Lehrbuch Familiengeschichte - Rolf-Ulrich Kunze - E-Book

Lehrbuch Familiengeschichte E-Book

Rolf-Ulrich Kunze

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Beschreibung

The history of the family is a well-researched cross-sectional field in social history and the history of mentalities. However, that is true only for the early modern period and modern history from 1789 to 1914, but not the twentieth century. Contemporary history of the family has so far been a field for family sociology, educational studies, and psychology. In this textbook, it is treated as a resource that needs to be developed through a dialogue between academic history and laypersons who are interested in family history. The book starts with a theoretical section concerned with the motivation that lies behind an interest in the family inside and outside of academic research, tracing leading perspectives and major lines in the development of the family, from nuclear family to patchwork family. The practical section of the volume deals with specific source problems in project work on family history.

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Der Autor

Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze, geb. 1968 in Osnabrück, lehrt Neuere und neueste Geschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

Studium in Frankfurt am Main und Würzburg, 1989–94; Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes; Promotion zum Dr. phil. 1995 in Würzburg, Habilitation für Neuere und Neueste Geschichte 1999 in Mainz; 1996–2000 Wiss. Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Mainz; 1998 Tätigkeit im Planungsstab des Bundespräsidenten im Bundespräsidialamt; 2000/01 Wiss. Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main; 2001 Vertretung des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Karlsruhe (TH); 2001/02 Heisenberg-Stipendiat der DFG; 2004–2011 DFG-Projekt zur evang. kirchl. Zeitgeschichte. 2010 Lehrpreis der KIT-Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften.

Monographien zu den Themen Protestantismusgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Nationalismusgeschichte, Geschichte der material culture und der Globalgeschichte.

Rolf-Ulrich Kunze

Lehrbuch Familiengeschichte

Eine Ressource der Zeitgeschichte

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Titelbild: catscandotcom/iStock

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033929-3

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033930-9

epub:   ISBN 978-3-17-033931-6

mobi:   ISBN 978-3-17-033932-3

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort

Dank

A Theorieteil

1 Einleitung: Warum Familiengeschichte?

1.1 Das Problem der verschiedenen Zugänge und Erkenntnisinteressen: Thesen

1.1.1 Positionalität

1.1.2. Familiengeschichte oder Geschichte der Familie?

1.1.3. Familiengeschichte außerhalb der Wissenschaft

1.1.4. Begriff von Zeitgeschichte

1.1.5. Grenzen der Interpretation von Familie

1.2 Aufbau des Bandes und seine Zielgruppen

2 Erkenntnisleitende Perspektiven einer Familiengeschichte im 20. Jahrhundert

2.1 Methoden

2.1.1. Familiengeschichte in verschiedenen methodischen Blickrichtungen

2.1.2. Anfänge und lange Dauer in der Familiengeschichte

2.1.3. Die Bedeutung der Subjektivität

2.1.4. Fakt & Fiktion

2.2 Warum sollte Familiengeschichte zur Ressource der Zeitgeschichte werden?

3 Familie im 20. Jahrhundert: Vom golden age of marriage zum ausgehandelten Patchwork

3.1 Vielfalt und Kontinuität Vielfalt der Familie

3.2 Soziologische Strukturmerkmale. Fragen und Quellenbeispiele

3.3 Aushandlungsrealitäten. Fragen und Quellenbeispiele

4 Ausgewählte Forschungspositionen mit familiengeschichtlichem Bezug

4.1 Historische Familienforschung

4.2 Geschichte der Familie im 20. Jahrhundert

4.2.1. Reinhard Sieder

4.2.2. Andreas Gestrich

4.3 Lebenslaufforschung: Tamara K. Hareven

4.4 Familiensoziologie

4.5 Familie im pädagogischen Denken an einem Beispiel der 1960er Jahre

B Praxisteil

1 Ausgewählte Probleme praktischer familiengeschichtlicher Arbeit

1.1 Um welche Geschichte geht es? Genre-Narrative

1.2 Familiengeschichte schreiben: Warum und wie?

1.3 Quellen: Typische Probleme familiengeschichtlicher Überlieferung

1.3.1. Briefe

1.3.2. Fotos

1.3.3. Oral History

1.3.4. Artefakte

2 Die systemische Perspektive auf Familiengeschichte

3 Ausblick: Themenbeispiele für Familiengeschichte als Ressource der Zeitgeschichte

3.1 Die fränkische Familie Heckel als Beispiel bürgerlich-lutherischer Kontinuität

3.2 Trennung und Scheidung in Familiengeschichten

3.3 Deutsch-deutsche Familienzusammenhänge

3.4 Familien und Konfessionalität

3.5 Weitere Themen der Familiengeschichte insbesondere der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

3.5.1. Familienurlaub

3.5.2. Weitergabe von Spielzeug von Generation zu Generation

3.5.3. Forschungsdesiderate

4 Anhänge

4.1 Jede Biographie ist einmalig: Die Initiative zur Aufbewahrung von familiengeschichtlichen Dokumenten an der Evangelischen Christuskirche Karlsruhe

4.2 Familiengeschichte aus der Ich-Perspektive: Ein Projekt der eigenen Familiengeschichte

5 Anmerkungen

6 Quellen- und Literaturverzeichnis

6.1 Websites

6.2 Quellen und Literatur

6.3 Abbildungsverzeichnis

6.4 Fernsehfilm

7 Register

7.1 Begriffsregister

7.2 Personenregister

 

Vorwort

 

 

In einer großen evangelischen Kirchengemeinde werden wir besonders bei Trauerfeiern, Geburtstagsbesuchen und Ehejubiläen mit der Geschichte von Familien vertraut gemacht.

Sie werden uns in schriftlicher oder mündlicher Form anvertraut, in handgeschriebenen Lebensläufen, durch Bilder oder ganze Alben. Diese Familien-Geschichte spielt durch Generationen in bestimmten geschichtlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen und Entwicklungen eine besondere Rolle.

Im Jahr 2017 habe ich eine Reihe von Familien bei Trauerfeiern begleitet. Dabei wurde ich in Gedanken und Erinnerungen an Geburtsorte der Verstorbenen in Polen, Tschechien, Rumänien oder der Ukraine geführt. Es wird deutlich, wie sehr der Nationalsozialismus und der von Deutschland ausgehende Krieg die Biografien der heute 80Jährigen und Älteren geprägt hat – was bei den nachfolgenden Generationen nachwirkt.

Die Lebensleistung der in den 20er Jahren geborenen, oft durch den Krieg jung verwitweten Frauen und Mütter wurde in den Erinnerungen ihrer Kinder und Enkelkinder deutlich.

Aber auch Geschichten der Frauenemanzipation anhand von Frauen, wie eine der ersten Oberärztinnen an einem Karlsruher Krankenhaus, die den ärztlichen Notfalldienst miterrichtete, oder eine durch die Politik Willy Brandts bewegte sozialdemokratische Ortschafts-Rätin, die erste Frau in diesem Gremium, noch dazu aus Ostdeutschland stammend, in einer ansonsten christdemokratisch geprägten Gegend.

Die Auseinandersetzungen zwischen den Generationen in den 68er Jahren des letzten Jahrhunderts spiegelt sich in Geschichten von Entfremdung, manchmal Trennung und auch Versöhnung zwischen den Generationen wider – oder bleibender Ratlosigkeit.

Im Jahr 2017 haben wir uns von Persönlichkeiten verabschieden müssen, die unsere Stadt und Region zwischen den 1960er und 1970er Jahren engagiert mitgeprägt haben als Naturschützer, als Männer und Frauen, die sich gegen den Abriss historischer Straßenzüge wehrten oder sich für eine fußgänger-und fahrradfreundliche Stadt einsetzten – die Auseinandersetzungen haben sie und ihre Nachbarschaften nachhaltig geprägt.

Eine der Gründerpersönlichkeiten einer Nachkriegssiedlung für Flüchtlinge und Vertriebene in der Stadt starb – und die erste aus dem Mittleren Osten stammende Flüchtlingsfamilie zog ein und unterzeichnete den Genossenschaftsvertrag. Weltgeschichte und Nachbarschaftsgeschichte verbinden sich.

Konfessionsverbindende Ehen, die vor 60 Jahren fast undenkbar waren, werden ›alt‹ und bei Ehejubiläen kommen die konfessionellen Querelen oder eben auch Brücken zur Sprache.

Ich habe eine der Frauen bestattet, die als eine der ersten in ihrem Stadtviertel einen katholischen ›Gastarbeiter‹ aus Süditalien geheiratet hat, eine schöne Geschichte der Überwindung von Vorurteilen in Familien und der familiengeschichtlichen Sicht auf das zusammenwachsende Europa.

Wir feiern ab und an diamantene Hochzeiten – und daneben Taufen oder Konfirmationen in vielfältigen, durch mehrere Trennungen der Eltern entstandene Patchwork-Konstellationen, die der Bibel ja auch nicht fremd sind.

Bereichernd ist es, wenn Frauen oder Männer die Geschichte ihrer Familie aufschreiben oder Kinder- und Enkelkinder sie aufzeichnen, erschreckend manchmal, wie wenig Hinterbliebene von der Familie des Mutters oder Vaters wissen können oder wollen.

Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze hat uns, ›seiner Gemeinde‹ an der Christuskirche, bei verschiedenen Veranstaltungen und Begegnungen Einblicke in seine Forschung und die Entstehung des Lehrbuchs Familiengeschichte gegeben – nun freuen wir uns darauf, es anwenden zu können –, damit wir durch die Generationen verbunden bleiben in der aufmerksamen, kritischen und liebevollen Erkenntnis, in der Gemeinschaft derer, die zu Jesus Christus gehören. Das gilt für alle Generationen (Epheser 3, 20.21).

Karlsruhe, im Dezember 2017,

Susanne Labsch, Pfarrerin an der Christuskirche in Karlsruhe

 

Dank

 

 

Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich den Pfarrerinnen meiner Evangelischen Christuskirchengemeinde Karlsruhe, Gabriele Hug und Susanne Labsch. Uns verbindet u. a. ein Langzeit-Projekt zur Sicherung von familiengeschichtlicher Privatüberlieferung und Förderung familiengeschichtlicher Kommunikation (siehe Anhang).1

Meiner Frau Claudia Hohmeister danke ich für die Bereitschaft zur Diskussion familiengeschichtlicher Fragen, die sich aus der Sicht der Familienrechtsfachanwältin, Mediatorin, Ehe-, Lebens- und Partnerschaftsberaterin anders ausnehmen als in der déformation professionnelle des Berufshistorikers. Sie sind noch lösbar.

Dr. Daniel Kuhn, mein Lektor beim Kohlhammer Verlag, und Hanna Laux haben einmal mehr diesen Titel kritisch und konstruktiv begleitet, wofür ich sehr danke. Für die Genehmigung zum Abdruck der Einleitung meiner 2015 bei KIT Scientific Publishing erschienenen Familiengeschichte Das halbe Jahrhundert meiner Eltern danke der Verlagsleiterin Frau Dipl.-Volksw. Regine Tobias.

Der größte Dank gebührt tatsächlich meinen Eltern, Gerda Kunze, geb. Lehmann (1926–2010) und Rudi Kunze (1925–2001). Sie haben mir in unserer Familie trotz oder wegen der zeitgeschichtlichen Achterbahnfahrten ihrer Biographien im Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts eine Lebenssicherheit vermittelt, die es mir hoffentlich manchmal ermöglicht, diese Erfahrung weder pharisäerhaft noch prädestinationsstolz zur Norm aller Wahrnehmung zu machen, anderen Familiengeschichten mit Offenheit und Respekt zu begegnen und immer daran zu denken, dass alles auch ganz anders hätte kommen können.

Ansonsten hat eigentlich Kurt Tucholsky in seiner Satire Die Familie in der Weltbühne von 1922 alles Wesentliche zum Thema bereits gesagt.2

Karlsruhe, 30. Juni 2017,

dem Tag, an dem der Deutsche Bundestag die »Ehe für alle« beschlossen hat.

 

A

Theorieteil

1

Einleitung: Warum Familiengeschichte?

 

1.1       Das Problem der verschiedenen Zugänge und Erkenntnisinteressen: Thesen

»Dies sind die Namen der Söhne Israels, die nach Ägypten kamen: Jakob und seine Söhne. Der erstgeborene Sohn Jakobs: Ruben. Die Söhne Rubens: Hennoch, Pallu, Hezron und Karmi. Die Söhne Simeons: Jemuël, Jamin, Ohad, Jachin, Zohar und Schaul, der Sohn der Kanaaniterin. Die Söhne Levis: Gerschon, Kehat und Merari. Die Söhne Judas: Ger, Onan, Schela, Perez und Serach. Aber Ger und Onan waren gestorben im Lande Kanaan. Die Söhne aber des Perez: Hezron und Hamul. Die Söhne Issachars: Tola, Pawa, Jaschub und Schimron. Die Söhne Sebulons: Sered, Elon und Jachleel. Das sind die Söhne der Lea, die sie Jakob gebar in Paddan-Aram, dazu seine Tochter Dina. Das sind zusammen mit ihren Söhnen und Töchtern dreiunddreißig Nachkommen.« Gen. 46,8-151

1.1.1     Positionalität

Zur Familie hat jeder etwas zu sagen, und jeder spricht in sein Genre: Experten und Laien, Politiker und Journalisten, Juristen und Ökonomen, Theologen und Sozialwissenschaftler, Maler und Singer-Songwriter, Schriftsteller und auch Historiker. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie – unabhängig von den jeweiligen Anforderungen ihrer sozialen Rollen – selbst Beteiligte an und Beobachter von Familienrealitäten in einer jeweiligen Gegenwart sind. Man ist immer auch Sohn und Tochter im Sinne der Genealogie des Genesis-Kapitels, Teilhaber einer nicht nur durch Geburt, sondern durch Erinnerung verbundenen Gemeinschaft.2 Deren Größe kann eine Zahl verdeutlichen: 49,9 % der Bevölkerung der Bundesrepublik waren 1970 verheiratet.3

Die Familie wird uns auch allwöchentlich in den Online-Hochglanzwerbeprospekten der Discounter-Märkte neu präsentiert: als saisonal und lebensabschnittlich strukturierter, intergenerationeller konsumistischer Identitätsraum, der sich immer wieder durch Kauf bestimmter Lebensmittel, Haushaltsgeräte und Bekleidung seines fröhlich-optimistischen, moderat gender- und absolut kindgerechten Modellfamilie-Seins versichert. Einer der Unterschiede zu den glücklichen Konsumentenfamilien der 1950er Jahre liegt in den Bio- und Fair Trade-Logos auf manchen Packungen trotz (oder wegen?) des vollglobalisierten Charakters dieses käuflichen Familienglücks. Außerdem werben Modellmänner für die Putzmittel und Modellfrauen stylish für das Handwerkszeug. Unabhängig davon ist das oft ein Blick in die eigene Familienkonsumbiographie, und der kann etwas Anrührendes haben: ein solches aufblasbares Kinderschwimmbecken haben wir auch einmal gekauft. Es hat nur deutlich weniger lang gehalten als das der eigenen 1970er-Jahres-Kindheit. Fotos belegen das. Dokumentierte Familienerinnerung kann konsumkritische Nebenwirkungen entfalten. Es gab offenbar auch ein Familienleben vor dem SUV und auch Nordseeinselurlaube ohne keimfreie, sicherheitsglasbeschirmte Sonderstrände für Kleinkinder, richtiger gesagt: ihre Helikoptereltern.4

Zeitzeugenproblematik

Vorhandene Narrative (Erzählungen) formatieren als hidden agenda (verborgene Absicht) ebenso wie bestimmte kulturgeschichtlich tief prägende Genres unsere Aussagen und Vorstellungen über die oder eine Familie. Wer sich in historischer Erkenntnisabsicht mit der Familie im 20. Jahrhundert befasst, erlebt in besonderer Weise die aus der Zeitgeschichte bekannte Zeitzeugenproblematik, die Verhaftung im selbst Erlebten und den Blick auf die Vergangenheit im Licht späterer Erfahrung. Die erlebte oder im Erinnerungsraum der eigenen Familie präsente Zeitgeschichte ist charakterisiert durch:

•  ihre ausgeprägte Positionalität (Positionsgebundenheit),

•  ihren ausgeprägten Konstruktivismus (»Gemachtheit« im Ggs. zu Vorfindlichkeit),

•  ihre Verflechtung mit dem sozialen Wandel als dessen Ausdruck und Abbild.

Subjektive Geschichte

Nun ließe sich mit Recht behaupten, dass diese Merkmale mehr oder weniger auf jeden beliebigen historischen Gegenstand in jeder Epoche zutreffen. Alle Geschichte ist Betrachtung der Vergangenheit durch ein Subjekt und in diesem Sinn subjektiv. Das schließt die Anwendung wissenschaftlicher Methoden zur Sicherung der Standards eines objektivitätsorientierten, transsubjektiven Diskurses nicht aus: Die positionellen und konstruktivistischen Rahmenbedingungen historischer Erkenntnis und Darstellung lassen sich erkennen, beschreiben und berücksichtigen. Dadurch wird das Subjektivitätsproblem durch die Anwendung bestimmter Methoden objektiviert und zudem durch die fachliche und gesellschaftliche Aushandlung des Geschichtsbilds immer wieder korrigiert. Aber das erkennende Subjekt ist so noch lange nicht als Ressource für die zeithistorische Arbeit erschlossen. Darauf kommt es bei der Familiengeschichte in besonderer Weise an.

Der Neuzeithistoriker Thomas Nipperdey (1927–1992) hat in einem Essay über Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft aus dem Jahr 1968 nicht nur bilanziert, worum es dabei gehen kann, sondern auch eine Erkenntnishaltung zum Ausdruck gebracht, die ich teile:

»Wir gehen davon aus […], daß sich die menschlich-historische Welt in einem Dreiecksverhältnis von Gesellschaft, Kultur und Person konstituiert: gesellschaftliche, kulturelle und personale Strukturen stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Interdependenz, ein Tatbestand, den jeder gute Zeitroman des 19. Jahrhunderts schon der vorwissenschaftlichen Anschauung deutlich macht.«5

Fokus Staat

Dass sich die Auto- und Familienbiographie lange und, kritisch betrachtet, bis heute nicht im Mainstream der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft etabliert hat, versteht sich nur im Blick auf die deutsche Wissenschaftskultur- und Mentalitätsgeschichte. Deren Leitthema mit der größten Vorzeigereichweite war und ist der Staat. Dem entsprach eine spezifische Tradition der scharfen Trennung des privaten familiären vom öffentlichen beruflichen und politischen Bereich des Lebens einerseits,6 des öffentlichen, aber nicht politischen Geltungsanspruchs bürgerlicher Bildung andererseits.7 Thomas Nipperdey hat dieser deutschen »Bürgerwelt« und ihrem komplizierten Verhältnis zum »starken Staat« in seiner Deutschen Geschichte ein kulturgeschichtliches Denkmal gesetzt, das gleichsam die Rahmenerzählung für bürgerliche Familiengeschichte des 19. Jahrhunderts darstellt.8 Sie ist ihrerseits eines der Basisnarrative für die deutsche Geschichte der Familie im 20. Jahrhundert.

Der Neuzeithistoriker Andreas Gestrich stellt in der Einleitung seines Forschungsberichts zur Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert 2013 fest:

»Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war das Nachdenken über die Familie eine Domäne von Theologie und Philosophie. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine empirische Familienforschung. Historiker nahmen zunächst nicht daran teil. Der Gegenstand der Familie galt der auf Diplomatie- und Verfassungsgeschichte konzentrierten Geschichtswissenschaft als nicht ›geschichtswürdig‹.«9

Ergebnisse der Familiengeschichte

Vielleicht liegt das nicht zuletzt daran, dass die Ergebnisse der Familiengeschichte häufig auf provozierende Weise dogmatische Wahrheiten effektiv widerlegen, ob es um die Gültigkeit der katholischen Ehelehre oder die Plausibilität der makroorientierten historischen Sozialwissenschaft und ihres modernisierungsgeschichtlichen Verständnisses des sozialen Wandels insbesondere seit der politisch-industriellen Doppelrevolution geht.

Um diese uns heute – in Zeiten einer ganz anderen, rational choice-orientierten, ökonomistischen Staatskritik10 – nicht mehr ohne weiteres einleuchtende starke Bevorzugung des Staats gegenüber der Familie nachvollziehen zu können, lohnt ein Blick darauf, was Anfang der 1960er Jahre einer der zu diesem Zeitpunkt einflussreichsten deutschen Neuzeithistoriker, Theodor Schieder (1908–84), unter historischer Anthropologie (Wissenschaft vom Menschen und seiner Entwicklung, in historischer Perspektive) verstand. In einem Aufsatz mit dem Titel Der Mensch in der Geschichte11 legt er das Thema der historischen Anthropologie auf die Spannung zwischen dem Individuum und den sozialen Gemeinschaften fest. »Der Mensch ist der Träger der Geschichte.«12 Aber Mensch und Geschichte bleiben »Rätsel und Probleme«.13

Schieder lässt in seinem Essay knapp 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Hitler-Diktatur den Abstand von staatsgeschichtlichen preußisch-deutschen Gewissheiten und Leitinterpretationen seit der Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) erkennen, die von deutschen akademischen Generationen vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik vor allem dahin verstanden worden war, den Sinn der Geschichte und des Individuums im Staat und seiner Macht zu sehen. Der selbst in das nationalsozialistische Projekt mehr als nur mitläuferhaft verstrickte Schieder14 lehnt Teleologien (Interpretationen auf ein bestimmtes Ziel hin) ab. Er erkennt auch an, dass nicht nur die »großen« welthistorischen Persönlichkeiten historisch relevant sind, auch wenn er zugleich vor der »Macht der Straße« warnt, die zur Vorgeschichte der Machtergreifung des Nationalsozialismus gehöre.15 Er distanziert sich, passend zum Zeitalter des Systemgegensatzes, von ideologischen Determinismen (Anschauungen von der Festgelegtheit aller Ereignisse im voraus), wobei, weil vor allem der Marxismus gemeint ist, eigentlich kein Plural erforderlich wäre, ebenso wie von Zielen oder Tendenzen der Geschichte überhaupt. »Der Mensch bleibt das größte Rätsel der Geschichte.«16

Fokus Politische Prozesse

An die Stelle dieser pessimistischen historischen Anthropologie nach dem Verlust der Sinnstiftungen der Geschichte als legitimatorischer Staats- und Machtwissenschaft setzte eine kritische Generation politisch linker westdeutscher Sozialhistoriker, zu denen Hans-Ulrich Wehler (1931–2014) gehörte, wenige Jahre später ein Verständnis von Geschichtswissenschaft als pro-aktive Kraft der gesellschaftlichen Modernisierung gegen heftige Widerstände durch (siehe unten zur Sozialgeschichte A 2.1.1)).17 Doch deren politisches Konzept von Geschichte war größtenteils wiederum stark auf die Umdeutung der politischen Prozesse, Institutionen und Strukturen fixiert, und gerade nicht auf die Breite und Tiefe der Fragestellungen zu den menschlichen »Grundgegebenheiten«,18 die, ausgehend von der philosophischen, auch in der historischen Anthropologie eine Rolle spielen. Diese neue politische Sozialgeschichte ähnelte in manchem der politischen Geschichtswissenschaft,19 von der sich Theodor Schieder skeptisch distanziert hatte und unterschied sich von sozialgeschichtlichen Entwicklungen in anderen europäischen Ländern und in den USA.

Diese erneuerte Festschreibung der zentralen Bedeutung politischer Geschichte, unterstrichen durch ihre beanspruchte Relevanz für die zeithistorisch-politische Bildung, war für die Geschichte der Familie in der deutschen Wissenschaftskultur jedenfalls nicht förderlich. Sie fand ihren Weg endgültig ab Mitte der 1970er Jahre u. a. durch die Kooperation mit österreichischen, westeuropäischen und amerikanischen Historikern sowie deutschen Soziologen, Anthropologen, Psychologen und Pädagogen in die Wissenschaftslandschaft.20

1.1.2     Familiengeschichte oder Geschichte der Familie?

Die Familie ist ein Universalbegriff in einem Verhältnis zu einem anderen Universalbegriff, der Geschichte. Familiengeschichte verbindet beide. Welcher Begriff und welches Universale hat Vorrang? Rein grammatisch ist in Familiengeschichte Geschichte das Haupt- und Bezugswort, Familie der Gegenstand. Formal wäre dieser Begriff dann gleichbedeutend mit Geschichte der Familie. Diese Unterscheidung spiegelt sich aber nicht konsequent im wissenschaftlichen oder im Alltagssprachgebrauch. Die Begriffe Familiengeschichte und Geschichte der Familie werden mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt. Familiengeschichte bezeichnet oft die Geschichte einer bestimmten Familie im Unterschied zur Geschichte der Familie in einer bestimmten Epoche, in einem bestimmten Raum oder in einer bestimmten methodischen Perspektive (historisch, soziologisch, anthropologisch). In dieser Verwendung wird aus dem Plural in Familiengeschichte ein mikrogeschichtlicher Singular: Geschichte der Familie X aus Y in der Zeit von t1bis t2.

Geschichte der Familie

Die wissenschaftliche Geschichte der Familie ist demgegenüber die makroorientierte Geschichte der Familien, weiterhin im Plural, aber nicht einfach summiert aus vielen familienbiographischen Fallstudien, sondern vielmehr gerichtet auf allgemeine, vor die Klammer zu ziehende Strukturen, Prozesse und (Selbst-)Darstellungsstrategien. Letzteres ist vor allem eine sozialgeschichtliche Herangehensweise. Diese untersucht die Universalbegriffe Geschichte und Familie gezielt und begründet auf bestimmte erkenntnisleitende Fragestellungen hin, wendet definierte Methoden und Darstellungsformen an. Noch deutlicher akzentuiert wird dieses Verständnis in dem Begriff der historischen Familienforschung. Er bezeichnet Forschung zum Gegenstand der Familie in historischer Perspektive und stellt diese auf eine wissenschaftliche Ebene z. B. mit der soziologischen oder pädagogischen Familienforschung. Damit ist die größtmögliche Entfernung vom ursprünglichen Begriff der Familiengeschichte auch deshalb erreicht, weil historische Familienforschung ausschließlich von Berufswissenschaftlern, individuelle Familiengeschichte überwiegend von »Laien« im Sinn von Nichtberufswissenschaftlern betrieben wird.

Die Hauptmotivation für diese Überblicksdarstellung ist es, den für die Zeitgeschichte problematischen, oft sogar emotional aufgeladenen Gegensatz zwischen einer Wissenschafts- und einer »Laien«-Kultur in der Beschäftigung mit Familiengeschichte als der Geschichte der Familie zu thematisieren und, wenn möglich, zu seiner Verringerung beizutragen, weil er die Nutzung bestimmter Quellenformen und den Dialog zwischen beiden an der Familiengeschichte beteiligten Seiten effektiv blockiert. Deshalb werden hier bewusst im formalen Sinn Familiengeschichte und Geschichte der Familie synonym (als von ähnlichem Bedeutungsumfang) verwendet. Die Familiengeschichte kann nur dann zur Ressourceder Zeitgeschichte werden, wenn Zeitgeschichtswissenschaft und die über die Quellen verfügenden und selbst die Quelle darstellenden »Laien« in einen konstruktiven Dialog eintreten.

Um dies zu ermöglichen, soll hier die Dienstleistung erbracht werden, ausgewählte Aspekte der familiengeschichtlichen Forschung vorzustellen, die für die familiengeschichtliche Arbeit von Wissenschaftlern und »Laien« einen erkenntnisleitenden Rahmen darstellen und damit die praktische familiengeschichtliche Arbeit erleichtern können.

Ein deutliches Beispiel für eine sozialgeschichtliche Konturierung der Geschichte der Familie ist die Einleitung zu dem von ihm mitverfassten Handbuch Geschichte der Familie von Andreas Gestrich.21 Dieser zieht die folgenden erkenntnisleitenden Perspektiven bzw. Kategorien familiengeschichtlicher Forschung vor die Epochendarstellungen der Geschichte der Familie seit der Antike:

•  Familie und Verwandtschaft,22

•  »Europäische Haushaltsstrukturen«,23

•  Wohnverhältnisse,24

•  Partnerwahl,25

•  Rollen,26

•  »Familie, Erbschaft, Gesellschaftsstruktur«,27

•  »Veränderungen in der Gegenwart«.28

Keine individuelle Familienbiographie eines Nichtwissenschaftlers wird so aufgebaut sein. Trotzdem kann die »Laien«-Perspektive von den Erkenntnissen der Geschichte der Familie erheblich für ihre Arbeit und Darstellung profitieren, und zwar u. a.

•  durch die Möglichkeit der Einordnung der eigenen Familiengeschichte in die größeren Verläufe der Problemgeschichte der Familie in einer Epoche oder in einem Raum,

•  durch die Möglichkeit der Verwendung erkenntnisleitender Konzepte, z. B. der Rolle,

•  durch die Möglichkeit des Vergleichs.

Geschichte einer Familie

Wie lässt sich das konkret auf die Geschichte einer Familie anwenden? Sozialer Wandel und seine Wirkungen am Beispiel einer Familie werden erst dann erkenn- und darstellbar, wenn die »Normalität« von den für eine Familie typischen Verhaltensweisen und Mentalitäten einer Zeit und eines Raums in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden. Die Geschichte der Familie bietet dafür die erkenntnisleitenden Kategorien und einen überschaubaren Untersuchungsgegenstand. Ihre Anwendung kann helfen, Familienbiographien besser in die Zeitgeschichte einzuordnen, weil sie es ermöglichen, Ausnahme und Regel zu identifizieren.

Ein Beispiel: In einem Agrarraum mit traditionellem Ersterbenrecht haben Eheschließung und soziale Mobilität bis weit ins 20. Jahrhundert eine andere ökonomische und emotionale Bedeutung als in einem Gebiet mit Realteilung unter den Erben. Wo der älteste Sohn den Hof nicht erbte, bestand die Notwendigkeit, einen Beruf zu ergreifen – oder auszuwandern. Erbengemeinschaften fördern die Sesshaftigkeit, als »Rezept zur Verarmung« mit jedem weiteren Erbgang, aber auch die individuelle Kreativität der Nutzung von Eigentum und Boden z. B. durch Nebenerwerb, was sich in der südwestdeutschen Industrialisierung gut beobachten lässt. Solchen sozialen Realitäten entsprechen bestimmte Erwartungshaltungen, die auch im sozialen Wandel selbst dann erstaunlich konstant sind, wenn die in der zur Agroindustrie gewordenen Landwirtschaft Tätigen nur noch eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung darstellen und eigentlich keine Veranlassung zu bestimmten Anschauungen besteht.

Konfessionelle Prägungen lassen sich als Mentalitätsschatten auch in Gebieten wie der DDR eindeutig erkennen, die durch vier Jahrzehnte staatsoffizieller Entkirchlichung und Entkonfessionalisierung geprägt sind. Phänomene dieser Art können nicht allein aus der Quellenebene einer Familie dargestellt werden. Aber es wird die Qualität jeder einzelnen Familiengeschichte deutlich erhöhen, wenn sie die dazu vorliegenden Ergebnisse der Forschung zur Zeitgeschichte wie zur Geschichte der Familie nutzt.

1.1.3     Familiengeschichte außerhalb der Wissenschaft

Die Geschichte als Wissenschaft und wissenschaftliche Historiographie hat leicht erkennbar deshalb kein Erkenntnis- oder Interpretationsmonopol auf die Familienforschung, weil ihre erkenntnisleitenden Fragestellungen zur historischen Kontextualisierung der sozialen Struktur der Familie häufig und naheliegenderweise aus Nachbarwissenschaften wie der Soziologie oder der Pädagogik importiert wurden und werden, deren Gegenstand die Familie schon sehr viel länger ist. Außerdem spielt die Familie u. a. in der Literatur, im Histotainment (Unterhaltungsformate v. a. des Fernsehens und des Internet mit historischem Gegenstand oder Design), in der Oral History (mündlich überlieferte Geschichte durch Befragung von Zeitzeugen), in der zeitgeschichtlichen Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit und der von »Laien« recherchierten und geschriebenen privaten Familiengeschichte eine zentrale Rolle, ohne dass deren Akteure die Erkenntnisse historischer Familienforschung intensiv nutzen würden.

Familiensagas

In der Bundesrepublik begann der mediale Trend zur Familiengeschichte in den 1970er Jahren mit ausstattungsintensiven, extrem auf Kontextauthentizität angelegten Monumentalverfilmungen von Familien-Romanen und historischen Stoffen mit Familienbezug für das Fernsehen, u. a. von Siegfried Lenz, Deutschstunde (1971, ARD, Regie Peter Beauvais), Walter Kempowski, Tadellöser & Wolff (1975, ZDF, Regie Eberhard Fechner), Hans Fallada, Ein Mann will nach oben (1978, ZDF/ORF/SRG, Regie Herbert Ballmann), Thomas Mann, Buddenbrooks (1979, ARD, Regie Franz Peter Wirth). Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die einflussreiche Fernsehserie der Bergarbeiter-Geschichte Rote Erde (1983/89, nach einer Idee von Peter Stripp) und die das Genre Heimatfilm neu definierende Trilogie Heimat, in der es auch um eine Familiengeschichte geht (1981–2006, ARD, Regie Edgar Reitz), die Fernsehserie Die Bertinis, nach dem Familienroman von Ralph Giordano, der sich dezidiert der Perspektive von NS-Verfolgten annimmt (1988, ZDF, Regie Egon Monk), das Familienportrait Die Manns. Ein Jahrhundertroman (2001, ARD, Regie Heinrich Breloer) und der zum Reformationsjubiläum erschienene, stark auf die Familie Luthers ausgerichtete Fernsehfilm Katharina Luther (2017, ARD, Regie: Julia von Heinz).

Dokutainment

Im Wortsinn bildbeherrschend, ähnlich wie BBC History in Großbritannien,29 war und ist in der Bundesrepublik das ZDF bei der Umsetzung historischer, häufig auch familiengeschichtlicher Themen.30 Der Trend zu leichtem, fernsehshowhaft moderiertem Dokutainment, das seine Authentizität nicht mehr durch den aufwendigen Nachbau historischer Settings sucht, sondern u. a. durch den Kameraauftritt von »Experten« und Enkeln von historischen Akteuren als »Zeitzeugen« suggeriert, unterscheidet sich allerdings drastisch von den Qualitätsmaßstäben der Monumentalepen der 1970er und 1980er Jahre.

Oral History

Die universitäre Geschichtswissenschaft ihrerseits hat, abgesehen von berechtigter und begründeter Kritik an rein einschaltquotenorientierter Medialisierung, einer »Geschichte für Trottel« (Jörg Baberowski),31 nach wie vor oder vielleicht: gerade deshalb erhebliche Hemmschwellen gegenüber der »populären« und »laienhaften« Thematisierung von (Familien-)Geschichte, und immer auch noch vor einer intensiven Nutzung der Möglichkeiten der »zum Teil sehr kontrovers diskutierte[n]«32Oral History.

Das müsste nicht so sein, da es längst wissenschaftliche Vorbilder und Hilfsmittel für die Verbindung beider Welten gibt, so z. B. die sich auf ausführliche Zeitzeugeninterviews stützenden Pilotstudien zu »Herrschaft und Alltag« des Saarlands im Nationalsozialismus von Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul von 1989/199133 sowie die Arbeiten zur Erinnerung an die NS-Zeit im Ruhrgebiet von Lutz Niethammer und anderen.34 Einen ähnlichen Weg schlug etwas später auch die Forschungsstelle Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten an der Universität Karlsruhe (TH) mit dem Versuch systematischer regional- und lokalgeschichtlicher Zeitzeugeninterviews ein.35 Ich selbst betreibe seit 2015 an meiner Karlsruher Evangelischen Christuskirchengemeinde ein Quellen- und Zeitzeugenprojekt.36 In dieser größten evangelischen Innenstadtgemeinde Karlsruhes besteht, begleitet von Vorträgen und Diskussionsrunden in der Evangelischen Erwachsenenbildung Karlsruhe, das Angebot,

•  Gemeindeglieder gezielt zu beraten, was sie mit ihrer familiengeschichtlichen Überlieferung anfangen können, wenn in der eigenen Familie dafür kein Interesse besteht;

•  welche Arten der Darstellung und Aufarbeitung von Familiengeschichte es gibt, wenn dies das Ziel ist.

Eine Motivation für dieses Projekt und die Unterstützung durch die beiden hauptamtlichen Pfarrerinnen war, dass Oral History ganz selbstverständlich zur Praxis der Seelsorge-Arbeit der Kirchen gehört und dort oft zur Sprache kommt.37 Jede Wohnungsauflösung ist für den Erhalt familiengeschichtlicher Überlieferung ein kritischer Moment: was hier in der Tonne landet, schneidet Nachkommen von der Geschichte ihrer Familie ab.

Ich selbst habe mich darauf eingelassen, die Familiengeschichte meiner Eltern in ihrem 20. Jahrhundert zu schreiben und 2015 zu veröffentlichen: ein von familiengeschichtlichen Lehrveranstaltungen begleitetes Experiment im Umgang mit den zu reflektierenden Rollen des Sohns, Zeitzeugen und Historikers, das bei mir das Bewusstsein für die Relevanz der Familiengeschichte als zeitgeschichtliche Ressource überhaupt erst geweckt hat.38 Das Genrevorbild war das essayistisch erzählende und historisch kontextualisierende Portrait, das der niederländische Publizist Geert Mak über seinen Vater veröffentlicht hat.39

Praktisches Ziel

Ein praktisches Ziel des vorliegenden Überblicks zur Bedeutung der Familien- für die Zeitgeschichte ist es, zur Senkung von wechselseitigen Hemmschwellen zwischen Theoretikern und Praktikern beizutragen. Denn bestimmte typische Probleme der Methodik, der Quellenkritik und der Darstellung von Familiengeschichte hat nicht nur der an mehr als reiner Abstammungsgeschichte interessierte historische »Laie«, sondern jeder, der sich auf das Feld der Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts begibt. Beide Seiten können voneinander profitieren: Die Privatleute verfügen oft über unschätzbare Quellen und Erfahrungen, die Berufshistoriker über methodische Expertise bei deren Kontextualisierung und Auswertung.

An How to-(Anleitungs-)Ratgebern und Leitfäden zur familiengeschichtlichen Arbeit im Stil von »Familiengeschichte schreiben« oder »Ahnenforschung praktisch«40 herrscht inzwischen in den Bibliotheken und online ebensowenig Mangel wie an geschichtswissenschaftlichen Handreichungen,41 von den Galaxien der Beziehungs- und Familienratgeber einmal ganz abgesehen.42 Das gilt vor allem auch für die Oral History. Hier eine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

•  Die Dokumentation durch und das Verfügbarmachen von Oral History in der Erinnerung an die Opfergeschichte des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs gehört zu den Grundlagen der Dokumentations- und Vermittlungsarbeit des United States Holocaust Memorial Museum.43

•  In die deutsch-deutsche Oral History nach 1945 führt die Plattform »Arbeit mit Zeitzeugen« ein, betrieben in Kooperation mit dem Bildungswerk der Humanistischen Union NRW und dem Zentrum für Zeitgeschichte Potsdam. Sie gibt Anregungen und Hilfestellung bei der praktischen Arbeit bis zur Vermittlung von Zeitzeugen.44

•  Ein Online-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung von Werner Imhof reflektiert die Chancen und Grenzen, vor allem den erforderlichen Aufwand, von Oral History im Schulunterricht.45

Seit Februar 2017 existiert ein Netzwerk Oral History unter Federführung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte der Universität Hamburg, wie über H-Soz-u-Kult (zentrale deutschsprachige Informationsplattform für die Human- und Kulturwissenschaften mit historischem Schwerpunkt) bekanntgegeben wurde.46

Diese Informationen zu einem weiteren Ratgeber bzw. Findbuch zu bündeln, ist nicht meine Absicht, obwohl es sich hier zweifellos um einen erstaunlichen, kaum überschaubaren Wachstumsmarkt handelt: vor allem in den USA ist »Researching your German ancestors« ein mediales Thema und Geschäftsmodell.47 Das erkenntnisleitende Interesse richtet sich hier vielmehr auf die gezielte Erhaltung von Quellen und auf die Erschließung von Familiengeschichte als Ressource der Zeitgeschichte in der Zusammenführung von wissenschaftlichen und individuellen privaten Perspektiven, die bislang noch die Ausnahme in den wenigen Pilot- und Langzeitprojekten darstellt.

Von der in den 1970er und 1980er Jahren florierenden Bewegung einer »Geschichte von unten«48 unterscheidet sich das hier den Erfahrungshintergrund stellende Karlsruher Quellen- und Zeitzeugenprojekt an der Christuskirche nicht nur durch seine Ansiedlung an einer Kirchengemeinde, seine über Lokal- und Alltagsgeschichte hinausgehenden Interessen und die Anbindung an die universitäre Forschung u. a. in Qualifikationsarbeiten im Fach Geschichte am Institut für Geschichte des Karlsruher Instituts für Technologie, sondern vor allem durch seine Ergebnisoffenheit und seinen Beratungscharakter.

Welche Form der Beschäftigung mit den zu erhaltenden privaten Quellen wie Fotos, Briefen, Tagebüchern und familienbiographischen Aufzeichnungen daraus folgen kann, da diese in den meisten Fällen von staatlichen und kirchlichen Archiven nicht zur Aufbewahrung angenommen werden, klärt sich im Beratungsgespräch, aus dem ein Begleitungsprozess werden kann. Mögliche Formen der persönlichen Auseinandersetzung dieser Beschäftigung mit der eigenen Geschichte umfassen u. a.:

•  eine (Teil-)Digitalisierung und Kommentierung vorhandener Quellen,

•  einen Internetblog bzw. eine Veröffentlichung in einem Ejournal,

•  einen Vortrag in der Gemeinde, Arbeit mit Konfirmanden oder in einem familiengeschichtlichen Forschungsseminar, einem Volkshochschulvortrag oder die Mitarbeit in einem lokal- bzw. regionalgeschichtlich ausgerichteten Verein,

•  eine traditionelle Familienchronik für die nachfolgende Generation mit Namen, Daten (fundamental wichtig für spätere Recherchen sind Lebensdaten und Geburtsorte),

•  die Vermittlung einer systemischen Beratung. Diese kann im Unterschied zur historischen Aufarbeitung unmittelbar dabei helfen, »wie aus Familiengeschichten Zukunft entsteht«,49 sofern es um das Leben mit Wunden der familiären Vergangenheit geht.

Entscheidend ist nicht das Genre, sondern die Ermöglichung von Kommunikation über Familiengeschichte.

Abb. 1:50 Aus dem ZDF-Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« (2013). An die Stelle von Familienüberlieferung über den Zweiten Weltkrieg tritt das Dokutainment (Unterhaltung mit dokumentarischen Anteilen und aufklärerischer Absicht) um zu zeigen, »wie es eigentlich gewesen« (Leopold von Ranke).

Systemische Sicht der Familiengeschichte

Von der systemischen Sicht der Familiengeschichte wird hier in einem eigenen Kapitel ausführlich die Rede sein (B 2). Oft geht es bei Interessen an einer Aufarbeitung der Familiengeschichte gar nicht um Zusammenhänge, auf die geschichtswissenschaftliche Erkenntnisstrategien die richtige Antwort darstellen, sondern um Verletzungsfolgen der Vergangenheit in der eigenen (Familien-)Biographie. Dies fällt nicht in die Zuständigkeit des Historikers, sondern möglicherweise der systemischen, sich stark für die Muster der Familiengeschichte interessierenden Beratung. Unabhängig von den verschiedenen Erkenntniszielen von historischer und systemischer Beratung kann der Historiker einiges von der Fragehaltung und Beobachtungsgenauigkeit der Systemiker lernen. Auf die Prozesse und Kontexte der innerfamilialen Mythenbildung hat der Sozialpsychologe Harald Welzer bereits ausführlich hingewiesen.51

Die Bedeutung von Kooperationsprojekten der Vermittlung zwischen dem wissenschaftlichen und privaten Interesse an Familiengeschichte wächst in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vier Gründe dafür aus der praktischen Erfahrung des Zeithistorikers sollen hier beispielhaft angeführt werden:

1.  Mit dem Zug der Generationen durch die Zeit gibt es schon jetzt nur noch wenige Zeitzeugen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs auf der Opfer- wie Täterseite und dem breiten Feld von Verhaltensformen dazwischen, das für ein Kontextverständnis der »grauen« Alltagsnormalität und ihres Zusammenhangs mit den NS-Verbrechen unentbehrlich ist. Dies verstärkt die ohnehin problematische Überbetonung der geschichtsdidaktischen und -politischen Themen von Gedächtnis und Erinnerung,52 die zunehmend an die Stelle zeithistorischer Fallstudien auf der Grundlage von Quellenarbeit treten.53

2.  Die Komplexität von Mustern des Zusammenlebens in einer von großer sozialer Mobilität und immer wieder neu konstruierten Lebensläufen bestimmten Lebenswirklichkeit fördert nicht die Bewahrung von Familienüberlieferung in der Weitergabe von Generation zu Generation. Umzug, Scheidung und Auszug in ein Altersheim bedeuten oft einen weitgehenden und irreversiblen familiären Gedächtnisverlust.

3.  Die Pfadabhängigkeit von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Kommunikation über Familiengeschichte erschwert das Zusammenkommen beider Seiten. Hier haben es Medienvertreter oft leichter, einen Zugang zu finden, wie die ZDF-History-Zeitzeugenarbeit im Großprojekt »Gedächtnis der Nation«54 und die Erfolge von Sabine Bodes Büchern über Kriegskinder und Kriegsenkel belegen.55Dass auch die systemische Betrachtungsweise der Psychologiehier eine wertvolle Vermittlungsaufgabe übernehmen könnte, ist eine These dieses Aufrisses zur Familienzeitgeschichte. Dies schon deshalb, weil die klärende Auseinandersetzung mit einer belastend empfundenen Vergangenheit ein, wenn nicht sogar das Hauptmotiv für die »private« Beschäftigung mit Familiengeschichte darstellt.

4.  Familiengeschichte wird in bestimmenden Genreformen erzählt, geprägt vom Alten und Neuen Testament über Thomas Manns Buddenbrooks und John Steinbeck bis zu Walter Kempowski und der Netflix-Serienwelt. Schon ihre Dokumentation, z. B. in Familienfotoalben, orientiert sich an diesen Genrevorgaben. Es lohnt, sie zu kennen und bei der familiengeschichtlichen Arbeit zu reflektieren. Denn sie bestimmen in hohem Maß, welche Geschichte wie erzählt wird. Das ist eine weitere These dieser Bemühung um eine aufgeklärtere Familienhistoriographie.

Abb. 2:56 Kinder, die Auschwitz überlebt haben, nach der Befreiung durch die Sowjets, Januar 1945. Das Weitertragen ihrer Familiengeschichten gehört zu den stärksten Antrieben der Oral History im 20. Jahrhundert überhaupt.

1.1.4     Begriff von Zeitgeschichte

Im Titel dieses Überblicks ist bewusst nicht von historischer Familienforschung die Rede.57 Es geht hier nicht in erster Linie um ein weiteres Nachvollziehen des Forschungsgangs zu einem klar abgegrenzten oder abgrenzbaren Gegenstand historischer Forschung, sondern vielmehr um ausgewählte Aspekte der Wechselwirkung von wissenschaftlichen und anderen Zugängen zur Geschichte der Familie. In dieser Sicht liegt die Chance, Familiengeschichte als Ressource für die Zeitgeschichte gerade dort zu erschließen, wo es mangels Zeitzeugen keine Oral History mehr geben kann und wertvolle familiengeschichtliche Überlieferung zu oft unbeachtet für immer verlorengeht.

Der hier zugrundegelegte Begriff von Zeitgeschichte ist nicht der des deutschen politischen Allgemeinhistorikers, der sich auf die Zäsuren der deutschen politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts stützt, sondern orientiert sich am erlebten und erinnerten Raum der Zeitgeschichte. Dieses Zeitgeschichtsverständnis bezieht sich auf die Definition des Zeithistorikers Hans Rothfels in der ersten Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte:58

»Wenn Zeitgeschichte hier als Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung verstanden werden soll, so in dem Sinne, daß es sich für uns um ein Zeitalter krisenhafter Erschütterung und einer eben darin sehr wesentlich begründeten universalen Konstellation handelt.«59

Diese zwar vielzitierte, in ihrer Radikalität aber selten angewendete Definition ist in mehrfacher Hinsicht folgenreich für die Zeitgeschichte und nützlich für die Geschichte der Familie im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart.

Zeitgeschichte ist nach Rothfels durch eine generationell wandernde Grenze des subjektiven Erlebens und Erinnerns definiert, keineswegs durch »objektive« Epochenzäsuren aus dem Bereich der Großen Politik. Sie ist ein Erlebnisraum, der durch Erinnerung konturiert wird und sich im Zug der Generationen durch die Zeit weiter verändert. Um so wichtiger ist es, die Erfahrungen jeder Generation festzuhalten, so lange das im Dialog mit ihr noch möglich ist. Geht man davon aus, dass die in Abb. 2 gezeigten Kinder, die Auschwitz überlebt haben, im Januar 1945 um die zehn Jahre alt waren, sind sie heute über Achtzig. Wenn der fiktive Wehrmachtssoldat aus Unsere Väter, unsere Mütter (Abb. 1) zur Zeit der Schlacht um Stalingrad etwa 20 Jahre alt gewesen ist, wäre er heute über Neunzig.

Die von der generationellen Relevanzwahrnehmung geprägte Konstruktion des Bilds von Zeitgeschichte wird von subjektiven Relevanzkriterien beherrscht und immer wieder neu ausgehandelt. Das hat einen unmittelbaren Bezug zum intergenerationellen Konflikt um die Interpretationshoheit der Zeitgeschichte und ihrer Bewertung. Außerdem wirft es erhebliche Probleme der ›Historisierung‹ von Zeitgeschichte auf.

Das collective bargaining (öffentliche Aushandeln) der Zeitgeschichte ist nie eine rein wissenschaftliche Form der Beschäftigung mit Geschichte, sondern auf den Dialog mit Zeitzeugen und der Gesellschaft angewiesen, mehr noch: anders gar nicht möglich.

Bemerkenswert an der Rothfels-Definition ist auch ihre Offenheit für zeitgleiche Erfahrungen von Zeitgeschichte, die quer zum Kanon eines bestimmten nationalen Narrativs liegen. In global(isierungs)geschichtlicher Perspektive liegt darin z. B. die Chance zur Integration von alternativen Zeitgeschichtserfahrungen, z. B. denen von Flüchtlingen unserer Gegenwart, in ein multiperspektivisches Epochenbild oberhalb der Addition von Nationalgeschichten.

Referenzbegriff

Der Referenzbegriff für »Zeitgeschichte« und »Familie« im 20. Jahrhundert ist mit Blick auf deren soziale Funktionen Gesellschaft, und zwar hinsichtlich der anthropologischen (auf die Wissenschaft vom Menschen bezogene), evolutionäre und gesellschaftsgeschichtliche Dimension, die auf die bürgerliche Gesellschaft zielt.

» G.[esellschaft] im heutigen Verständnis der von Europa und Nordamerika geprägten Entwicklungen ist vor allem die bürgerliche G.[esellschaft]. Damit ist jene Form der Organisation des Zusammenlebens gemeint, die von den Bürgern in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten entwickelt und in den bürgerlichen Revolutionen des 17.–19. Jh.s durchgesetzt wurde. Die bürgerliche G.[esellschaft] war und ist vor allem Markt- und Rechtsgesellschaft. Die Freisetzung der Individuen zu ihren Fähigkeiten und Bestrebungen setzt ökonomisch den Markt und politisch die Demokratie […] voraus, weiterhin die Absicherung der Eigentums-, Produktions- und Marktsphäre […] durch das Recht. […] Der Aufrechterhaltung der Freiheit aller dienen weiterhin das Prinzip der Kritik und die Institutionen der kritischen Öffentlichkeit«60. Bernhard Schäfers, 2016

1.1.5     Grenzen der Interpretation von Familie

In seinem Beitrag über die sozialwissenschaftliche Sicht auf Ehe und Familie in der 7. Auflage des katholisch ausgerichteten Staatslexikons der Görres-Gesellschaft von 1986 setzt sich der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann mit dem sozialwissenschaftlichen Interpretationsrahmen von Familie auseinander. Diese Meta-Reflexion (Einschätzung von Relevanz und eigener Position darin) hält Kaufmann für wichtig, weil die Sozialwissenschaft im sozialen Wandel des 20. Jahrhunderts selbst einen erheblichen Einfluss auf das Familienbild genommen hat. Für die zeithistorische Sicht auf Familie ist diese methodische Selbstreflexion aufschlussreich, weil Historiker davon ausgehen, ihre Erkenntnis sei allein durch die Quellen bestimmt und in der professionellen Auseinandersetzung mit diesen prozessual objektiv. Tatsächlich gilt für sie nichts anderes als für die Sozialwissenschaft: Die erkenntnisleitenden Fragen und Interessen der Akteure färben auf ihre Befragung der Quellen ab und nehmen Einfluss auf die weniger aus ihnen »geschöpften« als vielmehr an ihnen validierten Ergebnisse. Sozialwissenschaften, Pädagogik und Psychologie kennen die Meta-Reflexion. Die Geschichte als Wissenschaft verlässt sich allein auf die Präzisierungsfunktion der Heuristik (methodisch reflektierte Anleitung zur Erkenntnisfindung) – und auf die Korrekturfunktion der öffentlichen Diskussion ihrer Ergebnisse. Da sich gerade bei dem hochgradig positionell besetzbaren Thema der Familie – erkennbar z. B. an Verfalls-, Erneuerungs-, pro-aktiven Rückbesinnungs- oder Pluralisierungs-Narrativen – für die Geschichts- kein geringerer Abstand gegenüber gesellschaftspolitischen Positionen als bei den Sozialwissenschaften behaupten lässt, ist dies im Hinblick auf die methodische Reflektiertheit der Aussagen ein riskantes Vorgehen.

»In der methodischen Operation der Heuristik werden die aus den Gegenwartsproblemen resultierenden Orientierungsbedürfnisse, von denen der Prozeß des historischen Denkens seinen Ausgang nimmt, zu historischen Fragestellungen ausgearbeitet, mit denen der Bereich der historischen Erfahrung erschlossen wird. Hier werden Chancen der historischen Erfahrung eröffnet (und andere gleichzeitig verschlossen), aussagefähige Quellenbestände selegiert, hierarchisiert und in Beziehung zueinander gesetzt sowie schließlich Vorentscheidungen über die für die Antwort auf die heuristischen Fragen maßgeblichen Forschungsmethoden und Zugriffsweisen gefällt. In der Heuristik kommt der Primat der Gegenwart vor der Vergangenheit zum Ausdruck, denn die historische Forschung beginnt erst mit den Fragen der Gegenwart an die Vergangenheit als Prozeß ihres Gewordenseins.«61

Der Soziologe Kaufmann betont, dass

»[v]erantwortliche Rede über E.[he] und F.[amilie] […] sich stets sowohl auf ideelle Leitbilder als auch auf geltende Normen und Regeln wie endlich auf die erfahrbare Wirklichkeit zu beziehen haben [wird].«62

Den sozialen Wandel im Bereich der Familie macht Kaufmann am

»Wandel der vorherrschenden Erziehungsauffassungen, der Sexualmoral, des Verhältnisses von Mann und Frau und nicht zuletzt von E.[he] und F.[amilie] selbst«63

fest. Sozialwissenschaftliche Interpretationen des sozialen Lebens haben, so Kaufmann, in der Gesellschaft der Bundesrepublik nach der gesellschaftspolitischen Stabilisierungsphase der Adenauer-Zeit seit Mitte der 1960er Jahre dazu beigetragen, traditionelle Verständnisse der Sozialordnung in Frage zu stellen.

Kaufmann benennt drei Wirkungen sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse auf das Familienbild seit den 1960er Jahren und versteht dies zugleich als methodische Warnung:

•  die »relativierend[e], teilweise auch desillusionierend[e]«64 Wirkung gegenüber traditionellen Familienauffassungen. Sie macht die Sozialwissenschaft zum interessierten Akteur, der Veränderung befördern, Beharrung überwinden will;

•  die Mahnung zur Distanz »gegenüber utopischen Emanzipationshoffnungen wie gegenüber kulturpessimistischen Verfalldiagonsen« vor dem Hintergrund interkultureller Vergleichsstudien zur Vielfalt bestehender Familienformen;

•  die Warnung vor dem Argument der Beliebigkeit: »Aus der notwendigen Überwindung des euro-amerikanischen Kulturzentrismus, wie er auch die ältere Familiensoziologie kennzeichnete, läßt sich keine interkulturelle Gleichgültigkeit folgern. Jede Gesellschaft muß von und mit ihren eigenen kulturellen Beständen leben und kann nur sie weiterentwickeln.«65

Kaufmann erwähnt in diesem Zusammenhang als Beispiel für die Relativierung von Positionalität die Wirkung von familiengeschichtlichen Arbeiten zur vorindustriellen Vormoderne, deren Ergebnisse die retro-utopische Idyllisierung einer »guten alten Zeit« der Familie in der Soziologie widerlegt haben. Auch der Hinweis auf die gewaltige Datenflut, die dem Orientierungsbedürfnis geradezu im Weg stehe, ist unmittelbar auf die Zeitgeschichte übertragbar.

Kaufmanns Bewertungen lassen erkennen, dass es der interpretierenden Darstellung der Geschichte der Familie nicht an Quellen und Themen mangelt, sondern an methodischer Reflexion, was mit ihnen anzufangen ist. Die Diskussion um die Grenzen der Interpretation der Familie ist eine methodische um die Grenzen von Determiniertheit und Aushandelbarkeit.

In Interpretationen, in denen die Determiniertheit bis hin zur vollständigen Festgelegtheit dominiert, wird »[d]ie Familie als bio-soziale Lebensform«66 mit spezifischen sozialen Aufgaben als Grundlage aller Sozialisation und Kulturalisierung gesehen. Demgegenüber sei, so Kaufmann, immer der Gesichtspunkt der Aushandelbarkeit und des sozialen Wandels von Rollenbeziehungen zu betonen.

In Interpretationen, in denen die Aushandelbarkeit bis hin zur weitgehenden Beliebigkeit betont wird, müsse auf die determinierenden Faktoren und ihre Relevanz hingewiesen werden.

»Neben biologischen Grenzen gilt es hier auch historisch gewachsene, kulturelle und damit in hohem Umfang ethisch begründbare Grenzen der Veränderbarkeit zu beachten: Bei der Genese des abendländischen F.[amilien]leitbildes ist der Einfluß der kirchl. E.[he]lehre unübersehbar.«67

Zu leisten sei dies nur durch eine Zusammenarbeit der mit der Familie befassten Fachkulturen:

»Neben der F.[amilien]soziologie […] insbesondere Ethnologie, Sozio-Biologie, Demographie, Haushaltswissenschaft, Rechts- und Sozialgeschichte, Sozialisationsforschung und F.[amilien]therapie.«68

Kaufmann plädiert damit für eine integrative Sicht auch auf die Familiengeschichte.

1.2       Aufbau des Bandes und seine Zielgruppen

Die Komplexität des Themas Familie in der Zeitgeschichte und die besondere Ausrichtung dieses Überblicks hat in der Einleitung eine ausführliche Begründung sowohl der erkenntnisleitenden Fragestellungen wie der Motivation erforderlich gemacht. Da die Geschichte der Familie ein dicht erforschtes Feld ist,69 auch wenn dies nicht in gleichem Maß auf die Zeitgeschichte wie für die Frühe Neuzeit und das »lange« 19. Jahrhundert von 1776/89 bis 1914/17 zutrifft, bedarf die Konzentration auf ihre Erschließung als Ressource für die Geschichte des 20. Jahrhunderts der Erklärung, zumal die außerwissenschaftliche familiengeschichtliche Praxis bislang bei weitem umfangreicher ist als die familienzeitgeschichtliche. Gelingen kann eine Kooperation zwischen den Trägern dieser beiden Thematisierungsformen von Familiengeschichte, wenn bestimmte Positionalitäten, Methoden und die Frage der Subjektivität verhandelt werden. Ohne dies fehlt der gemeinsame Grund für einen Dialog zwischen geschichtswissenschaftlicher Theorie und familiengeschichtlicher »Laien«-Praxis. Diese Zusammenarbeit ist schwierig und an Voraussetzungen gebunden, erfordert viel Zeit und Geduld, aber kann gelingen und für beide Seiten lohnend sein: nicht nur wissenschaftlich, sondern auch menschlich. Das methodische Vorbild dafür ist die von Michael Mitterauer begründete Wiener historische Familienforschung (siehe unten A 4 1).

Aufbau des Bandes

Im zweiten Kapitel werden ausgewählte methodische Befunde zur Geschichte der Familie im 20. Jahrhundert vorgestellt. Im Vordergrund steht dabei der Entwicklungstrend zur Hochphase der Kleinfamilie und von ihr zur aushandlungsintensiven Patchworkfamilie vom letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bis heute. Immer mit Bezug auf Fragen und Themen, die in der zeitgeschichtlichen Beratung familiengeschichtlicher Praxis eine Rolle spielen, werden verschiedene methodische Blickrichtungen auf die Geschichte der Familie vorgestellt und auf Beiträge zur Strukturierung familiengeschichtlicher Arbeit befragt. Dabei geht es vor allem um die sozialgeschichtliche Ausrichtung der Familienforschung bis Mitte der 1990er Jahre und die kulturgeschichtliche Entwicklung seither. Eigene Unterkapitel reflektieren drei im familiengeschichtlichen Zusammenhang regelmäßig auftretende Fragen: die nach Anfängen und langer Dauer, nach dem Umgang mit Subjektivität und nach den Grenzen von Fakt und Fiktion. Leitbild ist dabei nicht die Vollständigkeit des Lexikons, sondern die erfahrungsgestützte, also begründbare, wenn auch subjektiv bleibende Auswahl von häufig auftauchenden Motiven in Familiengeschichten.

Das dritte Unterkapitel versucht eine Antwort zu entwickeln, was damit gemeint ist, Familiengeschichte als Ressource der Zeitgeschichte zu nutzen.

Bei den Grundstrukturen und Entwicklungstrends der Familie im 20. Jahrhundert geht es dann um das Verhältnis von Stabilität und Dynamik, Kontinuität und Wandel. Soziologische Perspektiven stehen im Vordergrund, wobei versucht wird, auf zeitgeschichtliche Quellenbeispiele hinzuweisen.

Ein eigener Teil präsentiert in Auswahl exemplarische Forschungspositionen der Historischen Familienforschung, der Geschichte der Familie im 20. Jahrhundert, der Lebenslaufforschung, der Historischen Anthropologie, der Soziologie und Pädagogik. Auch wenn von ihren Wirkungen gelegentlich die Rede sein wird, ist die Familienpolitik kein Gegenstand dieser Darstellung: nicht nur aus Raumgründen, sondern weil sie ein eigenständiges Thema der politischen Geschichte und der Politikwissenschaft darstellt.70 Sie thematisiert Familien in der Objekt-, nicht der Subjektperspektive. In die Geschichte und Leitbilder der Familienpolitik, ihre Entwicklung in der Bundesrepublik sowie familienpolitisch relevante Sozialstaatskonzeptionen führt u. a. ein Themenheft Familie und Familienpolitik der Informationen zur politischen Bildung von 2008 ein.71

Im ersten Kapitel des Praxisteils kommen praktische Fragen der familiengeschichtlichen Quellen- und Zeitzeugenarbeit zur Sprache: u. a. typische Probleme mit den Quellen und mit den Zeitzeugen (auch der Zeitzeugen mit den Historikern), schließlich die besonders prägenden Genre-Narrative der Familiengeschichte und ihre Wirkung auf unsere Weise der Darstellung der Familiengeschichte.

Das zweite Praxis-Kapitel gilt der systemisch-psychologischen Herangehensweise an die Familiengeschichte.

Der Ausblick stellt exemplarisch vier Felder der Zusammenarbeit von Zeitgeschichtswissenschaft und familiengeschichtlicher Praxis vor. Dabei geht es jeweils um Fallstudien.

Trotz aller (de-)konstruktivistischen Struktur-, Problem-, Diskurs- und Mentalitätsrorientierung sind und bleiben quellennahe case studies das Feld, auf dem sich Familiengeschichte zuallererst bewähren kann. Im Anhang stelle ich das Projekt zur Sicherung von familienbiographischen Quellen an der Evangelischen Christuskirchengemeinde Karlsruhe vor. Außerdem ist dort die Einleitung meiner eigenen Familiengeschichte abgedruckt. Beides prägt den hier vorgestellten Zugang zur Geschichte der Familie des 20. Jahrhunderts.

Dieses Perspektivenbündel wird durch den Begriff der Ressource zusammengehalten. Er hat hier eine doppelte Bedeutung:

•  individuelle und kollektive Stärke im Sinn der Entwicklung von Resilienzfähigkeit (Fähigkeit zur Mobilisierung von Widerstandsfähigkeit durch Rückgriff auf persönliche Erfahrungen und Prägungen);

•  vorgefundene (schriftliche, bildliche) oder (z. B. durch Oral History- Befragung) generierte Quelle.

Beide Dimensionen erschließen sich nicht von selbst, sondern müssen vom Zeithistoriker im Dialog mit dem Zeitzeugen gehoben bzw. entwickelt werden. Der quellenorientierte Zeitzeugendialog ist der Kern des Konzepts der Erschließung der Familiengeschichte als Ressourceder Zeitgeschichte.

Vieles muss und kann dieser Überblick nicht leisten. Ein Abriss zur Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert in Verbindung mit einem multidisziplinären Forschungsbericht liegt in der bereits erwähnten gleichnamigen Monographie von Andreas Gestrich vor.72