen. Es gab andere Erklärungen, aber weder er noch Ishiko wollten sie aussprechen. Noch nicht. »Wir sollten untersuchen, wie weit diese Höhle reicht«, fügte er hinzu. »Und wo sie hinführt.«

Ishiko nickte.

Kurz sagten sie Hino Bescheid. Dann nahm Ishiko eine der Laternen und sie begaben sich tiefer in die Dunkelheit hinein. Die Höhle schrumpfte hier zu einem Tunnel zusammen. Eine Decke konnten sie nicht erkennen. Ishiko hielt die Laterne hoch. Über ihnen schloss sich der Felsspalt nicht. Er schien bis zum Gipfel des Berges zu reichen.

Schon bald war die Passage gerade einmal anderthalb Meter breit. Gelegentlich bog sie um scharfe Kurven, wurde dann aber wieder gerade und sie gelangten Richtung Westen immer tiefer ins Innere des Berges. Die Geräusche der Grabungsarbeiten drangen schon bald nur noch gedämpft zu ihnen. Kurz darauf waren sie vollends verstummt. Haru und Ishiko waren allein, zwei Ameisen, die durch einen Haarriss im Gestein krabbelten.

In unregelmäßigen Abständen traf sie der kalte Luftzug.

»Ist er hier stärker?«, fragte Haru.

»Mir kommt es so vor«, erwiderte Ishiko.

Die ganze Zeit lauschte Haru auf das Flüstern. Er wollte es noch einmal hören, es begreifen. Gleichzeitig hoffte er, es nicht mehr zu hören, damit er es als Illusion abtun konnte, die Ishiko und er irgendwie zu unterschiedlichen Zeitpunkten geteilt hatten.

Die Luft im Inneren des Berges war still und bedrückend, als würde etwas darin lauern.

Nach etwa einer halben Stunde begann Haru, sich zu sorgen, dass der Tunnel so beständig westwärts führte. Außerdem ging es bergab, schon seit Ishiko und er die Karawane verlassen hatten, und inzwischen war die Neigung steiler geworden.

Offenbar dachte Ishiko ähnlich. »Wenn wir so weitergehen …«