Über Sparsamkeit - Rolf-Ulrich Kunze - E-Book

Über Sparsamkeit E-Book

Rolf-Ulrich Kunze

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Beschreibung

Sparsamkeit gilt als eine besonders "deutsche" Eigenschaft. Politisch ist sparen hierzulande allgegenwärtig, gerade jetzt in Krisenzeiten. Es hat die Form des Mythos, der immer wieder hart mit der Realität zusammenstößt: Die Ökonomie der "schwäbischen Hausfrau" ist nicht die einer Volkswirtschaft und eine "Schuldenbremse" mit Verfassungsrang macht es nicht überflüssig, Ausgaben politisch auszuhandeln. Auch vor dem Privaten macht die Sparsamkeit nicht halt: Überall werden wir mit Idealen und Empfehlungen überhäuft. Rolf-Ulrich Kunze untersucht anhand zahlreicher Quellen - von Kochbüchern über Werbung und Medienberichten bis hin zu Ratgeberliteratur -, wie sich die Vorstellungen über Sparsamkeit seit 1950 in Westdeutschland entwickelt haben und wie sie alltagswirksam wurden. Was hat uns die noch ungeschriebene Geschichte der Sparsamkeit heute zu sagen?

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

Dank

1 Sparsamkeit: Konzepte, Probleme, Methoden, Fragen

Warum überhaupt Sparsamkeit? Zum Gegenstand und zur Methode

Sparsamkeit und Marshmallowtest

Sparsamkeit und Zeit

Sparerziehung

Die Maus Frederick, die Farben sammelt, und eine Äsop-Fabel variiert

Das Verb zum Substantiv: sparen

Sparsamkeit als Strategie der Bildung sozialen Kapitals

Sparsamkeit im bürgerlichen Alltag vor der Mitte des 20. Jahrhunderts

Sparsamkeit und Selbstbewusstsein

Sparsamkeit und Wissensgeschichte

Definitionen von Sparsamkeit

Sparsamkeit, Bedürfnisse und Bedarf

Die subjektive und die objektive Seite der Sparsamkeit

Haushalten, Gender und Sparsamkeit

Die Angst vor dem Verzichten

Sparsamkeit und das Weiternutzen alter Dinge

Sparsamkeit und die Kritik der Massenkonsumgesellschaft

Indirekter Sparsamkeitsbezug der Gegenwartskritik: das Beispiel Straßenbahn versus Auto

Sparsamkeit, Recycling und die quellenferne Theorie der Materialströme

Sparsamkeit versus Wachstum?

Sparsamkeit und die Kritik der biologistischen Rechtfertigung von Wachstum

Sparsamkeit und Postmaterialismus

Sparsamkeit transnational

Sparsamkeit und Ungleichheit

Über Geiz

Über Verschwendung

Über Askese

Der Mythos von der Sparsamkeit als goldener Mitte

Das Sparschwein

2 Exemplarische Quellen zum sozialen und mentalen Wandel von Sparsamkeit von den 1950er Jahren bis heute

Lehre aus der Gier: eine niederdeutsche Weihnachtsgeschichte, 1948

Eine (Nicht-)‌Reise-Spargeschichte aus der niedersächsischen Erstlesefibel, 1950

Sparsamkeitsbewusstes Konsumieren: Radio-Tipps für die Hausfrau, 1951

Sparsamkeit, ein schreibender Autodandy und das Automobil, 1953

Markenbindungskonservatismus und Sparsamkeitswerte: der Opel Olympia, 1956

Sparsamkeitsmoment Kochbuch, 1959

Werterhaltende Buchfolie, 1960

Mehr oder weniger bewegtes Autoblech mit Wankelmotor?, 1960

Sparsame neue Materialien, 1961

Autogerecht Kreuzungen einsparen, 1960

Sparsames vertikales Wohnen: das Stuttgarter Hannibal-Projekt, 1962

Sparsamkeitslexikon, 1963

Sparsamkeit und andere Kriterien für den Auto-Test, 1963

Sich den Kavaliersstart sparen, 1963

Männlich kaputtgesparte oder weiblich falsch verstandene Ehe, 1963

Anti-Sparsamkeit: Supermarkteinkauf, 1964

Verbrennungswärme sparen: Brennstoffzellenutopien, 1964

Produktionszeit einsparen: westdeutscher Planismus, 1965

Ego-Expressionskraft der Sparsamkeit: Käfer-Werbung, 1965

Bildungssparsamkeit als Problem, 1966

Sparsamer Energieträger, 1967

Das deutsche Spar-Auto I: Und läuft und läuft und läuft, 1968

Das deutsche Spar-Auto II: Käfer-Werbung, 1968

Sparsamkeitswelt Haushaltsratgeber, 1968

Anleitung zum Investment statt zum Sparen, 1968

Sparen mit der Rennreisemaschine, 1969

Kilometer sparen, 1970

Sparmomente: Modulare Billigmöbel, 1970

Sparsame Anfänge: Nordseeurlaub auf Langeoog, 1960 – 1980

Der logische Bruch: Sparen durch Mehrkonsum, 1971

Sparsamkeitskomplexität: Der Club-of-Rome-Bericht, 1972

Verbrauchervorsicht, 1972

Mit den Ressourcen des Bauens sparen, 1972

Fußgänger einsparen: Eine Verkehrsutopie, 1972

Sparsam mit Autorität umgehen: Über Kindererziehungstrends, 1972

Onkel Dagobert und die Last der Sparsamkeit, 1976

Sparsamer Kulturbegriff: Kulturführer, 1976

Sparsame Modernisierung: Die Deutsche Bundesbahn, 1977

Sparsamkeit und die Sechs von der Müllabfuhr, 1977

Sparsames Radfahren, 1978

Stabiles Interieur: Familienfotos Advent und Weihnachten, 1978 – 1988

Sparsamkeitsmoment Schulkochbuch, 1981

Sparsamkeit am Beispiel des Selbstversorgergartens, 1985

Sparen durch strategisches Geldausausgeben: Wohnungsausbau, 1985

Sparsamkeitsmoment Retro-Kochbuch, 1986

Sparsamkeit nach Tipps, 1987

Der sparsame Schriftstellermillionär in einem Roman Walter Kempowskis, 1988

Abwesende Sparsamkeit: Schulkochbuch, 1992

Kritik der falschen Sparsamkeit durch Lebensmitteldesign, 1996

Sparsames Heimwerken, 1997

Haus‍(frauen)‌arbeitsrationalisierung, 1997

Fleischlos ohne Verzicht: Vegetarisches Kochbuch, 1997

Das elektrische Kochbuch, 1998

Systemische Sparsamkeit: Aldi, 1998

Geiz ist geil: Animation zur Post-Sparsamkeit, 2002

Die Bildformung der sparsamen 1950er Jahre, 2002

Sparsamkeitsmoment Familienküche, 2005

Sparsamkeitsmoment Studium, 2011

Hedonistische Post-Sparsamkeit: Der Selbstversorgergarten, 2016

Sparsamkeit gegen den Klimawandel, 2019

Sparsam studentisch leben: Ein Praxisbericht, 2020

Sparsamkeitsschrecken: Rückblick auf das Energiesparen in der Ölkrise 1973, 2022

Spartipps der Stiftung Warentest zum Einkaufen in der Inflation, 2022

Klassische Sparsamkeitsargumente in der Energiekrise, 2022

Älteres Sparsamkeitswissen in der Inflationskrise, 2022

Sprit sparen mit dem ADAC, 2023

CO

2

-Sparsamkeit durch Fahrradfahren, 2023

Zwölf Spartipps der Verbraucherzentrale Hamburg, 2023

Sparsamkeits- als Sparkassenproduktlernen: ein interaktives Lernheft der Sparkassen, 2023

Secondhand zwischen sozialer Nachhaltigkeit und Lifesyle-Konsumismus, 2023

Sparsamkeitsbewusstes Heizen, 2023

Bücherboxen, 2023

Sparsamkeitsumfrage, 2023

3 Ausblick: Und was soll uns das (nicht) für heute sagen? Sparsamkeit in der Gegenwart

Anhang

Einladung zur Einsendung von Sparsamkeitserfahrungen in einem evangelischen Gemeindeblatt

Einladung zur Einsendung von Sparsamkeitserfahrungen in einem katholischen Diözesanblatt

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Online-Quellen (in der Reihenfolge der Erwähnung)

Literatur (auch online)

Abbildungsverzeichnis

Register

Personen

Orte und Begriffe

Der Autor

Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze, geb. 1968 in Osnabrück, lehrt Neuere und Neueste Geschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Studium in Frankfurt am Main und Würzburg, 1989 – 1994; Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes; Promotion zum Dr. phil. 1995 in Würzburg; Habilitation für Neuere und Neueste Geschichte 1999 in Mainz; 2000/2001 Wiss. Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main; Heisenberg-Stipendiat der DFG; seit 2001 in Karlsruhe.

Rolf-Ulrich Kunze

Über Sparsamkeit

Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte

Verlag W. Kohlhammer

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Umschlagabbildung: dariaustiugova – stock.adobe.com 1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-045292-3

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-045293-0epub:ISBN 978-3-17-045294-7

Vorwort

Korinna Schönhärl

Ausgeben oder lieber sparen? Wohl denen, die vor dieser Entscheidung stehen, also prinzipiell die Möglichkeit haben, etwas zurückzulegen – viele Bürgerinnen und Bürger am unteren Ende der Einkommensskala können vom Sparen nur träumen, zumindest was das Geld angeht. Kann man denn noch anderes sparen? Das vorliegende Buch zeigt eine beeindruckend lange Liste von potentiell Sparbarem: Ressourcen wie Benzin oder Werkstoffe, Inhaltsstoffe wie Kalorien oder Fette können ebenso sparsam (oder verschwenderisch) eingesetzt werden wie Arbeitskraft, Autorität oder Zeit. Wie wir ihren Verbrauch gestalten oder gestalten sollten, wird in Freizeitmagazinen und Werbekampagnen, in Lexikonartikeln und Kochbüchern, in Gedichten und Märchen, in privaten Familienfotos und dem Bericht des Club of Rome thematisiert. Aus diesem Quellenreichtum schöpfend, spürt Rolf-Ulrich Kunze in einer kultur- und alltagshistorischen Collagetechnik den best practices des Sparens nach und hinterfragt deren Narrative, in anregendem Plauderton, aber zugleich mit analytischer Schärfe.

Dabei wird sehr deutlich, dass Sparen niemals nur der individuelle Akt, die individuelle Entscheidung ist, als den oder die wir es meist erleben. Sparen ist immer hochpolitisch: Die volkswirtschaftliche Perspektive klingt stets mit, wenn potentielle Konsumentinnen und Konsumenten zum Sparen oder eben zum Ausgeben ermutigt werden sollen: Mal wird für die wichtige Kapitalbildung durch Sparen geworben, mal die Möglichkeit der Kapitalismuskritik durch Konsumverweigerung betont oder eben dieser Konsum als Lebenselixier des Kapitalismus oder grandioser Moment der Selbstverwirklichung gefeiert. Ob der Mensch eher spart oder eher konsumiert, ist ein wesentliches Element der Identitätskonstruktion. In letzter Konsequenz geht es immer darum, welche ökonomischen Praktiken für ein gutes Leben in der Gemeinschaft eigentlich nötig und sinnvoll sind, und wie sich die gesellschaftlichen Vorstellungen davon im Laufe der Zeit wandeln.

Warum ist, darüber hinaus, dieses Buch für uns im Jahr 2024 wichtig? Kunze führt seine Analyse bis an die Gegenwart heran, in der der Deutsche Bundestag sein traditionell wichtigstes Hoheitsrecht, das Budgetrecht, kaum gegen die Verfechter der Schwarzen Null verteidigt. Die falsche Analogie der schwäbischen Hausfrau ist wirkmächtig genug, alle Gegenwehr im Keim zu ersticken. Der perfekte Moment, um mit einem keynesianisch inspirierten Kapitalismuskritiker über das Sparen und seine Mythen nachzudenken.

Paderborn, im März 2024Korinna Schönhärl

Dank

Ohne die vielfältigen Anregungen und Debatten zu Fragen der politischen Ökonomie mit meinem Karlsruher Kollegen Prof. Dr. Rolf-Jürgen Gleitsmann, Technikgeschichte, hätte ich mich nicht auf das Gebiet der Mentalitätsgeschichte der Sparsamkeit begeben. Der Dank dafür bezieht auch die vielen Jahre gemeinsamer Arbeit in Karlsruhe mit ein.

Dr. Klaus Gaßner, Chefredakteur des traditionsreichen Konradsblatts, der Wochenzeitung der Erzdiözese Freiburg i. Br., hat diese Studie entscheidend unterstützt, indem er meinen Aufruf zur Darstellung von subjektiven Sparsamkeitserfahrungen in einem Interview aufgriff. Dafür danke ich herzlich. Pfarrerin Gabriele Hug und Pfarrerin Susanne Labsch sowie dem Ältestenkreis meiner Evangelischen Christuskirchengemeinde Karlsruhe danke ich für Ihre Bereitschaft, meine Sparsamkeitsnachfrage im Gemeindeblatt zu veröffentlichen.

Ein kompletter Satz der Technikzeitschrift hobby von der zweiten Hälfte der 1950er bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre hat mir mein Freund, der Technikhistoriker Prof. Dr. Kurt Möser, überlassen. Ebenso konnte ich von dem bibliophilen Erbe seiner automobilgeschichtlichen Sammlung und vielen Gesprächen über die Paradoxien der Auto-, Segelboot-, Altbauten- und Großspurmodellbahngeschichte profitieren.

Prof. Dr. Marcus Popplow, Leiter des Karlsruher Departments für Geschichte, und meiner Kollegin PD Dr. Désirée Schauz, ebenfalls Department für Geschichte, danke ich für die Möglichkeit, das Thema im Forschungskolloquium vorzustellen und mit fortgeschrittenen Studentinnen und Studenten zu diskutieren. Diese Anregungen waren besonders wichtig, weil sich die Zeitzeugenstatements zur Sparsamkeit aus dem konfessionellen Umfeld ausnahmslos in der Altersgruppe über 65 Jahre bewegen. Universitätsarchivar Dr. Klaus Nippert, KIT, danke ich für die Überlassung eines sprechenden Groß-Sparschweinfotos aus Schwaben.

Es freut mich besonders, dass mit Prof. Dr. Korinna Schönhärl eine ehemalige Karlsruher Kollegin und wirtschaftsgeschichtliche Expertin das Vorwort zu übernehmen bereit war.

Ein großer Teil der für diese Studie verwendeten Quellen, insbesondere der zahlreichen Ratgeber und Kochbücher sowie der Hauswirtschaftsliteratur, stammt aus Karlsruher Bücherboxen. Zu danken ist das einer sparsamkeitsfähigen Zivilgesellschaft, die zeigt, dass kreative postmaterielle Kreislaufwirtschaft in manchen Feldern manchmal möglich und sinnvoll ist.

Dr. Julius Alves, Geschichtslektorat bei Kohlhammer, danke ich für seine sprachliche und inhaltliche Genauigkeit.

Dem KIT-Department für Geschichte danke ich herzlich für die Übernahme der Druckkosten.

Karlsruhe, im April 2024Rolf-Ulrich Kunze

1 Sparsamkeit: Konzepte, Probleme, Methoden, Fragen

»Wir wollen alle Tage sparenUnd brauchen alle Tage mehr«.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust II, 1. Akt, Kaiserliche Pfalz

Warum überhaupt Sparsamkeit? Zum Gegenstand und zur Methode

In Zeiten des russischen Angriffs- und Vernichtungskrieges gegen die Ukraine, des auf die Vernichtung des Staates Israel zielenden Pogroms durch die islamistisch-terroristische Hamas auf israelischem Boden, der Demokratiekrise des Westens und des außer Kontrolle geratenen menschengemachten Klimawandels scheint es Ausdruck einer fragwürdigen Prioritätensetzung zu sein, als politischer Historiker in verstehender und kritischer Absicht ausgerechnet über Sparsamkeit zu schreiben. Und doch haben das Sparen und die Einstellung der Sparsamkeit gerade zu den umweltpolitischen Leitthemen der Gegenwart einen unmittelbaren Bezug. Die im Ansatz verfehlte Energiepolitik der strategischen Abhängigkeit von einem alten und neuen geo- und systempolitischen Gegner, die bis in die Zeit der Ostpolitik zurückgeht und durch ausnahmslos alle Bundesregierungen vertieft wurde, führte im Winter 2022/23 zu Aufforderungen der Regierung an die Bürger, Energie zu sparen. Tatsächlich griff dieser Appell trotz aller rechtspopulistischen Bemühungen, dies als unzumutbaren Eingriff in die Privatsphäre und in den Wohlstandsbesitzstand zu diskreditieren, in beachtlichem Umfang.1 Interessant ist auch, dass diese Aufforderung auf Sparsamkeitsmotive zurückkam, die seit den 1970er Jahren immer wieder Thema in den Medien waren.2

Die Energiekrise erwies sich psychologisch und ökonomisch als beherrschbar, weil eine große Zahl der zum Sparen aufgerufenen hedonistischen Konsumbürger die politisch bedingte Einschränkung akzeptierte und unter anderem das Heiz- und sogar das Bekleidungsverhalten änderte. Dies war bei nicht wenigen auch Ausdruck der Solidarität mit einer von Russland überfallenen europäischen Demokratie, die um ihre Existenz und gegen eine Zukunft im Gulag kämpft. Wahrscheinlich hätten nur wenige Experten vor dem Winter 2022 eine Prognose gewagt, die ein solches Maß an Anpassungsbereitschaft und Verzichtsfähigkeit der an einschränkungslosen Konsum gewöhnten Deutschen für möglich hält. Verzicht ist ein Begriff, den die Parteipolitik als toxisch meidet.

Auch bei der anderen, langfristigeren Herausforderung unserer Epoche, den politischen und ökonomischen Antworten auf den Klimawandel, sind nicht nur die Status-quo-Floskeln wie Technologieoffenheit, sondern auch Sparen und Sparsamkeit Thema, wenn auch immer noch bei einer Minderheit. In einer Umfrage aus dem Jahr 2019 gaben über 27 % der Befragten im Auto- und SUV-Land Bundesrepublik die grundsätzliche Bereitschaft an, aus Rücksicht auf die Umwelt auf ihr Auto verzichten zu wollen.3 In der Postwachstumsdebatte wird seit dem Erscheinen des Club-of-Rome-BerichtsThe Limits to Growth4 im Jahr 1972 darüber diskutiert, ob es so weitergehen kann, dass jede neue Stufe der Industrialisierungsgeschichte mit einem Quantensprung im Energieverbrauch nach oben verbunden ist, und wie realistisches grünes Wachstum aussehen könnte.

Paradoxerweise scheinen beim Thema Sparsamkeit das Private und das Politische manchmal zwei weit entfernte, nicht erfolgreich kommunizierende Welten zu sein – sowohl auf Wahrnehmungs- als auch Handlungsebene. Während viele Privatleute in einer akuten politischen Krise ihre spontane Sparbereitschaft unter Beweis gestellt haben und das Sparen bei den transitionsrelevanten Fragen von Energie und Mobilität zumindest nicht ausschließen, ängstigt sich die Bundespolitik – auch die der progressiven Ampel-Regierungsfraktionen – vor jeder denkbaren Überforderung des wahlberechtigten Bundesbürgers. Sinnbildlich dafür wurde der ohnehin schmallippige und parataktische Bundeskanzler, der erst recht nicht über die Länge des Duschens reden wollte. Das Paradox vertieft sich, wenn die Privatleute von der wachstumsfixierten Politik zum Konsum ermuntert werden, während gleichzeitig die staatliche Infrastrukturentwicklung austeritätspolitisch ausgebremst, vertagt oder aufgegeben wird. Sobald von Sparsamkeit die Rede ist, scheinen sich Wähler und Gewählte oft einfach nicht mehr zu verstehen. Sparsamkeit wird entweder tabuisiert oder ideologisiert.5 Trotzdem waren und sind viele Menschen sparsam und haben ein präzises Verständnis davon, was Sparsamkeit für sie bedeutet.

Sicherlich ist Akzeptanz in einer Demokratie eine entscheidende Ressource und oft ein flüchtiges Gut. Die in Teilen der Gesellschaft vorhandene Bereitschaft zur Verhaltensänderung aber aus Angst vor dem rachsüchtigen Wähler in Zeiten der Demokratiekrise zu frustrieren, ist vor allem eines: Verschwendung von Zeit, die in der Frage des Klimawandels ohnehin davonläuft. Möglicherweise liegt das Problem tiefer, auf der Ebene der Projektion des privaten Sparverhaltens auf öffentlich-staatliche Sparsamkeit. Das ist zwar volkswirtschaftlich unmöglich, zählt aber zu den mächtigen Grundmustern politischer Kommunikation. Das Wortfeld des Sparens gehört zu den starken Suggestivbereichen der politisch-ökonomischen Sprache: vom Engerschnallen des Gürtels über die Nullrunde, das finanzpolitische Zaubern bis zur Schwarzen Null und dem rechtspopulistischen Gleichsetzen von progressiver, in die Zukunft investierender Politik mit roten Zahlen. Diese Emotionalität ist nicht erstaunlich, geht es doch um ein Regulativ der materiellen Kultur, ihrer dinglichen und immateriellen Bedeutungsebenen.6

Julia Friedrichs hat vor dem Hintergrund ihrer eigenen journalistischen Arbeit auf die enorme Gefühlsbedeutung hingewiesen, die in der Bundesrepublik regelmäßig mit dem Thema der stärkeren Besteuerung großer Vermögenserbschaften auftritt. Sie sei eine Art Beißreflex der Vielen, die gar nicht betroffen sind oder jemals sein können, aber gleichwohl mit großer stellvertretender Aggressivität das Totschlagargument des Neides ins Feld führen, wenn die bewunderten Milliardenerben und Erfolgsikonen mehr Steuern zahlen sollen.7 Schon die Idee eines Antastens von Eigentum stellt in der ansonsten im Vergleich zu den angloamerikanischen Muttergesellschaften des modernen Kapitalismus ungleichheitssensiblen deutschen Gesellschaft ein absolutes Tabu dar. Selbst die Frage nach dem Zustandekommen des Eigentums, z. B. durch den reinen Zufall der Geburt, löst starke Gefühle von Abwehr und sogar Abscheu aus – als müsste die moralische Schönheit des Sozialaufstiegsmärchens vom Milliardär gewordenen Tellerwäscher gegen bösartige Märchenhasser und kommunistische Diebe verteidigt werden. Bei den Themen Wachstum und Sparsamkeit lässt sich Ähnliches beobachten. Sparsamkeit zu kritisieren oder zu hinterfragen, erzeugt starke Gefühle und eine Wagenburgsprache der vermeintlichen Grundrechtsnotwehr bei der Verteidigung von Autonomie und Freiheit. Das hohe Gut der Sparsamkeit soll nicht durch die Verschwender, Neider, Utopisten und Disziplinlosen beschädigt werden. Das vermeintlich uneingeschränkte Recht am Eigentum wird zum Inbegriff aller Grundrechte und zum Wesenskern unserer Verfassung, obwohl diesbezüglich ein Lesen des Grundgesetzes weiterhilft. Interessanterweise argumentieren so abwehrend nicht selten gerade diejenigen, die für wohltätige und gemeinnützige Zwecke sparen und spenden. Sparsamkeit scheint jedenfalls keineswegs in erster Linie ein rationales ökonomisches Thema zu sein. Vielmehr kommt der irrationalen Verdrängung der sozioökonomischen Realitäten eine große Bedeutung zu.

Wie viele unterschiedliche Vorstellungen von Sparen und Sparsamkeit es in der Gesellschaft der Bundesrepublik gibt, wie sie zustande kamen und wie sie sich seit den 1950er Jahren zunächst in Westdeutschland, dann im kapitalistischen neuen Nationalstaat von 1990 verändert haben, ist der Gegenstand dieser Untersuchung. Wie werden Auffassungen von Sparsamkeit alltagswirksam? Wie wirken sie als Mentalität in den geäußerten Überzeugungen und Werthaltungen nach? Warum ist Sparsamkeit nicht nur unter Europäern ein offenbar unzerstörbares Sozialverhalten, das sich in jede Richtung begründen und bezwecken lässt, auch wenn es oft das Gegenteil erreicht?

Dieser Ausschnitt der Sparsamkeitszeitgeschichte soll weder Tugendlob noch -kritik sein, auch keine Mangel-‍, Fehl- oder Verlustklage. Es ist genug Arbeit zu verstehen, wie bestimmte Zielgruppen von Ratgebern, Publizistik und Werbung adressiert werden und wie sie sich selbst sehen. Darin steckt, wie unsere Zeit einmal mehr zeigt, stets mehr Politik, als man zunächst annehmen sollte, weil es um Mentalitäten geht. Und so versteht sich diese sozial- und mentalitätsgeschichtliche Untersuchung auch als Teil der Antwort auf eine grundlegende Frage, die in der »Mitte-Studie« der Friedrich-Ebert-Stiftung 2023 von Sabine Achour an die politische Bildung gestellt wird: ob nicht »eine systemstabilisierende Demokratieförderung eine kritische Perspektive auf die neoliberale Leistungsgesellschaft, gar auf den Kapitalismus erfordert«.8 In einem Wort zusammengefasst: Ja. Die Geschichte als Wissenschaft kann die Perspektiven der Sozialwissenschaften dabei um eine Tiefendimension ergänzen. Sie kann aber nicht den Anspruch erheben, einen Werkzeugkasten zur Problemlösung bereitzustellen. Die Geschichtswissenschaft soll Erfahrungen aufarbeiten und bereitstellen, nicht mehr und nicht weniger. Sie nimmt niemandem die politische Entscheidung ab.

Vor allem aber ist der Sparer eine faszinierende zeitgeschichtliche Figur, die mit ihren Einstellungen, Erwartungen und Praktiken Einfluss auf die Gestaltung der gesamten Realität nimmt: ökonomisch, sozial, politisch, kulturell. Und wer glaubt, das Leitartefakt des Themas sei nur das Sparschwein und der inoffizielle Feiertag dazu der Weltspartag, kann noch viel entdecken. Unter anderem Marshmallows und eine für sparsam erklärte 100-PS-Tourenlimousine des Jahres 1968.

Der Titel der Studie könnte eine wissensdiskursgeschichtliche methodische Ausrichtung erwarten lassen, in der geklärt wird, wie in einem bestimmten Zeitraum von bestimmten Akteuren oder Gruppen in einer bestimmten Perspektive über Sparsamkeit gedacht und vor allem geschrieben worden ist.9 Das wäre ein möglicher Zugang. Selbst wenn man den Diskursbegriff und die Medien des Diskurses weit auffasst, ergäbe sich bei einem ökonomisch-sozialen Thema aus dieser Methodik allerdings fast zwangsläufig eine konzeptions- und theorielastige Vorauswahl der Quellen, die weg vom kleinen Sparsamkeitsalltag zu den großen volkswirtschaftlichen und politikgeschichtlichen Fragen der politischen Ökonomie von Soll und Haben führt.10 Im Mittelpunkt ständen dann die Makro-Ergebnisse des Sparens wie die Sparquotenentwicklung und die im Vergleich zu anderen westlichen Gesellschaften in der Bundesrepublik immer noch träge Bewegung weg von Sparbuch und Bausparen hin zu Aktien als Kapitalanlage bzw. die Frage, wie in der Praxis des Finanzsystems und der politischen Steuerung sowie in der Theorie der Ökonomie und Gesellschaft darüber nachgedacht und entschieden wird.

Diese Studie dagegen versucht, die Mentalität der Sparsamkeit in der Gesellschaft der Bundesrepublik zwischen den 1950er Jahren und heute aus verschiedenen Blickwinkeln zu rekonstruieren, ihre individuelle wie kollektive soziale Relevanz zu beschreiben und ins Verhältnis zum sozio-ökonomischen und kulturellen Wandel zu setzen. Das Sparen ist eine konkrete praktische Handlung – oder auch: eine konkrete unpraktische Unterlassung. Sparsamkeit ist eine abstrakte, konstruierte Vorstellung mit vielen möglichen, praktischen wie theoretischen Bedeutungen, die auf sehr unterschiedliche soziale Verhaltensweisen angewendet wird. Sie stellt einen Wert dar, den man ansprechen und selbst dann mobilisieren kann, wenn es inhaltlich um das Gegenteil von Sparsamkeit geht, nämlich die Ermächtigung zum Konsum. Auch der Verzicht auf Sparsamkeit kann paradoxerweise mit einem Sparsamkeitsargument gerechtfertigt werden, indem z. B. darauf verwiesen wird, es sei sparsamer, jetzt als später zu konsumieren. Auch das bestätigt die Relevanz von Sparsamkeitsideen in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Diese schweifende Suche nach den Spuren eines Einstellungsverhaltens der Sparsamkeit, einer Kombination aus einer Einstellung und dem daraus folgenden Verhalten, lässt sich nicht sinnvoll auf eine Leitmethode festlegen. Am ehesten kann man dabei von Mentalitätsgeschichte im Sinne der letzten Generation der Annales-Schule um Philippe Ariès und Georges Duby sprechen, in der sich Sozial-‍, Alltags- und Kulturgeschichte bei der Frage nach den Vorstellungen ergänzen und sich nicht, wie in der deutschen Tradition, gegenseitig das Thema streitig machen.11 Das mag man als Kulturgeschichte verstehen, obwohl dieser Begriff nach der allgemeinen Durchsetzung des dekonstruktivistischen Kulturalismus nicht mehr trennscharf ist.12 Mentalitäts- und Sozialgeschichte im Verständnis von Ariès und Duby trifft es besser. In diesem Sinn wurde das Thema konzipiert und wurden die Quellen ausgewählt.

Da es bislang noch keine Geschichte der Sparsamkeit gibt, kann hier auch nicht kritisch oder zustimmend auf ein bestimmtes Vorbild eingegangen werden. Immer wieder spielt die Geschichte der Familie eine Rolle. Sie stellt einen Erfahrungs- und Prägungsraum dar, in dem auch die Vorstellungen von Sparsamkeit intergenerationell vermittelt, eingeübt und relativiert werden. Darin spiegeln sich die die makroökonomischen ebenso wie die makropolitischen Kontexte, ohne dass sich die Mikro- aus der Makroebene erklären ließe oder umgekehrt. Was die Sparsamkeit als Thema betrifft, hilft der bisherige Forschungsstand der Geschichte der Familie jedoch nicht weiter. Sie wird bestenfalls am Rande des Zusammenhangs von Haushaltung und Hauswirtschaft thematisiert. Aber weder das Handbuch zur Geschichte der Familie von 2003, herausgegeben von Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer,13 noch Gestrichs Überblicksband Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert von 201314 führen im Register den Begriff der Sparsamkeit oder des Sparens auf. Das gilt auch für den ins Deutsche übersetzten, in der Annales-Tradition stehenden Band der Histoire de la famille zum 20. Jahrhundert aus dem Jahr 1986.15 Auch in der Wirtschaftsgeschichte scheinen individuelle und kollektive Mentalitäten der Sparsamkeit kein Thema zu sein.16

Fehlanzeigen lassen sich nicht durch Spekulation nach ihren Gründen schließen, sondern nur durch Quellenarbeit. Aber dass dieses auf so vielen historischen Ebenen der großen und der kleinen Geschichte, der Wirtschaft, der Politik, des Privaten, des Öffentlichen und schließlich in diversen Auto- und Familienbiographien greifbare Thema so gänzlich außerhalb des familiensozialgeschichtlichen Interesses liegt, provoziert natürlich durchaus die Frage nach den möglichen Gründen. Stand hier die Überformung und Aneignung der Sparsamkeit als deutsche und bürgerliche Tugend sowie als ideologisch konservativer Wert im Weg? Einen Beleg für diese Ideologisierung bietet der Konservatismushistoriker und CDU-Politiker Andreas Rödder. Er schließt sich 2006 einem oberflächlichen ›Werte‹-Verständnis von Sparsamkeit an, das diese pauschal den seit den 1960er Jahren durch den soziokulturellen Geltungswandel herausgeforderten und substanziell infrage gestellten traditionellen Werten zuordnet:

Das Gefüge gesamtgesellschaftlich gültiger Normen und Werte verschob sich – seit einem Schub um die Mitte der sechziger Jahre kontinuierlich fortschreitend – von »Pflicht- und Akzeptanzwerten« wie Arbeits- und Leistungsbereitschaft, Disziplin, Pünktlichkeit und Sparsamkeit, Gehorsam, Unterordnung und Autorität sowie von bürgerlichen Moralvorstellungen samt der Orientierung an einem den Individuen vorgängigen Gemeinwohl, hin zu »Selbstentfaltungswerten« wie Selbständigkeit und Mitbestimmung, Kritik, freiem Willen und individueller Autonomie, zu Selbstbestimmung statt festlegender äußerer Verbindlichkeiten.17

Schon ein kursorischer Blick auf die Quellen kann zeigen, dass dieses reflexartige Aufrufen des konservativen Kulturverfallsgenres und 68er-Traumas, taktisch relativiert durch die Unterscheidung zwischen der von links zerstörten Wertgeltung und der bleibenden konservativen Wertrelevanz sowie zwischen hedonistisch-neulinken und traditionalistisch-konservativen Werten, an der Sparsamkeitsgeschichte vollkommen vorbeigeht. Nicht die Geltung und Akzeptanz der Sparsamkeit verändert sich, sondern die Art ihrer Umsetzung. Neue Akteure verfolgen neue Ziele. Sparsamkeit wird aufgrund ihrer erstaunlichen Resilienz im sozialen Wandel zu einem Kernidentitätswert progressiver Mentalitäten: grün statt rot, integrativ statt regressiv, wachstumsskeptisch und konsumismuskritisch statt wachstums- und konsumideologisch. Rödder irrt auch darin, die Sparsamkeit primär im alten Kanon der preußisch-deutschen Sekundärtugenden zu verorten. Die Wirksamkeit ihrer Geltungsgründe ist historisch, insbesondere bürgertumsgeschichtlich, aber auch politisch in der postbürgerlichen, partikulatristischen Aushandlungsgesellschaft wesentlich diverser – und war es unter ganz anderen, vormodernen historischen Bedingungen auch lange vor dem preußisch-deutschen Nationalstaat.

Sparsamkeit ist kein nüchternes Thema, und so wird eine Studie dazu schnell für das eine oder andere ökonomische Lager in Anspruch genommen. Um nicht als Legitimitätsressourcenbeschaffer für die Neoklassik oder gar den Neoliberalismus missverstanden zu werden, möchte ich mich klar im keynesianischen Lager verorten. Die Sparsamkeitsbereitschaft von Menschen in ganz unterschiedlichen historischen Kontexten ist in keiner Hinsicht ein Argument für die im Ansatz – nämlich politisch und ökonomisch – verfehlte Gleichsetzung von privatem und öffentlichem Haushalten. Austeritätspolitik, die nicht allein auf ausgeglichene öffentliche Haushalte nach dem angeblichen Vorbild der ›schottischen Hausfrau‹ zielt, sondern privatisierungsideologisch auf die generelle Reduzierung von staatlicher Intervention und Regulierung in der Wirtschaft führt, ist demokratie- und zukunftsgefährdend. Die Generationengerechtigkeit durch Schuldenvermeidung ist nur die eine Seite der Austerität, die andere ist die Investitionsvermeidung und die Verstärkung sozialer Ungleichheit durch den Verfall von Infrastruktur. Ideologische Austeritätspolitik missbraucht die Sparsamkeitsbereitschaft der wachsenden Zahl von Menschen, die sich das Sparen nicht leisten können und die auf staatliche Infrastruktur von Verkehr bis Bildung angewiesen sind, und sie belohnt eine durch Geburt, keineswegs durch Leistung definierte Minderheit, die das Sparen gar nicht nötig hat, weil sich ihr Vermögen ohnehin vermehrt. Es ist moralisch zynisch, dies auch noch als vermeintliche Leistungsgerechtigkeit zu rechtfertigen.

Die Zurückhaltung der Historiographie gegenüber der Sparsamkeit könnte auch noch einen weiteren, psychologischen Grund haben. In einer vollentwickelten Massenkonsumgesellschaft sind das Sparen und die mit ihm verbundenen Formen des Einstellungsverhaltens stigmatisiert. Wenn die Teilhabe am Wohlstand einen sichtbaren Maßstab des persönlichen Erfolgs darstellt, gerät derjenige, der andere Wertvorstellungen postuliert und praktiziert, leicht in Verdacht, in Wahrheit einfach nicht mithalten zu können, persönlich und auch gesellschaftlich zu versagen. Der Konsumismus beruht auf dem Paradigma und der Illusion der Überwindung jeder Sparsamkeitsnotwendigkeit. Wer viel und hart arbeitet, verdient sich ein Anrecht auf Konsum. Wer nicht konsumiert, arbeitet also nicht hart genug. Politisiert man diesen Fehlschluss, ist der Weg zum Rückbau des modernen europäischen sozialen Interventionsstaats kurz. Denn die Leistungsschwachen und -verweigerer bedürfen, so gesehen, nicht etwa irgendwelcher kompensatorischer Formen der Unterstützung, sondern der ermunternden und strafenden Zuführung zur Leistung auf dem ihnen eben möglichen Niveau.

Aber selbst dann, wenn man sich mit dieser ideologiegeschichtlichen Seite der Sparsamkeit auf der makropolitischen und gesellschaftsgeschichtlichen Ebene gar nicht beschäftigen möchte, sondern vielmehr mit den Erscheinungs-‍, Erfahrens- und Begründungsformen von Sparsamkeit in den verschiedenen Quellenformen von Werbung über Haushaltsratgeber bis hin zu Ego-Statements von Zeitzeugen, ist schnell eine Art gläserne Wand erreicht. Sparsamkeit scheint zu sehr in Lebensphasen und -situationen eine Rolle zu spielen, die mit sozialem und emotionalem Stress, manchmal sogar Scham in Verbindung gebracht und daher nicht unbedingt gern in Erinnerung gerufen werden. Das kann Ängste und Aversionen aufrufen, auch wenn nicht immer gleich von Retraumatisierung die Rede sein muss. Im Rückblick auf den Mangel der Wiederaufbaujahre leuchtet das vielleicht noch direkter ein als bei einer Familienbiographie der 1960er bis 1980er Jahre, in der es um den nicht immer glatten sozioökonomischen Aufstieg von der ersten kleinen in die größere Mietwohnung zum Reihenmittelhaus und vom VW Käfer zum Passat und um den Bildungssozialaufstieg der Kinder als Erstakademiker in der Familie geht.

Die Mühen der erlebten Sparsamkeit werden von den älteren Zeitzeugen über 65 auffällig gern hinter pauschalen positiven Formulierungen versteckt, das Thema sei ihnen und ihrer Familie »immer« wichtig gewesen, und »selbstverständlich« habe man gespart. Auch die unter Dreißigjährigen greifen auf eine ähnliche Rhetorik zurück, begründen das aber nicht mit Not- und Mangelerfahrungen in der Familiengeschichte, sondern häufig mit übergeordneten Zielen wie dem Klimaschutz. Welche konkreten Erfahrungen Verzicht im ständigen Vergleich mit anderen bedeutet, die weniger oder gar nicht verzichten müssen oder wollen, findet sich in den Berichten beider Zeitzeugengruppen selten. Eher noch fallen den Zeitzeugen Familienmitglieder oder Bezugspersonen im sozialen Nahraum ein, die keine Vorbilder für Sparsamkeit waren, was dann böse Folgen hatte, oder, im Fall von klimaschädlichem Verhalten, zu peinlichen Nachfragen und Fremdschämen führte. Anders gesagt: Das Sparsamkeitsthema rührt wahrscheinlich an Tiefenschichten der Selbstwahrnehmung und Selbstbildkonstruktion, die häufig ein Echo auf unangenehme, überwundene Erfahrungen oder persönlich empfundenen Druck zu moralisch richtigem Verhalten darstellen. Dies scheint schambewehrt zu sein. Viele Menschen reden inzwischen offener über ihre sexuellen Präferenzen als über ihre Sparsamkeit.

In vielen Quellen kommt Sparsamkeit als Thema nicht direkt, sondern als indirektes Argument oder Zielhorizont vor, wenn es um die Schaffung von Akzeptanz für Effizienzsteigerungen oder generell von effizienzrelevanter Optimierung im Konsumverhalten, in Produktionsabläufen und Arbeitsprozessen vom öffentlichen Raum bis zum privaten Haushalt geht. Die Art der Argumentation oder, im Fall von Werbung, der Suggestion adressiert erkennbar Leitmotive, aus denen Sparsamkeitskonzepte konstruiert werden: Zeitersparnis, Arbeitserleichterung, Wirkungsgraderhöhung oder auch einfach nur die Aura moderner Rationalität. Diese Studie behandelt auch und gerade solche indirekten Bezüge auf die Sparsamkeit, weil sie Aussagen über deren Geltungsrelevanz und -wandel aussagen. Überall, wo es inhaltlich um Sparsamkeit geht, wird eine best practice definiert, aus der bestimmte Kriterien resultieren, wie diese zu erreichen ist. Was im Einzelnen unter Effizienz verstanden wird, erscheint extrem wandelbar und für ökonomischen sowie politischen Missbrauch offen. In dieser Offenheit liegt zugleich ein Grund für die erstaunliche Anpassungsfähigkeit von Sparsamkeitskonzepten.

Auch wenn das trivial erscheint: Das Sparsamkeitsargument taucht in den untersuchten Quellen vor allem in den drei Formen auf, die Nietzsche als monumentalisch, kritisch und antiquarisch bezeichnet hat. In monumentalischer Absicht soll durch den Verweis auf die Sparsamkeit ein Vorbild für das eigene oder das kollektive Handeln aufgerufen und auf diese Weise als legitimierende Ressource erschlossen werden. Die Erinnerung an Sparsamkeit ermöglicht so eine imagined community derjenigen, die entweder ähnliche Erfahrungen oder Vorstellungen haben. Sparsamkeit wird zum geteilten Erinnerungsort und anschlussfähig für andere Erinnerungsressourcen, die sich wechselseitig verstärken und das us and them unterstreichen können. Als Definition legt jede vorgestellte Gemeinschaft auch die Out-group derjenigen fest, die nicht dazugehören. Da sich bestimmte Wirkungen von Sparsamkeit lebensweltlich leicht erkennen lassen, taugt sie als trennscharfes Unterscheidungsmittel für Vorstellungs- und Gruppenzugehörigkeit.

Ähnlich gut, weil nur die Intention ausgetauscht wird, aber die Trennschärfe erhalten bleibt, ist die Verwendung des Sparsamkeitsarguments in kritischer Absicht. Hier ist es das Ziel, eine als falsch oder defizitär empfundene Gegenwart bzw. ihre politischen oder ökonomischen Vertreter mit starken positionellen Argumenten zu kritisieren, um sie zu verändern. Das gesamte austeritätspolitische Denken beruht auf diesem Muster, indem es auf der Grundlage einer per se unterkomplexen Gleichsetzung von privater und volkswirtschaftlicher Ökonomie aus den individuell und gesellschaftlich vorhandenen Sparsamkeitsvorstellungen und -verhaltensformen eine politisch-ökonomische Waffe macht. Das ist mit dem populistischen Hinweis auf die finanzielle Nichtbelastung künftiger Generationen immer wieder ein sehr wirkungsvolles Argument, weil es darüber hinwegzusehen ermöglicht, dass hier exemplarisch Ungleiches gleich behandelt wird. Privat ist nicht öffentlich, nicht jedes Sparen ist sinnvolle Sparsamkeit. Weil mit Austerität ein so kräftiger Hammer zur Verfügung steht, müssen alle Probleme eben Nägel sein. Die schwäbische oder schottische Hausfrau (m/w/d) spart für ihre Hauswirtschaft, die keine konjunkturzyklenabhängige Volkswirtschaft ist.

In der auto- und familienbiographischen Thematisierung von Sparsamkeit spielt die nostalgisch-antiquarische Verklärung als Leitmotiv der Selbstpositionierung eine Rolle: je schlechter die Zeiten, desto größer der Erinnerungswert an die in der Sparsamkeitsdisziplin erlebte Selbstwirksamkeit, die sich dann wiederum kritisch gegen jede weniger sparsame Gegenwart wenden lässt. Sparsamkeitsnostalgiker müssen deswegen keineswegs in allen Hinsichten ihres gegenwärtigen Lebenszuschnitts besonders sparsam sein. Sie verfügen lediglich über eine Ressource mehr.

Nicht die anthropologische Allgemeinheit der hier mit Nietzsches Begriffen sichtbar werdenden überzeitlichen Relevanz von Sparsamkeit ist bemerkenswert, sondern die Kontinuität des konkurrierenden Nebeneinanders aller drei Verwendungen – sowohl beim Individuum wie auch in der Gesellschaft. Wer weitergehende Staatsinterventionen rechtfertigen möchte, wird sparsamkeitsmonumentalische Argumente finden, dass der demokratisch legitimierte Verfassungsstaat vieles besser – und vor allem besser legitimiert – regeln kann als die allein am Gewinn interessierten privaten Akteure. Wer die staatliche Überregulierung und Verschwendung anprangern oder den sozialen Interventionsstaat möglichst abschaffen will, wird in kritischer Absicht mit Sparsamkeit argumentieren. Und wer die Sparsamkeitsvergangenheit besonders schwarz oder golden darstellen möchte, wird auch dies unschwer können. Die Sparsamkeit gehört deshalb weder den Monumentalikern, den Kritikern oder den Nostalgikern allein, sondern immer allen zusammen. Jeder Akteur von Sparsamkeit agiert und argumentiert selbst mal in der einen, mal in der anderen Perspektive oder Motivationslage.

Sparsamkeit und Marshmallowtest

In der Kinderpsychologie kommt dem Marshmallowtest seit den späten 1960er Jahren Bedeutung für die Einschätzung der Befähigung zum Gratifikationsaufschub zu.18 Wird auf den sofortigen Verzehr eines Genussgegenstands, eines Marshmallow, verzichtet, erfolgt in dem von Walter Mischel entwickelten Test die spätere Belohnung in Gestalt eines weiteren, des zweiten Marshmallow. In dieser überzeugend einfach wirkenden Konditionalität der Impulskontrolle, die Rückschlüsse auf den psychologischen Entwicklungsstand und die Persönlichkeitsstruktur erlauben soll, sind viele Annahmen über die Wertsetzungsmechanismen einer modernen industriellen, sozial heterogenen Leistungsgesellschaft enthalten. Die hier bei Kindern geprüfte Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Selbstdisziplin wird als wertvolle Verhaltensstrategie der Stress- und Frustrationsresistenz markiert. Wer sich im Marshmallowtest früh als verzichtsfähig erweist, wird aller Voraussicht nach im späteren sozialen Leben dieses Muster ähnlich anwenden und weitaus erfolgreicher sein als alle, welche die schnelle Belohnung bevorzugen. Wer verzichten kann, so die Anschauung in kompetitiven Kulturen, wird später führen, und das, so scheint es, zu Recht.

Weniger sozialdarwinistisch ließe sich Sparsamkeit als komplexes Sozialverhalten beschreiben, zusammengesetzt aus unendlichen, graustufigen Variationen von Persönlichkeitsmerkmalen, der Wahrnehmung sozialer und sozioökonomischer Kontexte und vieler kultureller Traditionen einschließlich ihrer Mentalitätsschatten. Die Akteure unterziehen sich und andere ständig Marshmallowtests. Nur dürften die Ergebnisse keineswegs so eindeutig sein wie die aggressive Interpretation, die aus einem guten Abschneiden im Test ein Maximum an Persönlichkeitsdominanz und Selbstbehauptungskompetenz im sozialen Wettbewerb aller gegen alle ableitet. Das ist keineswegs die einzig mögliche Deutung. Es kann viele, sehr unterschiedliche Gründe für eine größere Befähigung zu einer bestimmten Art von selbsteinschränkender Verhaltenskontrolle und planerischem Verzichtsverhalten geben. Zudem verändert sich der soziale Kontext der Gesellschaft, in dem ein solches Verhalten praktiziert wird, manchmal schneller als dieses Verhalten.

In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass der Marshmallowtest zu einem Zeitpunkt in den USA entwickelt und später in zahlreichen Studien eingesetzt wurde, um 1970, als sich die Massenkonsumgesellschaft in Nordamerika, Westeuropa und Japan endgültig durchgesetzt hatte.19 Ihr Geschäftsmodell und cultural code ist die schnelle, sofortige und – noch wichtiger – kontinuierliche Genussbefriedigung. Dafür stellt sie nicht nur die Warenströme und Ratenkaufmodelle bereit, sondern vor allem suggestive Narrative, die das Nichtbestehen im Marshmallowtest rechtfertigen. Anders gesagt: Das soziale Verhalten der Sparsamkeit als Artikulation von Selbstkontrolle mit Blick auf eine antizipierte Zukunft erscheint in diesem Licht geradezu als partisanenhafte, antikonsumistische Verweigerung des Trends der Zeit, andererseits umso mehr als herausgehobene leadership quality. Aber so schwarz-weiß lässt sich Sparsamkeit ebenso wenig verstehen wie die Konsumgesellschaft, wie u. a. der in London lehrende Konsumhistoriker Frank Trentmann in seiner monumentalen Geschichte des Konsums betont.20 Konsum ist nicht nur auch, sondern sogar in besonderer Weise Kultur und Biographie.

Diese Untersuchung geht davon aus, dass es im Sparsamkeitsverhalten in der Gesellschaft der Bundesrepublik ungefähr seit 1950 Veränderungen im Zusammenhang mit der Entwicklung hin zur pluralistischen, posttraditionellen Massenkonsumgesellschaft gegeben hat.21 Untersucht werden soll, wie Sparsamkeit seither thematisiert wird: im Sinne des Marshmallowtests, aber nicht nur. Keineswegs wird damit explizit oder implizit ein Verschwinden der Sparsamkeit in der Bundesrepublik behauptet. Das wäre schon im Hinblick auf die Entwicklung der Sparquote rein faktisch falsch. Schon 1966 schreibt der Wirtschaftsjournalist Werner Meyer-Larsen über die Westdeutschen als »Volk der Sparer« auch gegen jeden ökonomischen und massenkonsumistischen Trend:

1965, im Jahre des größten Kaufkraftverlustes der Deutschen Mark, ist der Zugang an Spareinlagen hierzulande um 22 Prozent größer gewesen als im Jahre davor. Nicht weniger als 118 Milliarden Markt haben Anfang 1966 auf der hohen Kante gelegen, und zwar allein auf herkömmlichen Sparkonten, für die es damals dreidreiviertel Prozent Zinsen gab, derweil die Statistiker einen Kaufkraftschwund von viereinhalb Prozent registrierten. Mit anderen Worten: Die Guthaben des kleinen Mannes allein »deckten« zu Beginn dieses Jahres den Gesamthaushalt von Bund, Ländern und Gemeinden, aber die dafür gezahlten Zinsen deckten nicht einmal den Wertverlust des Geldes.22

Angesichts eines solchen deutschen Sparverhaltens, das auch heute unter veränderten Bedingungen noch grundsätzlich ähnlich ist, kann es daher auch nicht um eine kulturpessimistische Klage gehen, früher sei mehr gespart worden. Auch das ist in dieser pauschalen Form nicht zutreffend.23 In jeder Epoche und unter allen sozialen Bedingungen gibt es Menschen, die selbst dann den einen Marshmallow sparen, wenn ihnen gar kein zweiter versprochen wird.

Sparsamkeit und Zeit

Der Bremer Philosoph Norman Sieroka beschäftigt sich in einem Beitrag, der im Kontext einer Kapitalismus-Analyse steht, mit dem Phänomen der Zeit-Wahrnehmungen als und im Verhältnis zu ökonomisch gedachter Beschleunigung. Sieroka betont die Funktion der Zeit als »eine Dimension oder ein Ordnungsparameter.« Das ermögliche die Unterscheidung, Vorstellung und Erfahrung diverser Zeitebenen: »die persönliche, erlebte Zeit jedes Einzelnen, die gesellschaftliche, intersubjektive Zeit (...) und die physikalische Zeit«.24 Alle ökonomischen Parameter können seiner Anschauung nach Zeit nicht definieren. Den Zusammenhang zwischen Sparsamkeit und Zeit sieht der Philosoph kritisch, weil er hier lediglich metaphorische Ungenauigkeit ausmacht:

Man hört und liest von Zeitersparnis, Zeitkosten, Zeitgewinn, Zeitverlust und vielem mehr. Das suggeriert, die Zeit selbst sei so etwas wie eine materielle oder ökonomische Ressource. Aber die Vergleiche, die in diesen Begriffspaarungen stecken, hinken: Erspartes Geld kann ich gewinnbringend anlegen, doch Zeit lässt sich nicht verzinsen: Aus einer dreiviertel wird keine ganze Stunde.25

Für Sieroka ist der Gegensatz zwischen subjektiver und objektiver Zeit besonders wichtig. Darin sieht er einen wesentlichen Grund für die Ungenauigkeit der zu stark verallgemeinernden ökonomischen Rede von der Beschleunigung, die an konkreten Lebenssituationen real ungleicher Subjekte objektiv vorbeigehen könne: »[S]‌elbst mitten im Berufsleben einer kapitalistischen Gesellschaft wird Zeit nicht von allen gleich empfunden«. Der Philosoph beklagt die ökonomische Standardisierung: »Denn wenn bestimmte Tätigkeiten oder Vorkommnisse nur häufig genug als Zeitverschwendung und Zeitverlust deklariert werden, dann werden sie nach und nach sehr wahrscheinlich auch allgemein als weniger wertvoll erachtet.«26

Sierokas Hauptthese lautet, Beschleunigungsstress entstehe durch ökonomisch erzwungene »Frequenzerhöhungen«27 in allen Lebensbereichen. Diese sind für ihn ein Beispiel von Fremdbestimmung. Warum Sieroka dann am Ende seines Beitrags vor diesem objektivistischen Hintergrund zu dem Postulat umschwenkt, zeitwahrnehmungsbedingter Stress sei »also letztlich eine Sache der Einstellung«28 des Subjekts und nicht, wie er vorher argumentiert, fast schon gesetzmäßig objektiv ökonomisch determiniert, bleibt offen.

Selbst oder gerade dann, wenn in wohlverstandener philosophischer oder sonstiger Aussageabsicht der Gegenwartskapitalismus mit guten Gründen kritisiert werden soll, führt es nicht weiter, bewusst dekontextualisierend gegen ökonomische Begriffe zu argumentieren, ohne die sich der Kapitalismus nicht differenziert beschreiben lässt. Zeitersparnis ist, ökonomisch gesprochen, ein Effizienz- und gegebenenfalls Produktivitätsgewinn, damit ein Marktvorteil gegenüber Konkurrenten. Sicherlich bestimmt das Effizienzdenken im entwickelten Kapitalismus stark und oft genug brutal die Lebensgestaltung und kann eine Form extremer Ausbeutung darstellen, weil die im Produktionsprozess gesparte Zeit in Produktions- und Qualitätssteigerung, nicht in mehr Zeitautonomie investiert wird. Nicht die Zeit wird dabei ökonomisch als Ressource verstanden, sondern immer die Arbeit. Sierokas Sparsamkeitsverständnis bleibt künstlich unterkomplex, weil er sich für die unterschiedlichen Motivationen derjenigen, die sparen, gar nicht interessiert. Darüber hinaus reduziert er, hier wiederum ganz ökonomistisch, den Begriff des Sparens auf das Investieren. Die Akteure der kapitalistischen Ökonomie erscheinen als hilf- und willenlose Maschinenteile in einem nicht verstehbaren Apparat.

Eine Philosophie der Sparsamkeit müsste und könnte anders ansetzen, indem sie die Zeitlichkeitskonzepte der Ökonomie und die der ökonomischen und gesellschaftlichen Subjekte differenziert ins Verhältnis setzt. Dabei spielt die historische Dimension der Erfahrung eine entscheidende, oft genug tragische Rolle, wenn z. B. ein gesellschaftliches Mentalitätstrauma der Inflationserfahrung die hohe Sparneigung vieler Individuen nicht infrage stellt, sondern sogar fördert, und es dann zu einer weiteren politisch-ökonomischen Katastrophe kommt. Sparsamkeit ist im Übrigen ein entschleunigendes Sozial- und Einstellungsverhalten, das die Konsumfrequenz mit Blick auf Zukunftsziele absenkt sowie die ökonomische und politische Stabilitätsorientierung fördert. Sparer sind ohnehin keine Revolutionäre und zumindest in manchen Hinsichten schlechte Konsumenten, aber trotzdem wird auch dadurch der hochfrequente Konsumismus nicht abgeschafft. Solche Überlegungen setzen aber voraus, sich auf die Ökonomie und ihre Akteure einzulassen und ihre Performanzen und Vorstellungen ernst zu nehmen, auch und gerade, wenn sie der Kritik unterzogen werden. Es gibt beschreibbare kapitalistische Beschleunigung noch auf ganz anderen Ebenen, z. B. beim automatisierten globalen Onlinehandel mit Börsenpapieren, dessen Zeitbegriff erst noch zu untersuchen wäre. Erforderlich ist dafür auch eine wirtschaftsethische Berücksichtigung des Zeitaspekts bei Zinsen im Verhältnis zu Investitionen. Niemand hindert die Philosophie daran.

Sparerziehung

Wie sich der genetische zum soziokulturellen Anteil beim Sparen verhält, untersucht eine Studie der Ökonomen Henrik Cronqvist und Stephan Siegel aus dem Jahr 2015. Sie kommt zu dem folgenden Ergebnis:

We find that genetic differences explain about 33 percent of the variation in savings behavior across individuals. Each individual is born with a genetic predisposition to a specific savings behavior, an effect that origins of savings behavior is found not to disappear later in life. Parenting contributes to the variation in savings rates among younger individuals in our sample, but its effect has decayed significantly for middle-aged and older individuals; that is, parenting does not have a lifelong impact on their children's savings propensities. We also find that the family environment when growing up (e. g., parents' wealth) moderates genetic predispositions to a particular savings behavior, evidence that is consistent with theories that genetic effects are stronger in more supportive environments. Finally, we examine why savings behavior is genetic and find that savings behavior is genetically correlated with income growth, smoking, and obesity, suggesting that the genetic component of savings behavior reflects genetic differences across individuals with respect to time preferences or self-control.29

Die Internetseite »Jugend und Finanzen« des Schulserviceportals der Volksbanken und Raiffeisenbanken stellt sich eindeutig auf die Seite der nicht-genetischen, durch Erziehung gestaltbaren 67 % des Verhaltens. Die Autoren gehen davon aus, dass sich das Sparverhalten nicht nur erlernen lässt, sondern tatsächlich mit dem Eintritt in das schulfähige Alter auch geübt werden muss: »Mit dem ersten eigenen Geld können sich Kinder und Jugendliche bereits zwischen Sparen und Konsumieren entscheiden und somit einiges über den Umgang mit Geld lernen.«30 Jüngere Kinder sollten wöchentlich, ältere monatlich Taschengeld bekommen, um die Planung im Umgang mit Geld zu fördern. Wichtig für den Lerneffekt, so ist auf der Seite weiter zu lesen, sei die Bedingungslosigkeit: »Wofür sie ihr Taschengeld ausgeben möchten, sollten die Kinder selbst entscheiden. Ganz gleich ob Süßigkeiten, Spielwaren oder Zeitschriften: In erster Linie soll das Taschengeld dazu dienen, individuelle Wünsche zu befriedigen.«31

Abb. 1:Empfohlene Taschengeldbeträge laut der Seite »Jugend und Finanzen« der Volks- und Raiffeisenbanken.

Mobilitäts- und Schulkosten sollten die Eltern weiterhin tragen. Die Autoren geben zu, dass es zu der Frage, ob Kinder für ihr Taschengeld dazu angehalten werden sollen, im Haushalt zu helfen, und in welchem Umfang sie dazuverdienen können bzw. sollen, pädagogisch keine abschließende Meinung gebe. Die Eltern sollten den Schritt zum eigenen Girokonto und zur eigenen Kontokarte begleiten.

Die Erziehung zur eigenen Sparbiographie als Teil der ökonomischen Bildung wird hier nicht nur als Form des Erwachsenwerdens gesehen, sondern auch als Weg in die persönliche finanzielle Unabhängigkeit auf dem eigenen Lebensweg. Sie ist somit ein wichtiger Teil der Persönlichkeitsbildung und zugleich der gesellschaftlichen Sozialisation, auch wenn bzw. gerade weil Taschengeld nur in einem bestimmten sozialen Kontext der Weg in die finanzielle Unabhängigkeit ist. Der historische Blick auf die Verschiedenheit solcher Kontexte kann zeigen, dass es auch völlig andere Formen der ökonomischen und insbesondere der Sparerziehung geben kann. Landwirtschaftliche, manchmal auch Handwerks-Betriebe waren lange und sind teilweise noch heute Mehrgenerationen-Ökonomien mit verteilten generationellen Rollen und einem generationell abgestuften Anteil am ökonomischen Gesamterfolg. Auch das kann eine Form der Heranführung an ökonomische Eigenverantwortung und der Einübung eines sparsamkeitsorientierten Verhaltens sein, bei dem die Relevanz der eigenen Einstellungen und Handlungen viel direkter als beim Taschengeld zu einer ›erwachsenen‹ Wirksamkeitserfahrung und gleichzeitig zu einer praktischen Einsicht in ökonomische Zusammenhänge werden kann. Sicherlich bleibt richtig, dass diese familiäre Mitarbeit und das Hineinwachsen in ökonomische Verantwortung früher häufig auf Kosten der verfügbaren Bildungs- und Ausbildungszeit sowie der Selbstentfaltung und Milieuemanzipation gingen. Allerdings sollte man heutige Maßstäbe an diese Kosten nicht so weit retrograd anlegen, dass ein ganzer Bereich der im ländlichen Raum und im Handwerk wesentlichen Sozialisationserfahrung historisch nicht mehr in den Blick genommen und vorschnell unter traditionalistischen Sozialverhältnissen abgelegt wird. Es gab und gibt viele Schulen der Sparsamkeit.

Die Maus Frederick, die Farben sammelt, und eine Äsop-Fabel variiert

Die 34. Äsop'sche Fabel lässt keinen Zweifel aufkommen, wie sich das vorsorgende Sparen zur freien Kunst verhält:

Zu Winterszeit zog eine Ameis ihr Korn, das sie im Sommer in ihr Haus getragen, herfür, es an der Luft zu trocknen. Da kam eine hungrige Grille zu ihr und bat sie um die Speis, daß sie am Leben bleiben möchte. Die Ameis fraget sie, was sie im Sommer getan hätte. Antwortet die Grill: ich bin nicht müßig gegangen, bin hin und her durch die Zäun gesprungen und hab gesungen. Da lacht die Ameis, beschloß ihr Korn und sprach: hast du im Sommer gesungen, so tanz im Winter.32

1967 erschien das Kinderbuch Frederick des amerikanischen Autors Leo Leonni. Es erzählt und zeigt die Geschichte der Feldmaus Frederick, die, anders als ihre Artgenossen, im Spätsommer nicht alle Lebensenergie darauf verwendet, für die kalte Jahreszeit vorzusorgen und Nahrung zu horten. Frederick sitzt vielmehr in der Landschaft und tut scheinbar gar nichts. Darauf von den erkennbar verärgerten Mitmäusen angesprochen, gibt er eine so poetische wie provozierende Erklärung für seine Asozialität: er sammele Farben. Und im langen Winter machen dann die Sparsamen und die Fleißigen die Erfahrung, dass die Maus nicht nur vom Brot allein lebt. Frederick hat ein anderes, aber auch ein Lebensmittel fleißig gesammelt: Farben, von denen er so erzählen kann, dass allen warm wird.

In Leonnis Bezugnahme auf Äsop liegt gar keine Kritik der Tugenden des Fleißes und der Vorsorge, im Gegenteil. Die Geschichte öffnet nur das Bewusstsein dafür, dass es sehr verschiedene Formen von Sparsamkeit als Vorsorge gibt, die für eine soziale Gemeinschaft relevant sein können. Eine hartherzige, phantasiearme Gesellschaft, die das vergisst, muss vielleicht von Schauergeschichten mit Happy End wie Charles DickensA Christmas Carol aus dem Jahr 1843 wachgerüttelt werden, in der es eines Geister-Weckrufs bedarf, um den menschenfeindlichen Geizhals und Erzkapitalisten Ebenezer Scrooge – den Namensgeber für Walt Disneys Uncle Scrooge bzw. Onkel Dagobert – davon zu überzeugen, dass übertriebene Sparsamkeit in mehrerlei Hinsicht töten kann.

Sparsamkeit ist, wie Leonnis Kinderbuch zeigt, eine sehr komplexe Strategie des sozialen Verhaltens. Zu ihrer Geschichte gehört auch, dass die Formen des Sparens und der Sparsamkeit in verschiedenen Epochen ganz unterschiedliche Wertschätzung genießen. Das kann Indikatorfunktion für den sozialen Konsens haben, der in den entsprechenden Gesellschaftsformen herrscht. Vielleicht bringt ein umgangssprachlicher norddeutscher Lakonismus zur Rechtfertigung des Aufbewahrens das auf den Punkt: Wer weiß, wozu das gut ist.

Das Verb zum Substantiv: sparen

Das altgermanische Verb mittelhochdeutsch sparn, althochdeutsch sparen, -on, niederländisch sparen, englisch to spare, schwedisch spara hatte ursprünglich den Sinn »bewahren, unversehrt erhalten, schonen«, der in andern germanischen Sprachen bis heute fortlebt. Daraus ist besonders im Deutschen die Bedeutung »für später zurücklegen; nicht gebrauchen; weniger ausgeben« entstanden, die schon seit dem 16. Jh. üblich wird und heute vorherrscht. (...) Ableitungen: (...) sparsam »haushälterisch; knapp« (im 16. Jh. wohl zum Verb sparen gebildet), dazu Sparsamkeit w. (16. Jh.).33

Der etymologische Artikel des Duden dokumentiert eine der frühen Bedeutungsverschiebungen des Sparens und die Erfindung der Sparsamkeit in der Frühen Neuzeit. Beide Wortverwendungen und Verständnisse liegen im Bereich des Ökonomischen und sind jeweils durch ein anderes Verständnis der Grenzen der Ökonomie charakterisiert. Im älteren Gebrauch wird eine statische ökonomische Situation beschrieben. Bestimmte Ressourcen stehen für Gebrauch und Verwendung nicht zur Verfügung. Dafür kann es verschiedene und zusammenwirkende Gründe auf ganz unterschiedlichen Ebenen geben: weil sie heilig, für das Selbstverständnis in unberührter Form unverzichtbar oder schlicht mit den verfügbaren technischen Mitteln der Zeit nicht zu erschließen und damit außer Reichweite sind. Sobald diese im Verständnis der Zeit objektiven Grenzen ihren Begrenzungscharakter verlieren, Heiligkeit, Tradition und technische Nichtnutzbarkeit relativiert oder sogar aufgehoben werden, passiert etwas Bemerkenswertes. Das statische und ausschließende Begriffsverständnis des Verbs sparen wird stark erweitert. Sparen heißt nun in einem neuen Funktionszusammenhang: zielgerichtete Nichtverwendung als Grundlage für spätere Investition. An die Stelle des Unterlassens tritt das strategische ökonomische Handeln. Dieses wird zur Grundlage für das kapitalistische Basisphänomen, das die Vormoderne von der Moderne trennscharf unterscheidet: Wachstum. Mit dem alten Begriff des Sparens ist jede moderne Wachstumsökonomie und damit die industrielle Revolution mit allen ihren irreversiblen Konsequenzen ausgeschlossen. Das neue Begriffsverständnis ebnet den Weg zur Welt der rauchenden Schornsteine erst in einem Teil, dann überall auf der Welt. Sparen ist nicht mehr vorkapitalistische Bedarfsvorsorge, sondern, mit Karl Marx, ursprüngliche Akkumulation, der kapitalistische Urprozess der Gewinnerzielung durch Investition.

Das neue, kapitalistische Sparen ermöglicht einen eigenen abstrakten Begriff, die Sparsamkeit. Das bildet einen dramatischen Wandel in der Wahrnehmung von Wirklichkeit ab. Nicht ihr offenbarungswahrheitlicher oder traditioneller Sinn entscheidet über den Umgang mit der Wirklichkeit, sondern die doppelte Buchführung, activa und passiva. Dass diese Begriffsverwendung sozialgeschichtlich zunächst für die Trägerschicht der in der Frühen Neuzeit dynamisch aufstrebenden west-‍, nord- und südeuropäischen Varianten des Buddenbrook-Handelsbürgertums typisch wird, ist Ausdruck einer Revolution in der Ökonomie. Deren Schockwellen sind auch daran erkennbar, dass Karl Marx und Friedrich Engels sie in ihrer Klassenkampf-Meistertheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert einzufangen und als ein Indiz für die Richtigkeit ihres dialektischen und historischen Materialismus zu deuten versucht haben.

Aber so einfach lässt sich der Bedeutungswandel des Begriffs schon deshalb nicht erklären, weil er nicht der einzige bleibt und weder dieser frühe noch einer der späteren allein auf eine Klassenkampflogik reduziert werden kann. Außerdem bleibt die ältere Bedeutung im kollektiven Gedächtnis durch bestimmte Träger wie die Konfessionskirchen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein präsent. Mit der Diskussion um The Limits to Growth seit 1972 gewinnt die ältere Bedeutung eine neue globale Relevanz aus einer ganz anderen Perspektive, für die es zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen deutschen Begriff gibt: Nachhaltigkeit.

In dieser Studie zu Verständnissen von Sparsamkeit in Westdeutschland von 1950 bis heute sollen alle in den Quellen vorkommenden Verwendungen und Bedeutungen von Sparen und Sparsamkeit behandelt werden, aber darüber hinaus auch diejenigen Thematisierungen, in denen es inhaltlich, aber nicht unbedingt begrifflich explizit um Sparen und Sparsamkeit geht, sondern um die darin verdichteten Vorstellungen und Haltungen. Sparsamkeit ist überall dort, wo in irgendeiner Weise über das Sparen nachgedacht, sparsam gehandelt, dazu angeleitet oder damit geworben wird.

Dieser weite, Kritiker werden mit einem gewissen Recht sagen: diffuse, von einer Definition weit entfernte Schubladenbegriff von Sparsamkeit, der auf die Sparsamkeitsprinzipien von Vorsorge, Investition, Effizienzsteigerung und best practice abstellt, drückt zugleich den mentalitätsgeschichtlichen Grundzug der Herangehensweise aus. Mentalitätsgeschichte geht über die Begriffs- und Diskursgeschichte ebenso wie über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte darin hinaus, dass sie darauf abzielt, die rein begriffliche Kommunikation und das Einstellungsverhalten sowie die kulturelle Repräsentation von Sprache zueinander ins Verhältnis zu setzen. Es geht, wie Peter Burke herausgearbeitet hat, um die Geschichte von représentations collectives, représentations mentales und illusions collectives oder, mit Georges Lefebvre gesagt, um eine historie des mentalités collectives.34 Diese lassen sich häufig nur in einer Form der Annäherung beschreiben, woraus nicht geschlossen werden sollte, dass es sie nicht gibt. Bestimmte Argumente, Metaphern und Performanzen in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen haben oft Indikatorfunktion für das, was eine kollektive Mentalität ausmacht. Mit der Feststellung, es handele sich dabei um Narrative, ist noch nichts erklärt. Außerdem sind ein Sparschwein und ein Bausparvertrag ebenso wenig Erzählungen wie partielle Konsumverweigerung und die Jagd nach Sonderangeboten.

Alle hier behandelten Zusammenhänge sparsamen Verhaltens und der Konzeption von Sparsamkeit sind letztlich auf die Spannung in der deutschen Wortverwendungsgeschichte zwischen dem Sparen als Bewahren und Sparen als Anlegen zurückzuführen. Durch sie wird ein weites Feld von Bedeutungen und ein andauernder Streit um die größere Relevanz des einen oder des anderen Pols von Sparsamkeit angelegt, der die deutschsprachige Sparsamkeitsgeschichte charakterisiert. Das ist im Englischen ganz anders, weil hier mehrere Begriffe für unterschiedliche Sparsamkeitsaspekte zur Verfügung stehen:

sparen (...) I. (...) (Geld, Kosten, Kräfte, Mühe, Platz, Zeit) save; (Mühe) spare; (Geld zurücklegen) put by (for a rainy day); spare dir deine Worte! save your breath!; sparen Sie sich solche Bemerkungen you had better keep such remarks to yourself; das hättest du dir sparen können that was unnecessary; II. (...) (sich einschränken) cut down expenses, economize; (knausern) stinge, skimp (mit on); sparen mit be sparing of; fig. mit Lob usw.: be chary of (...).35

In dieser Studie lässt sich zeigen, dass die Bedeutungsvielfalt des englischen Wortfelds zu Sparen und Sparsamkeit inhaltlich in den deutschsprachigen Quellen in der Verwendung der Worte Sparen und Sparsamkeit enthalten ist. Das betrifft neben der Grundspannung zwischen Nichtverwenden und strategischer Verwendung auch die Intensitäten, Begründungen, Praktiken (best practice) und Kritik der Verwendung bzw. der Nichtverwendung. Überall dort, wo letztlich eine ökonomische Abwägung über das Bewahren oder Investieren vorliegt, kann es um Sparsamkeit gehen, weil eine Intention, eine Verhaltensrichtung erkennbar wird. Die Wüste ist nicht wassersparsam, sondern meistens wasserarm. Sparsamkeit ist kein anderes Wort für Ökonomie, aber überall dort, wo Ökonomie stattfindet, lässt sich Sparsamkeit als Mentalität beobachten. Das soll hier geschehen, auch wenn man sich über manches herangezogene Beispiel sicher streiten kann.

Sparsamkeit als Strategie der Bildung sozialen Kapitals

In einem Sammelband über Soziales Kapital in der Bürgergesellschaft aus dem Jahr 1999 fragt die Berliner Historikerin Ute Frevert nach der Renaissance der Bürgerlichkeit.36 In mehr als einer Hinsicht gehört die Sparsamkeit nicht nur zu den ambivalenten Kernkonzepten und sozialen Währungen der Blütezeit des Bürgertums im 19. Jahrhundert,37 sondern auch der spät- und nach-bürgerlicher Sozialkapitalbildung in Frieden und Krieg, Demokratie und Diktatur im 20. Jahrhundert. Gilt das auch noch oder wieder für das 21.? Die Frage ist nicht beantwortet mit der Behauptung, früher war weniger Lametta. Oder mehr.

Zunächst rekonstruiert Frevert die historischen Kontexte von »Bürgertugend und Bürgersinn«38 im Spannungsverhältnis von bürgerlichem Privatinteresse und Gemeinwohl: »Selbständigkeit, Selbstbehauptung, Selbstbewußtsein, persönliche Unabhängigkeit, die Betonung des eigenen Nutzens«,39 kultiviert in der Familie und bedingt trainiert in der Klassenschule und -universität des Bürgertums im 19. Jahrhundert, standen dem Imperativ zur politischen Partizipation als Selbstregierung gegenüber. Das stellte das Geschäftsmodell der liberalen Bürgerlichkeit dar, die Interdependenz von Privatheit und Öffentlichkeit, idealerweise »die in staatliche Form geronnene Bürgergesellschaft oder ›civil society‹.«40

Frevert ist bewusst, wie schnell die historische Rekonstruktion in die ideologische Falle läuft, ins Genre des liberalen Narrativs oder in das seiner politischen Gegner hineinzuschreiben. Deshalb formuliert sie zur Diskussion der Anwendbarkeit von Erkenntnissen aus der Bürgertumsgeschichte des Sozialkapitals im 19. auf das 1999 noch bevorstehende 21. Jahrhundert zwei Fragen in kritischer Absicht:

1.

Funktionierte das bürgerliche Modell des kooperativen Individualismus, der Integration von Ich-Bezogenheit und Wir-Orientierung, in der Praxis? Gab es ein »goldenes Zeitalter« der Bürgerlichkeit?

2.

Kann uns der Rückgriff auf diese Bürgerlichkeit heute eine Perspektive zeigen? Stecken im kulturellen und sozialen Kapital, das im bürgerlichen Sozialmilieu erworben wurde, Potentiale, die mit Blick auf das 21. Jahrhundert neu bewertet und vermehrt genutzt werden könnten/‌sollten?41

Auch die Geschichte der Sparsamkeit, einer bürgerlichen Sekundärtugend, die im 19. Jahrhundert derart selbstverständlich gewesen zu sein scheint, dass Frevert sie gar nicht ausdrücklich erwähnt, steht vor einem ähnlichen Dilemma wie die Sozialkapitalgeschichte: den Anschein zu erwecken, in ein neoliberales und neokonservatives Mindset hinein zu argumentieren und der Austeritätspolitik der letzten Jahrzehnte allein durch das Aufgreifen des Spar-Themas zu einer historischen Legitimität zu verhelfen.

Freverts Ansatz, aus dem Kontextverständnis einer komplexen und ambivalenten Mentalitätsgeschichte Fragen für eine ganz andere Zeit mit ganz anderen Relevanzen zu entwickeln, ist vielmehr das Ziel auch dieser Studie: Was veränderte sich am bürgerlichen Modell der Sparsamkeit in Westdeutschland zwischen den 1950er Jahren und heute? Hält dieser Mentalitätswandel Erkenntnisse bereit, die auch auf andere Formen des sozialen und politischen Wandels übertragen werden könnten oder sollten? Die Antworten sind ausdrücklich nicht in den Fragen enthalten. Wie beim bürgerlichen Sozialkapital und Gemeinwohlbewusstsein reicht die Klage über das Verblassen oder Verschwinden nicht aus. »Soziale Verantwortung entsteht im Alltag, in den kleinen sozialen Netzen. Sie lebt vom Vorbild, von der Ermunterung – und von der Bereitschaft der Institutionen, diesem Engagement offen, aufmerksam und lernfähig zu begegnen, anstatt es als störend und unkonventionell abzustrafen.«42 Private Sparsamkeit kann ein Inbegriff sozialen Kapitals sein, das die Zivilgesellschaft konstituiert, wenn Privatleute ihre begrenzten Mittel gezielt und kooperativ einsetzen, um Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen. Auch wenn diese Strategie sehr weit gehen kann, wird in modernen Industriegesellschaften das politische Gemeinwesen damit keineswegs aus seiner Verantwortung für wesentliche Bereiche der Infrastruktur und Daseinsvorsorge entlassen, sondern bestenfalls entlastet und durch die Kooperation mit der Zivilgesellschaft dialogischer und im besten Fall subsidiär gestaltet. Den Sozialstaat aber kann auch die sparsame und ins Gemeinwohl investierende Zivilgesellschaft nie ersetzen.

Sparsamkeit im bürgerlichen Alltag vor der Mitte des 20. Jahrhunderts

Vorstellungen von Sparsamkeit wirken auch als historischer Erfahrungsspeicher für sozialen Wandel und seine Wirkungen. In seinem 1971 erschienenen familien- und autobiographischen Erfolgsroman Tadellöser & Wolff beschreibt Walter Kempowski im vierten Kapitel eine Sparsamkeitsszene aus seiner bürgerlichen Rostocker Familie Ende der 1930er Jahre. Auch der Regisseur Eberhard Fechner hat sich diese bürgertumsgeschichtlich bezeichnende Episode für seine Fernsehverfilmung des Romans aus dem Jahr 1975 nicht entgehen lassen.

Walter, seine ältere Schwester und sein älterer Bruder treten allsonntäglich nach dem gemeinsamen Familienmittagessen beim väterlichen Großvater Kempowski an, einem vormals steinreichen Reeder, um von ihm das Geld für das Kinderprogramm im Kino zu erbitten. Das ist ein zeitaufwendiges Ritual:

»Großvater, wir müssen nu gehen.«

»Na, denn giv mi ma mine Tasch ...«

Mit kraftlosen Fingern öffnete er die Ziehharmonika-Börse und grabbelte nach Münzen.

»Iss dat noog?« sagte er und legte 5 Pfennig auf die Lehne seines Stuhls, als hätte er sie noch nie gesehen.

»Nee, Großvater.«

»Dunner di Düwel nich noch eins ...« und wieder legte er eine Münze hin. Manchmal auch eine Fischschuppe, die er zu Sylvester ins Portemonnaie getan hatte, damit es nie leer wird.

War es »noog«, dann griffen wir das Geld und rasten los. Die Treppen runterspringen, die Türen schmeißen.

»Wetten, daß wir es nicht schaffen?«

»Darauf gebe ich dir Brief und Siegel.«

Der Alte stieß mit dem Krückstock gegen das Fenster und schüttelte die Faust. »Petri fief, fief!« (Das war eine Bibelstelle, fünftes Kapitel Petri, fünfter Vers: »Ihr Jungen, seid untertan den Ältesten ...«)43

Der eingeforderte, neutestamentlich legitimierte Respekt der Jungen gegenüber dem Alten – »Desgleichen ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter.« – ist das eine. Das andere ist der Kult um das Herausrücken von Geld. Die Enkel sollen sozialisiert werden, was den Umgang damit betrifft. Wenige Kapitel danach wird der Leser die doppelbödige Ironie dieser Szene der Sparsamkeitspädagogik erst verstehen, wenn nach dem Tod des Großvaters klar wird, in welchem das Erbe gefährdenden Ausmaß er selbst keineswegs so gehandelt und gewirtschaftet hat, wie er es gegenüber den Nachkommen vorspielt, was die Pfennigwirtschaft umso absurder erscheinen lässt.

Das Kino-Geld gibt es nicht einfach so. Es muss erbeten und anständig empfangen werden, auch in einem repräsentativen bürgerlichen Setting, das tatsächlich bereits der Pleite entgegengeht, die nur durch den Tod des Alten und die finanziellen Rettungsmaßnahmen seines Sohns Karl und dessen Frau abgewendet werden kann. Sie müssen mitten im Krieg nun sparen, weil der Alte es nicht getan hat und sie nur Schulden erben.

Es mag zum sensationellen Erfolg von Kempowskis Roman nicht wenig beigetragen haben, dass es ihm als Vertreter seiner Generation auf eine besonders sensible Weise gelungen ist, derartige Sollbruchstellen in der bürgerlichen Identität mikrogeschichtlich anschaulich zu rekonstruieren. Ähnliche Szenen in anderen Familien und anderen Verhältnissen ermöglichten es einer bestimmten Generationskohorte beim Erscheinen des Romans Anfang der 1970er Jahre, eine bürgerliche Wertewelt wiederzuerkennen, die zu diesem Zeitpunkt endgültig in der Massenkonsumgesellschaft zu verschwinden begonnen hatte und deshalb erfolgreich Literatur und Film werden konnte. Das ähnelt der Funktion von Thomas MannsBuddenbrooks für die bürgerliche Gesellschaft. Kempowski ist nicht nur einer der Erfinder der Erinnerungsorte, sondern auch der Sparsamkeitsgeschichte, lange bevor es einen Begriff dafür gab.

Sparsamkeit und Selbstbewusstsein

In einem Leitartikel für die Süddeutsche Zeitung vom 28. September 2023 berichtet Sebastian Herrmann über eine neue psychologische Studie zur Frage des Zusammenhangs von Selbstbewusstsein und hohem Einkommen.44 Beruflicher Erfolg werde gern materiell nach außen dargestellt, wodurch sich seine Vorzeigereichweite und damit das Selbstbewusstsein erhöhe: »mehr Geld, breitere Brust. Ein hohes Einkommen und ein hohes Selbstbewusstsein gehen Hand in Hand.« Der psychologisch feststellbare Konnex sei »[e]‌rst das Geld, dann der Stolz«.45 Wer viel hat, macht viel her. Der materielle Erfolg mache den beruflichen und persönlichen sichtbar. Das fördere das Selbstbewusstsein, was wiederum im Sine einer wechselseitigen Verstärkung die Wahrscheinlichkeit weiteren Erfolgs erhöhe.

Mentalitätsgeschichtlich bezeichnend ist, dass die im SZ-Artikel vorgestellte psychologische Studie in den Niederlanden erhobene Daten auswertet. Der Publizist Geert Mak hat in seinem Gesellschaftsportrait der Niederlande ausdrücklich auf die egalisierende Bedeutung des Gelds in deren Kapitalismusgeschichte hingewiesen:

In den Niederlanden entstand (...) ein Wertesystem, in dem nicht Ehre, Herkunft, Anständigkeit oder Prestige die wichtigste Rolle spielten, sondern Geld. Und in einer derartigen kalvinistischen Geldkultur gehörte es sich nicht, dass man die andern zu sehr überragte. Zuviel Selbstbewusstsein erzeugte schließlich schiefe Blicke und forderte die Allmacht Gottes heraus.46

Doch trotz der von Mak beschriebenen egalitären Überwindung alteuropäischer Statusquellen wie Geburt, Herkunft oder Hoffähigkeit in der Frühen Neuzeit ermöglicht eine alte bürgerliche Geldkultur wie die niederländische in der postkonfessionellen, leistungsgesellschaftlichen Moderne umso mehr die kapitalismusgeschichtlich relevante, elitäre Markierung sozialer Unterschiede und ihrer Kompensation. Wenn Geld und das, was es kaufen kann und bedeutet, exklusiv den sozialen Status und das aus der Position in der sozialen Hierarchie abgeleitete Selbstbewusstsein anzeigt, enthält dies auch eine Aussage über diejenigen, die weniger haben und weniger selbstbewusst sind. Sie bekommen im Wortsinn, was sie verdienen. Denn andernfalls wäre ihr Erfolg ja sichtbar.

Die Sparsamkeit erhält in diesem geldkulturellen